Die Bockenheimer, ihre Nebenstraßen
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Die Bockenheimer, ihre Nebenstraßen
Die Bockenheimer, ihre Nebenstraßen Im 20. Jahrhundert wird das Westend, mit seiner Nähe zur Uni, mit seinen alten Wohnhäusern und ruhigen Seitenstraßen zum bevorzugten Wohnort der Intellektuellen. Ein beliebter Treffpunkt der Soziologen und Philosophen des Instituts für Sozialforschung und des Kreises um Karl Mannheim war bis ´33 das gutbürgerliche Café Laumer, Ecke Brentanostraße. Teilnehmer des sogenannten "Kränzchen" waren Adorno, Fromm, Goldstein, Horkheimer, Löwenthal, Pollock, Tillich u.a. In der zweiten Jahrhunderthälfte fanden dort Adornos Nachseminare statt, auch manche öffentliche Diskussion. In der Buchmessenwoche war das Laumer als Café Rowohlt Jahre lang Hauptquartier des Verlages und stets rappelvoll. In der zweiten Jahrhunderthälfte bevölkert sich die Stadt nach und nach mit Dichtern, Schriftstellern, Poetinnen, Autorinnen, Übersetzern und nicht zu vergessen Literaturkritikern. Das hängt sicher mit der entstehenden "Bücherstadt" Frankfurt zusammen. In der Wiesenau 8 lebte mit längeren Unterbrechungen durch Aufenthalte in Rom zwischen 1941 und 1974 die Kaschnitz (ihre Tagebücher von 1936-66, ihre Besucher); am Haus eine Gedenktafel; der Feuilletonist Horst Krüger (1919 - 1999) wohnte in der Mendelssohnstr. 49; Alexander und Alexandra Kluge bis in die achtziger Jahre in der Schumannstraße 64 (vorher in der Bockenheimer, gegenüber dem Studentenhaus); in der Schumannstraße 10 wohnte der Religionsphilosoph Franz Rosenzweig (Gedenktafel); der März-Verlag von Jörg Schröder war in der Schwindstraße; Benno Reifenberg (Frankfurter Zeitung) wohnte 1943 im Grüneburgweg 153; wo heute die Autorenbuchhandlung (früher Reutterweg) ist; der verarmte Fabrikant Oskar Schindler ("Schindler´s Liste") in der Arndtstraße 46; in der Arndtstraße ist Elisabeth Borchers zu Hause. Paul Arnsberg wohnte in der Arndtstraße 1. In der Schubertstraße 20 das Heinrich-Hoffmann-Museum. Die philosophische Schriftstellerin Margarete Susmann lebte ab 1918 in der Savignystraße 33/III. Der "Verlag Neue Kritik" ist seit 1983 im Kettenhofweg 53; das Geburtshaus von Ludwig Fulda stand im Kettenhofweg 100. Theodor Wiesengrund Adorno lebte mit seiner Frau Gretel Karplus im Kettenhofweg 123 (Gedenktafel); nach der Rückkehr 1949 wohnte er zuerst Liebigstraße 19. Im Kettenhofweg wohnte auch Eva Moldenhauer mit Suhrkamplektor Karl Markus Michel, der seit 1964? zusammen mit Hans Magnus Enzensberger im Suhrkamp Verlag das richtungweisende "Kursbuch" herausgab. In der Lindenstraße 29 der Suhrkamp-Verlag (Siegfried Unseld, 1929 - 2002), in Nr. 39 steht das Geburtshaus des New Yorker Schriftstellers Peter Bloch; der Verlag der Autoren befand sich nach der Gründung 1969 in der Staufenstraße 46. Der Dramatiker Hans Günter Michelsen wohnte in der Kronbergerstraße 30; Adolf Stoltze von 1888-96 in der Staufenstraße 37. Generalstaatsanwalt Fritz Bauer wohnte Feldbergstraße 18; Helga M. Novak und Horst Karasek in der Feldbergstr. 28, Alfons Paquet Wolfsgangstraße 122; Mile Braach Wolfsgangstraße 116. Paul Claudel´s Adresse als französischer Generalkonsul zwischen 1911 und 1913: Bockenheimer Landstraße 83; Walter Benjamins Anschrift 1932: Pension Isolde, Bockenheimer Landstraße 81 (zerstört); der Sozialphilosoph Max Horkheimer wohnte (wenn er nicht mit seinem Freund Fritz Pollock in Montagnola war) von 1950 bis 63 in der Westendstraße 79 (Gedenktafel); Fritz Pollock ab 1950 in der Bockenheimer 127 (abgerissen, heute Universität); der Soziologe Karl Mannheim in der Westendstraße 103; Der Übersetzer Traugott König wohnte Bockenheimer Anlage 34. Ernst Herhaus Hansaallee 19; Horst Bingel lebt in der Wiesenau. Erwähnt sei auch das Eppstein-Eck als beliebte Kneipe vieler Revolutionäre, Literaten und Comic-Zeichner der Neuen Frankfurter Schule. - Immer noch ist das Westend beliebter Wohn- und Arbeitsort vieler renommierter Autoren; aber Schriftsteller sind Zugvögel! Foto Geburtshaus von Erich Fromm, Liebigstr. 27 Der Dichter und Zeichner Wilhelm Busch (1832 bis 1908) hielt sich seit 1868 immer wieder längere Zeit im Hause des Frankfurter Bankiers Kessler (damals Bockenheimer Landstraße 62) und in dessen ehemaligem Kutscherhaus in der Wiesenau auf; sein jüngerer Bruder Otto war Hauslehrer bei den Kesslers. Wilhelm pflegte ein enges Verhältnis zur Gattin Johanna Kessler und ihren Töchtern. Hier ist "Die fromme Helene" (1872) entstanden. Vor der Bockenheimer Landstraße Nr? steht ein Wilhelm-BuschDenkmal. In der Myliusstraße 20 das von Alexander Mitscherlich (mit Unterstützung von Horkheimer, Adorno, Habermas u.a.) 1964 gegründete Sigmund-Freud-Institut; hier erinnert eine Gedenktafel an den Freud-Schüler und Leiter des ersten Frankfurter Psychoanalytischen Instituts Karl Landauer, der im KZ Bergen-Belsen verhungerte (Max Horkheimer machte bei ihm eine Lehr-Analyse); das Geburtshaus des Psychoanalytikers und Sozialphilosophen Erich Fromm steht in der Liebigstraße 27 (ohne Gedenktafel); 1926 heiratete er Frieda Reichmann, seine Analytikerin (sie hatte als eine der ersten Frauen Medizin studiert). Bertha Pappenheim (1859-1936), eine der stärksten Persönlichkeiten des deutschen Judentums und laut Sigmund Freud "die eigentliche Begründerin der Psychoanalyse" (da sie die talking-Kur "erfand"), war von 1888-95 in der Leerbachstraße 10 ansässig, später in der Liebigstraße 27c (zerstört) und der Feldbergstraße 23 (keine Gedenktafel). Der Psychoanalytiker und Kulturkritiker Alexander Mitscherlich, der seit Mitte der sechziger Jahre in Frankfurt lebte, hat wie kein anderer in der Nachkriegszeit dafür gekämpft, die unter den Nazis verfolgte und verfemte Psychoanalyse in der Bundesrepublik einzubürgern, in ihrer Doppelrolle als ärztliches Heilverfahren, und als kulturkritische Methode. Von größter Wirkung war "Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens" (1967; gemeinsam mit Margarete MischerlichNielsen). Die kritische Untersuchung befasst sich mit den Zusammenhängen zwischen dem Ausbleiben einer Trauerreaktion in Deutschland nach 1945 angesichts der nationalen Katastrophe, und einer latenten sozialen und politischen Erstarrung und Unbeweglichkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft. - 1969 erhält Alexander Mitscherlich den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. - 1965 war "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" erschienen, eine "Anstiftung zum Unfrieden". Das Buch ist ein Plädoyer für eine Einmischung der Bürger in die Stadtplanung. An unseren "restaurierten und gedunsenen Städten" sei abzulesen, schrieb Mitscherlich, "wohin Planung führt, wenn sie ohne den stattfindet, für dessen Bedürfnisse sie unternommen wird." (aus: "Frankfurt-Literarische Spaziergänge" herausgegeben von Maria Gazzetti , Fischer Taschenbuch, 2005 )