james ensor

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james ensor
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
Sterbebett meiner Mutter
Doodsbed van mijn moeder
Ma Mère morte
1915
Öl auf Leinwand
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Die Mutter von James Ensor liegt auf dem
Sterbebett. Das grafisch ausgearbeitete Porträt zeigt
einen von Krankheit und Altersschwäche
gezeichneten Leichnam mit einem offenen Mund,
einem Raubvogelprofil und gefalteten Händen, durch
deren Haut die Konturen des Skeletts schimmern.
Das Sterbebett ist in den Hintergrund gerückt. Im
Vordergrund steht ein Stillleben aus Flaschen und
Flakons mit Arzneimitteln. Auf einem Barockschrank
steht ein Heiligenbild. Die Arzneimittel und das
Heiligenbild symbolisieren zusammen den
(verlorenen) Kampf von Medizin und Religion gegen
den Tod.
Die Mutter von Ensor, Marie Louise Cathérine
Haegheman, war lange Zeit die starke Frau in der
Familie. Sie hatte das Geschäft von ihren Eltern
übernommen und führte es unter ihrem eigenen
Namen weiter. Die Familie besaß mehrere Filialen in
Ostende und Blankenberge, wo sie Fayence,
Porzellan, Muscheln, parfümierte Blumen,
chinesische Vasen, Korallen aus Neapel, Schmuck
aus Algier, Tunis und Konstantinopel verkauften. Sie
pflegten Handelsbeziehungen mit Singapur,
Hongkong, Matanzas und Nassau. In der Saison
arbeiteten Ensors Mutter und ihre Schwester sehr
hart. Im Winter konnten sie sich im ausgestorbenen
Ostende ausruhen. Ensor erzählte in einer Tischrede,
dass seine Mutter und seine Tante Mimi ihm finanziell
durch die schwierigsten Jahre geholfen hatten.
Seine Mutter war achtzig Jahre alt, als sie am 8.
März 1915 nach langer schwerer Krankheit starb. Zu
jenem Zeitpunkt war Ensor fünfundfünfzig. Ensor hat
seine Mutter in den Stunden und Tagen nach ihrem
Tod mindestens viermal gezeichnet und zweimal
gemalt, an jedem Tag vom 8. bis zum 11. März.
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
erstaunlich hohen Rhythmus aufeinander folgten.
Auch Willy Finch benutzte dieses Atelier eine Weile.
Blick auf die Van Iseghemlaan
Im Laufe seiner Werke sehen wir, wie sich der
Stadtteil von einem verfallenen Kasernenviertel mit
verkommenen königlichen Ställen zu einem
mondänen Zentrum mit dem Theaterkomplex von
Alban Chambon als Mittelpunkt entwickelt. In diesem
Werk aus dem Jahr 1906 befindet sich Ostende, „die
Königin der Nordseebäder“, auf dem Höhepunkt ihres
Ruhmes.
Gezicht op de Van Iseghemlaan
Vue du Boulevard Van Iseghem
1906
Öl auf Leinwand
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Die Familie Ensor zog 1876 in ein brandneues
geräumiges Gebäude an der Ecke der
Vlaanderenstraat und der Van Iseghemlaan um. Das
war ein stattlicher Neubau mit einem Laden im
Erdgeschoss und mehreren Stockwerken mit
Zimmern für Touristen. Die Dachkammer durfte der
sechzehnjährige James als Atelier einrichten. In
dieser kleinen Mansardenkammer, hoch über den
Straßen, malte Ensor unzählige Male die Dächer der
Vlaanderenstraat und der Van Iseghemlaan – in der
Sonne, im Regen und im Schnee. Das war sein
Beobachtungsposten, von dem aus er eine weite
Aussicht über die Dächer und Türme von Ostende,
dem flachen Land in der Weite und die Hektik auf der
Straße hatte. Viele Stunden zog er sich in sein Atelier
zurück, um konzentriert an zahlreichen Gemälden,
Stichen und Zeichnungen zu arbeiten, die in einem
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
Stillleben mit Buch über Jean Teugels
April 1938
Öl auf Malplatte
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Die Stillleben von James Ensor sehen oft aus wie das
Schaufenster des Ladens seiner Mutter, mit Fächern,
exotischen Muscheln, Masken, Puppen, chinesischen
und koreanischen Teekannen und Vasen. Dergleichen
Chinoiserien, wie Ensor sie nannte, waren bei den
Touristen in Ostende sehr beliebt. Seine Mutter
bestellte die Nippes für den Laden, unter anderem
beim bekannten Siegfried (später Samuel) Bing.
Auf seinen späteren Stillleben malte Ensor häufig
auch Blumen, die seine gute Freundin Augusta
Boogaerts für ihn mitbrachte. Sie half dem Künstler
oft bei der Aufstellung seiner Stillleben. Ensor hielt
die Komposition der Stillleben mit Absicht einfach,
sodass er sich voll und ganz auf den Widerschein des
Lichts auf den Gegenständen und die Wiedergabe der
Farben konzentrieren konnte.
Jean Teugels, ein Magistrat aus Veurne, ließ 1931
das Büchlein Variations sur James Ensor bei der
Druckerei von Le Carillon drucken. Seine Publikation
sah er in diesem kleinen Werk mit Öl auf Malplatte
verewigt.
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
Ensor und Leman
im Gespräch über die Malerei
Blick auf Mariakerke
Ensor en Leman
in gesprek over de schilderkunst
1890
Öl auf Malplatte
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
In Ensor und Leman im Gespräch über die Malerei
führt der Maler sich selbst als Gegenspieler von
General Leman auf, der den Maler mit einer
Spielzeugkanone bedroht. Ensor kontert mit einem
Pinsel als Federbüschel.
Ensor stellte in seinen Radierungen und Zeichnungen
oft Freunde und Feinde bloß. Es ist schwierig
herauszufinden, ob Ensor damit auch persönliche
Frustrationen oder Existenzängste äußerte.
Gezicht op Mariakerke
Vue de Mariakerke
1901
Öl auf Leinwand
Kollektion Mu.Zee, Ostende
Von den Dünen aus richtete der Künstler seinen Blick
auf das friedvolle Fischerdorf Mariakerke und das
dahinterliegende Polderland. Dieser Platz mit der
mittelalterlichen Dorfkirche gleich hinter dem noch
unberührten Dünengürtel war bei Wanderern und
Künstlern sehr beliebt.
Auf diesem Bild fällt allerdings etwas Merkwürdiges
auf. Ensor benutzte beim Malen seine Radierung
Großer Blick auf Mariakerke als Vorlage, wodurch das
Gemälde, ebenso wie die Drucke der Radierung, die
Wirklichkeit spiegelverkehrt wiedergibt.
Eine ältere Variante dieses Bildes trägt die Jahreszahl
1896. Auf diesem Werk liegt der Blickpunkt etwas
höher, sodass mehr vom Hinterland zu sehen ist,
und die topografische Wiedergabe ist korrekt.
Ensor wurde 1949 auf dem Friedhof der hier
abgebildeten Marienkirche begraben.
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
Nach dem Sturm
Na de storm
Après l’orage
1880
Öl auf Leinwand
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Nach dem Sturm ist eines der ersten Gemälde, das
Ensor nach seinem Akademiestudium malte. Es ist
eine impressionistische Vision der See, in dem
Augenblick, als die Sonne nach einer morgendlichen
Sturmbö wieder durchbricht. Die aufgehende Sonne
färbt die Wolken rosa, und wir sehen ein Fragment
eines Regenbogens, der in Ostende nur morgens
über dem vollen Meer wahrgenommen werden kann.
Im Mai 1880 verließ James Ensor die Brüsseler
Akademie für immer. Nach seiner Rückkehr nach
Ostende arbeitete er eifrig in seinem Atelier unter
dem Dach des Elternhauses an der Ecke der Van
Iseghemlaan und der Vlaanderenstraat. Das Haus lag
auf dem zugeschütteten Stadtgraben, etwa fünfzig
Meter vom Deich entfernt. Ensor war also sehr
vertraut mit der See und ihren endlosen Licht- und
Farbschattierungen im Zusammenspiel mit Sonne,
Wolken, Nebel und Wind.
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
Große Marine – Sonnenuntergang
Grote marine – zonsondergang
Grande marine – Coucher de soleil
1885
Öl auf Leinwand
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Große Marine – Sonnenuntergang ist eine
impressionistische Vision der See in dem Augenblick,
als die Sonne untergeht und die See und die Wolken
rot färbt. Ensor zeigt hier sehr viel Gespür für die
Lichteffekte. Vom Format her ist es eines seiner
größeren Bilder.
Ensor malte nur wenige Jahre intensiv Marinen, von
1880 bis 1885. Alle Zeichnungen und Gemälde aus
dieser Periode realisierte er als ein überzeugter
Pleinairist auf dem Strand oder in den Dünen.
Künstler aus dem ganzen Land reisten mit der Bahn
an, um den Pleinairismus an der Küste auszuüben
und die endlose Meeresfläche zu studieren. Sie
brachten ihre Malutensilien mit, eine Schachtel,
gefüllt mit industriell hergestellter Farbe in Tuben.
Eine Folge davon war, dass die Künstler dem Licht
und der Farbe viel mehr Aufmerksamkeit widmeten.
Auch Ensor versuchte, die subjektive Erfahrung der
Wirklichkeit farblich zu erfassen. Oft verwendete er
ein Palettenmesser. Große Marine –
Sonnenuntergang malte er mit dünnen, langen
Pinselstrichen.
“La beauté, sans doute, ne fait pas les révolutions.
Mais un jour vient où les révolutions ont besoin
d'elle. Sa règle qui conteste le réel en même temps
qu'elle lui donne son unité est aussi celle de la
révolte.”
„Schönheit entfesselt natürlich keine Revolutionen.
Jedoch ist jede Revolution in einem gewissen
Moment der Schönheit bedürftig. Denn beide
bestreiten die Realität, deren Harmonie sie zur
gleichen Zeit zu Stande bringen.“
Albert Camus
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
Selbstporträt mit Blumenhut
Zelfportret met bloemenhoed
Autoportrait au chapeau fleuri
1883 - 1888
Öl auf Leinwand
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Dieses Selbstporträt stammt aus dem Jahr 1883 und
ist eine Weiterentwicklung der Selbstporträts, die ab
1879 entstanden. Ensor ist nur etwas erwachsener
geworden und hat einen Bart und einen Schnurrbart.
Zunächst war es ein ‘normales’ Porträt. 1888
bearbeitete er es, indem er einen mit Blumen
verzierten Filzhut, einige nach oben führende Züge
am Schnurrbart und die vier Kreisfragmente
hinzufügte.
Zu Beginn der 1960er Jahre wurde zum ersten Mal
entdeckt, wie Ensor von 1886 bis 1891 zahlreiche
Zeichnungen und Gemälde aus seinen Debütjahren,
wie Selbstporträt mit Blumenhut, teilweise mit
dämonischen und karnevalesken Motiven
überzeichnete und übermalte. Wenn wir das Werk
aufmerksam beobachten, fällt tatsächlich der
Unterschied zwischen der Ausführungstechnik des
eigentlichen Porträts und der Hinzufügungen auf.
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
Über die Kreisfragmente gehen die Meinungen
auseinander. Manche vermuten, dass sie auf das
bekannte Selbstporträt von Rubens im
Kunsthistorischen Museum in Wien verweisen, das
Ensor zweifellos anhand von Reproduktionen kannte.
Die Anspielung auf Rubens kann mit dem großen
Selbstbewusstsein des Künstlers in Beziehung
gesetzt werden, der sich hier wie ein Rubens des 19.
Jahrhunderts präsentiert. Andere sehen in den
Kreisfragmenten die Suggestion eines Spiegels oder
eines Verweises auf barocke englische Porträts, in
denen die Kreisbögen als eine Art Medaillon in
Trompe-l’œil fungieren, als eine Öffnung, hinter
welcher der Porträtierte steht.
Die Bäder von Ostende
De baden van Oostende
1891
Ostindische Tinte auf Papier
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
„Jede Kunst ist autobiografisch. Die Perle ist die
Autobiografie der Auster.“
Federico Fellini
Diese Tintenzeichnung geht auf ein kleines Werk in
Öl, Farbe und Buntstift auf Malplatte aus dem Jahr
1890 zurück. Vom selben Thema besteht auch eine
radierte Version, welche die Tintenzeichnung
wiederholt, sie aber merkwürdigerweise nicht
spiegelverkehrt darstellt.
Ensor skizziert auf spielerische Weise einen belebten
Sommertag in Ostende. Die Badekarren werden von
Pferden über den Strand gezogen, sodass die
Badenden direkt ins Meer steigen konnten, ohne
vorher ein Stück zu Fuß auf dem Strand oder durch
das flache Wasser gehen zu müssen. Oberhalb der
Badekarren beobachten Neugierige mit Ferngläsern
die weiblichen Schönheiten im Meer. Die vielen
Badenden bilden allein oder zu zweit kleine, groteske
Szenen. Die Beau Monde und einige Tagesausflügler
schauen unten zu: ein Pastor und ein Offizier,
Bürger, Fremde, Männer und Frauen. Wir erkennen
General Leman, Eugène Demolder und Mariette
Rousseau, denn auch diese Szene ist ein Fragment
aus Ensors Autobiografie. Ein Fotograf hat sein Stativ
auf das Dach eines Badekarrens gestellt und
verschwindet unter dem schwarzen Tuch. Links oben
erscheinen das Königliche Chalet und die
Wellingtonrennbahn.
Die Szene war für Ensor ein Anlass, Kritik an den
Rängen und Ständen und an der damals
herrschenden Prüderie zu üben. Es soll 1895 oder
1898 in einem Salon von La Libre Esthétique
abgelehnt worden sein. Als Ensor sich darüber bei
Leopold II. beklagte, war Maus verpflichtet, das Bild
aus dem Reservelager zu holen und ihm einen
Ehrenplatz zu geben – wie Ensor selbst in seinen ‘Les
Écrits’ schrieb.
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
Die Kathedrale
De kathedraal
La Cathédrale
1886
Radierung auf japanischem Papier
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Die Kathedrale wird allgemein als eine der
wichtigsten Radierungen aus dem grafischen Œuvre
von Ensor betrachtet. Sie ist einer der
meistgesuchten Stiche.
Die Radierung ist ein frühes Beispiel der großen
Menschenmenge als Thema in Ensors Werk, ein
Motiv, das seinen Höhepunkt in seinem Einzug
Christi in Brüssel erreichen soll.
Beim gotischen Kirchengebäude ließ Ensor sich von
einer Abbildung des Aachener Doms inspirieren. Für
die beiden Türme verwendete er als Vorlage eine
andere, noch nicht identifizierte Kirche (oder eine
Abbildung von ihr?).
Es scheint ein Fest, einen Aufzug oder eine
Prozession im Gange zu sein. Aber die Bedeutung ist
schwierig zu erklären. Spielte Ensor auf die Kirche
als Institution an, welche die Gesellschaft seiner Zeit
dominierte? Oder geht es einfach um eine
phantastische Vision, in welcher die Pracht der
gotischen Architektur im Zentrum steht?
1896 sollte er von diesem erfolgreichen Bild eine
zweite Version radieren, die ein ungeübtes Auge
kaum von der ersten zu unterscheiden vermag.
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
Teufel verprügeln Engel und Erzengel
Duivels rossen de engelen
en aartsengelen af
Diables rossant anges et archanges
1888
Mit Aquarell eingefärbte Radierung auf holländischem
Papier
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Teufel verprügeln Engel und Erzengel mit lustigen
Teufeln, Monstern und sarkastischen Masken ist eine
Darstellung im Geist der Werke von Bosch und
Bruegel.
Ensor begann erst 1886 zum ersten Mal mit dem
Radieren, zwei Jahre vor der Verwirklichung dieses
Werkes. Es war seine gute Freundin Mariette
Rousseau, die ihn dazu brachte. 1888 war sein
grafisches ‘Wunderjahr’, in welchem er nicht weniger
als 45 Radierungen anfertigte.
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
Der Pinkler
De pisser
Le Pisseur
1887
Radierung auf japanischem Papier
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Diese Radierung mit der berühmten Aufschrift ‘Ensor
est un fou’ stellt einen urinierenden Mann dar. Eine
Szene, die im damaligen Stadtbild von Ostende gang
und gebe war. Das Schamgefühl war in bestimmten
Bevölkerungsschichten schließlich noch nicht
besonders entwickelt.
Ensor hatte ein großes Interesse an Menschen aus
dem Volk. Gemeinsam mit seinem Freund Willy Finch
fertigte er viele Holzkohlenskizzen von
volkstümlichen Personen aus dem Fischermilieu von
Ostende an. Wie in jeder Stadt und in jedem Dorf
von damals gab es dort viele Arme, Obdachlose,
Vagabunden, Bettler und Ausgestoßene im
alltäglichen Straßenbild. Es war den Bettlern
übrigens verboten, sich am Zugang zum Pfahlwerk
aufzustellen und die Spaziergänger zu belästigten.
„Die Einbildungskraft unserer Zeit muss eingesetzt
werden, um Tatsachen, Wissenschaft und
gewöhnliche Leben zu beseelen, sie mit dem Glanz
und der Glorie und der wahren Herrlichkeit zu
beschenken, die jedem wirklichen Ding und nur den
wirklichen Dingen eigen sind. Ohne diese wesentliche
Beseelung - die Dichter und andere Künstler als
einzige geben können - ist die Wirklichkeit
unvollständig und sind Wissenschaft, Demokratie und
das Leben selbst letztendlich vergeblich.“
Walt Whitman
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
Der Einzug Christi in Brüssel
De intocht van Christus in Brussel
L’Entrée du Christ à Bruxelles
1898
Eingefärbte Radierung auf Papier
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Diese Radierung wiederholt spiegelverkehrt und mit
einigen Änderungen das Gemälde Der Einzug Christi
in Brüssel aus den Jahren 1888-1889. Das Gemälde
Der Einzug ist ein Schlüsselwerk der
abendländischen Kunstgeschichte des 19.
Jahrhunderts und das Manifest Ensors als
Kunstmaler. Dennoch hatte es nur einen geringen
Einfluss auf den Verlauf der Kunstgeschichte. Nur
wenige bevorrechtigte Gäste in Ensors Atelier hatten
es aus unmittelbarer Nähe sehen können, bevor es
während der Ensor-Retrospektive im Jahr 1929 im
Brüsseler Palais für Schöne Künste zum allerersten
Mal öffentlich ausgestellt wurde.
Das Werk ist voller Allegorien und Anspielungen auf
die belgische Politik, auf die Literatur, auf Personen,
mit denen er abrechnete, und auf die Gesellschaft,
die er kritisierte. Die Christusfigur in der Mitte des
Werkes, ganz zentral aber trotzdem etwas
unauffällig, ist Ensor selbst. Ensor fühlte sich ebenso
wie Christus erniedrigt und verspottet und empfand
sich als der Messias der modernen Kunst. Er
unternahm einen triumphierenden Einzug in Brüssel,
dem Mekka der belgischen Kunst und Kunstkritik.
Auf einem Balkon stehen einige Mitglieder der
Künstlerbewegung Les XX. Sie sind grün vor Neid
und Eifersucht.
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
Die Rache von Hopp-Frosch
De wraak van Hop-Frog
1898
Eingefärbte Radierung auf japanischem Papier
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Dieses Bild illustriert den Höhepunkt aus der
Erzählung Hopp-Frosch (im Original Hop-Frog) des
amerikanischen Autors Edgar Allan Poe. Ensor ließ
sich häufig vom Werk des berühmten Schriftstellers
inspirieren, der für seine Kriminalgeschichten und
seinen humoristischen Horror bekannt ist. Von Poe
besaß Ensor einen Erzählungsband mit dem Titel
Histoires extraordinaires (Außergewöhnliche
Geschichten).
Er verarbeitete unter anderem die Geschichten König
Pest (King Pest) und Hopp-Frosch in seinem Werk.
Die Radierung Hopp-Frosch stellt die Szene dar, in
welcher eine absichtliche Narrenfigur den König und
dessen sieben Minister auf schreckliche Weise rächt.
Durch eine List gelingt es ihm, den als Affen
verkleideten und mit geteerten König und seine
Minister im Festsaal des Palastes an einer Kette
empor zu ziehen und sie in Brand zu stecken. Die
Anwesenden scheinen beim Betrachten des
Kronleuchters aus brennendem Menschenfleisch
nicht sonderlich bewegt zu sein.
1885 fertigte Ensor bereits eine Lithografie über
dasselbe Thema an. Die Radierung – eine der
bekanntesten aus seinem Œuvre – ist eine getreue
spiegelverkehrte Wiedergabe dieser Lithographie.
1896 hatte Ensor auch ein Gemälde nach diesem
Thema angefertigt.
Émile Verhaeren, mit dem Ensor eine intensive
Freundschaft verband, beschrieb in seiner Studie
über Ensor die Bedeutung von Edgar Allan Poe als
Inspirationsquelle in seinem Gesamtwerk. Durch die
Übersetzungen von Mallarmé und Baudelaire war das
Werk des Amerikaners in Paris und der weiten
Umgebung ziemlich populär geworden. 1856 und
1857 waren Baudelaires Versionen seiner Histoires
extraordinaires in Paris erschienen. Die von Mallarmé
übersetzten Gedichte von Poe wurden 1888 von
Deman in Brüssel publiziert, ein Jahr, bevor sie in
Paris gedruckt wurden.
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
JAMES ENSOR
1860, Ostende – 1949, Ostende
Die Kataklysmen
Verärgerte Masken
De cataclysmen
Geërgerde maskers
Les Cataclysmes
1888
Mit Aquarell eingefärbte Radierung auf holländischem
Papier
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Masques scandalisés
1895
Radierung auf japanischem Papier
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
In Die Kataklysmen näherte sich Ensor dem Thema
einer Weltkatastrophe auf karikaturistische Weise.
Die vier Elemente sind entfesselt: Wasser (Meer),
Luft (Wind), Feuer, Erde (einstürzende Berge). Zwei
Züge stoßen zusammen. Die schalkhafte Gesellschaft
in den letzten Wagen ist sich noch keines Übels
bewusst.
Ein ähnliches Motiv wird in einem gleichnamigen
Ölgemälde aus dem Jahr 1937 wiederholt.
Radierung nach dem gleichnamigen Gemälde aus
dem Jahr 1883.
Mit dem Gemälde Verärgerte Masken tauchen die
Masken zum ersten Mal im Werk von James Ensor
auf. Er verwendete sie als ein Ausdrucksmittel, um
Hirngespinste, Ängste, Possen und Foppereien zu
projizieren. „1883 berühren die Masken mich tief“,
schrieb Ensor in Les Écrits. „Die Verärgerten Masken
dringen ein, stellen ihre Kragen hoch, heben ihre
spitze, verwunderte Nase.“
Wahrscheinlich haben die Flutwelle der Chinoiserien,
die am Ende des 19. Jahrhunderts die Bürgersalons
überspülte, der Japonismus, das kolonialistische
Klima, die Pappmasken mit grellen Farben des
Karnevals in Ostende die Anwesenheit der Masken im
Werk von Ensor gefördert.
Am Anfang stellte er die Masken vor allem als ein
Spiel der Vermummung dar. Fünf Jahre später
wurden die Masken unentbehrliche Elemente in
seinem eindrucksvollen Œuvre.
Das Gemälde Verärgerte Masken erhielt diesen Titel
wahrscheinlich erst später. Auf dem Salon des XX
vom Februar 1884 wurde es als Les Masques, n° 2
(Die Masken, Nr. 2) ausgestellt.
LÉON SPILLIAERT
1881, Ostende – 1946, Brüssel
Der Schwindelanfall – die Zaubertreppe
De duizeling – Tovertrap
1908
Gewaschene ostindische Tinte und Buntstift auf
Papier
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Aus der beinahe schwarzen Leere erhebt sich eine
Art hoher Turm. Die schneeweißen Treppenstufen
setzen sich vom Dunkel des lockenden Abgrunds ab.
Auf den senkrechten, sich wegdrehenden Treppen
steht eine Frau mit wehenden Haaren, schreiend und
wahnsinnig vor Angst. Sie verliert beinahe das
Gleichgewicht, die schmalen Stufen bieten keinen
Halt. Sie klammert sich an der Spitze fest, der Mund
und die Augen zu einer Angstgrimasse verzerrt. Es
ähnelt eher einem Albtraum, aus dem sie nicht
ausbrechen kann.
Das Werk befindet sich auf der Schwelle der
abstrakten Kunst. Die Struktur der Treppe und die
Silhouette der Frau sind stark vereinfacht, um
ausschließlich kräftige Volumen zu behalten.
Spilliaert verwendete so gut wie niemals eine
klassische Komposition. Er schaute von oben oder
von unten auf die Szene. Für seine außergewöhnliche
Raumeinteilung ließ Spilliaert sich vom japanischen
Kupferstich inspirieren, der für Asymmetrie, das
Abschneiden einer Szene, Tiefe ohne Volumen,
lebendige Bewegung, Rhythmus und dekorative
Arabesken steht.
Auch seine Verwendung des Materials ist sehr
außergewöhnlich. Manche seiner Werke fertigte er
nur mit ostindischer Tinte an, die teilweise
gewaschen war (mit Wasser verlängert, sodass die
Tinte einen geringeren Grauwert aufweist). Aber die
meisten seiner Werke sind in einer gemischten
Technik aufgebaut, einer wechselnden Kombination
aus ostindischer Tinte, Aquarell, Gouache, Pastell,
Holzkohle, Kreide, Ölkreide, Zeichen-, Farb- oder
Contébleistifte, die er eher wie ein Maler als wie ein
Zeichner anwendete.
LÉON SPILLIAERT
1881, Ostende – 1946, Brüssel
Der Windstoß
De windstoot
1904
Gewaschene ostindische Tinte, Aquarell und Gouache
auf Papier
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Léon Spilliaert stellte oft eine Frau am Rand des
Wassers dar. Das Thema eines Mädchens oder einer
Frau auf dem Deich mit einem hoch gewehten Kleid
kehrte in der Grafik vom Ende des 19. Jahrhunderts
häufig zurück. Auch Félicien Rops und Édouard
Dubar haben derartige humoristische Stiche
angefertigt. Spilliaert gestaltete dieses banale
Geschehen auf expressionistische Weise. Er
reduzierte die Frau zu einer dunklen Silhouette, die
sich scharf vor dem dekorativen Spiel des
plätschernden Wassers abzeichnet. Beiläufig wird an
die Figur aus dem Gemälde ‘Der Schrei’ von Edvard
Munch erinnert. Spilliaert hatte eine große
Faszination für die besondere Beziehung der Frau
zum Meer, für ihr vergleichbares Temperament.
LÉON SPILLIAERT
1881, Ostende – 1946, Brüssel
Selbstporträt mit Spiegel
Zelfportret met spiegel
1908
Gewaschene ostindische Tinte, Aquarell und Buntstift
auf Papier
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
In Selbstporträt mit Spiegel aus dem Jahr 1908
befinden wir uns im Salon des Elternhauses des
Malers. Wir sehen eine Kamineinfassung mit Vasen
und einer Uhr, einen hohen vergoldeten
Neorokokospiegel und Gemälde an der Wand. Alles
badet in einem nächtlichen Licht.
Vor dem Spiegel steht die schwarze Silhouette von
Spilliaert mit erweiterten Pupillen und offenem Mund
in einem beängstigenden Schrei. Die Erscheinung
befindet sich zwischen zwei Spiegeln; es sieht so
aus, als ob die Person zwischen ihnen eingeklemmt
ist. Im Spiegel vollzieht sich eine abscheuliche
Konfrontation mit sich selbst. Täuschend wirkt, dass
die Wand sich wegzudrehen scheint, als ob sich im
Kopf des Künstlers alles dreht. Vor dem Spiegel im
Kamin steht eine Uhr unter einer Glasglocke, welche
die vergehende Zeit angibt.
“I can't tell you what art does and how it does it, but
I know that art has often judged the judges, pleaded
revenge to the innocent and shown to the future
what the past has suffered, so that it has never been
forgotten.”
(„Ich kann Ihnen nicht sagen, was Kunst macht und
wie sie es macht, aber ich weiß, das Kunst oft die
Richter verurteilt hat, Rache für die Unschuldigen
geschworen hat und der Zukunft gezeigt hat, was die
Vergangenheit erlitten hat, sodass es nie vergessen
wurde.“)
John Berger
LÉON SPILLIAERT
1881, Ostende – 1946, Brüssel
Selbstporträt mit rotem Bleistift
Zelfportret met rood potlood
1908
Gewaschene ostindische Tinte, Gouache und Pastell
auf Papier
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Während seiner Jugend malte Spilliaert eine Reihe
von Selbstporträts. Zunächst sind es einfache
Darstellungen seines Äußeren, aber später
entwickelten sie sich zu komplexen Bildern, in denen
Realität, Widerspiegelung und Phantasie
zusammenfließen.
Im Selbstporträt mit rotem Bleistift stellte er sich
selbst als eine schwarze Silhouette mit dunkel
umrandeten, glasigen Augen in einem knöchernen
Gesicht dar. Die knochigen Hände umklammern
entschlossen einen roten Bleistift. Er befindet sich in
einer Kammer des Elternhauses, in einem
nächtlichen Licht, und trägt einen dunklen Anzug mit
einem steifen Kragen, was er oft trug. Jedem, dem
Spilliaert in dieser Zeit begegnete, war betroffen von
seinem Äußeren, das seine gequälte, ruhelose Seele
verriet.
LÉON SPILLIAERT
1881, Ostende – 1946, Brüssel
Mädchen mit weißen Strümpfen
Meisjes met witte kousen
1912
Pastell, Buntstifte und Ölkreide auf Papier
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Im damaligen Ostende gab es mindestens zwei
Mädchenpensionate mit einem gewissen Ansehen.
Spilliaert war also zweifellos vertraut mit
Pensionatsmädchen, die unter dem wachsamen Auge
einer Nonne durch die Stadt oder auf dem Deich
spazieren gingen.
Wahrscheinlich sind diese Mädchen mit weißen
Strümpfen Pensionatsmädchen während eines
Spaziergangs. Spilliaert interessierte sich nicht so
sehr für die Geschichte oder die Anekdote. Er
entschied sich für eine spielerische Komposition mit
sich wiederholenden Formen: schlanke
Mädchenkörper, vier von hinten und eines im Profil,
und gebundene lange Haare. Die Beine und Füße
betonte er, indem er sie weiß wiedergab.
Wie so oft bei Spilliaert steht Mädchen mit weißen
Strümpfen nicht allein. In anderen Werken, wie Drei
Mädchen von hinten gesehen und Mädchen am
Strand, beide ebenfalls aus dem Jahr 1912,
behandelte er dasselbe Thema.
LUC TUYMANS
1958, Mortsel
LUC TUYMANS
1958, Mortsel
Wolken
Figur von hinten gesehen (Der Nacken)
1986
Öl auf Leinwand
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Figuur op de rug gezien (La nuque)
„Ich wollte malen wie das Meer und der Himmel über
dem Meer. Mich nicht fangen lassen. Nur ein einziger
Lehrer verstand mich. Er nahm mich zur Seite und
zeigte mir den Beginn eines langen Weges. Der Mann
muss jetzt alt sein. Ich sah ihn nach der Schule nie
wieder. Aber ich bin ihm dankbar. Und ich kehre
immer wieder zur Nordsee zurück. Zum Strand von
Ostende. Um dort nachts kilometerlange
Wanderungen an der Brandung zu unternehmen. Um
dort nachts die Bilder in mir wachzurufen, die ich
tagsüber malen will.“
Luc Tuymans
1987
Öl auf Leinwand
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Für Figur von hinten gesehen, ein frühes Gemälde
aus den 1980er Jahren, hat Tuymans als Vorlage das
Foto von einem Kommandanten eines
Konzentrationslagers genommen, der am Rande
eines Massengrabs stand. Als das Gemälde fertig
war, stach Tuymans mit einem Messer Löcher in das
Bild. „Weil es ein sehr gewalttätiges Bild ist, habe ich
es mit Absicht verwundet“, erklärte er.
Tuymans malte die Figur in einem fahlen Grauton,
als Überbleibsel des Malprozesses, in einem
dreckigen Matsch, indem alle Farben auf der Palette
durcheinander gemischt wurden. „Ich zog die
Umrisse der Figur“, erzählte Tuymans in einem
Interview, „und allmählich drang das Fett der Farben
in das Bild.“
ANN VERONICA JANSSENS
1956, Folkstone (GB)
MARCEL BROODTHAERS
1924, Sint-Gillis – 1976, Köln (DE)
Schwarzer Körper
Tableau forms académiques
Corps noir
2001
Plexiglas
Kollektion Mu.ZEE, Ostende Schenkung der Freunde des Mu.ZEE,
Kollektion der Provinz Westflandern
1970
Kunststoffrelief
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Ann Veronica Janssens arbeitet mit Licht, Klang und
Raum. Aufgrund ihrer Faszination für den Raum wäre
sie beinahe Architektin geworden. Aber sie fand im
Architekturstudium nicht, was sie suchte. Seitdem
geht sie auf die Suche nach ihrer eigenen
Formensprache, verwandt mit der
postminimalistischen Tradition. Ihre Materialien sind
transparent, glänzend oder verdichtet und scheinbar
unzugänglich. Sie sind vollkommen verschieden:
Betonblöcke, Backsteine, teilweise in Aluminiumfolie
verpackt, Glas, Spiegel oder Nebel. Oft reflektieren
sie die Umgebung und das Licht, was für einen
überraschenden optischen Effekt sorgt. Ihr Werk
bezieht sich immer auf den Raum: offen oder
geschlossen, voll oder leer, eng oder weit.
Auf Kunststofftafeln zeigte Marcel Broodthaers
rebusartige Darstellungen mit verschiedenen
Zeichensystemen, wie dem Alphabet, der
Formenlehre und der Ausschilderung. Manche davon
sind äußerst komplex, andere auffallend einfach,
aber immer haben sie miteinander gemeinsam, dass
sie das Verhältnis zwischen künstlerischen und
wirtschaftlichen Werten ansprechen. Broodthaers
wies selbst darauf hin, dass derartige Platten ‘wie
Waffeln’ hergestellt werden.
MARCEL BROODTHAERS
1924, Sint-Gillis – 1976, Köln (DE)
hervor. Deshalb identifizierte er den Adler mit der
Kunst.
Département des Aigles
1968
Kunststoffrelief
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
1968 begann Broodthaers mit seinem umfangreichen
Projekt Musée d’Art Moderne, Département des
Aigles, seinem eigenen fiktiven Museum. Die erste
Abteilung, Section XIXe siècle, fertigte er in seinem
Atelier an, wo er einige leere Transportkisten
hinstellte und ein paar Reproduktionen von
Gemälden aufhängte. Mitten in dieses eigenartige
Ensemble lud er Freunde, Kollegen und Interessierte
ein, über die Rolle von Museen und die Art und Weise
zu diskutieren, in der Kunstwerke gezeigt werden.
Laut Broodthaers präsentiert das moderne Museum
die kulturelle Welt, indem Objekte aus dem Alltag
gerissen und anschließend chronologisch, stilistisch
oder thematisch angeordnet werden.
Das Thema des Adlers besaß für Broodthaers eine
besondere Bedeutung. Im Verlauf der
Kunstgeschichte ruft der Adler immer wieder Größe,
Autorität, Eroberungssucht und Imperialismus
“I think that the practise of art is an examination of
visual cummunication. People have to recognize
visual culture as a constructed language, a language
that acquires meanings through its construction. The
art viewer should not simply be a patsy who
performs a set of knee-jerk responses in reaction to
a set of visual conventions. Art should be more
complex than that.”
(„Ich denke, dass die Praktizierung von Kunst eine
Ausübung von visueller Kommunikation ist. Die
Betrachter haben visuelle Kultur als eine konstruierte
Landschaft zu erkennen, die Bedeutungen durch ihre
Konstruktion akquiriert. Der Kunstbetrachter sollte
nicht nur eine Witzfigur sein, die als Reaktion auf
eine Anordnung von visuellen Konventionen eine
Reihe von Kniefällen vollzieht. Kunst sollte komplexer
sein als dies.“
Mike Kelley
JEAN BRUSSELMANS
1884, Brüssel – 1953, Dilbeek
Das Unwetter
La tempête
1938
Öl auf Leinwand
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Jean Brusselmans war besonders produktiv in der
zweiten Hälfte der 1930er Jahre. Eine Periode, in
welcher er mehr als siebzig Gemälde und Aquarelle
vollendete. Beharrlich suchte er seinen eigenen Stil
und er legte die Grundlage für seine besten
Kompositionen. Das Unwetter ist dafür ein schönes
Beispiel. Brusselmans malte 1936 eine erste Version
von Das Unwetter in einem größeren Format. Die
Komposition unterteilte er in zwei horizontale
Abschnitte. Auffallend ist die dreieckige Struktur des
gelben Sonnenstrahls, der durch die Wolken auf das
Wasser scheint. Trotz des dynamischen und
turbulenten Naturereignisses sieht es so aus, als ob
der Sturm in einem unbeweglichen Zustand erstarrt
ist.
Brusselmans reiste regelmäßig zur belgischen Küste.
Ostende und Zeebrugge waren seine bevorzugten
Orte. Er malte das Meer, den Hafen und den
Leuchtturm von Ostende in vielen verschiedenen
Variationen. Bei den Wellen des Meeres variierte
Brusselmans endlos zwischen breiten kräftigen
Pinselstrichen in fließenden Linien und kurzen dicken
Farbtupfern mit viel Materie.
„Es ist für viele, auch Kulturmenschen, schwierig zu
verstehen, dass Harmonie nicht die Abwesenheit von
Gegensätzen ist, sondern die Anwesenheit von
Gegensätzen in einem Zustand, in welchem die
Bestandteile sich gegenseitig auf beiden Seiten als
Ladungen an ihrem Platz halten.“
Wolfgang Rihm
ROGER RAVEEL
1921, Machelen-aan-de-Leie
Hommage à Giotto
1956
Öl auf Malplatte
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
In Hommage à Giotto manipuliert Raveel die
perspektivische Eigenschaft der Farbe. Wir sehen
einen Mann von hinten. Sein Rücken ist eine blaue
Fläche, der Kopf wird in der roten Fläche eines
Fensters als ein weißer Fleck ausgespart. Ohne von
der Perspektive Gebrauch zu machen, platzierte
Raveel die blaue Fläche in den Vordergrund, die rote
dahinter. Dabei haben kalte Farben wie grün, blau
und violett eher die Eigenschaft, sich
zurückzuziehen, und warme Farben drängen sich
nach vorn.
Ungefähr in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als in
Belgien die lyrische Abstraktion dominierte,
entwickelte Roger Raveel eine eigene Bildsprache.
Mit direkten Formen und einem hellen und
lebendigen Kolorit untersucht er den Raum. Er tat
dies, indem er einerseits seine Bilder abschneidet
oder in den Raum fließen lässt, und andererseits
durch die Integration von weißen Flächen, die mit
breiten schwarzen Rahmen abgegrenzt werden. Er
ging noch weiter, als er – noch vor der Pop-Art –
reelle Objekte in seine Werke integrierte. Mit der
Verwendung des Spiegels wurden sogar die
Zuschauer und seine Umgebung in das Werk
einbezogen.
GEORGES VANTONGERLOO
1886, Antwerpen – 1965, Paris (FR)
Person im Interieur – Frau im Interieur
Personage in interieur –
Vrouw in interieur
1916
Öl auf Leinwand
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Das Gemälde Personage im Interieur – Frau im
Interieur verwirklichte Georges Vantongerloo
während seines Studiums. Er absolvierte eine
Ausbildung als Bildhauer an der Königlichen
Akademie für Schöne Künste in Antwerpen. 1916
flüchtete er in die Niederlande, nachdem er als
Soldat im Ersten Weltkrieg verwundet wurde.
Während seines Aufenthalts in den Niederlanden
experimentierte er mit dem Malen in einem
postimpressionistischen Stil, auf der Wellenlänge
seines Zeitgenossen Rik Wouters.
Anlässlich einer Soloausstellung in Den Haag,
ebenfalls im Jahr 1916, brachte er zum ersten Mal
sein vollständiges Œuvre zusammen. Ein Jahr später
setzte er gemeinsam mit Mondriaan und Van
Doesburg seine Unterschrift unter das Manifest von
De Stijl. Damit äußerte er den Standpunkt, dass an
Malerei, Bildhauerkunst und Architektur von
denselben einfachen plastischen Elementen aus
herangegangen wird, mit der Ambition, eine
universale plastische Sprache zusammenzustellen.
GEORGES VANTONGERLOO
1886, Antwerpen – 1965, Paris (FR)
JULES SCHMALZIGAUG
1882, Antwerpen – 1917, Den Haag (NL)
Mann im Interieur (Selbstporträt)
Man in interieur (zelfportret)
1916-1917
Öl auf Leinwand
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Dynamischer Ausdruck der Bewegung einer
Tänzerin
Dynamische uitdrukking
van de beweging eener danseres
1914
Leimfarbe auf Leinwand
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Obwohl die Formate nicht identisch sind, sind Person
im Interieur – Frau im Interieur aus dem Jahr 1916
und Mann im Interieur (Selbstporträt) aus den
Jahren 1916-1917 die Gegenstücke voneinander. Die
Datierung beider Werke schließt sich unmittelbar an
das Hochzeitsdatum von Georges Vantongerloo und
Tine Kalis an.
Im Gegensatz zum Porträt seiner Ehegattin, das in
einer pointillistischen Technik durchgeführt wurde,
hat Vantongerloo in seinem Selbstporträt eine
weitgehende Farbstudie verarbeitet. Beweis dafür
sind die roten, grünen, gelben und blauen Zonen im
Gemälde. Dadurch wird aus diesem Selbstporträt ein
Wendepunkt, ein Vorbote von dem, was folgen
sollte. Oder wie Vantongerloo selbst schrieb: „von
1906 bis 1916 war das Thema der Raum nur die
Lösung nach der Natur“.
Durch seinen frühen Tod ist Jules Schmalzigaug
nahezu unbekannt geblieben. Dennoch bildet sein
kleines Œuvre ein wichtiges Glied in der belgischen
Kunst. Nachdem er in Paris das futuristische Manifest
von Filippo Tommaso Marinetti kennenlernte, brachte
er die Ideen des Futurismus zum Ausdruck. Während
einer Mailand-Reise begegnete er Umberto Boccioni,
Gino Severini und Giacomo Balla, den Vertretern
dieser italienischen Strömung, und er stellte
zusammen mit ihnen aus. Der Futurismus hat seine
Wurzeln sowohl im Impressionismus und im
Pointillismus, als auch im Kubismus und
Expressionismus. Im Mittelpunkt steht die
Wiedergabe einer dynamischen Beweglichkeit, in
einer Huldigung des Stadtlebens und der modernen
Industrie. Die wirbelnden Gemälde von
Schmalzigaug geben Ausdruck von seiner
Farbenlehre, die auf den Theorien von Paul Signac
und seinem ‘erleuchtenden Licht’ beruht.
WALTER SWENNEN
1946, Vorst
Feder
“Curieux projet: se rêver, rendre sensible ce rêve qui
reviendra rêve dans d’autres têtes!”
„Besonderes Projekt: träumen und diesen Traum
nachdem greifbar machen, sodass er für anderen
aufs Neue ein Traum wird.“
Jean Genet
Plume
1998
Öl auf Maltafel
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Walter Swennen ist zunächst Dichter und beginnt
mehr oder weniger zufällig zu malen, um „dem
poetischen Gedanken mehr Kraft zu verleihen“.
Allmählich wird das Bild wichtiger. Die Gemälde von
Swennen zeigen kernige Darstellungen (eine Banane,
ein Teddybär, eine Lampe, ein Dreirad …), die die
Einfachheit und Erkennbarkeit von Comic-StripZeichnungen und die Naivität von
Schulbuchillustrationen in sich tragen. Diese eher
populäre, öffentliche Bildsprache kombiniert
Swennen mit abstrakten Elementen in einer
persönlichen, expressionistischen Farbtechnik. Die
Banalität der angewandten Ikonographie, zusammen
mit der Bedeutung des Wortes erinnert an den
konzeptuellen Humor im Werk von René Magritte
oder Marcel Broodthaers.
“The only way to grasp what is new in the new, is to
analyse it through the lenses of what was.”
EVELYNE AXELL
1936, Namur – 1972, Zwijnaarde
„Die einzige Weise, um die Neuheiten in der
Modernität zu erkennen, ist sie durch die Brille der
Vergangenheit zu betrachten.“
Schöner Monat Mai
Slavoj Žižek
Joli mois de mai
1970
Unalit, Emaillefarbe auf Plexiglas
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Schöner Monat Mai stellt eine Gruppe nackter
Jugendlicher dar, die im Gras zusammensitzen und
konzentriert einem Popkonzert zuhören. Im
Hintergrund schwenkt ein junges Mädchen eine rote
Flagge. Das Kunstwerk verweist auf das berühmte
Gemälde Die Freiheit führt das Volk von Eugène
Delacroix. Aber die Revolution bei Axell ist jene vom
Mai 1968.
Das rechte Seitenteil stellt eine nackte Figur mit
einem Farbtopf in der einen Hand und einem
erhobenen Pinsel in der anderen dar. Es ist ein
Selbstporträt der Künstlerin. Der linke Teil zeigt ein
Porträt des bekannten französischen Kunstkritikers
Pierre Restany mit ausgestrecktem Arm als
anarchistischen Guru. Im Mai 1968 hatte Restany
das Musée National d’Art Moderne von Paris ‘wegen
öffentlicher Nutzlosigkeit’ geschlossen. Diese Idee
sprach Axell an.
Die Kunst von Evelyne Axell liegt auf der Linie der
Pop-Art und des Nouveau Réalisme. Sie entwickelte
eine völlig eigene Maltechnik, Emaille auf
opalfarbigem Plexiglas. Mit diesen bemerkenswerten
Materialien gab sie ihre poetische Vision der
Wirklichkeit, der Stimmung von Mai 1968, wieder.
Ihre farbigen Silhouettenfiguren verweisen auf die
Plakate, die Mode und die psychedelischen
Schallplattenhüllen der Sixties. In ihrem
phantasiereichen und stark erotisch getönten Oeuvre
ist die Schönheit des menschlichen und vor allem
weiblichen Körpers ihr Lieblingsthema.
„Das ist das wahre Engagement der Kunst: das, was
Sie und ich nicht erkennen können, weil es wirklich
die Kraft des Neuen in sich trägt, und worüber die
Generationen nach uns urteilen werden (…).“
Stefan Hertmans
JOZEF PEETERS
1895, Antwerpen – 1960, Antwerpen
Vase Nr. 1
Vaas nr. 1
1923
Öl auf Keramik
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Nach dem Ersten Weltkrieg kamen einige Künstler
gegen den Individualismus und die bürgerliche
Gesellschaft in Aufstand. Alle Hoffnungen waren auf
die wachsende technologische Gesellschaft gerichtet.
Künstler eiferten für eine objektive und universale
Kunst. Sie schufen eine reine, abstrakte Bildsprache.
Auch Jozef Peeters entwickelte sich ab 1918 zur
geometrischen Abstraktion. Nach seinem Kontakt mit
Piet Mondriaan im Jahr 1921 erschienen auch
vertikale und horizontale Linien in seinen Kreationen.
Er malte, fertigte Linoschnitte an, die er in
avantgardistischen Zeitschriften wie ‘Het Overzicht’
publizierte, und konzentrierte sich auf die Keramik.
Sein Interesse für die angewandte Kunst sah er als
eine Erweiterung seines Konzepts der
‘Gemeinschaftskunst’.
GUST DE SMET
1877, Gent – 1943, Deurle
RENÉ GUIETTE
1893, Antwerpen – 1976, Wilrijk
Akt mit Blumenstrauß
Naakt met bloementuiltje
1931
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Ohne Titel
Zonder titel
ca. 1935-1936
Öl auf Leinwand
Kollektion Mu.ZEE, Ostende
Gust De Smet gehörte zusammen mit Frits Van den
Berghe und Constant Permeke zu den wichtigsten
Vertretern des flämischen Expressionismus, der vor
allem nach dem Ersten Weltkrieg zur vollen
Entfaltung kam. Während des Ersten Weltkriegs
wanderten Gust De Smet und Frits Van den Berghe
in die Niederlande aus, wo sie mit dem deutschen
Expressionismus und dem französischen Kubismus
und Fauvismus in Kontakt kamen. Ihre figurativen
Szenen sind vom Landleben in ihrer Umgebung
inspiriert, aber zeigen eine verzerrte, expressive
Wirklichkeit, gemalt in zumeist düsteren Erdfarben.
Trotz ihrer gleichlaufenden Entwicklung haben die
drei flämischen Expressionisten jeweils einen völlig
eigenen Ansatz. Gust De Smet versuchte mit
vereinfachten Formen das Wesen zu erfassen, auf
der Suche nach einer reinen Expression.
Das Werk von René Guiette lehnt sich an die Art
Brut, mitunter an einen mehr meditativen Stil an.
Nach einer post-kubistischen Periode entschied er
sich für eine mehr persönliche Kunst, in welcher der
Gebrauch und die Untersuchung von Materie, Farbe
und Zeichen im Mittelpunkt standen. Dies führte
gegen Ende seines Lebens zu sehr schlichten,
meditativen und abstrakten Werken, die der ZenLehre verwandt sind. In seinen einfarbigen
Gemälden verarbeitete er oft Materie wie Sand oder
Zement. Ab den dreißiger Jahren beschäftigte er sich
auch mit der Fotografie.
Im Jahr 1926 ließ er eine eigene Wohnung von Le
Corbusier entwerfen, die einzige noch bestehende
Realisierung von Le Corbusier in Belgien.