Review: Concert at Hafen 2
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Review: Concert at Hafen 2
ORTSTERMIN TERMI, Großes Abschlusskonzert vor zweijähriger Bühnenpause Pippo Pollina *• Hallenstadion, Zürich, 22.8.2015 D reißig Jahre nach ersten Auftritten auf Schweizer Kleinbühnen stand der Sizilianer und Wahlschweizer Pippo Pollina auf dem Parkett des Zürcher Hallenstadions, wo sonst Pop- und Rockstars auftreten. Nicht schlecht für einen Liedermacher, der sich Mitte der Achtzigerjahre als Straßenmusiker in Luzern versucht hatte, bis kurz darauf die Polizei eintraf. Ein Fest sollte es werden, ein großer Schlussakkord vor einer Auftrittspause bis mindestens 2017. Der Cantautore hatte dazu eine lange Reihe von Freunden eingeladen, die er auf seinem Weg kennen und schätzen gelernt hat. Siebentausend Fans aus halb Europa trafen zur Feier in der bestuhlten Halle ein. „Ich frage nicht, wer italienisch spricht. Heute Abend sprecht ihr alle italienisch", begrüßte Pollina das Publikum. Dass es für ihn kein gewöhnliches Konzert war, bewies sein Hänger im ersten Stück: „Ich bin so emotionalisiert, dass ich den Text vergessen habe." Das Publikum quittierte seine Offenheit mit Applaus. In der Folge verwandelte die siebenköpfige Band Pollinas Lieder, die sich auf Tonträger eher ruhig anhören, schon mal in Italopop. Richtig eindringlich wurde es immer bei den leiseren Tönen. Ein erstes Mal, als er mit Giovanni Impastato, dem Bruder des 1978 ermordeten Anti-Mafia-Kämpfers Peppino Impastato, sprach. „Centopassi", Pippo Pollinas poetische Verarbeitung dieses Mordes, blieb auch an die- .*- -v sem Abend eines der eindrücklichsten Lieder des Sängers. Ein Höhepunkt der ersten, opulenteren Konzerthälfte war der kurze Auftritt von Stoppok. Sein Blues funkte und die Band beschränkte sich darauf, dem Mann aus Essen den Takt zu legen. Im zweiten Teil, eingeleitet vom Kammerorchester Musica Viva, überwogen die intimen Momente. „Märe Märe Märe", das Duett von Giorgio Conte mit Pippo Pollinas Tochter Madlaina, war berührend. Die vielleicht schönsten Beiträge des Abends waren die beiden auf Sizilianisch gesungenen Lieder mit Etta Scollo. Die beiden wunderschön harmonierenden Stimmen sorgten für Gänsehaut - man hätte noch stundenlang zuhören können. Nicht fehlen durfte auch der Bünder Liedermacher Linard Bardill. Dieser verschaffte dem Sizilianer die ersten Auftritte in der Schweiz. Seitdem verbindet die beiden eine tiefe Freundschaft. Das spürte man. Die beiden witzelten miteinander, als träten sie im trauten Kreis im Kleintheater auf. Folgerichtig intonierten sie kurz vor dem Finale das rätoromanische Schlaflied „Dorma". Als letzte Gäste des Abends kamen Werner Schmidbauer und Martin Kälberer auf die Bühne. Da wurde klar, weshalb die Bayern mit Pollina vor ein paar Jahren die Arena von Verona füllten. Spätestens jetzt verschwanden alle Sprachbarrieren. Viel wichtiger als das Verstehen des bayerischen Dialekts und der italienischen Gesangslinien war für das Publikum das Mitklatschen und Mitsingen. Und wer locker und charmant durch ein dreieinhalbstündiges Konzert führt, braucht einen langen Atem. So überrascht es kaum, dass Pippo Pollina sich in seiner Auszeit auf den New Yorker Marathon vorbereitet. ^ Martin Steiner • pippopollina.com • Hallenstadion.ch Armbanduhren und Waldgeister Sebastian Krämer und Die gelegentlich auftretenden Schwierigkeiten Bossa Muffin für Deutschland Flavia Coelho >- Hafen 2, Offenbach/Main, 10.9.2015 U nter den vielen talentierten brasilianischen Sängerinnen ragt in letzter Zeit besonders Flavia Coelho heraus. Sie ist zudem eine der wenigen, die derzeit auch schon mal den Weg nach Deutschland finden. Mit dem Einbeziehen des Publikums wartet sie im Offenbacher Club Hafen 2 nicht lange und animiert die Besucher von der ersten Minute an zu Mitmachritualen. Und das bleibt auch so: Immer gut aufgelegt, wäre sie die ideale Einpeitscherin auf einem Trio-Eletrico-Wagen im Karneval des brasilianischen Nordostens, aus dem sie auch ursprünglich stammt. Sie braucht nicht viel Animation, um das Publikum dazu zu bringen, ihre Tanzschritte auf der Bühne mitzumachen. Vielleicht liegt es am guten deutschen Bier, das sie sich bringen lässt, lobt und wofür sie sich gleich mit Küsschen bedankt. Coelho singt nicht nur über die Schönheit Brasiliens, sondern auch über die Favelas, in denen sie aufwuchs. Dazu gehört zum Beispiel ein Lied über eine alkoholabhängige Minderjährige, das dennoch gut ins Ohr geht. Sozialkritik und Vergnügen schließen sich in Brasilien eben nicht aus. Vor allem aber ist Coelho die derzeit am fortschrittlichsten klingende Musikerin, die vielfach Electronicaklänge einbaut, ohne dass Songs und Tanzbarkeit darunter leiden. Ihr vorletztes Album war ein Remix ihres Debüts, das angesagte französische DJs in radikaler Form bearbeiteten, und so merkt man auch live, dass sie clubmusikalische Extreme ausgelotet hat, wenngleich sie mit ihrer Gitarre zunächst wie Heimathafen Neukölln, Berlin, 18.9.2015 E FLAVIA COELHO_ FOTO: HANS-JÜRGEN LENHART eine normale brasilianische Sängerin wirkt. Aber sie lehnt ihre brasilianischen Songs stark an Reggae und vor allem Dub an, wobei es fließende Übergänge zu Ragga, Ska, Forrö oder Baue Funk gibt. „Bossa Muffin" nennt sie ihren Stil, und dazu genügen live ein Keyboarder, ein Drummer und Coelho mit ihrer E-Gitarre. Wenn die Lieder auf den Höhepunkt zusteuern, springt die Musikerin auf ein Podest, das Lichtgewitter geht los, Coelho tanzt sich die Seele aus dem Leib oder trommelt, und die Dub-Effekte sausen aus den Boxen, dass einem schwindelig wird. Gleichzeitig kann sie auch anders, spielt eine Ballade, die ihr Vater geschrieben hat, mit sehnsüchtiger Melodica im Hintergrund. Und ihrem grauhaarigen Drummer widmet sie ein Schmuselied, weil der gerade an dem Tag Geburtstag hat. Danach tauschen Coelho und er die Rollen, und der Drummer erweist sich am Mikro als Dub-Poet. 2006 zog die Musikerin von Rio nach Paris und schaffte es dort von einer U-Bahn-Sängerin hoch in die großen Hallen. Nach drei Alben seit 2012 muss man sie inzwischen zu den wirklich angesagten brasilianischen Musikerinnen zählen. Ähnlich wie ihre Kolleginnen Ceu oder Cibelle experimentiert sie viel mit anderen Stilen, hat aber wesentlich mehr Talent, eine richtig gute Party daraus zu machen. Ihre natürliche und charmante Art sowie fehlende Berührungsängste zu Soundeffekten und ein Talent für eingängige Melodien lassen ihren Auftritt zu einer elektrisierenden Show im wahrsten Sinne des Wortes werden. -4 r singt von seiner Armbanduhr, einem Schneemann aus Wolle oder der erlösenden Ansage „Hitzefrei". Oft beginnen Sebastian Krämers Lieder mit Alltäglichem, heben aber bald ab in eine Dimension, in der keine unserer geliebten Gewissheiten mehr gilt. Eine Armbanduhr, bekennt er, braucht er gar nicht, vielmehr brauche das Plastikprodukt aus China ihn. Wer sonst sollte die Zeiger immer wieder auf korrekte Zeit stellen? Der wollene Schneemann, als Kuschelspielzeug gestrickt, mutiert zum Kinderschreck. Und das Freiheit verheißende Wort „Hitzefrei" kündigt in Wahrheit neue Zwänge an, jedenfalls für den, der Fantasiereisen im Erdkundeunterricht dem lärmenden Treiben am Badesee vorzieht. Trotzig feiern diese „Lieder wider besseres Wissen", so der Programmtitel, den Sieg der Wirklichkeit über das vermeintlich Gewusste. Krämer kann Figuren erschaffen, die man schwer vergisst, kann bizarre Situationen bauen und Erwartungen ad absurdum führen. Eine besondere Freude sind seine korrekten und oft originellen Reime, so wenn „ein Waldgeist / in verwandelter Gestalt reist" oder der Heil-Express auf dem Rummel als „eine Maschine / für Endzeitaffine" erscheint. Wohltuend in einer Zeit, in der sich viele mit leicht zu findenden Assonanzen begnügen. Auch musikalisch sind diese Chansons zwischen Kabarettlied, Popballade und Kammersinfonik Ereignisse. Am Premierenabend beschränkte sich Sebastian Krämer selten auf die eigene Begleitung am Klavier, das er virtuos und variantenreich beherrscht, sondern bat sieben Kollegen um instrumentale Unterstützung in wechselnder Kombination. Ein Quartett aus Klavier, Hörn (Rarsten Zimmermann), Cello (Angelika Winnen) und Klarinette (Tobias Hömberg) schuf die skurril-unheimliche Atmosphäre für den „Schneemann aus Wolle", während beim „Goldmedaillenreggae" die gesamte Band gefordert war. Sie trägt den schönen Namen Die gelegentlich auftretenden Schwierigkeiten. Ein paar Proben mehr hätten ihr sicher geholfen, die Einsätze besser zu synchronisieren. So kann der Bemerkung einer Zuschauerin in der Pause „Die gelegentlich auftretenden Schwierigkeiten machen ihrem Namen Ehre." nicht widersprochen werden. Das größere Problem aber war der Sound im hohen Saal des Heimathafens Neukölln. Je mehr Instrumente hinzukamen, umso weniger verstand man Krämers Texte. Das ist bei Liedern, die Geschichten erzählen und die entscheidende Überraschung oft in der letzten Strophe bringen, nicht zu tolerieren. Selten konnte man so aufs Wort folgen wie bei Christof Stählins Lied „Der Clown". Zu diesem einzigen Coverstück des Programms begleitete sich Krämer minimalistisch mit einer Lochkartenspieluhr und beendete damit auch den fast dreistündigen Abend als Hommage an den wenige Tage zuvor verstorbenen Meister, bei dem er viel gelernt hat. Um die Geheimnisse der anderen Lieder vollständig zu entdecken, wird man auf das Album warten Stephan Göritz • sebastiankraemer.de • heimathafen-neukoelln.de Hans-Jürgen Lenhart • flaviacoelhomusic.com • hafen2.net SEBASTIAN KRÄMER^ FOTO: PETER FRANK PIPPO POLLINA & BAND_ FOTO: BRIGITTE KÜHN 6.15 FOLKER FOLKER 6.15