Die große Sehnsucht

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Die große Sehnsucht
www.focus.de
Nr. 02/15 03. Januar 2015 € 3,70
TELEFON-FALLE SO WERDEN MILLIONEN DEUTSCHE BETROGEN
WELT-THEMEN 2015
Terror, Ebola,
Klima – und
kehrt die EuroKrise zurück?
Die große Sehnsucht
Kreuzfahrt
Preise ♦ Routen ♦ Insider-Tipps
Welche Reise passt zu mir?
LEBEN
& GENIESSEN
Romantik
unter Segeln
Auf der „Sea
Cloud“ finden
nur 64 Gäste
Platz – die von
60 Mitarbeitern
betreut werden
Der Traum vom Schiff:
Jeder Fünfte wünscht sich
einen Urlaub auf dem
Wasser. Allein 2014
schipperten zwei Millionen
Deutsche in den Urlaub.
FOCUS erforscht den
Megatrend auf dem
kleinsten und auf dem
größten Luxusliner der
Welt: „Sea Cloud“ gegen
„Oasis of the Seas“
96
Die Sehnsucht
FOCUS 2/2015
Fotos: M. Bortoli/Bildagentur Huber (1)
Stimmung
auf 16 Decks
Die „Oasis of the
Seas“ ist ein
schwimmendes
Ferien-Resort
für bis zu 6296
Passagiere
nach Meer
FOCUS 2/2015
AUDIO
Seite scannen
mit FOCUS
ACTIVE APP
Lassen Sie sich
die Titelgeschichte
vorlesen
97
TITEL
„Sea Cloud“
83 Jahre ist die
„Lady“ unter den
Windjammern alt.
Die Eignerkabine
ist mit Antiquitäten
und elektrischem
Kaminfeuer ausgestattet. Rechts die
Liegefläche „Blaue
Lagune“
98
H
errlich ruhig hier: Gerade einmal acht Urlauber rekeln sich auf
Sonnendeck 14 über
der Schiffsbrücke. Ein hellblauer
Spätsommerhimmel mit wattigen
Wölkchen gewährt Blicke über
Milliarden von silbern glänzenden Wasserzipfeln, die in den weiten Horizont tanzen. Unser Schiff,
wie von unsichtbaren Tauen gezogen, folgt ihnen lautlos.
Manchmal blickt ein Kreuzfahrer durch eines der beiden Fernrohre, die an den Seitenauslegern des einsamen Decks stehen.
„Nichts zu sehen!“, verkündet
sein triumphierender Gesichtsausdruck dann den umliegenden
Sonnenanbetern, „nichts, außer
Meer und Weite!“
Erstaunliche Momente, wenn
man bedenkt, wo sie spielen:
An Bord des größten Kreuzfahrtschiffs der Welt, der „Oasis of the
Seas“, mit rund 5000 Passagieren
auf ihrer ersten Transatlantikreise von Fort Lauderdale in Florida
nach Barcelona im September.
Nur: Wo sind diese Tausende?
Einfache Antwort: gut verteilt.
Das beginnt nachmittags beim
Einchecken am Hafen mit leeren Schaltern. „Alle schon an
Bord“, sagt ein Mitarbeiter der
Reederei Royal Caribbean. An
vier Pools und zehn Whirlpools
auf den Außendecks 15 und 16
sind Hunderte Liegen frei. Es geht
zum Dinner weiter: zwei Sitzungen im Hauptrestaurant über drei
Ebenen mit Bedienung und festen
FOCUS 2/2015
Fotos: Dirk Weyer (1); Frank-Michael Arndt (1)
Essen unterm
Zeltdach
Auf dem Lido-Deck
werden – wann
immer möglich –
die Büfetts
serviert. An der
Rückwand:
die Bar
Fotos: mauritius images (1)
Plätzen sowie acht weitere Restaurants verteilen die Hungrigen
verblüffend staufrei.
Abends sortieren vor allem zwei
Showzeiten im „Opal Theater“
(1400 Plätze, Broadway-Niveau
im Musical „Hairspray“ sowie
in der Akrobatikshow „Come fly
with me“) die Kreuzfahrer. Dazu
locken das „Aqua Theater“ (600
Plätze) unter freiem Himmel
am Heck mit atemberaubenden
Turmspringern oder Eisshows auf
der Schlittschuhbahn „Studio B“
im Bauch des Ozeanriesen die
Besucher an.
Aus insgesamt 136 Veranstaltungen gilt es auszuwählen – an
einem Tag: vom eindrucksvollen Morgen-Yoga auf dem Helikopter-Landeplatz am Schiffsbug, Flashmob-Tanzen, Singen im Schiffschor, Paraden mit
Figuren aus den DreamworksStudios (Shrek, Gestiefelter Kater), Kochseminare. Es gibt Backstage-Führungen hinter die Showkulissen, Weinverkostungen,
Kurse in Spanisch, BollywoodDance, Bridge, DJ-Scratching sowie Aromamassage.
Da kann es fast schwerfallen,
vom Privatbalkon vor der Kabine
einfach mal in aller Ruhe stundenlang sechs Delfine im Wasser
zu beobachten, die uns südlich
von Madeira begleiten.
Der 82-jährige Schiffspfarrer
Castaneda hält in der restlos überfüllten Kapelle auf Deck 17 eine
derart berührende überkonfessionelle Predigt, zu der ein paar BapFOCUS 2/2015
tisten die Kreuzfahrtgemeinde zu
gehört die Badezone dann mehr
oder weniger anderen Nationen.
hymnischem Gesang mitreißen,
Rund 5000 Passagiere sind an
dass man sich ein zweites Mal tauBord, etwa 1300 mehr könnten
fen lassen möchte.
noch Platz finden. Trotzdem entDrei Abende schmeckt das
Essen im Hauptrestaurant wie fetfallen wegen der großen Zahl
tige Marshmallows ohne Zucker
einige Kreuzfahrtstandards: Hän– nach nichts. Dafür gibt es als
deschütteln und Fotos mit dem
Entschädigung ein indisches
Kapitän, das Captain’s Dinner
Wunsch-Curry und endlos „Butoder auch das Mitternachts-Galater Pecan Ice Cream“.
Büfett am Pool-Deck.
Köstlich: New York Cheesecake
„Oasis“-Kapitän Trym Selvag,
ein Norweger, erklärt wie ein
und Panini-Häppchen, die Panaltgedienter Showdee, ein netter Balimaster erwartungsnese, im „Park Café“
gemäß
trotzdem
zwischen 12 000 echalles für „fantastic“:
ten Pflanzen und faldas Schiff, die neuen
schem VogelgezwitGäste, die Stammscher zum Tee serviert.
gäste, die Crew, die
Oder die Weltklasse-Rinderlende im
Route, das Essen und
das Wetter.
„Giovanni’s Table“.
Sergey
KomaWeniger gelungen:
kin, Kapitän des
Das Spa wirkt dunkel
Windjammers „Sea
und ungemütlich, die
Cloud“, verkörpert
Joggingbahn auf Deck
fünf ebenso. Und das
das Gegenteil eines
zu Überfüllung neiShow-Man: Bescheigende Büfettrestauden begrüßt der
Trym Selvag
rant verwandelt sich
Ukrainer seine 56
Kapitän der „Oasis of
zu Frühstück und MitGäste (bei 59 Crewthe Seas“
Mitgliedern) an Bord
tagessen in eine Lärmhölle.
auf dem Karibik-Törn
Da Kreuzfahrer aus Übersee
im Dezember von Barbados nach
Curaçao. Der 40-Jährige ist ganz
Wasserkontakt aus Duschen vor
Seemann, redet wenig und nennt
Besteigen der Pools eher meiden, entwickelt sich eine geteilte
in seiner kurzen Ansprache die
Badeordnung: Europäer treffen
1931 gebaute „Sea Cloud“ liebesich duschnass zum Sonnenaufvoll ein „schwimmendes Musegang an den Becken, sobald diese
um“. Aber will man wirklich in
gereinigt und mit frischem Atlaneinem Museum seinen Urlaub
tikwasser gefüllt sind. Tagsüber
verbringen?
„Oasis of
the Seas“
Seit Ende 2009
befährt der Megaliner die Karibik.
Im September kam
er erstmals nach
Europa. Beeindruckend ist die
Akrobatikshow mit
Turmspringern am
Heck des Schiffes
im „Aqua Theater“
Alles ist so
fantastisch
hier an Bord:
das Schiff,
die Gäste, die
Crew, die
Route, das
Wetter“
99
TITEL
100
Für viele Gäste stellt sich die
Frage nicht, sie kennen den vor
drei Jahren renovierten 4-MastGroßsegler längst. Das „echte
Segelgefühl“ ist ihnen wichtig,
wenn „der Wind das Tuch ausbeult“ und sich „das Schiff in die
Wellen legt“. Einige konsultieren
vor dem Auslaufen deshalb auch
Schiffsarzt Doktor Wolfgang Spithaler und seine Pillenvorräte.
Tatsächlich markieren „Oasis“
und „Sea Cloud“ die Extreme
eines boomenden Ferienmarkts
mit mehr als 340 Schiffen auf dem
Wasser: „Oasis“ als Idee einer
schwimmenden Kleinstadt, die für
breite Einkommensschichten den
Pauschalreise-Tourismus in Massen auf die Wellen bringt (pro Person und Nacht ab circa 60 Euro).
Die „Sea Cloud“ dagegen gilt
als generationenerprobter Sehnsuchtsort für Weltenbummler, der
exklusive Romantik zwischen viel
Holz und echten Segeln verheißt
(ab 260 Euro).
An Tag zwei beginnt auch die
Segelshow: Der Erste Offizier
Vukota Stojanovic aus Montenegro erklärt, in welcher Reihenfolge
die überwiegend asiatische Crew
in die Wanten steigt und viele der
30 Segel („Mars, Bram, Großsegel, Fock . . .“) setzt. „Jetzt segeln
wir“, verkündet er, doch man spürt
nichts. Kein Schaukeln, Ruckeln,
Krängen. Was an der ruhigen Karibik liegen mag oder auch daran,
dass der Dieselmotor weiter sehr
vernehmlich nagelt und stinkt –
selbst ohne arbeitende Schiffs-
Prada-Täschchen-Träger eignet,
schrauben pumpt er unablässig
Luxus (Strom und kühle Luft) in
bleibt die Atmosphäre locker. Ein
die Kabinen.
einziger 17-Jähriger drückt den
Die sind eine Wucht: Im UnterAltersdurchschnitt auf geschätzte
deck im Stil der 30er-Jahre mit
60 Lenze. „Hab’s mir schlimmer
heller und dunkler Holzvertäfevorgestellt“, kommentiert er seine
lung, Marmorbädern mit Wanne,
Alleinstellung.
Himmelbetten, Kaminen mit elekHäufig läutet die Glocke zu
trisch beleuchteten Glassteinen,
Büfetts unter der Zeltplane des
Bullaugen. „Kabinenschlüssel
Lido-Decks (top: frische Steaks
brauchen wir nicht“, sagt Hotelvom Gelbflossenthunfisch). Die
manager Szymon Kwinta.
Portionen im Restaurant dagegen
Offenbar wird erwartet, dass
muten überschaubar an, nicht
sich Gäste länger
immer gibt es Nachim Bad aufhalten:
schlag.
Jeden Tag gibt es
Abends bestreiten
zwei Duschhauben,
der Nachthimmel, die
zwei Nagelfeilen, drei
unendlichen Geschichten des philippinischen
feuchte Abschminktücher sowie große PorBarkeepers Bebot (32
tionen an Bodylotion,
Jahre an Bord) und die
Melodien des SchiffsShampoo, Bade-Elixier und Conditioner
pianisten Kilian die
des Herstellers GalvaUnterhaltung.
gni Schönheit GmbH.
Besonders lässig lauTagsüber ist die
fen die Anlandungen:
„Blaue Lagune“ beDie „Sea Cloud“ ankert
liebt: eine halbrunde
vor einem Traumstrand
Sergey Komakin
Liegefläche am Heck,
wie der Chatham Bay
Kapitän der „Sea
die herrliche Ausbliauf den Grenadinen
Cloud“ über sein Schiff und shuttelt die Gäscke in Himmel und
Segel eröffnet. Allerte gleich in Badekleidings bietet sie nur acht Mitreidung binnen fünf Minuten mit
senden bequem Platz, sodass die
Zodiac-Schlauchbooten zu den
anderen 48 mit Deck-Chairs vorPalmen. Koch und Essen folgen.
liebnehmen müssen.
Ankerlichten ist um vier Uhr
geplant. „Wenn es uns gefällt,
Die Mitsegler geben sich als
bleiben wir auch länger“, sagt
unprätentiöse Genießer – überwiegend Europäer und AmeKapitän Komakin und geht erst
rikaner, die Hälfte raucht. Weil
mal schnorcheln.
■
sich der sanft wiegende Windjammer kaum als Laufsteg für
MATTHIAS KOWALSKI
Die 83 Jahre
alte ,Lady
der Meere‘
ist wie ein
schwimmendes
Museum“
FOCUS 2/2015
Fotos: action press (1)
Flanieren oder
zugucken Im Bauch
der „Oasis“ kann
man entlang der
„Royal Promenade“
shoppen, Pizza essen
oder Kaffee trinken.
Hier finden auch
bunte Paraden und
Disco-Partys statt.
An Bord der „Sea
Cloud“ (rechts) ist
das Hissen und
Reffen der Segel in
Handarbeit die
eigentliche Show
Mal schn ell an alog geschrieben:
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Jetz t im Han del oder best ellen unte r w w w.tv spie lfilm -abo
TITEL
Entdeckerboot,
Partyschiff,
Luxusjacht
oder doch ein
Ozeanriese?
Größe und
Route bestimmen die
Kreuzfahrt.
Dabei hat jede
Schiffsklasse
ihre eigenen
Besonderheiten
Die Wow-Klasse
Die große Klasse
Die spezielle Mitte
Die Megaschiffe mit mehr als 3000
Passagieren bestechen durch eine
schier unfassbare Vielfalt an Unterhaltung, Sport und Kulinarik. Dabei
punktet die Oasis-Schwester „Allure
of the Seas“ mit Sport und Entertainment, die „Getaway“ mit 28 Restaurants sowie die „Queen Mary 2“
und auch die „Celebrity Reflection“
mit besonderem Design und Stil.
Diese Schiffsklasse mit 2000 bis
2999 Passagieren ist der neue
Branchenstandard. Sie haben alles
an Bord, was man braucht, unterscheiden sich aber deutlich: Die
„Aida“ kommt als Clubschiff daher,
das die Gäste überall zum Mitmachen verführt. Auf der „Mein Schiff 3“
von TUI geht es ruhiger zu – mit
mehr Rückzugsorten. Die „Eurodam“
pflegt beste amerikanische CruiseTraditionen, und die „MSC Poesia“
bietet viel Abwechslung für Familien.
Bei der Mittelklasse von 1000 bis
2000 Passagieren setzt die Spezialisierung ein: Die Schiffe sind oft
älteren Datums, gut renoviert und
punkten mit Service und Routen.
Während die „Disney Wonder“ sowohl
Enkel wie Großeltern mit Mickey
Mouse & Co. perfekt bespaßt, setzt
die „Crystal Serenity“ auf das reifere
Publikum, die „Artania“ beschippert
deutschsprachig die Weltmeere, und
die „neoRomantica“ setzt auf Entschleunigung für Erwachsene, z. B.
mit längeren Hafenaufenthalten.
Schiffsempfehlungen
„Allure of the Seas“; „Celebrity
Reflection“ (Foto); „Norwegian
Getaway“; „Queen Mary 2“
Vorteile/Nachteile
+ viele Kabinentypen; günstige
Preise; große Restaurantauswahl;
Mischung aller Generationen; Entertainment in Broadway-Qualität;
breite Auswahl an Bars, Cafés,
Musik; große Wellnessbereiche,
Sportstudios, viele Pools; umfangreiche Kinderbetreuung.
– enge Standardkabinen; lange
Wege, unübersichtlich; Büfetts
überlaufen; Service unpersönlich;
laufen oft nur Großhäfen an; Ein-/
Ausschiffung kann länger dauern.
TI S
Barcelona
Malaga
CH
ER
OZ
E
AN
Routentipp
Transatlantik mit der „Allure of the
Seas“ vom 19. April bis 1. Mai. Das
Schiff ist das Ziel. Ein Stopp genügt,
dann vergisst man auf See Raum
und Zeit. Ab 634 Euro pro Person*.
102
Vorteile/Nachteile
+ viele erschwingliche Kabinentypen; große Auswahl an Restaurants; gute Kinderbetreuung; viele
Pools, Rutschen, Wasserparks;
große Wellnessbereiche; gemischte Generationen als Gäste;
Vielzahl an Aktivitäten, Sport.
– unübersichtlich; Wartezeiten an
Aufzügen; enge Standardkabinen;
Stau an Büfetts; Aufpreis für Ruhezonen oder ruhige Restaurants.
Oslo
Reykjavik
Qaqortoq
N
ATLA
Fort Lauderdale
Schiffsempfehlungen
„Mein Schiff 3“ (Foto); „Aida Mar“;
„Eurodam“; „MSC Poesia“
St. John’s
EA
N
Das
beste
Schiff
für
mich
OZ
Halifax
R
E
H
New York
IS C
ATLANT
Warnemünde
Routentipp
Nordländer mit der „Aida Mar“ vom
17. Oktober bis 4. November von Kiel
nach New York. Fjorde, Gletscher,
Eisberge und Meerblicksauna inklusive. Ab 2395 Euro pro Person*.
Schiffsempfehlungen
„Crystal Serenity“ (Foto); „Artania“;
„Costa neoRomantica“; „Disney Wonder“
Vorteile/Nachteile
+ oft günstiger als Kleinschiffe oder
neue Megaschiffe; etwas Restaurantauswahl; weniger Anstehen; gutes
Enterainment; häufig Vorlesungen/
Weiterbildung an Bord; exotischere
Ziele; persönlicher als große Schiffe.
– ältere Bauart/Einrichtung; oft
älteres Publikum (Ausnahme: „Disney“); weniger Balkonkabinen; oft
feste Essenszeit/fester Sitzplatz.
Genua
Dubai
Osaka
Manila
Genua
San Juan
Singapur
Sydney
Nuku Hiva
Panamakanal
Routentipp
Rund um den Erdball mit der
„Artania“ vom 22. Dezember 2015
bis 10. Mai 2016.In 140 Tagen rund
um die Welt, davon allein 26 Tage
durch die Südsee. 68 Häfen, 35 Länder, fünf Kontinente. Start Richtung
Karibik, dann ab durch den Panamakanal. Ab 14 999 Euro pro Person**.
FOCUS 2/2015
Die Jachtklasse
Unter Segeln
Für Abenteurer
Sind es noch Kreuzfahrtschiffe oder
schon private Jachten? Die Klasse
unter 1000 Passagieren erlebt derzeit eine Renaissance. Dabei zählen
nicht allein der pure Luxus, wie das
Beispiel der gemütlichen „MS Berlin“
zeigt, sondern auch Route und
Design. Auf der spacigen „Le Soléal“
wird Französisch gesprochen, und
das anspruchsvolle Publikum ist oft
erstaunlich jung. Auf der „Europa 2“
(Owner-Suite mit 100 qm) und der
„Seabourn Quest“ dominieren eher
gesetztere Paare und Genießer.
Die Segler unter den Kreuzfahrtschiffen sind eine Klasse für sich:
Vom Wind getragen über die Wellen
zu gleiten, fasziniert Selber-Segler
und Zuschauer gleichermaßen. Es
warten gepflegte Abenteuer nah am
Wasser mit engem Crew-Kontakt.
Da die Windjammer überschaubar
klein sind, können sie auch kleinste
Inselchen und Buchten ansteuern,
bieten im Vergleich zu privaten
Segeltörns doch erstaunlich viel an
Organisation, Kulinarik und Komfort.
Einmal im Leben: Die atomgetriebene „50 Years of Victory“ kann 2,5
Meter dicke Eispanzer aufbrechen
und ist für die Polregionen bestens
gerüstet. Jedes Schiff dieser Klasse
verheißt ein anderes Abenteuer: Die
„Hanseatic“ (oberer Amazonas), die
„Xpedition“ (Galapagos-Inseln) oder
die „Fram“ der Hurtigruten (Fahrt zu
den Eisbären auf Spitzbergen).
Fotos: Michel Verdure (2), Carolin Otersen, Karin Rollett-Vlcek/Corbis, Bjorn Eriksson/Bulls
Schiffsempfehlungen
„Seabourn Quest“ (Foto);
„MS Berlin“; „Europa 2“; „Le Soléal“
Vorteile/Nachteile
+ große Kabinen, oft nur Suiten;
außergewöhnliche Routen und
Häfen; persönlicher Service; häufig
Luxus (außer „MS Berlin“); Getränke,
Weine oft inklusive; oft Lesungen/
Experten an Bord; kein Anstehen.
– teuer (bis auf „MS Berlin“); zum
Teil Mindestalter gefordert; kleine
öffentl. Räume; weniger Sport, Wellness, Kinderbetreuung, Unterhaltung.
Nome
Nordpol
enze
msgr
Datu
Beaufort- Pond
Ilulissat
See
HerschelInsel
Inlet
KangerGjoa lussuaq
Haven
Routentipp
Legendäre Nordwestpassage
mit der „Le Soléal“ vom 24. August
bis 15. September. Die Luxus-Expedition durch berstende Eisschollen
und größte weiß-blaue Einsamkeit
führt von Grönland bis nach Alaska.
Ab 13 070 Euro p. P. inkl. Flug*.
FOCUS 2/2015
Schiffsempfehlungen
„Sea Cloud“; „Royal Clipper“ (Foto);
„Wind Star“; „Star Clipper“
Vorteile/Nachteile
+ echtes Seglergefühl; mitsegeln/
mitmachen möglich; laufen Kleinsthäfen an; Routen teils mitzubestimmen; sehr familiärer Service;
engagierte Crews; viele Gleichgesinnte und Stammgäste segeln mit.
– limitierte Bordeinrichtungen;
oft Besserwisser an Bord; eingeschränkte Unterhaltung; Seegang/
stark spürbar; sehr wetterabhängiger Zeitplan; wenige Rückzugsorte.
Civitavecchia
Pontinische
Inseln
Sorrento
Amalfi
Stromboli
Liparische Inseln
Taormina
Routentipp
Unbekanntes Italien mit dem Fünfmaster „Royal Clipper“ vom 30. Mai
bis 6. Juni zu den Inseln Palmarola,
Ponza, Lipari, Sizilien und Stromboli.
Ab 2250 Euro pro Person*.
Schiffsempfehlungen
„50 Years of Victory“ (Foto);
„Hanseatic“; „Xpedition“; „Fram“
Vorteile/Nachteile
+ entlegenste Ziele und Routen;
Abenteuer garantiert; viele Experten
und Fachleute an Bord; gleichgesinnte Gäste; kleine Teams; sehr
gutes Info-Material; jede Reise
gleicht einer Expedition.
– sehr hoher Preis; oft hohe
gesundheitliche Anforderungen;
enge; sehr beschränkte Unterhaltung; geringe Essensauswahl;
oft reisen nur Fachleute unter sich;
Rettung/Bergung oft problematisch;
Mitreisende in Krisensituationen
unkalkulierbar.
Routentipp
90 Grad Nord
vom 26. Juni bis
9. Juli mit der
„50 Years“ zum
Franz- Nordpol: SportJosef- studio, Saunas,
land
kleiner Pool, Helikopter. Champagner am Pol
Murmansk
und dann mit
N ördl. Polark reis dem Heißluftballon aufsteigen.
Ab 21 226 Euro
Helsinki
pro Person*.
Nordpol
Weltweit
347 aktive Kreuzfahrtschiffe
zählte das Branchen-Fachblatt
„Cruise Business
Review“ noch
im Sommer.
Inzwischen
gingen noch ein
paar Neubestellungen ein: Die
TUI reservierte
Termine bei der
Meyer-Werft für
zwei weitere
„Mein Schiff“,
und Norwegian
Cruise Line
orderte ebenso
zwei größere
Neubauten.
Prominentester
Marktaustritt ist
die „MS Deutschland“, bekannt als
das „Traumschiff“
aus der gleichnamigen TV-Serie im
ZDF: Die Reederei
ging pleite und
sagte alle Reisen
ab. Neues TV„Traumschiff“
könnte die
„MS Amadea“ der
Reederei Phoenix
aus Bonn werden.
*bei Doppelbelegung pro
Person in der Kabine
**in der 3er-Kabine
103
TITEL
Wenn Sie auf größeren Schiffen
mehr Ruhe suchen, so buchen Sie
4
das „Schiff im Schiff“: Eigene Bereiche
von Restaurants bis hin zu Wellness oder
Sonnendecks gibt es z. B. für Gäste in der
Aqua-Class (Celebrity) oder im Yacht
Club (MSC). Allerdings können Sie oft für
denselben Preis auch gleich auf einem
exklusiveren, kleineren Schiff reisen.
5
Nutzen Sie den Koffertransport von
der Haustür in die Kabine – viele
Reedereien bieten diesen Service längst
an. Bewährt hat sich als Handgepäck ein
kleiner Rollkoffer mit der Grundausstattung für den ersten Abend, falls sich die
Verteilung des großen Gepäcks verzögert.
Kultivierter Reisen Eine Kreuzfahrt ist immer
auch ein Stück gelebte Nostalgie
1
Buchen Sie Ihre erste
Kreuzfahrt im spezialisierten
Reisebüro. Klären Sie dort die
Fragen: Welches Schiff, welche
Route, wer reist mit Ihnen? Dazu:
beste Reisezeit, Häfen, Essen,
empfehlenswerte Landgänge.
15 InsiderTipps
Von Kabinenwahl bis
Landgang: Für ein optimales
Kreuzfahrterlebnis sollte
man einige typische
Spielregeln beachten
Wellness an Bord ist überteuert:
120 Euro pro Stunde Massage sind
9 keine Seltenheit. Aber: Sie können im
Lauf der Kreuzfahrt auf Angebote mit
hohen Abschlägen zählen. Dasselbe gilt
auch für viele Angebotsaktionen der
Bord-Shops: Sie kommen so sicher wie
das Ausschiffen.
Raucher finden auf Kreuzfahrten
immer ein Plätzchen: Ozeanriesen
10
haben für sie häufig auf der Backbord-
seite ein oder mehrere Außendecks
(Nummer zwei, drei oder vier) reserviert.
Spezielle Raucher-Bars oder ZigarrenLounges (zum Teil auch unter freiem
Himmel) sind verbreitet.
Klären Sie vor dem Auslaufen,
an welchen Tagen die Gala11
Abende („Formal Nights“)
stattfinden werden. Diese sollten
Sie allein schon wegen der
besonderen Speisen im Hauptrestaurant nicht verpassen.
Dann können Sie weitere
kulinarische Entdeckungsreisen in Spezialitätenrestaurants an anderen Tagen
sinnvoll dazureservieren.
Leisten Sie sich, wann immer es geht,
Klären Sie vorab Ihre bevozugten
eine Balkonkabine. Vor allem beim
Essenszeiten: Auf größeren Ozean2
6
ersten Mal genießen Sie so die beste
riesen sind meist zwei feste Essenszeiten
Seien Sie sehr kritisch bei der
Kabinenauswahl: Anders als bei
3
Hotels an Land können Sie ihre genaue
Kabinennummer vorab bestimmen.
Meiden Sie auf größeren Schiffen
Kabinen am Heck – dort kann es sehr
laut sein (Motor) und nach Ruß stinken
(Rauchfahne). Das gilt auch für teure
Suiten! Klären Sie anhand der Deckpläne,
was über und unter ihrer Kabine liegt
(z. B. Disco, Restaurant, Wäscherei).
Die Kabinenwände sind selbst auf
Luxus-Linern eher dünn. Also auch
auf Verbindungstüren verzichten.
104
um 18.30 und 20.30 Uhr üblich. Wählen Sie
die spätere Zeit, so haben Sie für Landgänge und Bordeinrichtungen (Sportstudio,
Sauna) vor dem Abendessen mehr Ruhe.
Ordern Sie zu Hause vorab Getränkepakete z. B. für Wein, Bier, Softdrinks.
7
Dies ist oft billiger als an Bord, und es
spart Zeit auf dem Schiff.
Verzichten Sie an Bord auf Internetund Telefonpakete – sie sind zu
8
teuer, zu langsam und zu instabil. Kehren
Sie bei Landgängen lieber in ein Café mit
kostenlosem Wifi-Hotspot ein.
Zeit für die feine Garderobe Gala-Abend im
großen Atrium auf der „Royal Princess“
FOCUS 2/2015
Fotos: mauritius images; Steve Dunlop/Picture Press
private Aussicht und eine frische Brise.
Vom Schiff organisierte
Landausflüge sind teuer, aber
12
praktisch: Der Kapitän wartet auch auf
Die gewählte Route bestimmt
Meiden Sie Häfen mit
auch, wie viel Sonne Sie auf Ihrem
erschwerter An- und Abreise:
13
14
Privatbalkon vor der Kabine sehen
Savona, Civitavecchia (Rom),
die letzten Busse. Gut: Leihräder, mit
denen man gleich ab Schiff (z. B. an Bord
der „Europa“, „Aida“) losradeln kann.
Wenige Häfen bieten Mietwagen direkt
ab Kai (z. B. Lanzarote, St. Maarten).
werden: Auf einer Kreuzfahrt von Europa
in die Karibik beispielsweise genießen Sie
auf der Steuerbordseite (in Fahrtrichtung
rechts) weniger Licht – es ist die
Nordseite.
Southampton, Barcelona, Kiel,
Bremerhaven. Schneller geht es in
Hamburg, Miami, St. Maarten, Palma/
Mallorca, Venedig, Genua, Málaga,
Kopenhagen, Oslo, Barbados, Singapur.
15 Der Preis-Größen-Kompass
führt zur Wunsch-Kreuzfahrt: Er kombiniert die maximale Passagierzahl sowie den durchschnittlichen Preis pro Nacht je Schiff. Die
besten Preise offerieren Reedereien sechs bis drei Monate vor dem Ablegen. Kenner checken sie zuerst im Internet auf vacationstogo.
com , kreuzfahrtberater.de oder kreuzfahrten.de. Die deutschen Seiten bieten Bordguthaben und eine Alarmfunktion, sobald der Preis
sich ändert. Allerdings kennen die Berater oft nur wenige Schiffe aus eigener Erfahrung.
Quellen: Kreuzfahrtguide 2015; e-hoi; FOCUS
Passagierzahl
56 10
5000
21
46
53
4000
59
54
28
51
17 23
65 34
50
3000
22
18
19
20
55
7
47
49
2000
77
3
6
5 2
30
8
60
42
41
29
48
1 24
Illustration: Tim Lund/Image Source
IN FOGRA FIK
1000
62
63 40
12
4
45
9
58
Preis pro Nacht 100 Euro
61
44 43
11
13
15
200 Euro
26
14
25
71
52
37
35
300 Euro
27
68
64
76 74 75
78
400 Euro
500 Euro
600 Euro
73
31 39
38
36
16
66
700 Euro
32
33
69
67
800 Euro
70
57
72
79
900 Euro
Aidaaura & Aidavita; 2 Aidabella; 3 Aidablu & Aidasol; 4 Aidacara; 5 Aidaluna & Aidadiva; 6 Aidamar; 7 Aidaprima; 8 Aidastella; 9 Albatros; 10 Allure of the Seas;
Amadea; 12 Artania; 13 Astor; 14 Azamara Journey & Quest; 15 Berlin; 16 Bremen; 17 Carnival Sunshine; 18 Celebrity Reflection; 19 Celebrity Silhouette, Solstice, Eclipse
& Equinox; 20 Color Fantasy & Magic; 21 Costa Diadema; 22 Costa Fascinosa 23 Costa Favolosa; 24 Costa neoRiviera und neoRomantica; 25 Crystal Serenity; 26 Crystal Symphony; 27 Deutschland; 28 Disney Dream & Fantasy; 29 Disney Wonder; 30 Eurodam; 31 Europa; 32 Europa 2; 33 Fram; 34 Freedom of the Seas; 35 Hamburg; 36 Hanseatic;
37 Insignia; 38 L’Austral & Le Boréal; 39 Le Soléal; 40 Marina; 41 Mein Schiff 1; 42 Mein Schiff 2; 43 Mein Schiff 3; 44 Mein Schiff 4; 45 Midnatsol; 46 MSC Divina & Preziosa;
47 MSC Fantasia; 48 MSC Lirica & Armonia; 49 MSC Magnifica & Poesia; 50 MSC Preziosa; 51 MSC Splendida; 52 Nautica & Regatta; 53 Norwegian Epic; 54 Norwegian Getaway
& Breakaway; 55 Norwegian Jade; 56 Oasis of the Seas; 57 Ocean Diamond; 58 Ocean Majesty; 59 Quantum of the Seas; 60 Queen Elizabeth; 61 Queen Mary 2; 62 Queen
Victoria; 63 Riviera; 64 Royal Clipper; 65 Regal Princess & Royal Princess; 66 Sea Cloud; 67 Sea Cloud II; 68 Seabourn Quest; 69 SeaDream I; 70 SeaDream II; 71 Seven Seas
Mariner & Voyager; 72 Silver Explorer; 73 Silver Spirit; 74 Star Clipper; 75 Wind Star; 76 Star Flyer; 77 Westerdam; 78 Xpedition; 79 50 Years of Victory.
1
11
FOCUS 2/2015
105
TITEL
„Sterne taugen nichts“
Der Schiffskenner und Kritiker Pascal Wepner über die Suche nach dem
idealen Platz auf dem Meer und über den Unsinn klassischer Bewertungen
Pascal Wepner, 30,
startete 2011 den inzwischen reichweitenstärksten deutschen
Kreuzfahrtblog Schiffeund-Kreuzfahrten.de.
Er ist bekannt für seine
schonungslosen
Berichte über große und
kleine Pannen auf dem
Wasser und testete
selber etliche Schiffe
und Routen – im Bild
mit der „MS Delphin“
in der Antarktis
Es kommt auf den Menschen und
die Erwartungen an den Urlaub an.
Suche ich Erholung und Ruhe, bin
ich auf einem Klassiker wie der
„MS Berlin“, der „MS Astor“ oder
den Phoenix-Schiffen besser aufgehoben, auf denen noch klassische
Kreuzfahrten durchgeführt werden.
Familien oder Leute, die Abwechslung suchen, werden wohl auf größeren Schiffen, wie „Aida“, „Mein
Schiff“, „MSC“ oder „Costa“ eher
auf ihre Kosten kommen.
Was ist anders auf den großen?
Sie bieten mehr Abwechslung,
angefangen bei mehr Animation bis hin zu Eislaufbahnen,
Autoscootern oder Surfsimulatoren. Die großen Schiffe kann man
teils mit eigenen kleinen Städten
vergleichen, wo es nahezu alles
an Bord gibt.
Sollte man auf die Meinung
anderer Gäste zu den Schiffen
etwa in Blogs hören?
Es kommt auf den Verfasser an!
Sicher bekommt man einen guten
Überblick über die Möglichkeiten
an Bord eines Schiffes, allerdings
würde ich auf Empfehlungen
von Leuten, die keinen Vergleich
haben, nichts geben. Eine objektive Darstellung ist mehr wert
als persönlicher Geschmack. Die
bekommt man nur, wenn man den
Markt kennt und vergleicht.
wie Getränke, Landausflüge oder
Wellness checken. Landausflüge
kann man oft selber günstiger
organisieren. Nur muss man dabei
aufpassen, das Schiff noch rechtzeitig vor dem Auslaufen wieder
zu erreichen – es wartet nämlich
nur auf die Landausflügler, die
auch an Bord gebucht haben.
Der Trend geht klar zum Schiff.
Die neue „Aidaprima“ und andere große Schiffe sind selbst die
Destination, oft wird auf Grund
des Schiffes über die Reise entschieden. Mehr Routenvielfalt
bieten die Klassiker, die leider
mehr in den Hintergrund rücken.
Absolut gar nichts. Man kann
aus guten Gründen anzweifeln,
ob die Autoren wirklich unabhängig von den Reedereien sind.
Sternebewertungen, wie man sie
an Land kennt, sind auf Kreuzfahrtschiffe nicht übertragbar. Da
erhält eine „MS Berlin“ genauso
viele Sterne wie eine „Oasis of the
Seas“ – die Kunden glauben, die
Schiffe seien vergleichbar, buchen
eins und sind enttäuscht, weil die
„Berlin“ eben ein kleiner Klassiker und weniger eine riesige
Unterhaltungsstadt ist.
Was ist dann bei der Auswahl
wichtiger: Schiff oder Route?
Was sagt der Kabinenpreis über
die Qualität eines Schiffes aus?
Nichts. Dumpingpreise und
hohe Rabatte sagen etwas über
Angebot und Nachfrage aus. Die
Reedereien steuern nach, um ihre
Schiffe zu füllen. Keine Angst
muss man haben, dass wegen
der Rabatte das Essen schlechter
wird oder nicht alle Häfen angefahren werden. Solche Rabatte
gehören zur Gesamtkalkulation,
das ist vollkommen normal. Meist
bekommt man die Kabine aber
zugeteilt, ohne Wahlmöglichkeit.
Muss man sich als Normalzahler
also ärgern?
Rabatte sind in einzelnen Fällen grenzwertig. Ich habe einmal
2000 Euro bezahlt, dann traf ich
eine Menge Leute, die kurzfristig
nur 300 Euro für dieselbe Kreuzfahrt gezahlt hatten. Da sind
Ärger und Unmut unter den Passagieren schon programmiert.
Neulinge fürchten sich vor Kostenfallen an Bord. Wo lauern die?
Die gibt es nicht mehr. Im Reisepreis ist grundsätzlich Vollpension enthalten, übers Internet kann
man vorher gut die Nebenkosten
106
Was ist von Schiffsbewertungen mit
Sternen oder Punkten zu halten?
Das größte Risiko einer Kreuzfahrt
seien die Mitreisenden, lautet
eine Weisheit. Zu Recht?
Und wie! Ich habe auf echt tollen
Schiffen schon Horror-Trips erlebt
mit Gästen in Badekleidung beim
Abendessen oder Prügeleien um
Liegen. Andererseits gab es auf
einem rostigen Kahn mal eine so
tolle Stimmung unter allen Mitreisenden, dass keiner mehr von
Bord wollte.
Verraten Sie uns Ihr Lieblingsschiff?
Das ist schwierig, aber die Klassiker finde ich schon toll: Man kennt
die Crew, und es ist ein bisschen
wie nach Hause kommen. Andererseits hat im Massenmarkt die
„Mein Schiff 3“ definitiv Maßstäbe
gesetzt. Mit Kindern sind „Costa“
und „MSC“ super, die haben die
beste Hardware dafür.
■
INTERVIEW: MATTHIAS KOWALSKI
FOCUS 2/2015
Foto: privat; Cartoon: Jörg Saupe
Herr Wepner, wie finden KreuzfahrtNeulinge die passende Schiffsreise?
Schwimmender
Rasen
„Celebrity Eclipse“
An Bord gedeihen auf
Deck 15 tatsächlich
2000 Quadratmeter
echter Rasen. Der sogenannte „Lawn Club“ bietet
sich an für Picknicks
und Barfuß-Spaziergänge
Kuriositäten auf
und unter Deck
Fotos: Michel Verdure/Celebrity Cruises (1)
Reedereien lassen sich viel einfallen, um Kreuzfahrer zum Staunen
zu bringen. Superlative von der ersten Brauerei bis hin zur längsten
Wasserrutsche beflügeln die Entertainment-Branche auf dem Meer
An Bord braut sich was zusammen
„Aidablu“
Andreas Hegny war der erste Braumeister auf hoher See: 2010
zapfte der damals 27-Jährige sein Meeres-Bier erstmals auf der
„Aidablu“. Das kühle Rotblonde unterliegt selbstverständlich
dem deutschen Reinheitsgebot – nur Wasser, Hopfen, Malz und
Hefe. Letztere züchtet er an Bord selber, und das „schön weiche
Wasser“ sprudelt frisch aus der Meerwasserentsalzungsanlage.
Bis zu 600 Liter kann er täglich in seinem schwimmenden
Brauhaus herstellen, darunter ein „Aida Zwickel“ und ein Aktionsbier. Passagiere können ein Braudiplom erwerben
FOCUS 2/2015
Hund und
Katz auf See
„Queen Mary 2“
Tiere verboten? –
nicht auf der „Queen
Mary 2“: Mehr als
500 Hunde hat sie
seit 2004 über den
Atlantik geschippert
107
TITEL
Ums ganze Schiff herum rutschen „Disney Dream“, „Disney Fantasy“
Durchsichtige Wasserrutschen namens „Aqua Duck“ sind der Hit auf den „Disney“-Schiffen:
233 Meter lang gleitet man durch Kreisel und Tunnelstrecken auf Doppelsitzer-Matratzen um
das Schiff. Am lautesten quieken die Erwachsenen, die ihre Kinder in den Kurven festhalten
Wellenreiten
Fotos: Simon Dawson/Getty Images; shutterstock; Blaine Harrington III/Corbis; Martin Moxter/
ALIMDI.NET; Michel Verdure/Seabourn; Michel Verdure/AP Photo; Vignetten: Jörg Saupe
„Quantum of
the Seas“
Der Flow-Rider lässt
Surf-Feeling aufkommen: Egal, ob
stehend oder liegend,
jeder wird hier richtig
nass. Im Hintergrund
die Flugröhre iFly,
in der man über einer
Windturbine schwebend die Schwerelosigkeit testen kann
Private Paradiese
Duschbalkon
„Celebrity
Reflection“
Meer Aussicht geht
kaum: Die Dusche
der „Reflection“Suite hängt weit
ausladend über dem
Wasser. Bleibt nur
die Frage, ob der
Ausblick von innen
oder der Einblick von
außen besser ist
108
Einige Reedereien
besitzen private Inseln oder
Strände für Kreuzfahrer, z. B. auf
den Bahamas (Royal Caribbean,
Carnival, Disney, Princess,
Norwegian) oder Catalina Island/
DomRep (Costa; Foto)
Pool im Schlepptau
„Seabourn Odyssey“
Heckklappe auf, und ab ins Wasser:
Der schnellste Weg ins Meer führt
über die eigene Schwimmplattform
kleinerer Kreuzfahrtschiffe.
An Land wird mit Booten gerudert,
getreten oder auch gesegelt
FOCUS 2/2015
Das Langweiligste an einer
Kreuzfahrt sind die fremden Länder.
Alles wie zu Hause, nur voller und
mit besserem Wetter
Erholung auf See
Jetzt die tte
lflo
Wohlfüh en.
buch
von Harald Schmidt
Fotos: Michael Tinnefeld/ Agency People Image
W
er wirklich Ergen. Da hat man bei
holung sucht,
der Buchung nicht
sollte das Schiff
aufgepasst, und
nicht verlassen. Es
schon verkümmert
sei denn, er möchman in einer Kabine auf der falschen
te gleichzeitig mit
den fünfzehntauSeite, ohne „beim
send Passagieren
Aufwachen auf die
von sechs ameri- Kreuzfahrt ahoi Oper zu gucken“.
kanischen Schif- Harald Schmidt
Wir empfehlen
fen, die ebenfalls ist Kolumnist,
einen Prozess gein Nassau (Baha- TV-Entertainer
gen den Reisevermas) vor Anker lie- und Schiffsanstalter. Oder den
gen, Kaffee trinken reisenkenner
Architekten. Ganz
schlimm erwischt
gehen.
Oder er hat Lust auf
es allerdings Globetrotter,
eine Inselrundfahrt über
die erst an Bord merken,
Bali inklusive vierstündidass zwischen Southampger Tanzdarbietung mit
ton und New York fünf
anschließendem SchmuckTage durchgebrettert wird.
verkauf. Von der KreuzKeine romantische Bucht,
fahrtdirektion an Bord
kein authentisches Hafenrestaurant, nix. Wäre nicht
angeboten unter „Landausab und zu mal Windstärke
flüge“.
Nein, der wahre Luxus
neun oder drei Tage Dauerbeginnt, wenn nur noch
nebel, man hätte gar keine
Abwechslung.
vier Passagiere an Bord sind
und der Rest sich Jamaika
Wer Kreuzfahrten liebt,
anguckt. Oder in Chile eine
aber das Meer als störend
Busfahrt unternimmt.
empfindet, dem empfehlen wir das Mittelmeer.
Das Rote Kreuz weiß,
warum es dem Bus mit
Fünf Tage, das Schiff fährt
zwei Wagen hinterherfährt.
überwiegend nachts, und
tagsüber kann man Rom,
Viele Kreuzfahrer werden
unruhig, wenn das Schiff
Florenz oder Portofino beetwa drei Tage am Stück
sichtigen. Außer es ist Stau.
von Darwin nach DenpaUnd nicht wundern: In der
sar fährt. Immer nur Wasser!
letzten Nacht zwischen
Monte Carlo und Nizza
Dabei ist es eine Traumfährt das Schiff in Zeitlupassage, mehr Sonnenaufgang geht nicht. Aber selbst
pe auf der Stelle vor und
auf der vielleicht schönsten
zurück, um noch eine ÜberReise, von Tahiti nach Sydnachtung rauszuschinden.
ney, drohen EnttäuschunAll inclusive!
FOCUS 2/2015
„Ich träum’
jetzt schon vom
Mittelmeer.“
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NahostKost
Die neue israelische Küche ist ein
crosskulturelles, kulinarisches Fest.
Dank Szene-Stars wie Yotam Ottolenghi
gilt sie auch in deutschen Restaurants
und Küchen als heißester Food-Trend
Lässiger Genießer
In seinen Gerichten vermischt Ottolenghi jüdische
und palästinensische
Traditionen zu ganz neuen
Geschmackserlebnissen
110
LEBEN & GENIESSEN
Fotos: Jay Brooks/The Guardian; Jonathan Lovekin/Dorling Kindersley Verlag
W
ann genau aus dem
Geheimtipp ein
Trend wurde, lässt
sich am besten an
den Kochbuch-Bestseller-Listen
ablesen. Jahrelang stand dort
auf den Plätzen eins bis drei vor
allem ein Name: Jamie Oliver.
Dann pirschte sich von unten ein
anderer Koch mit seinen Rezepten an – Gerichte, die so ganz
anders klangen als die Wohlfühl-Pasta-Menüs des britischen
Stars: Baba Ganusch mit Ziegenjoghurt und Chili. Panierte Oliven mit scharfer Joghurtsoße.
Mujadara aus Reis und Linsen.
Als dann auch noch kurze Zeit
später jeder Buchhändler den
Namen Yotam Ottolenghi unfallfrei aussprechen konnte, war klar:
Israelisch kochen ist in – und die
Food-Szene hat einen neuen Star.
Der sitzt im coolen Hotel
„The Flushing Meadows“ im
Münchner Gärtnerplatzviertel,
schwärmt ausgiebig von der
bayerischen Küche, die er am
Vortag in Form von Knödeln und
Schweinebraten genossen hat,
und versucht dann wortreich, das
neuerdings so große Interesse an
Tahinisoße und Kichererbsenmus
zu erklären: „In den letzten Jahren kochten die Hobbyköche in
Europa und Amerika italienisch,
spanisch, griechisch und afrikanisch, aber der Geschmack der
arabischen Welt ist noch neu und
unentdeckt“, sagt er. „Und nun
bringen israelische Köche den
Nahen Osten schmackhafter und
westlicher auf die Teller Europas,
als die meisten es aus den KebabShops rund um die Hauptbahnhöfe kennen.“
Ottolenghi kombiniert die
Kochtradition der Juden aus
aller Welt mit Zutaten und Garmethoden der Palästinenser: aus
Osteuropa den Babka-Kuchen,
ein köstliches Hefegebäck mit
einer Menge Schokolade, von
den Juden aus Libyen wunderbare Fischgerichte mit vielen Gewürzen und Tomaten,
aus palästinensischen Küchen
Kichererbsen und Sesam – fertig
ist das köstliche crosskulturelle
FOCUS 2/2015
Panierte Oliven
mit scharfer
Joghurtsoße
Typisch Ottolenghi:
Für dieses Rezept aus
seinem neuen Kochbuch (siehe unten) hat
er sich von der jüdischen Gastro-Szene in
New York inspirieren
lassen
Kulinarik-Experiment namens
New Israeli Cuisine.
Die Herkunft des 46-jährigen
Starkochs ist eine ähnlich wilde Mixtur wie die Zutaten vieler seiner Gerichte: Ottolenghis
Mutter ist eine deutschstämmige
Jüdin, sein Vater Italiener, geboren und aufgewachsen ist er in
Jerusalem, dieser Stadt, „die
immer zurückschaut, nie nach
vorn“. Nichts für junge Leute:
Über Tel Aviv ging Ottolenghi
nach London und begann seine
kulinarische Karriere bescheiden mit einem Imbiss im Londoner Stadtteil Notting Hill.
Mittlerweile regiert er ein
Gastro-Imperium mit drei edlen
Bistros, dem Restaurant „Nopi“,
einem Catering-Service, eigenen
Feinkostprodukten, er schreibt
eine Food-Kolumne für den
„Guardian“ und jährlich einen
Kochbuch-Bestseller.
Mit dem „Jerusalem-Kochbuch“ setzte er seiner alten Heimat vor zwei Jahren ein Denkmal – und stieß eine Debatte
über die Peacekeeper-Qualitäten von Humus an. Denn Ottolenghi hat das Buch gemeinsam
mit seinem palästinensischen
Geschäftspartner Sami Tamimi
geschrieben: „Im Nahen Osten
ist eben jeder Bissen politisch“,
sagt er und zuckt fast entschuldigend mit den Schultern.
Sicher macht auch diese politische Komponente die neue israelische Küche gerade für viele
weltoffene Großstädter so interessant – und vielleicht ist Ottolenghis Philosophie, aus allen
Kulturen das Beste zu einem
großartigen Ganzen zu vermischen, auch kein ganz schlechtes Rezept für die Krisenregion
Naher Osten.
Die „New York Times“ jedenfalls rief, nachdem im Big Apple
binnen kürzester Zeit ein Dutzend neuer jüdischer Delis im
Ottolenghi-Stil eröffnet hatten,
das „goldene Zeitalter für die
morgenländische Küche im
Abendland“ aus. Und auch in
den Szenevierteln vieler europäischer Großstädte lässt es sich
tafeln wie in einem osteuropäischen Schtetl oder in den
engen Gassen der Jerusalemer
Altstadt.
Im Restaurant „Maxie Eisen“
im Frankfurter Bahnhofsviertel
zum Beispiel – der Namensgeber war ein Mitglied der „Kosher Nostra“, der jüdischen Mafia
im Amerika der 30er-Jahre: Hier
gehören Pastrami-Sandwiches
und Matzeballsuppe zu den
beliebtesten Gerichten.
Oder hoch über dem revitalisierten Berliner Westen, im
Designhotel „25hours“: Genau
wie das nebenan gelegene Lifestyle-Kaufhaus Bikini spricht das
Restaurant „Neni“ eine Kundschaft an, die das Neueste vom
Neuen will. Haya Molcho,
111
LEBEN & GENIESSEN
112
Haya Molcho
Seit einem Jahr betreibt
die Köchin aus Tel Aviv
das Restaurant „Neni“
im hippen Berliner
Hotel „25hours“:
israelisch, jung, urban,
unprätentiös und
ständig ausgebucht
Ofir Graizer
Der israelische Koch und
Filmemacher will die Gerüche und Genüsse seiner
Heimat nach Deutschland bringen. Mit großem
Erfolg: Die Warteliste für
seine Kochkurse in
Prenzlauer Berg ist lang
„Maxie Eisen“
Cool und köstlich: Das
Frankfurter Restaurant
lädt zu Pastrami-Sandwich und Matzeballsuppe
wie man Falafelbällchen rollt.
Der Kurs „Jerusalem Street
Food“ im Goldhahn und Sampson in Berlin-Prenzlauer Berg ist
ständig ausgebucht.
Koch Ofir Graizer, der eigentlich Filmemacher ist, glaubt,
dass das zum Teil an Ottolenghis Büchern liegt, aber auch
an der Raffinesse der vielfältigen Gemüserezepte, die Jerusalems Straßenküche ausmacht.
Beim Schnippeln und Brutzeln
geht es in Graizers Schulküche
immer sehr lebendig zu:. „Essen
ist eine sehr persönliche Erfahrung, wir reden viel über unsere Herkunft, unsere Familien“,
sagt der 33-Jährige. Kochen und
Essen verbindet – das ist ja auch
Ottolenghis Nahost-Credo.
Bis vor Kurzem jedenfalls
glaubte Graizer, die Lust an der
Küche aus dem Nahen Osten sei
nur eine kurzlebige Kochmode.
Seit er bei einem LebensmittelDiscounter aber die Sesampaste
Tahini direkt neben Spreewaldgurken gesichtet hat, ist er sich
sicher: Dieser Trend bleibt.
■
ELKE HARTMANN-WOLFF /
BARBARA JUNG
FOCUS 2/2015
Fotos: Peter Rigaud/laif; Peter M. Mayr; Picasa; Steve Herud
59, geboren in Tel Aviv, hatte den
richtigen Instinkt, als sie vor zehn
Jahren in ihrer Wahlheimat Wien
begann, israelisches Catering
anzubieten. Auch wenn es damals
eher die Sehnsucht nach einem
Stück Heimat in der Fremde war,
die die Psychologin dazu motivierte. Heute betreibt sie gemeinsam
mit ihren vier Söhnen drei Restaurants mit dem Namen „Neni“ in
Wien, Zürich und Berlin.
„Authentisch“ nennt Molcho
den Mix in ihren Läden: „Wir
sind urban, aber nicht stylish.“
Ihr Berliner Restaurant lädt im
10. Stockwerk mit grandiosem
Blick über Zoo und City West in
einem Ambiente zwischen Loft
und arabischem Souk zum lässigen Genuss: Aus der Küche duftet es nach exotischen Gewürzen, der Gast sitzt gemütlich auf
seinem Kelim-Kissen und futtert
sich durch Auberginen-Püree,
aromatisches Lamm oder Tel
Aviver Sabich, eine Art GemüseDurcheinander.
Fine Dining ist das nicht: Alle
Töpfe werden unprätentiös auf
den Tisch gestellt, jeder probiert
von allem. Trotzdem muss, wer
im „Neni“ essen möchte, gut
planen: Ein Jahr nach der Eröffnung sind die Tische immer noch
Wochen im Voraus reserviert.
Selbst eher konservative
Gourmet-Restaurants wie „Feinkost Käfer“ im teuren MünchenBogenhausen laden neuerdings
zur israelischen Food-Night.
Tom Franz, ein Deutscher, der
es in seiner Wahlheimat Israel
durch den Sieg in einer TVKochshow zu einiger Berühmtheit gebracht hat, kredenzt dort
unter anderem Traditionsgerichte wie Fisch-Kebab – zu koscherem Wein, versteht sich.
Mit den religiösen jüdischen
Speisevorschriften nehmen es
die Foodies nicht so genau. Sie
diskutieren lieber darüber, wo es
die frischesten Zutaten für die
Rezepte des neuen OttolenghiBestsellers „Vegetarische Köstlichkeiten“ zu kaufen gibt.
Auch in vielen Kochschulen
wird mittlerweile unterrichtet,
Buch & Bar
„SUV zum Anziehen“
Dani Reiss produziert in Kanada polartaugliche Jacken. Nun
tragen hippe Großstädter sein Label Canada Goose durch die
Szeneviertel. Ein kurzes Gespräch über Freiheit und Abenteuer
Mr Reiss, warum tragen neuerdings so
viele Städter polartaugliche Kleidung?
Diese Jacken sind wie ein Land
Rover zum Anziehen. Die wenigsten Menschen, die mit ihrem SUV
durch die Stadt fahren, kurven
damit jemals im Gelände. Allein
der Gedanke an die Möglichkeit
gibt ihnen das Gefühl von Freiheit.
So ist es wohl auch mit den Jacken.
Das Abenteuer findet im Kopf statt.
Fotos: Carmen Cheung; Wolf Heider-Sawall für FOCUS-Magazin
Illustration: KAFI für FOCUS-Magazin
Seit einigen Jahren wächst Ihr
Unternehmen sehr schnell. Wie
erklären Sie sich diesen Erfolg?
Die Leute wollen echte Dinge
kaufen: Schweizer Uhren, deutsche Autos, kanadische Winterjacken. Diese Produkte versprechen
eine Qualität, die sich auch mit
dem besten Marketingteam nicht
nachahmen lässt. Das Bedürfnis
nach Kleidung, die nicht in fünf
verschiedenen Fabriken in China
zusammengenäht wird, ist groß.
Ihr Großvater stammt aus Polen.
Wie kam er darauf, in Kanada eine
Firma für Winterjacken zu gründen?
Meine Oma hat ihn 1957 dazu
überredet. Mein Opa arbeitete
zunächst als Zuschneider für andere Firmen. Sein eigenes Unternehmen nannte er Metro Sportswear.
Mein Vater hat die Firma dann in
Canada Goose umbenannt und
sich die Sache mit der Daunenfüllung ausgedacht.
Tierschützer kritisieren, dass
Sie für die Kapuzen echtes
Kojotenfell verwenden.
Ich weiß, aber das gehört zu
unserer Tradition. Unsere Felle
kommen aus dem Norden Kanadas, wo sich die Einwohner schon
seit Jahrtausenden mit Kojotenfell
gegen die Kälte schützen. So wie
die meisten von uns seit eh und
je Schuhe aus Leder tragen. Das
ist der Kreislauf des Lebens. Was
soll daran plötzlich falsch sein?
FOCUS 2/2015
Vielleicht, dass man in BerlinMitte oder Düsseldorf eben
kein Kojotenfell braucht?
Wir produzieren Funktionsjacken, egal, wer sie später wo trägt.
Künstliches Fell funktioniert nicht,
es friert ein, wenn es nass wird. Bei
uns gibt es so viele Kojoten, dass
der Bestand kontrolliert werden
muss – wie der Wildschweinbestand in deutschen Wäldern.
Seit vorigem Jahr sponsern Sie die
Berlinale. Wie passen OutdoorJacken und roter Teppich zusammen?
Canada Goose hat eine lange
Tradition in der Filmbranche: An
jedem Filmset, an dem es kalt ist,
tragen die Leute unsere Jacken.
Mittlerweile haben es einige
Exemplare auch vor die Kamera
geschafft. Wir fühlen uns der Filmindustrie verbunden. Deswegen
die Zusammenarbeit mit der Berlinale – dem Filmfest, bei dem es
am kältesten ist. Cannes im Mai
wäre ein bisschen albern gewesen.
Kühler Kopf,
warme Ohren
Canada-GooseChef Dani Reiss,
41, führt das
kanadische
Familienunternehmen seit
2001 in dritter
Generation.
Er machte aus
dem OutdoorSpezialisten –
Markenzeichen
Kojotenfell –
ein erfolgreiches LifestyleLabel.
FOCUS-Literatur-Redakteur
Uwe Wittstock über
zart melancholisches
Lesen und Trinken
Also, Balzac ist nicht
nur ein Coffee-Shop!
Kürzlich traf ich einen Kollegen beim
Wein. Er machte einen seelisch leicht
zerzausten Eindruck. Gerade hatte er
gehört, wie brutal der Ex-Abgeordnete
Edathy den befreundeten NochAbgeordneten Hartmann bloßstellte.
„Ihr habt’s gut, ihr aus der Kultur“,
sagte er, „diese Politik, dieses Berlin . . .“, schüttelte den Kopf und murmelte was von „Schlangengrube“.
„Du solltest“, empfahl ich ihm, „mal
Balzacs ‚Verlorene Illusionen‘ lesen.“
Okay, der Roman ist rund 180 Jahre alt,
wurde aber jetzt glänzend neu übersetzt von Melanie Walz (Hanser, 39,90
Euro): Lucien, ein junger Poet, kommt
aus dem kleinen Angoulême ins große
Paris. Der Kulturbetrieb dort dreht ihn
durch den Wolf, bis er vom Idealisten
zum Zyniker mutiert. „Verglichen damit ist Berlin ein Kloster und Edathy
Moraltheologe“, sagte ich. „Und das
Beste an dem Buch: Nichts von dem,
was Balzac beschreibt, hat sich geändert. Der Roman ist wie ein Live-Bericht aus dem Kulturzirkus von heute.“
Der Kollege schaute skeptisch. Aber
dann suchte er uns einen wunderbar
geschmeidigen Rotwein aus, um seine
Melancholie zu ertränken: eine Flasche
Domaine du Grollet (www.valmour.
de/pflege-produkte/rotwein-infine,566). Denn der kommt aus der
Charente bei Angoulême, der Heimat
Luciens, wo es sonst eigentlich nur
Weißwein, Pineau oder Cognac gibt.
INTERVIEW: BARBARA JUNG
113
LEBEN & GENIESSEN
3
4
5
2
1
Künstliche Wolke
1 Wasser wird unten durch
Düsen in den drei Meter hohen
Ballon eingeleitet und zu einem
2 feinen Nebel zerstäubt.
3 Winzige Eisplättchen
dienen als Keime, an denen
sich die Tröpfchen anlagern.
So entstehen wie in einer echten
Wolke natürliche Eiskristalle.
4 Die Kristalle vereinigen
sich zu Schneeflocken, die
wegen ihres höheren Gewichts
5 nach unten aus der
Wolkenkammer fallen. So
entstehen bis zu 15 Kubikmeter
Schnee pro Stunde.
114
FOCUS 2/2015
TECHNIK
Let it snow!
Mit gigantischen Kunstschnee-Anlagen wollen Skigebiete
in den Alpen dem Klimawandel trotzen. Der Schneemangel
gefährdet ihre Existenz. Doch jetzt erproben Entwickler
Technologien, aus denen es viel umweltschonender schneit
Innovation
Entwickler Michael
Bacher (r.) erzeugt
echten Pulverschnee
in einer ballonartigen
Konstruktion
Fotos: pro.media; Siepmann/ALIMDI.NET
W
FOCUS 2/2015
ie ein weiß-grünes
Raumschiff steht
Michael Bachers
Freiluftlabor auf drei
dünnen Metallbeinen neben der
Liftstation im Edel-Skigebiet
Obergurgl, Österreich. Die Skifahrer rasen daran vorbei, ohne
die Konstruktion zu beachten.
Dabei könnte die Erfindung des
Ingenieurs dazu beitragen, dass
die Touristen ihrer Leidenschaft
auch noch in Zukunft frönen
können.
Selbst Mitte Dezember ist vom
Wintereinbruch noch nicht viel zu
spüren. Statt weißer Weihnacht
herrscht im Flachland Frühlingsstimmung, und sogar auf
knapp 2000 Metern am hinteren
Ende des Tiroler Ötztals ist der
Schnee rar. Die Skipisten ziehen
sich wie dünne weiße Bahnen
ins Tal, links und rechts sind nur
schmutzig-braune
Wiesen zu sehen.
Die deutschen
Seilbahnbetreiber
nehmen pro Saison im Schnitt
mehr als 380 Millionen Euro ein. In
Österreich betrug
der Umsatz an
den Liftkassen
im vergangenen
Winter rund 1,2
Milliarden Euro.
Doch ohne Schnee
bleibt das Geld
der Touristen weg.
VIDEO
Seite scannen
mit FOCUS
ACTIVE APP
Wie in der Natur
erzeugt die Wolkenkammer Schneekristalle. Sonst besteht
Kunstschnee aus
Klumpen
Deshalb werden immer aufwendigere Kunstschnee-Anlagen installiert. Kilometerlange
Leitungssysteme durchziehen
Almwiesen. Für die riesigen
Reservoirseen, die bis zu 100
Millionen Liter Wasser fassen,
werden Hänge abgetragen,
betoniert und wieder überdeckt.
Seit 2008 haben Österreichs
Seilbahnen mehr als 800 Millionen Euro in die Schneegarantie
investiert.
Doch laut einer Studie der
Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung könnte der Klimawandel all
diese Anstrengungen zunichtemachen. Bei einer angenommenen Erwärmung um zwei Grad
würde von den etwa 40 Skigebieten in Süddeutschland nur noch
ein knappes Drittel als schneesicher gelten. Bei einem vier Grad
wärmeren Klima
wäre lediglich der
Gletscher auf der
Zugspitze befahrbar. In Österreich
und der Schweiz
würden bis zu
70 Prozent der
Skigebiete verschwinden.
Die Liftbetreiber greifen deshalb zu verzweifelt anmutenden
Mitteln. Für Großereignisse wird
Schnee
115
schon mal per Lkw-Kolonne angeliefert, mancherorts lagert er den
Sommer über unter Plastikplanen. Höchste Zeit für ein bisschen
Innovation.
Über eine wacklige Metallplanke geht es ins Innere der „Wolke“, wie die Menschen im Dorf zu
Michael Bachers Gebilde sagen.
Und wenn man es nicht allzu
genau nimmt, stimmt der Spitzname auch. Es handelt sich in Wahrheit um einen etwa dreieinhalb
Meter großen giftgrünen Ballon,
in dem Schnee nach natürlichem
Vorbild erzeugt wird. Bacher, Ingenieur an der Universität für Bodenkultur in Wien, spricht von einer
„Wolkenkammer“, in die mittels
einer Düse Wassertropfen eingestäubt werden. Das Wasser trifft
auf feine Eispartikel. Daraus wachsen dann die typischen symmetrischen Schneekristalle, sogenannte
Dendriten. Haben sie eine gewisse Größe erreicht, fällt der Schnee
aus dem Ballon herab. Wie eben in
einer Wolke. Nachteil: Das funktioniert nur bei Temperaturen von
maximal minus drei Grad.
Diese Methode ist wesentlich
eleganter als die herkömmliche
Schneeproduktion. Die Kanonen
und Schneelanzen, die an so gut
wie jeder Piste stehen, „machen
halt etwas, was auch weiß ist“,
wie Michael Bacher ein bisschen
abschätzig sagt. Der Unterschied
zwischen den beiden Erzeugnissen lässt sich auf der Piste fühlen.
Auf Knopfdruck erzeugt die Wolke den begehrten Pulverschnee,
so fein und leicht, wie er sonst nur
an wenigen Tagen im Jahr fällt.
Aus den konventionellen Schneekanonen rieseln eher klein gestoßene Eisbröckchen.
In den bayerischen Alpen können auf diese Weise 23 Prozent
der Skipisten beschneit werden, in der Schweiz sind es 39
Prozent, und in Österreich liegt
die Quote bei 60 Prozent. In der
Summe sind das fast 250 Quadratkilometer – eine Fläche, etwa
halb so groß wie der Bodensee.
Dementsprechend hoch sind die
Energiekosten. So benötigt eine
Schneeanlage allein für eine
116
Schneelanzen
machen diese Piste im
bayerischen Lenggries befahrbar. Sie
spucken eher klein
gestoßene Eisklumpen als Kristalle aus
Schmal und dünn
Die KunstschneePiste Draxlhang bei
Lenggries. Dem niedrig
gelegenen Skigebiet fehlt oft Schnee
Fläche von 20 Hektar im Durchschnitt 250 000 Kilowattstunden
pro Jahr. Die dafür nötigen Investitionen zahlen die Skifahrer an
der Liftkasse. Etwa zehn Prozent
des Kartenpreises, so schätzt
Michael Bacher, decken allein
die Kosten für die Beschneiung.
Bacher geht es deshalb auch um
Effizienz. Denn mit den herkömmlichen Verfahren lassen sich aus
einem Kubikmeter Wasser selbst
bei idealen Bedingungen nur etwa
zwei Kubikmeter Schnee produzieren. Bachers Wolke verspricht
dagegen ein Verhältnis von 1 zu
15. Auch der Stromverbrauch
der Wolke ist niedriger. „Pro Jahr
werden in Österreich 120 Millionen Kubikmeter Schnee produziert“, so Bacher. „Wenn nur 20
Prozent davon aus unserem System kämen, könnte man 50 bis 60
Millionen Euro einsparen.“ Noch
betreibt Bacher mit seiner Kunstwolke Grundlagenforschung, im
nächsten Jahr will er mit seiner
Firma Neuschnee einen serienreifen Prototyp entwickeln.
Ein Tal weiter, Luftlinie gut zehn
Kilometer entfernt, aber durch
mächtige Gipfel von Obergurgl
abgeschottet, arbeitet man auch
am Pitztaler Gletscher daran, die
Zukunft des Schnees zu sichern.
Aber mit einer vollkommen anderen Philosophie. Schnee um jeden
Preis, heißt es hier. Die dafür nötige Technik stammt ausgerechnet
aus Israel. Dort entwickelte ein
Unternehmen namens IDE Technologies Gerätschaften, die Bergwerke mit Schnee kühlen.
Die dafür nötige Maschine ist ein
riesiges Gewirr aus Pumpen, Rohren und Kühlkammern, 30 Tonnen
schwer, mehr als elf Meter hoch
ragt sie empor. Das passt nicht in
die heimelige Alpenatmosphäre,
deshalb hat man die siloartige
Konstruktion in einer – auch nicht
gerade ansehnlichen – Lagerhalle neben der Liftstation versteckt.
Die Schneefabrik pumpt Wasser durch eine Vakuumkammer,
dort entsteht ein eisiger Brei, der
in einem Silo aufgefangen wird.
Die Schneekristalle werden separiert, zum Schluss trägt sie ein Förderband ins Freie. Pistenraupen
verteilen den Schnee dann auf
dem gesamten Berg. 560 Tonnen
erzeugt das Ungetüm pro Tag.
Eine ähnliche Technik kam
bereits in den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi zum
Einsatz. Bei Plusgraden. Wenn
nötig, prahlt der Hersteller, könne er Schnee auch in der Sauna
machen.
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MICHAEL MOORSTEDT
FOCUS 2/2015
Fotos: Regina Müller/ddp images; Falk Heller/argum
TECHNIK
LEBEN & GENIESSEN