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JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende Sterbebett meiner Mutter Doodsbed van mijn moeder Ma Mère morte 1915 Öl auf Leinwand Kollektion Mu.ZEE, Ostende Die Mutter von James Ensor liegt auf dem Sterbebett. Das grafisch ausgearbeitete Porträt zeigt einen von Krankheit und Altersschwäche gezeichneten Leichnam mit einem offenen Mund, einem Raubvogelprofil und gefalteten Händen, durch deren Haut die Konturen des Skeletts schimmern. Das Sterbebett ist in den Hintergrund gerückt. Im Vordergrund steht ein Stillleben aus Flaschen und Flakons mit Arzneimitteln. Auf einem Barockschrank steht ein Heiligenbild. Die Arzneimittel und das Heiligenbild symbolisieren zusammen den (verlorenen) Kampf von Medizin und Religion gegen den Tod. Die Mutter von Ensor, Marie Louise Cathérine Haegheman, war lange Zeit die starke Frau in der Familie. Sie hatte das Geschäft von ihren Eltern übernommen und führte es unter ihrem eigenen Namen weiter. Die Familie besaß mehrere Filialen in Ostende und Blankenberge, wo sie Fayence, Porzellan, Muscheln, parfümierte Blumen, chinesische Vasen, Korallen aus Neapel, Schmuck aus Algier, Tunis und Konstantinopel verkauften. Sie pflegten Handelsbeziehungen mit Singapur, Hongkong, Matanzas und Nassau. In der Saison arbeiteten Ensors Mutter und ihre Schwester sehr hart. Im Winter konnten sie sich im ausgestorbenen Ostende ausruhen. Ensor erzählte in einer Tischrede, dass seine Mutter und seine Tante Mimi ihm finanziell durch die schwierigsten Jahre geholfen hatten. Seine Mutter war achtzig Jahre alt, als sie am 8. März 1915 nach langer schwerer Krankheit starb. Zu jenem Zeitpunkt war Ensor fünfundfünfzig. Ensor hat seine Mutter in den Stunden und Tagen nach ihrem Tod mindestens viermal gezeichnet und zweimal gemalt, an jedem Tag vom 8. bis zum 11. März. JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende erstaunlich hohen Rhythmus aufeinander folgten. Auch Willy Finch benutzte dieses Atelier eine Weile. Blick auf die Van Iseghemlaan Im Laufe seiner Werke sehen wir, wie sich der Stadtteil von einem verfallenen Kasernenviertel mit verkommenen königlichen Ställen zu einem mondänen Zentrum mit dem Theaterkomplex von Alban Chambon als Mittelpunkt entwickelt. In diesem Werk aus dem Jahr 1906 befindet sich Ostende, „die Königin der Nordseebäder“, auf dem Höhepunkt ihres Ruhmes. Gezicht op de Van Iseghemlaan Vue du Boulevard Van Iseghem 1906 Öl auf Leinwand Kollektion Mu.ZEE, Ostende Die Familie Ensor zog 1876 in ein brandneues geräumiges Gebäude an der Ecke der Vlaanderenstraat und der Van Iseghemlaan um. Das war ein stattlicher Neubau mit einem Laden im Erdgeschoss und mehreren Stockwerken mit Zimmern für Touristen. Die Dachkammer durfte der sechzehnjährige James als Atelier einrichten. In dieser kleinen Mansardenkammer, hoch über den Straßen, malte Ensor unzählige Male die Dächer der Vlaanderenstraat und der Van Iseghemlaan – in der Sonne, im Regen und im Schnee. Das war sein Beobachtungsposten, von dem aus er eine weite Aussicht über die Dächer und Türme von Ostende, dem flachen Land in der Weite und die Hektik auf der Straße hatte. Viele Stunden zog er sich in sein Atelier zurück, um konzentriert an zahlreichen Gemälden, Stichen und Zeichnungen zu arbeiten, die in einem JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende Stillleben mit Buch über Jean Teugels April 1938 Öl auf Malplatte Kollektion Mu.ZEE, Ostende Die Stillleben von James Ensor sehen oft aus wie das Schaufenster des Ladens seiner Mutter, mit Fächern, exotischen Muscheln, Masken, Puppen, chinesischen und koreanischen Teekannen und Vasen. Dergleichen Chinoiserien, wie Ensor sie nannte, waren bei den Touristen in Ostende sehr beliebt. Seine Mutter bestellte die Nippes für den Laden, unter anderem beim bekannten Siegfried (später Samuel) Bing. Auf seinen späteren Stillleben malte Ensor häufig auch Blumen, die seine gute Freundin Augusta Boogaerts für ihn mitbrachte. Sie half dem Künstler oft bei der Aufstellung seiner Stillleben. Ensor hielt die Komposition der Stillleben mit Absicht einfach, sodass er sich voll und ganz auf den Widerschein des Lichts auf den Gegenständen und die Wiedergabe der Farben konzentrieren konnte. Jean Teugels, ein Magistrat aus Veurne, ließ 1931 das Büchlein Variations sur James Ensor bei der Druckerei von Le Carillon drucken. Seine Publikation sah er in diesem kleinen Werk mit Öl auf Malplatte verewigt. JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende Ensor und Leman im Gespräch über die Malerei Blick auf Mariakerke Ensor en Leman in gesprek over de schilderkunst 1890 Öl auf Malplatte Kollektion Mu.ZEE, Ostende In Ensor und Leman im Gespräch über die Malerei führt der Maler sich selbst als Gegenspieler von General Leman auf, der den Maler mit einer Spielzeugkanone bedroht. Ensor kontert mit einem Pinsel als Federbüschel. Ensor stellte in seinen Radierungen und Zeichnungen oft Freunde und Feinde bloß. Es ist schwierig herauszufinden, ob Ensor damit auch persönliche Frustrationen oder Existenzängste äußerte. Gezicht op Mariakerke Vue de Mariakerke 1901 Öl auf Leinwand Kollektion Mu.Zee, Ostende Von den Dünen aus richtete der Künstler seinen Blick auf das friedvolle Fischerdorf Mariakerke und das dahinterliegende Polderland. Dieser Platz mit der mittelalterlichen Dorfkirche gleich hinter dem noch unberührten Dünengürtel war bei Wanderern und Künstlern sehr beliebt. Auf diesem Bild fällt allerdings etwas Merkwürdiges auf. Ensor benutzte beim Malen seine Radierung Großer Blick auf Mariakerke als Vorlage, wodurch das Gemälde, ebenso wie die Drucke der Radierung, die Wirklichkeit spiegelverkehrt wiedergibt. Eine ältere Variante dieses Bildes trägt die Jahreszahl 1896. Auf diesem Werk liegt der Blickpunkt etwas höher, sodass mehr vom Hinterland zu sehen ist, und die topografische Wiedergabe ist korrekt. Ensor wurde 1949 auf dem Friedhof der hier abgebildeten Marienkirche begraben. JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende Nach dem Sturm Na de storm Après l’orage 1880 Öl auf Leinwand Kollektion Mu.ZEE, Ostende Nach dem Sturm ist eines der ersten Gemälde, das Ensor nach seinem Akademiestudium malte. Es ist eine impressionistische Vision der See, in dem Augenblick, als die Sonne nach einer morgendlichen Sturmbö wieder durchbricht. Die aufgehende Sonne färbt die Wolken rosa, und wir sehen ein Fragment eines Regenbogens, der in Ostende nur morgens über dem vollen Meer wahrgenommen werden kann. Im Mai 1880 verließ James Ensor die Brüsseler Akademie für immer. Nach seiner Rückkehr nach Ostende arbeitete er eifrig in seinem Atelier unter dem Dach des Elternhauses an der Ecke der Van Iseghemlaan und der Vlaanderenstraat. Das Haus lag auf dem zugeschütteten Stadtgraben, etwa fünfzig Meter vom Deich entfernt. Ensor war also sehr vertraut mit der See und ihren endlosen Licht- und Farbschattierungen im Zusammenspiel mit Sonne, Wolken, Nebel und Wind. JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende Große Marine – Sonnenuntergang Grote marine – zonsondergang Grande marine – Coucher de soleil 1885 Öl auf Leinwand Kollektion Mu.ZEE, Ostende Große Marine – Sonnenuntergang ist eine impressionistische Vision der See in dem Augenblick, als die Sonne untergeht und die See und die Wolken rot färbt. Ensor zeigt hier sehr viel Gespür für die Lichteffekte. Vom Format her ist es eines seiner größeren Bilder. Ensor malte nur wenige Jahre intensiv Marinen, von 1880 bis 1885. Alle Zeichnungen und Gemälde aus dieser Periode realisierte er als ein überzeugter Pleinairist auf dem Strand oder in den Dünen. Künstler aus dem ganzen Land reisten mit der Bahn an, um den Pleinairismus an der Küste auszuüben und die endlose Meeresfläche zu studieren. Sie brachten ihre Malutensilien mit, eine Schachtel, gefüllt mit industriell hergestellter Farbe in Tuben. Eine Folge davon war, dass die Künstler dem Licht und der Farbe viel mehr Aufmerksamkeit widmeten. Auch Ensor versuchte, die subjektive Erfahrung der Wirklichkeit farblich zu erfassen. Oft verwendete er ein Palettenmesser. Große Marine – Sonnenuntergang malte er mit dünnen, langen Pinselstrichen. “La beauté, sans doute, ne fait pas les révolutions. Mais un jour vient où les révolutions ont besoin d'elle. Sa règle qui conteste le réel en même temps qu'elle lui donne son unité est aussi celle de la révolte.” „Schönheit entfesselt natürlich keine Revolutionen. Jedoch ist jede Revolution in einem gewissen Moment der Schönheit bedürftig. Denn beide bestreiten die Realität, deren Harmonie sie zur gleichen Zeit zu Stande bringen.“ Albert Camus JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende Selbstporträt mit Blumenhut Zelfportret met bloemenhoed Autoportrait au chapeau fleuri 1883 - 1888 Öl auf Leinwand Kollektion Mu.ZEE, Ostende Dieses Selbstporträt stammt aus dem Jahr 1883 und ist eine Weiterentwicklung der Selbstporträts, die ab 1879 entstanden. Ensor ist nur etwas erwachsener geworden und hat einen Bart und einen Schnurrbart. Zunächst war es ein ‘normales’ Porträt. 1888 bearbeitete er es, indem er einen mit Blumen verzierten Filzhut, einige nach oben führende Züge am Schnurrbart und die vier Kreisfragmente hinzufügte. Zu Beginn der 1960er Jahre wurde zum ersten Mal entdeckt, wie Ensor von 1886 bis 1891 zahlreiche Zeichnungen und Gemälde aus seinen Debütjahren, wie Selbstporträt mit Blumenhut, teilweise mit dämonischen und karnevalesken Motiven überzeichnete und übermalte. Wenn wir das Werk aufmerksam beobachten, fällt tatsächlich der Unterschied zwischen der Ausführungstechnik des eigentlichen Porträts und der Hinzufügungen auf. JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende Über die Kreisfragmente gehen die Meinungen auseinander. Manche vermuten, dass sie auf das bekannte Selbstporträt von Rubens im Kunsthistorischen Museum in Wien verweisen, das Ensor zweifellos anhand von Reproduktionen kannte. Die Anspielung auf Rubens kann mit dem großen Selbstbewusstsein des Künstlers in Beziehung gesetzt werden, der sich hier wie ein Rubens des 19. Jahrhunderts präsentiert. Andere sehen in den Kreisfragmenten die Suggestion eines Spiegels oder eines Verweises auf barocke englische Porträts, in denen die Kreisbögen als eine Art Medaillon in Trompe-l’œil fungieren, als eine Öffnung, hinter welcher der Porträtierte steht. Die Bäder von Ostende De baden van Oostende 1891 Ostindische Tinte auf Papier Kollektion Mu.ZEE, Ostende „Jede Kunst ist autobiografisch. Die Perle ist die Autobiografie der Auster.“ Federico Fellini Diese Tintenzeichnung geht auf ein kleines Werk in Öl, Farbe und Buntstift auf Malplatte aus dem Jahr 1890 zurück. Vom selben Thema besteht auch eine radierte Version, welche die Tintenzeichnung wiederholt, sie aber merkwürdigerweise nicht spiegelverkehrt darstellt. Ensor skizziert auf spielerische Weise einen belebten Sommertag in Ostende. Die Badekarren werden von Pferden über den Strand gezogen, sodass die Badenden direkt ins Meer steigen konnten, ohne vorher ein Stück zu Fuß auf dem Strand oder durch das flache Wasser gehen zu müssen. Oberhalb der Badekarren beobachten Neugierige mit Ferngläsern die weiblichen Schönheiten im Meer. Die vielen Badenden bilden allein oder zu zweit kleine, groteske Szenen. Die Beau Monde und einige Tagesausflügler schauen unten zu: ein Pastor und ein Offizier, Bürger, Fremde, Männer und Frauen. Wir erkennen General Leman, Eugène Demolder und Mariette Rousseau, denn auch diese Szene ist ein Fragment aus Ensors Autobiografie. Ein Fotograf hat sein Stativ auf das Dach eines Badekarrens gestellt und verschwindet unter dem schwarzen Tuch. Links oben erscheinen das Königliche Chalet und die Wellingtonrennbahn. Die Szene war für Ensor ein Anlass, Kritik an den Rängen und Ständen und an der damals herrschenden Prüderie zu üben. Es soll 1895 oder 1898 in einem Salon von La Libre Esthétique abgelehnt worden sein. Als Ensor sich darüber bei Leopold II. beklagte, war Maus verpflichtet, das Bild aus dem Reservelager zu holen und ihm einen Ehrenplatz zu geben – wie Ensor selbst in seinen ‘Les Écrits’ schrieb. JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende Die Kathedrale De kathedraal La Cathédrale 1886 Radierung auf japanischem Papier Kollektion Mu.ZEE, Ostende Die Kathedrale wird allgemein als eine der wichtigsten Radierungen aus dem grafischen Œuvre von Ensor betrachtet. Sie ist einer der meistgesuchten Stiche. Die Radierung ist ein frühes Beispiel der großen Menschenmenge als Thema in Ensors Werk, ein Motiv, das seinen Höhepunkt in seinem Einzug Christi in Brüssel erreichen soll. Beim gotischen Kirchengebäude ließ Ensor sich von einer Abbildung des Aachener Doms inspirieren. Für die beiden Türme verwendete er als Vorlage eine andere, noch nicht identifizierte Kirche (oder eine Abbildung von ihr?). Es scheint ein Fest, einen Aufzug oder eine Prozession im Gange zu sein. Aber die Bedeutung ist schwierig zu erklären. Spielte Ensor auf die Kirche als Institution an, welche die Gesellschaft seiner Zeit dominierte? Oder geht es einfach um eine phantastische Vision, in welcher die Pracht der gotischen Architektur im Zentrum steht? 1896 sollte er von diesem erfolgreichen Bild eine zweite Version radieren, die ein ungeübtes Auge kaum von der ersten zu unterscheiden vermag. JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende Teufel verprügeln Engel und Erzengel Duivels rossen de engelen en aartsengelen af Diables rossant anges et archanges 1888 Mit Aquarell eingefärbte Radierung auf holländischem Papier Kollektion Mu.ZEE, Ostende Teufel verprügeln Engel und Erzengel mit lustigen Teufeln, Monstern und sarkastischen Masken ist eine Darstellung im Geist der Werke von Bosch und Bruegel. Ensor begann erst 1886 zum ersten Mal mit dem Radieren, zwei Jahre vor der Verwirklichung dieses Werkes. Es war seine gute Freundin Mariette Rousseau, die ihn dazu brachte. 1888 war sein grafisches ‘Wunderjahr’, in welchem er nicht weniger als 45 Radierungen anfertigte. JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende Der Pinkler De pisser Le Pisseur 1887 Radierung auf japanischem Papier Kollektion Mu.ZEE, Ostende Diese Radierung mit der berühmten Aufschrift ‘Ensor est un fou’ stellt einen urinierenden Mann dar. Eine Szene, die im damaligen Stadtbild von Ostende gang und gebe war. Das Schamgefühl war in bestimmten Bevölkerungsschichten schließlich noch nicht besonders entwickelt. Ensor hatte ein großes Interesse an Menschen aus dem Volk. Gemeinsam mit seinem Freund Willy Finch fertigte er viele Holzkohlenskizzen von volkstümlichen Personen aus dem Fischermilieu von Ostende an. Wie in jeder Stadt und in jedem Dorf von damals gab es dort viele Arme, Obdachlose, Vagabunden, Bettler und Ausgestoßene im alltäglichen Straßenbild. Es war den Bettlern übrigens verboten, sich am Zugang zum Pfahlwerk aufzustellen und die Spaziergänger zu belästigten. „Die Einbildungskraft unserer Zeit muss eingesetzt werden, um Tatsachen, Wissenschaft und gewöhnliche Leben zu beseelen, sie mit dem Glanz und der Glorie und der wahren Herrlichkeit zu beschenken, die jedem wirklichen Ding und nur den wirklichen Dingen eigen sind. Ohne diese wesentliche Beseelung - die Dichter und andere Künstler als einzige geben können - ist die Wirklichkeit unvollständig und sind Wissenschaft, Demokratie und das Leben selbst letztendlich vergeblich.“ Walt Whitman JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende Der Einzug Christi in Brüssel De intocht van Christus in Brussel L’Entrée du Christ à Bruxelles 1898 Eingefärbte Radierung auf Papier Kollektion Mu.ZEE, Ostende Diese Radierung wiederholt spiegelverkehrt und mit einigen Änderungen das Gemälde Der Einzug Christi in Brüssel aus den Jahren 1888-1889. Das Gemälde Der Einzug ist ein Schlüsselwerk der abendländischen Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts und das Manifest Ensors als Kunstmaler. Dennoch hatte es nur einen geringen Einfluss auf den Verlauf der Kunstgeschichte. Nur wenige bevorrechtigte Gäste in Ensors Atelier hatten es aus unmittelbarer Nähe sehen können, bevor es während der Ensor-Retrospektive im Jahr 1929 im Brüsseler Palais für Schöne Künste zum allerersten Mal öffentlich ausgestellt wurde. Das Werk ist voller Allegorien und Anspielungen auf die belgische Politik, auf die Literatur, auf Personen, mit denen er abrechnete, und auf die Gesellschaft, die er kritisierte. Die Christusfigur in der Mitte des Werkes, ganz zentral aber trotzdem etwas unauffällig, ist Ensor selbst. Ensor fühlte sich ebenso wie Christus erniedrigt und verspottet und empfand sich als der Messias der modernen Kunst. Er unternahm einen triumphierenden Einzug in Brüssel, dem Mekka der belgischen Kunst und Kunstkritik. Auf einem Balkon stehen einige Mitglieder der Künstlerbewegung Les XX. Sie sind grün vor Neid und Eifersucht. JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende Die Rache von Hopp-Frosch De wraak van Hop-Frog 1898 Eingefärbte Radierung auf japanischem Papier Kollektion Mu.ZEE, Ostende Dieses Bild illustriert den Höhepunkt aus der Erzählung Hopp-Frosch (im Original Hop-Frog) des amerikanischen Autors Edgar Allan Poe. Ensor ließ sich häufig vom Werk des berühmten Schriftstellers inspirieren, der für seine Kriminalgeschichten und seinen humoristischen Horror bekannt ist. Von Poe besaß Ensor einen Erzählungsband mit dem Titel Histoires extraordinaires (Außergewöhnliche Geschichten). Er verarbeitete unter anderem die Geschichten König Pest (King Pest) und Hopp-Frosch in seinem Werk. Die Radierung Hopp-Frosch stellt die Szene dar, in welcher eine absichtliche Narrenfigur den König und dessen sieben Minister auf schreckliche Weise rächt. Durch eine List gelingt es ihm, den als Affen verkleideten und mit geteerten König und seine Minister im Festsaal des Palastes an einer Kette empor zu ziehen und sie in Brand zu stecken. Die Anwesenden scheinen beim Betrachten des Kronleuchters aus brennendem Menschenfleisch nicht sonderlich bewegt zu sein. 1885 fertigte Ensor bereits eine Lithografie über dasselbe Thema an. Die Radierung – eine der bekanntesten aus seinem Œuvre – ist eine getreue spiegelverkehrte Wiedergabe dieser Lithographie. 1896 hatte Ensor auch ein Gemälde nach diesem Thema angefertigt. Émile Verhaeren, mit dem Ensor eine intensive Freundschaft verband, beschrieb in seiner Studie über Ensor die Bedeutung von Edgar Allan Poe als Inspirationsquelle in seinem Gesamtwerk. Durch die Übersetzungen von Mallarmé und Baudelaire war das Werk des Amerikaners in Paris und der weiten Umgebung ziemlich populär geworden. 1856 und 1857 waren Baudelaires Versionen seiner Histoires extraordinaires in Paris erschienen. Die von Mallarmé übersetzten Gedichte von Poe wurden 1888 von Deman in Brüssel publiziert, ein Jahr, bevor sie in Paris gedruckt wurden. JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende JAMES ENSOR 1860, Ostende – 1949, Ostende Die Kataklysmen Verärgerte Masken De cataclysmen Geërgerde maskers Les Cataclysmes 1888 Mit Aquarell eingefärbte Radierung auf holländischem Papier Kollektion Mu.ZEE, Ostende Masques scandalisés 1895 Radierung auf japanischem Papier Kollektion Mu.ZEE, Ostende In Die Kataklysmen näherte sich Ensor dem Thema einer Weltkatastrophe auf karikaturistische Weise. Die vier Elemente sind entfesselt: Wasser (Meer), Luft (Wind), Feuer, Erde (einstürzende Berge). Zwei Züge stoßen zusammen. Die schalkhafte Gesellschaft in den letzten Wagen ist sich noch keines Übels bewusst. Ein ähnliches Motiv wird in einem gleichnamigen Ölgemälde aus dem Jahr 1937 wiederholt. Radierung nach dem gleichnamigen Gemälde aus dem Jahr 1883. Mit dem Gemälde Verärgerte Masken tauchen die Masken zum ersten Mal im Werk von James Ensor auf. Er verwendete sie als ein Ausdrucksmittel, um Hirngespinste, Ängste, Possen und Foppereien zu projizieren. „1883 berühren die Masken mich tief“, schrieb Ensor in Les Écrits. „Die Verärgerten Masken dringen ein, stellen ihre Kragen hoch, heben ihre spitze, verwunderte Nase.“ Wahrscheinlich haben die Flutwelle der Chinoiserien, die am Ende des 19. Jahrhunderts die Bürgersalons überspülte, der Japonismus, das kolonialistische Klima, die Pappmasken mit grellen Farben des Karnevals in Ostende die Anwesenheit der Masken im Werk von Ensor gefördert. Am Anfang stellte er die Masken vor allem als ein Spiel der Vermummung dar. Fünf Jahre später wurden die Masken unentbehrliche Elemente in seinem eindrucksvollen Œuvre. Das Gemälde Verärgerte Masken erhielt diesen Titel wahrscheinlich erst später. Auf dem Salon des XX vom Februar 1884 wurde es als Les Masques, n° 2 (Die Masken, Nr. 2) ausgestellt. LÉON SPILLIAERT 1881, Ostende – 1946, Brüssel Der Schwindelanfall – die Zaubertreppe De duizeling – Tovertrap 1908 Gewaschene ostindische Tinte und Buntstift auf Papier Kollektion Mu.ZEE, Ostende Aus der beinahe schwarzen Leere erhebt sich eine Art hoher Turm. Die schneeweißen Treppenstufen setzen sich vom Dunkel des lockenden Abgrunds ab. Auf den senkrechten, sich wegdrehenden Treppen steht eine Frau mit wehenden Haaren, schreiend und wahnsinnig vor Angst. Sie verliert beinahe das Gleichgewicht, die schmalen Stufen bieten keinen Halt. Sie klammert sich an der Spitze fest, der Mund und die Augen zu einer Angstgrimasse verzerrt. Es ähnelt eher einem Albtraum, aus dem sie nicht ausbrechen kann. Das Werk befindet sich auf der Schwelle der abstrakten Kunst. Die Struktur der Treppe und die Silhouette der Frau sind stark vereinfacht, um ausschließlich kräftige Volumen zu behalten. Spilliaert verwendete so gut wie niemals eine klassische Komposition. Er schaute von oben oder von unten auf die Szene. Für seine außergewöhnliche Raumeinteilung ließ Spilliaert sich vom japanischen Kupferstich inspirieren, der für Asymmetrie, das Abschneiden einer Szene, Tiefe ohne Volumen, lebendige Bewegung, Rhythmus und dekorative Arabesken steht. Auch seine Verwendung des Materials ist sehr außergewöhnlich. Manche seiner Werke fertigte er nur mit ostindischer Tinte an, die teilweise gewaschen war (mit Wasser verlängert, sodass die Tinte einen geringeren Grauwert aufweist). Aber die meisten seiner Werke sind in einer gemischten Technik aufgebaut, einer wechselnden Kombination aus ostindischer Tinte, Aquarell, Gouache, Pastell, Holzkohle, Kreide, Ölkreide, Zeichen-, Farb- oder Contébleistifte, die er eher wie ein Maler als wie ein Zeichner anwendete. LÉON SPILLIAERT 1881, Ostende – 1946, Brüssel Der Windstoß De windstoot 1904 Gewaschene ostindische Tinte, Aquarell und Gouache auf Papier Kollektion Mu.ZEE, Ostende Léon Spilliaert stellte oft eine Frau am Rand des Wassers dar. Das Thema eines Mädchens oder einer Frau auf dem Deich mit einem hoch gewehten Kleid kehrte in der Grafik vom Ende des 19. Jahrhunderts häufig zurück. Auch Félicien Rops und Édouard Dubar haben derartige humoristische Stiche angefertigt. Spilliaert gestaltete dieses banale Geschehen auf expressionistische Weise. Er reduzierte die Frau zu einer dunklen Silhouette, die sich scharf vor dem dekorativen Spiel des plätschernden Wassers abzeichnet. Beiläufig wird an die Figur aus dem Gemälde ‘Der Schrei’ von Edvard Munch erinnert. Spilliaert hatte eine große Faszination für die besondere Beziehung der Frau zum Meer, für ihr vergleichbares Temperament. LÉON SPILLIAERT 1881, Ostende – 1946, Brüssel Selbstporträt mit Spiegel Zelfportret met spiegel 1908 Gewaschene ostindische Tinte, Aquarell und Buntstift auf Papier Kollektion Mu.ZEE, Ostende In Selbstporträt mit Spiegel aus dem Jahr 1908 befinden wir uns im Salon des Elternhauses des Malers. Wir sehen eine Kamineinfassung mit Vasen und einer Uhr, einen hohen vergoldeten Neorokokospiegel und Gemälde an der Wand. Alles badet in einem nächtlichen Licht. Vor dem Spiegel steht die schwarze Silhouette von Spilliaert mit erweiterten Pupillen und offenem Mund in einem beängstigenden Schrei. Die Erscheinung befindet sich zwischen zwei Spiegeln; es sieht so aus, als ob die Person zwischen ihnen eingeklemmt ist. Im Spiegel vollzieht sich eine abscheuliche Konfrontation mit sich selbst. Täuschend wirkt, dass die Wand sich wegzudrehen scheint, als ob sich im Kopf des Künstlers alles dreht. Vor dem Spiegel im Kamin steht eine Uhr unter einer Glasglocke, welche die vergehende Zeit angibt. “I can't tell you what art does and how it does it, but I know that art has often judged the judges, pleaded revenge to the innocent and shown to the future what the past has suffered, so that it has never been forgotten.” („Ich kann Ihnen nicht sagen, was Kunst macht und wie sie es macht, aber ich weiß, das Kunst oft die Richter verurteilt hat, Rache für die Unschuldigen geschworen hat und der Zukunft gezeigt hat, was die Vergangenheit erlitten hat, sodass es nie vergessen wurde.“) John Berger LÉON SPILLIAERT 1881, Ostende – 1946, Brüssel Selbstporträt mit rotem Bleistift Zelfportret met rood potlood 1908 Gewaschene ostindische Tinte, Gouache und Pastell auf Papier Kollektion Mu.ZEE, Ostende Während seiner Jugend malte Spilliaert eine Reihe von Selbstporträts. Zunächst sind es einfache Darstellungen seines Äußeren, aber später entwickelten sie sich zu komplexen Bildern, in denen Realität, Widerspiegelung und Phantasie zusammenfließen. Im Selbstporträt mit rotem Bleistift stellte er sich selbst als eine schwarze Silhouette mit dunkel umrandeten, glasigen Augen in einem knöchernen Gesicht dar. Die knochigen Hände umklammern entschlossen einen roten Bleistift. Er befindet sich in einer Kammer des Elternhauses, in einem nächtlichen Licht, und trägt einen dunklen Anzug mit einem steifen Kragen, was er oft trug. Jedem, dem Spilliaert in dieser Zeit begegnete, war betroffen von seinem Äußeren, das seine gequälte, ruhelose Seele verriet. LÉON SPILLIAERT 1881, Ostende – 1946, Brüssel Mädchen mit weißen Strümpfen Meisjes met witte kousen 1912 Pastell, Buntstifte und Ölkreide auf Papier Kollektion Mu.ZEE, Ostende Im damaligen Ostende gab es mindestens zwei Mädchenpensionate mit einem gewissen Ansehen. Spilliaert war also zweifellos vertraut mit Pensionatsmädchen, die unter dem wachsamen Auge einer Nonne durch die Stadt oder auf dem Deich spazieren gingen. Wahrscheinlich sind diese Mädchen mit weißen Strümpfen Pensionatsmädchen während eines Spaziergangs. Spilliaert interessierte sich nicht so sehr für die Geschichte oder die Anekdote. Er entschied sich für eine spielerische Komposition mit sich wiederholenden Formen: schlanke Mädchenkörper, vier von hinten und eines im Profil, und gebundene lange Haare. Die Beine und Füße betonte er, indem er sie weiß wiedergab. Wie so oft bei Spilliaert steht Mädchen mit weißen Strümpfen nicht allein. In anderen Werken, wie Drei Mädchen von hinten gesehen und Mädchen am Strand, beide ebenfalls aus dem Jahr 1912, behandelte er dasselbe Thema. LUC TUYMANS 1958, Mortsel LUC TUYMANS 1958, Mortsel Wolken Figur von hinten gesehen (Der Nacken) 1986 Öl auf Leinwand Kollektion Mu.ZEE, Ostende Figuur op de rug gezien (La nuque) „Ich wollte malen wie das Meer und der Himmel über dem Meer. Mich nicht fangen lassen. Nur ein einziger Lehrer verstand mich. Er nahm mich zur Seite und zeigte mir den Beginn eines langen Weges. Der Mann muss jetzt alt sein. Ich sah ihn nach der Schule nie wieder. Aber ich bin ihm dankbar. Und ich kehre immer wieder zur Nordsee zurück. Zum Strand von Ostende. Um dort nachts kilometerlange Wanderungen an der Brandung zu unternehmen. Um dort nachts die Bilder in mir wachzurufen, die ich tagsüber malen will.“ Luc Tuymans 1987 Öl auf Leinwand Kollektion Mu.ZEE, Ostende Für Figur von hinten gesehen, ein frühes Gemälde aus den 1980er Jahren, hat Tuymans als Vorlage das Foto von einem Kommandanten eines Konzentrationslagers genommen, der am Rande eines Massengrabs stand. Als das Gemälde fertig war, stach Tuymans mit einem Messer Löcher in das Bild. „Weil es ein sehr gewalttätiges Bild ist, habe ich es mit Absicht verwundet“, erklärte er. Tuymans malte die Figur in einem fahlen Grauton, als Überbleibsel des Malprozesses, in einem dreckigen Matsch, indem alle Farben auf der Palette durcheinander gemischt wurden. „Ich zog die Umrisse der Figur“, erzählte Tuymans in einem Interview, „und allmählich drang das Fett der Farben in das Bild.“ ANN VERONICA JANSSENS 1956, Folkstone (GB) MARCEL BROODTHAERS 1924, Sint-Gillis – 1976, Köln (DE) Schwarzer Körper Tableau forms académiques Corps noir 2001 Plexiglas Kollektion Mu.ZEE, Ostende Schenkung der Freunde des Mu.ZEE, Kollektion der Provinz Westflandern 1970 Kunststoffrelief Kollektion Mu.ZEE, Ostende Ann Veronica Janssens arbeitet mit Licht, Klang und Raum. Aufgrund ihrer Faszination für den Raum wäre sie beinahe Architektin geworden. Aber sie fand im Architekturstudium nicht, was sie suchte. Seitdem geht sie auf die Suche nach ihrer eigenen Formensprache, verwandt mit der postminimalistischen Tradition. Ihre Materialien sind transparent, glänzend oder verdichtet und scheinbar unzugänglich. Sie sind vollkommen verschieden: Betonblöcke, Backsteine, teilweise in Aluminiumfolie verpackt, Glas, Spiegel oder Nebel. Oft reflektieren sie die Umgebung und das Licht, was für einen überraschenden optischen Effekt sorgt. Ihr Werk bezieht sich immer auf den Raum: offen oder geschlossen, voll oder leer, eng oder weit. Auf Kunststofftafeln zeigte Marcel Broodthaers rebusartige Darstellungen mit verschiedenen Zeichensystemen, wie dem Alphabet, der Formenlehre und der Ausschilderung. Manche davon sind äußerst komplex, andere auffallend einfach, aber immer haben sie miteinander gemeinsam, dass sie das Verhältnis zwischen künstlerischen und wirtschaftlichen Werten ansprechen. Broodthaers wies selbst darauf hin, dass derartige Platten ‘wie Waffeln’ hergestellt werden. MARCEL BROODTHAERS 1924, Sint-Gillis – 1976, Köln (DE) hervor. Deshalb identifizierte er den Adler mit der Kunst. Département des Aigles 1968 Kunststoffrelief Kollektion Mu.ZEE, Ostende 1968 begann Broodthaers mit seinem umfangreichen Projekt Musée d’Art Moderne, Département des Aigles, seinem eigenen fiktiven Museum. Die erste Abteilung, Section XIXe siècle, fertigte er in seinem Atelier an, wo er einige leere Transportkisten hinstellte und ein paar Reproduktionen von Gemälden aufhängte. Mitten in dieses eigenartige Ensemble lud er Freunde, Kollegen und Interessierte ein, über die Rolle von Museen und die Art und Weise zu diskutieren, in der Kunstwerke gezeigt werden. Laut Broodthaers präsentiert das moderne Museum die kulturelle Welt, indem Objekte aus dem Alltag gerissen und anschließend chronologisch, stilistisch oder thematisch angeordnet werden. Das Thema des Adlers besaß für Broodthaers eine besondere Bedeutung. Im Verlauf der Kunstgeschichte ruft der Adler immer wieder Größe, Autorität, Eroberungssucht und Imperialismus “I think that the practise of art is an examination of visual cummunication. People have to recognize visual culture as a constructed language, a language that acquires meanings through its construction. The art viewer should not simply be a patsy who performs a set of knee-jerk responses in reaction to a set of visual conventions. Art should be more complex than that.” („Ich denke, dass die Praktizierung von Kunst eine Ausübung von visueller Kommunikation ist. Die Betrachter haben visuelle Kultur als eine konstruierte Landschaft zu erkennen, die Bedeutungen durch ihre Konstruktion akquiriert. Der Kunstbetrachter sollte nicht nur eine Witzfigur sein, die als Reaktion auf eine Anordnung von visuellen Konventionen eine Reihe von Kniefällen vollzieht. Kunst sollte komplexer sein als dies.“ Mike Kelley JEAN BRUSSELMANS 1884, Brüssel – 1953, Dilbeek Das Unwetter La tempête 1938 Öl auf Leinwand Kollektion Mu.ZEE, Ostende Jean Brusselmans war besonders produktiv in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. Eine Periode, in welcher er mehr als siebzig Gemälde und Aquarelle vollendete. Beharrlich suchte er seinen eigenen Stil und er legte die Grundlage für seine besten Kompositionen. Das Unwetter ist dafür ein schönes Beispiel. Brusselmans malte 1936 eine erste Version von Das Unwetter in einem größeren Format. Die Komposition unterteilte er in zwei horizontale Abschnitte. Auffallend ist die dreieckige Struktur des gelben Sonnenstrahls, der durch die Wolken auf das Wasser scheint. Trotz des dynamischen und turbulenten Naturereignisses sieht es so aus, als ob der Sturm in einem unbeweglichen Zustand erstarrt ist. Brusselmans reiste regelmäßig zur belgischen Küste. Ostende und Zeebrugge waren seine bevorzugten Orte. Er malte das Meer, den Hafen und den Leuchtturm von Ostende in vielen verschiedenen Variationen. Bei den Wellen des Meeres variierte Brusselmans endlos zwischen breiten kräftigen Pinselstrichen in fließenden Linien und kurzen dicken Farbtupfern mit viel Materie. „Es ist für viele, auch Kulturmenschen, schwierig zu verstehen, dass Harmonie nicht die Abwesenheit von Gegensätzen ist, sondern die Anwesenheit von Gegensätzen in einem Zustand, in welchem die Bestandteile sich gegenseitig auf beiden Seiten als Ladungen an ihrem Platz halten.“ Wolfgang Rihm ROGER RAVEEL 1921, Machelen-aan-de-Leie Hommage à Giotto 1956 Öl auf Malplatte Kollektion Mu.ZEE, Ostende In Hommage à Giotto manipuliert Raveel die perspektivische Eigenschaft der Farbe. Wir sehen einen Mann von hinten. Sein Rücken ist eine blaue Fläche, der Kopf wird in der roten Fläche eines Fensters als ein weißer Fleck ausgespart. Ohne von der Perspektive Gebrauch zu machen, platzierte Raveel die blaue Fläche in den Vordergrund, die rote dahinter. Dabei haben kalte Farben wie grün, blau und violett eher die Eigenschaft, sich zurückzuziehen, und warme Farben drängen sich nach vorn. Ungefähr in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als in Belgien die lyrische Abstraktion dominierte, entwickelte Roger Raveel eine eigene Bildsprache. Mit direkten Formen und einem hellen und lebendigen Kolorit untersucht er den Raum. Er tat dies, indem er einerseits seine Bilder abschneidet oder in den Raum fließen lässt, und andererseits durch die Integration von weißen Flächen, die mit breiten schwarzen Rahmen abgegrenzt werden. Er ging noch weiter, als er – noch vor der Pop-Art – reelle Objekte in seine Werke integrierte. Mit der Verwendung des Spiegels wurden sogar die Zuschauer und seine Umgebung in das Werk einbezogen. GEORGES VANTONGERLOO 1886, Antwerpen – 1965, Paris (FR) Person im Interieur – Frau im Interieur Personage in interieur – Vrouw in interieur 1916 Öl auf Leinwand Kollektion Mu.ZEE, Ostende Das Gemälde Personage im Interieur – Frau im Interieur verwirklichte Georges Vantongerloo während seines Studiums. Er absolvierte eine Ausbildung als Bildhauer an der Königlichen Akademie für Schöne Künste in Antwerpen. 1916 flüchtete er in die Niederlande, nachdem er als Soldat im Ersten Weltkrieg verwundet wurde. Während seines Aufenthalts in den Niederlanden experimentierte er mit dem Malen in einem postimpressionistischen Stil, auf der Wellenlänge seines Zeitgenossen Rik Wouters. Anlässlich einer Soloausstellung in Den Haag, ebenfalls im Jahr 1916, brachte er zum ersten Mal sein vollständiges Œuvre zusammen. Ein Jahr später setzte er gemeinsam mit Mondriaan und Van Doesburg seine Unterschrift unter das Manifest von De Stijl. Damit äußerte er den Standpunkt, dass an Malerei, Bildhauerkunst und Architektur von denselben einfachen plastischen Elementen aus herangegangen wird, mit der Ambition, eine universale plastische Sprache zusammenzustellen. GEORGES VANTONGERLOO 1886, Antwerpen – 1965, Paris (FR) JULES SCHMALZIGAUG 1882, Antwerpen – 1917, Den Haag (NL) Mann im Interieur (Selbstporträt) Man in interieur (zelfportret) 1916-1917 Öl auf Leinwand Kollektion Mu.ZEE, Ostende Dynamischer Ausdruck der Bewegung einer Tänzerin Dynamische uitdrukking van de beweging eener danseres 1914 Leimfarbe auf Leinwand Kollektion Mu.ZEE, Ostende Obwohl die Formate nicht identisch sind, sind Person im Interieur – Frau im Interieur aus dem Jahr 1916 und Mann im Interieur (Selbstporträt) aus den Jahren 1916-1917 die Gegenstücke voneinander. Die Datierung beider Werke schließt sich unmittelbar an das Hochzeitsdatum von Georges Vantongerloo und Tine Kalis an. Im Gegensatz zum Porträt seiner Ehegattin, das in einer pointillistischen Technik durchgeführt wurde, hat Vantongerloo in seinem Selbstporträt eine weitgehende Farbstudie verarbeitet. Beweis dafür sind die roten, grünen, gelben und blauen Zonen im Gemälde. Dadurch wird aus diesem Selbstporträt ein Wendepunkt, ein Vorbote von dem, was folgen sollte. Oder wie Vantongerloo selbst schrieb: „von 1906 bis 1916 war das Thema der Raum nur die Lösung nach der Natur“. Durch seinen frühen Tod ist Jules Schmalzigaug nahezu unbekannt geblieben. Dennoch bildet sein kleines Œuvre ein wichtiges Glied in der belgischen Kunst. Nachdem er in Paris das futuristische Manifest von Filippo Tommaso Marinetti kennenlernte, brachte er die Ideen des Futurismus zum Ausdruck. Während einer Mailand-Reise begegnete er Umberto Boccioni, Gino Severini und Giacomo Balla, den Vertretern dieser italienischen Strömung, und er stellte zusammen mit ihnen aus. Der Futurismus hat seine Wurzeln sowohl im Impressionismus und im Pointillismus, als auch im Kubismus und Expressionismus. Im Mittelpunkt steht die Wiedergabe einer dynamischen Beweglichkeit, in einer Huldigung des Stadtlebens und der modernen Industrie. Die wirbelnden Gemälde von Schmalzigaug geben Ausdruck von seiner Farbenlehre, die auf den Theorien von Paul Signac und seinem ‘erleuchtenden Licht’ beruht. WALTER SWENNEN 1946, Vorst Feder “Curieux projet: se rêver, rendre sensible ce rêve qui reviendra rêve dans d’autres têtes!” „Besonderes Projekt: träumen und diesen Traum nachdem greifbar machen, sodass er für anderen aufs Neue ein Traum wird.“ Jean Genet Plume 1998 Öl auf Maltafel Kollektion Mu.ZEE, Ostende Walter Swennen ist zunächst Dichter und beginnt mehr oder weniger zufällig zu malen, um „dem poetischen Gedanken mehr Kraft zu verleihen“. Allmählich wird das Bild wichtiger. Die Gemälde von Swennen zeigen kernige Darstellungen (eine Banane, ein Teddybär, eine Lampe, ein Dreirad …), die die Einfachheit und Erkennbarkeit von Comic-StripZeichnungen und die Naivität von Schulbuchillustrationen in sich tragen. Diese eher populäre, öffentliche Bildsprache kombiniert Swennen mit abstrakten Elementen in einer persönlichen, expressionistischen Farbtechnik. Die Banalität der angewandten Ikonographie, zusammen mit der Bedeutung des Wortes erinnert an den konzeptuellen Humor im Werk von René Magritte oder Marcel Broodthaers. “The only way to grasp what is new in the new, is to analyse it through the lenses of what was.” EVELYNE AXELL 1936, Namur – 1972, Zwijnaarde „Die einzige Weise, um die Neuheiten in der Modernität zu erkennen, ist sie durch die Brille der Vergangenheit zu betrachten.“ Schöner Monat Mai Slavoj Žižek Joli mois de mai 1970 Unalit, Emaillefarbe auf Plexiglas Kollektion Mu.ZEE, Ostende Schöner Monat Mai stellt eine Gruppe nackter Jugendlicher dar, die im Gras zusammensitzen und konzentriert einem Popkonzert zuhören. Im Hintergrund schwenkt ein junges Mädchen eine rote Flagge. Das Kunstwerk verweist auf das berühmte Gemälde Die Freiheit führt das Volk von Eugène Delacroix. Aber die Revolution bei Axell ist jene vom Mai 1968. Das rechte Seitenteil stellt eine nackte Figur mit einem Farbtopf in der einen Hand und einem erhobenen Pinsel in der anderen dar. Es ist ein Selbstporträt der Künstlerin. Der linke Teil zeigt ein Porträt des bekannten französischen Kunstkritikers Pierre Restany mit ausgestrecktem Arm als anarchistischen Guru. Im Mai 1968 hatte Restany das Musée National d’Art Moderne von Paris ‘wegen öffentlicher Nutzlosigkeit’ geschlossen. Diese Idee sprach Axell an. Die Kunst von Evelyne Axell liegt auf der Linie der Pop-Art und des Nouveau Réalisme. Sie entwickelte eine völlig eigene Maltechnik, Emaille auf opalfarbigem Plexiglas. Mit diesen bemerkenswerten Materialien gab sie ihre poetische Vision der Wirklichkeit, der Stimmung von Mai 1968, wieder. Ihre farbigen Silhouettenfiguren verweisen auf die Plakate, die Mode und die psychedelischen Schallplattenhüllen der Sixties. In ihrem phantasiereichen und stark erotisch getönten Oeuvre ist die Schönheit des menschlichen und vor allem weiblichen Körpers ihr Lieblingsthema. „Das ist das wahre Engagement der Kunst: das, was Sie und ich nicht erkennen können, weil es wirklich die Kraft des Neuen in sich trägt, und worüber die Generationen nach uns urteilen werden (…).“ Stefan Hertmans JOZEF PEETERS 1895, Antwerpen – 1960, Antwerpen Vase Nr. 1 Vaas nr. 1 1923 Öl auf Keramik Kollektion Mu.ZEE, Ostende Nach dem Ersten Weltkrieg kamen einige Künstler gegen den Individualismus und die bürgerliche Gesellschaft in Aufstand. Alle Hoffnungen waren auf die wachsende technologische Gesellschaft gerichtet. Künstler eiferten für eine objektive und universale Kunst. Sie schufen eine reine, abstrakte Bildsprache. Auch Jozef Peeters entwickelte sich ab 1918 zur geometrischen Abstraktion. Nach seinem Kontakt mit Piet Mondriaan im Jahr 1921 erschienen auch vertikale und horizontale Linien in seinen Kreationen. Er malte, fertigte Linoschnitte an, die er in avantgardistischen Zeitschriften wie ‘Het Overzicht’ publizierte, und konzentrierte sich auf die Keramik. Sein Interesse für die angewandte Kunst sah er als eine Erweiterung seines Konzepts der ‘Gemeinschaftskunst’. GUST DE SMET 1877, Gent – 1943, Deurle RENÉ GUIETTE 1893, Antwerpen – 1976, Wilrijk Akt mit Blumenstrauß Naakt met bloementuiltje 1931 Kollektion Mu.ZEE, Ostende Ohne Titel Zonder titel ca. 1935-1936 Öl auf Leinwand Kollektion Mu.ZEE, Ostende Gust De Smet gehörte zusammen mit Frits Van den Berghe und Constant Permeke zu den wichtigsten Vertretern des flämischen Expressionismus, der vor allem nach dem Ersten Weltkrieg zur vollen Entfaltung kam. Während des Ersten Weltkriegs wanderten Gust De Smet und Frits Van den Berghe in die Niederlande aus, wo sie mit dem deutschen Expressionismus und dem französischen Kubismus und Fauvismus in Kontakt kamen. Ihre figurativen Szenen sind vom Landleben in ihrer Umgebung inspiriert, aber zeigen eine verzerrte, expressive Wirklichkeit, gemalt in zumeist düsteren Erdfarben. Trotz ihrer gleichlaufenden Entwicklung haben die drei flämischen Expressionisten jeweils einen völlig eigenen Ansatz. Gust De Smet versuchte mit vereinfachten Formen das Wesen zu erfassen, auf der Suche nach einer reinen Expression. Das Werk von René Guiette lehnt sich an die Art Brut, mitunter an einen mehr meditativen Stil an. Nach einer post-kubistischen Periode entschied er sich für eine mehr persönliche Kunst, in welcher der Gebrauch und die Untersuchung von Materie, Farbe und Zeichen im Mittelpunkt standen. Dies führte gegen Ende seines Lebens zu sehr schlichten, meditativen und abstrakten Werken, die der ZenLehre verwandt sind. In seinen einfarbigen Gemälden verarbeitete er oft Materie wie Sand oder Zement. Ab den dreißiger Jahren beschäftigte er sich auch mit der Fotografie. Im Jahr 1926 ließ er eine eigene Wohnung von Le Corbusier entwerfen, die einzige noch bestehende Realisierung von Le Corbusier in Belgien.