ARTE | Archiméde

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Zurück Diese Woche Archiv Diskussionsforum 26. Juni 2001
Das musikalische Gehirn
Autorin: Ursula Biermann
Dass die Musik eigentlich im Gehirn spielt, wissen Forscher
schon seit langem. Musik löst bei Zuhörern die verschiedensten
Empfindungen aus. Von absoluter Entspannung bis zur völligen
Ekstase. Aber wie und wo unser Gehirn die Musik verarbeitet,
konnte man bisher nur vermuten.
Links und Adressen zu den
Themen der Sendung:
Auf der Website von Stefan
Koelsch finden Sie
umfassende Informationen zu
seinem
Forschungsschwerpunkt der
Verarbeitung von Musik und
Sprache im Gehirn.
Max-Planck-Institut für
neuropsychologische
Forschung
Stephanstraße 1a
D-04103 Leipzig
Postfach 500355
D-04303 Leipzig
Tel.: (+49) 0341-9940-00
Fax: (+49) 0341-9940-113; 221
Buchtipp:
"Das wohltemperierte Gehirn.
Wie Musik im Kopf entsteht
und wirkt."
von Robert Jourdain
Spektrum Verlag, 2001
Eine Buchrenzionn finden Sie
im Internet
Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen haben Wissenschaftler
des Leipziger Max-Planck-Institutes für Neurophysiologie ein
Musiklabor für Kinder eingerichtet.
Bei den Tests wird das Kind mit einer "High-Tech-Badekappe", die
mit Elektroden bestückt ist, verkabelt. Am Monitor lässt sich dann
mitverfolgen, wie das Gehirn auf die eingespielten Töne reagiert. Dr.
Stefan Koelsch ist Musiker und Neurophysiologe am Max-PlanckInstitut. Er konnte zeigen, dass nicht nur Musiker unerwartete oder
disharmonische Akkorde erkennen. Auch Kinder sind von Anfang an
musikalisch.
Dr. Stefan Koelsch, Max-Planck-Institut für Neuropsychologie,
Leipzig
"Bei Kindern zeigt sich deutlich, dass sie ganz sensibel für eine
hochdifferenzierte musikalische Wahrnehmung sind. Selbst
Neugeborene können akustische Klänge schon hochdifferenziert
verarbeiten. Und das ist wichtig, denn die neuesten Studien zeigen
sehr klar, dass der Erwerb von Sprache verbunden ist mit dem
Erwerb des Verständnisses sprachmelodischer Eigenschaften von
Sprache. Kleine Kinder erlernen Sprache auch dadurch, dass sie
merken, hier ist ein bestimmtes Päuschen, da geht die Stimme rauf,
da geht die Stimme runter, und dieser Satz hat diese und jene
Bedeutung bzw. diese und jene syntaktische Struktur."
Tests an erwachsenen Versuchspersonen konnten die Ergebnisse
aus dem Kinderlabor bestätigen. Selbst wenn die Testpersonen
abgelenkt waren, weil sie in einem Buch lesen sollten und so die
Töne nur als Hintergrundmusik, wie in einem Kaufhaus, wahrnahmen,
registrierte ihr Gehirn trotzdem feine Disharmonien. Und das ganz
unbewusst. An den Daten erkennt man auch, dass kein Mensch
tatsächlich unmusikalisch ist.
Darüber hinaus interessierte die Leipziger Forscher, ob Musik im
Gehirn ähnlich verarbeitet wird wie Sprache. Den Testpersonen
werden einfache Sätze vorgespielt, bei denen sie entscheiden
müssen, ob sie Fehler enthalten oder nicht.
Dr. Stefan Koelsch, Max-Planck-Institut für Neuropsychologie,
Leipzig
"Wenn wir Vergleiche zwischen den Sprach- und den
Musikexperimenten anstellen, dann sehen wir, dass sowohl Sprache
als auch Musik ziemlich genau das gleiche Netzwerk im Gehirn
aktivieren: Musik wird wie Sprache verarbeitet und Sprache wie
Musik. Das Gehirn macht gar keinen großen Unterschied zwischen
Sprache und Musik."
Mit verschiedenen bildgebenden Verfahren wie der funktionellen
Kernspintomographie werden die Teile des Gehirns lokalisiert, in
denen Musik und Sprache wahrgenommen und verarbeitet werden.
http://archives.arte.tv/hebdo/archimed/20010626/dtext/sujet2.html[12.07.2011 08:57:50]
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Lange Zeit dachte man, dass Sprache ausschließlich eine Funktion
der linken Hirnhäfte sei. Die Ergebnisse der Leipziger Max-PlanckForscher zeigen jedoch, dass beide Hirnhälften für die Sprache
zuständig sind. Neu ist, dass die rechte Hirnhälfte insbesondere beim
Verstehen von Sprachmelodie, Betonung und Rhythmik eine
bedeutende Rolle spielt. Diese Erkenntnisse können auch von
therapeutischen Nutzen sein.
Dr. Martin Meyer, Max-Planck-Institut für Neuropsychologie,
Leipzig
"Man kann Patienten mit einer Verletzung der linken Hirnhälfte, die
unter Defiziten bei Sprachbildung und Sprachverarbeitung leiden,
helfen, ihre Ressourcen in der rechten Hirnhälfte zu nutzen, und über
Betonung und das explizite Training von Betonung die
Wiedererlangung ihrer Sprachfähigkeit zu realisieren."
Die Eigenschaft des Gehirns, Sprache und Musik ähnlich zu
verarbeiten, kommt vielleicht schon bald Kindern mit
Sprachproblemen zu Gute. Ihr Sprachnetzwerk könnte durch das
Anhören bestimmter Musikstücke trainiert werden.
Dr. Stefan Koelsch, Max-Planck-Institut für Neuropsychologie,
Leipzig
"Diese Eigenschaft können wir uns zunutze machen, indem wir
Kindern, die in ihrer Sprachentwicklung gestört sind, Musik
präsentieren, die genau für das Areal, in dem wir die Störung der
Sprachentwicklung vermuten, eine besondere Anforderung darstellt.
Wir hoffen, dass wir Instrumente entwickeln können, mit denen die
Therapie dieser Kinder flankiert werden kann"
Überraschenderweise eröffneten die Studien auch völlig neue
Erkenntnisse über die Analyse und Aufnahme von Grammatik und
Satzinhalten. Dies könnte wertvolle Hilfen zum Erlernen von
Fremdsprachen liefern.
Dr. Anja Hagen, Max-Planck-Institut für Neuropsychologie,
Leipzig
"Wir haben herausgefunden, dass - entgegen dem, wie man es
vielleicht intuitiv vermuten würde - im Gehirn zunächst einmal
grammatische und erst in einem zweiten Schritt
Bedeutungsinformation verarbeitet wird. Mit dieser Methode haben wir
nun die Möglichkeit, bei Kindern zu untersuchen, wie sie ihre Sprache
zum ersten Mal erwerben oder aber bei Erwachsenen zu analysieren,
wie sie als Erwachsene eine Fremdsprache lernen."
© 1999 ARTE G.E.I.E
http://archives.arte.tv/hebdo/archimed/20010626/dtext/sujet2.html[12.07.2011 08:57:50]