Der islamische Bruderkrieg zwischen Schiiten und Sunniten

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Der islamische Bruderkrieg zwischen Schiiten und Sunniten
Beitrag aus: „Sächsisches Handbuch zum Extremismus und sicherheitsgefährdenden Bestrebungen 2009“
Der islamische Bruderkrieg zwischen Schiiten und Sunniten
Die Lage im Irak ist nach wie vor unübersichtlich. Nach dem Einmarsch ausländischer
Truppen im Frühjahr 2003 und der anschließenden Stationierung internationaler
Militärkontingente brachen neben dem Kampf gegen die „westlichen Besatzungsmächte“
zunehmend auch historische innerirakische Konflikte des Vielvölkerstaates erneut auf. Dabei
drängte sich die alte Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten, den zwei großen
religiösen Richtungen im Islam, die beide im Irak beheimatet sind, wieder in den
Vordergrund. Um diese Auseinandersetzungen zu beleuchten, hilft ein Blick weit zurück in
die Geschichte der Entstehung des Islam.
Zur historischen Entstehung des sunnitischen und schiitischen Bekenntnisses im
Islam
Das persische Großreich der Sassaniden1, das im Wesentlichen die Gebiete des heutigen
Irak und Iran umfasste, wurde in der Mitte des 7. Jahrhunderts mit der Ankunft arabischer
Heere von der arabischen Halbinsel islamisiert. Von den ursprünglich als Militärlager
errichteten südirakischen Städten Basra und Kufa schritt die Ausbreitung der neuen Religion
zügig voran.
Nach dem Tod des Propheten Muhammad im Jahr 632 stand die junge islamische
Gemeinde vor der Entscheidung, wie die nachfolgende Herrschaft durch den Führer (Kalif)
über die islamische Gemeinschaft (Umma) geregelt werden soll. Für diese Frage gab es
zwei Alternativen: eine war die Herrschaft auf Grund der Abstammung vom Propheten; eine
zweite auf Grund der Ernennung infolge besonderer Verdienste z. B. für die Verbreitung des
Glaubens. Diese Frage nach der Legitimität des Kalifen ist ursächlich für die Spaltung der
islamischen Gemeinschaft.
Die Anhänger bzw. Partei (Schia) Alis, dem Cousin und Schwiegersohn des Propheten
Muhammad sowie vierten Kalifen, favorisierten als rechtmäßige Nachfolge allein das
Kriterium der Blutsverwandtschaft und betonten sehr stark die religiöse Führungsrolle des
Kalifen. Diese Überzeugung wurde durch verschiedene islamische Überlieferungen
begründet.
Die Schia erkannte somit die nach Muhammads Tod regierenden ersten drei Kalifen Abu
Bakr (regierte 632-634), Umar (regierte 634-644) und Uthman (regierte 644-656) nicht als
legitime Herrscher an, da die Regentschaft ihrer Überzeugung nach einzig Ali als direktem
Abkömmling des Propheten rechtmäßig zugestanden hätte. Hingegen war nach sunnitischer
Auffassung lediglich die Herkunft aus dem Stamm des Propheten (Stamm der Kuraisch)
Bedingung für den Führungsanspruch.
Die 5-jährige Herrschaft Alis (regierte 656-661) als vierter Kalif war von Anfang an umstritten.
Insbesondere Anhänger seines Vorgängers Uthman aus dem Clan der Umayaden erkannten
ihn nicht an. Seine Regierungszeit war insofern geprägt von Machtkämpfen zwischen seinen
Gefolgsleuten, den Schiiten, und Anhängern der sunnitischen Umayaden-Dynastie. Alis
Sohn Hussain kam dabei in der Schlacht von Kerbala im Jahr 680 zu Tode. Damit war
schließlich die endgültige Trennung beider Glaubensgemeinschaften besiegelt.
Die Bedeutung der Städte Basra und Kufa für die Islamisierung des ehemaligen Großreiches
sowie das dortige Wirken des vierten Kalifen Ali und seiner Söhne waren wesentlich für die
Rolle des heutigen Iraks hinsichtlich des schiitischen Glaubens.
1
Auch als „Neupersisches Reich“ bezeichnet (ca. 224-642 n. Chr.).
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Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurde der Schiismus Staatsreligion im Gebiet des heutigen
Iran und damit die Religion mit territorialer Herrschaft verknüpft.
Als Mitte des 17. Jahrhunderts der Iran gegen das aufstrebende Osmanische Reich
militärisch eine Niederlage erlitt, ging der Irak mit seinen schiitischen Heiligtümern verloren.
An diesen ließen sich sodann in Städten wie Kufa und Nadschaf schiitische Gelehrte nieder
und bildeten Zentren religiöser Gelehrsamkeit, die zur Herausbildung einer klerikalen
schiitischen Oberschicht führten. Diese betrachteten sich als Wächter der Belange der Schia
und der des Iran gerade auch in Opposition zur dort entstandenen Monarchie.
Über Jahrhunderte hinweg gab es Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen
Sunniten und Schiiten, deren Ursachen sich letztlich zum großen Teil auf die vollzogene
religiöse Spaltung, aber auch auf die ethnischen und kulturellen Unterschiede zurückführen
lassen.
Irakisch-Iranische Konfrontationen in der Neuzeit
Im vergangenen 20. Jahrhundert gab es im Völkergemisch Irak mehrfach Konfrontationen
zwischen den verschiedenen Ethnien. Etwa 60 % der muslimischen Bevölkerung im Irak sind
Schiiten. Sie leben insbesondere in den südlichen Landesteilen. Rund 40 % sind Sunniten.
Sie siedeln im Zentralirak und im Nordwesten des Landes.
Bereits historisch wurde die schiitische Mehrheit trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit
gegenüber der sunnitischen Minderheit benachteiligt. Auch die britische Mandatsregierung
im Irak schien Anfang des 20. Jahrhunderts die Anhänger der Sunna zu bevorzugen und
machte sunnitische Stammesführer und Grundbesitzer zu privilegierten Bündnispartnern. Die
britische Vorherrschaft führte gleichwohl zu einem Zusammenhalten der verschiedenen
Völker und galt als Garant für die damaligen Verhältnisse. Auch nach der Unabhängigkeit
des Irak erfüllte sich trotz schiitischer Präsenz in nahezu allen Organisationen und Parteien
die Hoffnung auf ein Ende der Diskriminierung nicht. Ebenso war ein deutliches
wirtschaftliches Gefälle auszumachen zwischen dem südlichen, schiitisch geprägten und
rückständigen Irak, und der prosperierenden zentralirakischen Region der Sunniten. Darüber
hinaus waren bis in die Neuzeit hinein schiitische Iraker ihren sunnitischen Landsleuten nicht
gleichgestellt.
Mitte der 1970er Jahre kam es zu gewaltsamen Unruhen im Land, bei denen zahlreiche
Schiiten zu Tode kamen. Der regierenden, panarabisch und sozialistisch orientierten BaathPartei waren die Schiiten neben der kurdischen Minderheit im Irak erbitterte Gegner. Der
initiierten Baathifizierung des Irak unter Saddam Hussain fielen zuerst die Schiiten und
Kurden zum Opfer. Der Iran wiederum unterstützte immer wieder die Schia, aber z. T. auch
die Kurden gegen das feindlich gesinnte, säkulare Regime im Nachbarland.
Mit dem Sieg der islamischen Revolution 1979 im Iran und den 1980 ausgebrochenen
Schiitenunruhen im Süden des Irak nahmen die Spannungen zwischen beiden Ländern in
starkem Maße zu. Der Irak sah sich durch die islamische Revolution im Iran direkt bedroht,
zumal deren erklärtes Ziel ausdrücklich der Export dieser Idee in andere islamisch geprägte
Länder war. Der Sturz der säkularen Baath-Partei und die „Befreiung“ des irakischen Volkes
von der Tyrannei Hussains standen im Fokus des iranischen Revolutionsführers Chomeini.
Der irakische Diktator fürchtete somit ein –durch den Iran tatkräftig unterstütztes – erneutes
Auflehnen der unterdrückten Schiiten im eigenen Land.
Weitere wesentliche Konfliktfelder jenseits religiöser und politischer Machtansprüche waren
die Vormachtstellung am persischen Golf und damit verbunden Streitigkeiten über den
Grenzverlauf am Schatt al-Arab, dem Zusammenfluss von Eufrat und Tigris im südlichen
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Irak, sowie über den vom Irak beanspruchten Zugang zur erdölreichen iranischen Provinz
Chusistan.
1980 marschierten irakische Truppen in den Iran. Der so genannte erste Golfkrieg zwischen
beiden Ländern dauerte acht Jahre und forderte hunderttausende Tote.
Der Irak im Fokus des Kampfes gegen den Terror
Im März 2003 begann der so genannte Dritte Golfkrieg. Die „Koalition der Willigen“ unter USamerikanischer Führung verfolgte dabei das Ziel, das diktatorische Regime Hussains zu
beseitigen und eine umfassende Demokratisierung einzuleiten, die perspektivisch auf die
gesamte islamische Welt ausstrahlen sollte. Im April 2003 wurde der militärische Sieg über
die irakische Armee errungen. In der Folge brachen allmählich bürgerkriegsähnliche
Zustände im Land aus, die bis heute nicht beendet sind. Dabei stehen sich verschiedene
Interessengruppen und Fronten gegenüber wie beispielsweise gewaltbereite Schiiten unter
Führung des Geistlichen Muqtada AL-SADR, Anhänger des hingerichteten Ex-Diktators
Hussain bzw. Baathisten und Nationalisten sowie sonstige sunnitische Araber und
Islamisten, die auch mit Hilfe ausländischer Kämpfer und mit Unterstützung islamistischterroristischer Organisationen wie AL-QAIDA einen islamischen, sunnitischen Staat errichten
wollen.
Die Organisation AL-QAIDA IM IRAK (AQ-I) bzw. ISLAMIC STATE OF IRAK (IsoI) rief 2006 in
Teilgebieten des Irak einen islamischen Staat aus. Für dessen Unterstützung wird
kontinuierlich auf verschiedenen Ebenen aktiv geworben, sei es hinsichtlich finanzieller
Zuwendungen oder durch aktive Beteiligung an Kampfhandlungen für den Jihad. Erklärte
Feinde sind vorrangig die „Besatzungsmächte“ sowie die Schiiten, aber auch sämtliche
„Ungläubige“.
Auch für den Verfassungsschutz ist diese Entwicklung bedeutsam, da Reisebewegungen
islamistischer Extremisten von Deutschland in den Irak und umgekehrt sowie sonstige
Unterstützungsleistungen im Rahmen des Kampfes gegen den Islamismus und
islamistischen Terrorismus der Beobachtung bedürfen.
Schlussbemerkung
Selbst der Kampf gegen einen gemeinsamen Feind, die „Besatzungsmächte“ im Irak,
vermag nicht über religiös-politische und ideologisch-kulturelle Gräben hinwegzutäuschen.
Auch ohne die Präsenz der ausländischen Militärkontingente besteht in der Region ein
enormes eigenes Konfliktpotenzial, das sich jederzeit gewalttätig entladen kann, durchaus
auch noch stärker als bisher.
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