Zur Doppelperfektkonstruktion aus alemannischer Sicht
Transcription
Zur Doppelperfektkonstruktion aus alemannischer Sicht
IGDD 2012 Kiel Zur Syntax und Semantik des doppelten Perfekt aus alemannischer Sicht § (3) Ja, nun begreif' ich's freilich, warum meine Kameraden das Wildtun müde geworden sind, nachdem sie haben geheiratet gehabt. (Otto Ludwig, Die Heiterethei oder ihr Widerspiel, 1857, aus Litvinov (1969: 18)) 1.1.2 In anderen Sprachen Ellen Brandner (Konstanz), Martin Salzmann (Leipzig), Gerhard Schaden (Lille) [email protected]; [email protected]; [email protected] § – – – – – – 1 § (1) a. 1.2 Einführung (4) a. kein dialektales Phänomen im Sinne von klar umrissener arealer Verbreitung – obwohl weitere Verbreitung im süddeutschen Raum (Präteritumsschwund) nicht nur Kompensation des Präteritumsschwunds und damit einhergehender Verlust der Prät.-formen des Auxiliars, s. Rödel (2007), Buchwald-Wargenau (2010), Hundt (2011) Annahme: es gibt keine wirkliche Redundanz in natürlicher Sprache à Funktionen des DPF identifizieren und temporalsemantisch bzw. aspektuell in bestehende Theorien integrieren 1.1 Verbreitung des doppelten Perfekts 1.1.1 Im Deutschen § (2) § – – Wo als s Anni der ëérscht Walzer gmacht ghaa hed, isch em schlächt wòorde. das A den ersten Walzer gemacht gehabt hat ist ihm schlecht geworden (Zug, cf. Bossard (1962: 94)) Wu-si Als sie Wulgà Wolken s Hái ufglaadá ghaa hán, hed‘s zmools üs allená das Heu aufgeladen gehabt haben (=hatten), hat es auf einmal aus allen gschidded geschüttet (Kaiserstuhl, Noth (1993: 321)) § – Superperfekt (auch: two-way action (Thieroff (1992)), reversed result (Squartini (1999))) hier wird ein Ereignis nicht im Hinblick auf ein anderes vergangenes Ereignis/einen Zustand situiert, sondern bezieht sich direkt auf den Äußerungszeitpunkt zusätzlich wird ausgedrückt, dass der aus dem Ereignis resultierende Zustand nicht mehr anhält (man findet die Seite nicht mehr; man kann sich wieder erinnern): (5) a. Ich such’ ‘ne bestimmte Seite, ich hab’ se eben noch gesehen gehabt. Litvinov and Radcenko (1998: 237) b. des hob i jetz komplett fagäassa ghet! das hab ich jetzt völlig vergessen gehabt Vorarlberg-Alemannisch, cf. Schaden (2007) § Zumindest in der Umgangssprache finden sich auch scheinbar redundante/inflationäre Verwendungen (so wie es womöglich auch redundante Verwendungen des Pqpfs gibt) – man würde hier ein einfaches Perfekt erwarten (in alemannischen Dialekten wäre hier normalerweise kein DPF möglich), cf. Ammann (2007: 194) in dt. Dialekten sehr verbreitet (Luzerndeutsch, Fischer (1960: 367f.)) findet sich häufig im gesprochenen Deutsch, ist aber keineswegs auf die Umgangssprache beschränkt, cf. Hundt (2011) Litvinov and Radcenko (1998: 123) zeigen, dass das DPF beim Konjunktiv II in gewissen Fällen nötig ist, nämlich wenn sich die Irrealität auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit bezieht à das DPF ist also wohl auch Teil der Standardsprache Anterior beschreibt ein Ereignis in der Vergangenheit als abgeschlossen/vorzeitig zu einem Referenzzeitpunkt in der Vergangenheit; entspricht einer der wesentlichen Funktionen des Plusquamperfekts im Standarddeutschen: b. – Won er s Zmettaag abegschlëtzt ghaa hëëd, escht er uuf ond devòò. als er das Mittagessen runtergeschlungen gehabt hat ist er auf und davon § Nicht auf das Deutsche beschränkt, cf. Ammann (2007): häufig in Mitteleuropa (Französisch, Italienisch, niederländische Dialekte), aber auch im Serbokroatischen, Ungarischen belegt auch fürs Koreanische und Baskische Die Lesarten des DPF Ich habe das Buch gelesen gehabt. – – – ein einfaches Perfekt wird durch ein weiteres Partizip des Auxiliars gehabt/gewesen erweitert: Er ist schon gestorben gewesen. – § – Abstract Frage nach der Funktion des DPF 2 Hauptlesarten: Anterior vs. Superperfekt DPF operiert auf der perfect time span (= Perfektzeitintervall), wobei die Position der RB zentral ist Diskussion von Tripling-Daten (gesse ghabt ghet) aus interpretatorischen Gründen ist es naheliegend, das DPF als Kopula-Struktur zu modellieren à man erwartet Partizip = Adjektiv Evidenz aus alemannischen Dialekten (Wortstellungsrestriktionen, Flexion am Partizip in gewissen Dialekten) für den adjektivischen Status b. auch in der Literatursprache gut belegt: (6) “Diese Zeit war meine Tochter bei meiner Mutter, am ersten Tag, wo der Unfall passierte, sie passte da auf, weil ich weggehen wollte, zum Arzt nächsten Tag, und sie war auch da gewesen. Und dann ist mein Ehemann zu mir zurückgekommen und hat zu mir gesagt gehabt, ob ich nicht zu ihm zurückkommen wollte” 2 Brandner/Salzmann/Schaden: Das doppelte Perfekt aus alemannischer Sicht § – (7) Der Sprachvergleich zeigt, dass die beiden Lesarten unabhängig sind, d.h. es gibt auch Sprachen, in denen das DPF entweder nur die Anterior- oder die Superperfekt-Lesart aufweist, cf. Barbiers et al. (in preparation) In anderen Sprachen sind zum Teil andere Lesarten salienter, so z.B. unspezifische, meist weit zurückliegende Vergangenheit (so im Französischen und Okzitanischen); solche Verwendungen scheinen im Deutschen in gewissen Fällen auch möglich zu sein, vgl. sog. absolute Verwendungen (Beim Besuch einer Fahrradwerkstadt, nachdem man einige Stunden zuvor angerufen hatte, ob eine Reparatur vorgenommen werden könne, sagt der Mechaniker): IGDD 2012 Kiel 2.2 2.2.1 Si händ aagglüütte ghaa? sie haben angerufen gehabt (Zürichdeutsch, Hörbeleg) ‘Sie hatten angerufen?’ (vgl. Standarddeutsch: Ich hatte einen Tisch reserviert) § – – – 2 Im Folgenden konzentrieren wir uns auf Anterior und Superperfekt und versuchen folgende Fragen zu beantworten: Wie kann man diese beiden Lesarten temporalsemantisch charakterisieren? Was sind die Implikationen für die syntaktische Struktur? Gibt es einen Ansatzpunkt zur Erklärung für die weiteren Lesarten? Zu den Funktionen Vorab: das Perfekt im Deutschen lässt zwei Interpretationen zu:1 a. es bezieht sich auf ein Ereignis, das vor dem Sprechzeitpunkt liegt b. es bezieht sich auf eine Zeitspanne, die das Ereignis sowie den daraus resultierenden Zustand umfasst (perfect time span = PTS); die rechte Grenze (Right Boundary, RB) markiert dabei das Ende der PTS § Ein Present Perfect im Englischen wird so interpretiert, dass die PTS bis zum Sprechzeitpunkt (der beim present perfect auch zugleich Referenzzeit ist) anhält. PTS RB (Right Boundary) (9) E(reigniszeit) (10) a. Funktionen des DPF § § § – – 2.1 traditionell: das DPF ersetzt das Plusquamperfekt in den oberdeutschen Dialekten, die aufgrund des Präteritumsschwunds kein Past-Auxiliar mehr haben das DPF fügt eine aspektuelle Komponente hinzu, Rödel (2007), auch Hundt (2011) à Abgeschlossenheit 2 Aspekte: als diachrones kausales Szenario ist Ersteres nicht ausreichend, allerdings realisiert das DPF sehr häufig Funktionen des Plusquamperfekts im Standarddeutschen DPF und Plusquamperfekt sind allerdings nicht ganz deckungsgleich bezüglich der Semantik – (8) a. S(prechzeit),R(eferenzzeit) Englisch: *Peter has arrived yesterday Deutsch: Maria ist gestern angekommen à kompatibel mit einer spezifischen Zeitangabe! § Im Deutschen: dynamische PTS, d.h. die Zeitspanne kann nur das Ereignis umfassen oder bis zur S;R reichen (oder bis zu einem Punkt zwischen E und R); Ersteres macht es möglich, dass das Perfekt (die Form) präteritale Funktion übernehmen kann (und spezifische Temporaladverbien möglich sind): (11) E cf. Rödel (2007), Buchwald-Wargenau (2010), Hundt (2011) es gibt Belege für das DPF im Mittel- und Niederdeutschen aus dem 14.–16. Jh. (somit aus einer Zeit, wo der Präteritumsschwund im Oberdeutschen erst begann) die Existenz des Doppelplusquamperfekts in verschiedenen Registern zeigt die Unabhängigkeit vom Präteritumsschwund (Squartini (1999: 61f.)): Als Bressand seine Operntexte schrieb, hatte Herzog Anton Ulrich am Schlosse das 1688 vollendete Opernhaus gebaut und Musiker und Sänger berufen gehabt (T. Thone, Wolfenbüttel, die Musenstadt, 1960). b. In dem Augenblick fühlte er sich am linken Arm ergriffen und zugleich einen sehr heftigen Schmerz. Mignon hatte sich versteckt gehabt, hatte ihn angefasst und ihn in den Arm gebissen. (Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1796) – Das DPF findet sich auch außerhalb des Germanischen auch in Sprachen, die noch über ein stabiles Präteritum verfügen (z.B. Okzitanisch), cf. Ammann (2007) 3 à nicht kompatibel mit einer spezifischen Zeitangabe! b. Zum diachronen Szenario § – Zur Einführung: Perfekt und Plusquamperfekt § § S,R Eine dynamische PTS gibt es nicht nur im Deutschen – im Plusquamperfekt ist sie auch im Englischen vorhanden (temporales Adverb ist möglich: John had arrived yesterday): (12) E 1 R S Die folgende Darstellung basiert auf Rothstein (2008). Zur Interpretation des deutschen Perfekts, s. vor allem Klein (1992), Pancheva and von Stechow (2004), zur Perfect Time Span, Iatridou et al. (2001). 4 Brandner/Salzmann/Schaden: Das doppelte Perfekt aus alemannischer Sicht 2.2.2 § IGDD 2012 Kiel Die Semantik des doppelten Perfekts § Vorschlag für DPF (Superperfect-Lesart): im Falle von (16a) fällt die RB mit (dem letzten Subintervall von) E zusammen: (17) RB RB (gehabt) (13) E – – – – (14) a. E S,R Die PTS umfasst eine Zeitspanne, die länger ist als lediglich E, aber vor S,R endet. Dieser Endpunkt ist jedoch nicht als R spezifiziert, d.h. der Zustand endet vor R, cf. (5) Annahme: gehabt lexikalisiert (macht explizit) die RB der PTS In diesem Sinne hat das DPF also die Funktion, anzuzeigen, dass ein Zustand in der Vergangenheit nur für eine bestimmte Zeitspanne Gültigkeit hatte. Dass die Superperfect-Interpretation tatsächlich nicht nur an der Abgeschlossenheit des Ereignisses festgemacht werden kann, sondern durch die RB der PTS determiniert wird, kann man daran sehen, dass auch im einfachen Plusquamperfekt ‘reversed result’ Interpretationen auftreten können, weil ja auch im Plusquamperfekt eine dynamische PTS gibt s. Beispiel b): Nachdem ich meine Brille verloren hatte, musste ich ganz schnell zum Optiker (Anterior) b. Ich hatte meine Brille verloren – habe sie aber wieder gefunden. – Interessant ist, dass das Doppelplusquamperfekt nicht notwendigerweise eine weitere temporale Verschiebung auslöst, sondern bei entsprechender Verblexik eine Superperfekt-Interpretation aufweist: (15) – (16) a. RB E de Peter isch am Ziischtig it gi schaffe gange. Er het am Mäntig kündigt #gha der Peter ist am Dienstag n. PRT arbeiten gegangen er hat am Montag gekündigt (Bodensee-Alemannisch) – Der Satz (16b) ist nicht wirklich ungrammatisch, doch er entspricht nicht genau dem standarddeutschen Beispiel (16b): es wird impliziert, dass die Kündigung schon vor dem Montag stattgefunden hat, d.h. am Montag galt schon der Zustand, dass gekündigt worden ist. Es geht wiederum also nicht um das Ereignis selbst und seine (temporale) Lokalisation, sondern der Nachzustand ist fokussiert (d.h. das Adverb bezieht sich auf die Referenzzeit, nicht die Ereigniszeit). Damit kommen wieder die PTS und die RB ins Spiel. 5 R1 R2 S (16b): R1 = Montag; R2 = Dienstag 2.2.3 Vom Superperfekt zu den anderen Lesarten des DPF 2.2.3.1 Anterior-Lesarten § § § (19) Während ein Resultatszustand in den Superperfektfällen offensichtlich ist, ist dies in den Anterior-Fällen weit weniger der Fall. Die Bedeutung scheint näher bei Abgeschlossenheit eines Ereignisses zu einem bestimmten Referenzzeitpunktes Allerdings ist es so, dass bestimmte Tests, die in der Literatur üblicherweise verwendet werden, um Zustände zu diagnostizieren, auch auf Anterior-Fälle angewendet werden können, so z.B. der wie lange-Test, der nur mit Aktivitäten und Zuständen funktioniert (im Präteritum); die Kompatibilität mit einem achievement oder accomplishment-Verb im DPF zeigt dann, dass dieses eine statische Komponente aufweisen muss (cf. Rothstein (2008: 41ff.)) Wie lang hät de Einstein d Formle (dootsmaal) scho bewise ghaa, wo du …? wie lange hat der Einstein die Formel damals schon bewiesen gehabt als du ‘Wie lange hatte Einstein die Formel (damals) bereits bewiesen, als du …?’ – Peter ist am Dienstag nicht zur Arbeit erscheinen. Er hatte am Montag gekündigt. b. Bei (16b), der Anterior-Lesart, reicht die PTS bis zu R (i.e. berührt R):2 (18) (Superperfekt) Zur Anterior-Lesart Entspricht einer der zentralen Funktion des Plusquamperfekts; das Pqpf lässt zusätzlich eine Lesart zu, wo sich spezifische Positionsadverbien auf die Ereigniszeit beziehen können; im DPF ist dies nicht möglich, cf. Squartini (1999): S,R (16a): E = Montag, S = Dienstag, S = jetzt Ich hatte damals/im Urlaub meine Brille verloren gehabt. (i) – #Und sie nie wieder gefunden (ii) – habe sie zum Glück aber wieder gefunden § – R Das Bsp. fragt nach der Zeitspanne, über die sich die PTS erstreckt seit dem Ereignis bis zu einem Referenzzeitpunkt (damals) à die PTS enthält also neben dem Ereignis auch einen (resultativen) Zustand Diese Analyse hilft womöglich zu verstehen, warum das DPF bei nicht-telischen Verben relativ selten vorkommt und häufig dispräferiert wird (obwohl es ja nach der aspektuellen Hypothese ‘Abgeschlossenheit’ anzeigt, cf. Hundt (2011)). gehabt ist aber keine Aspekt-Realisierung, sondern operiert auf der PTS, indem es die RB markiert. Der interpretatorische Effekt überlappt sich natürlich teilweise mit ‘Abgeschlossenheit’, da die RB Abgeschlossenheit von E voraussetzt. Aber in unserem Ansatz könnte die reduzierte Akzeptabilität von ib/c damit erklärt werden, dass es nicht ganz so leicht ist, sich einen Resultatszustand dazuzudenken, der aber bei der PTS des DPF gemäß unseren Annahmen (resp. denen Rothsteins) notwendigerweise dazugehört. (i) a. won i s Buech uusgläse ghaa han, bin i in Garte ggange als ich das Buch ausgelesen gehabt habe bin ich in.den Garten gegangen b.?? ich han im Buech gläse ghaa, aber dänn is mer langwiilig gworde und … ich habe im Buch gelesen gehabt aber dann ist mir langweilig geworden und c. ? won i gnueg drüber naatänkt ghaa han, han i mini Lösig uufgschribe als ich genug darüber nachgedacht gehabt habe habe ich meine Lösung aufgeschrieben 2 6 Brandner/Salzmann/Schaden: Das doppelte Perfekt aus alemannischer Sicht – – § – – § – IGDD 2012 Kiel In diesem Sinne sind Anterior-Lesarten dem Superperfekt ähnlich genug, um auf dieselbe Art und Weise kodiert zu werden Da das Pqpf auch Lesarten mit stat. Komponente hat (cf. Übersetzung von (19)), ist es nicht erstaunlich, dass das DPF ein Substitut für viele Verwendungsweisen des Pqpfs ist – – – Wie kann man ausschließen, dass das DPF mit punktuellen Adverbien (spezifischen Positionsadverbien) kombiniert wird, die sich auf die Ereigniszeit beziehen (vgl. (16b))? Die Annahme, dass gehabt/gewesen die RB lexikalisiert, bedeutet, dass sie sich vom Ereignis unterscheidet und (gemäß Rothstein (2008)) die PTS im DPF damit immer eine statische Komponente aufweist. PTS kommt mit der semantischen Anforderung, dass E an irgendeinem Punkt innerhalb von PTS sein kann. Wenn nun aber die PTS bis zu R heranreicht (berührt), dann ergibt sich ein Clash, wenn ein Adverb mit der Zeit von R inkompatibel ist. Da R in (16b) = Dienstag ist, kann Montag nicht = E sein; dies würde konfligierende Anforderungen an die PTS stellen, Montag kann daher nur einen weiteren R etablieren eine einheitliche Erklärung für Superperfekt/Anterior könnte folgendermaßen aussehen: Wenn beide Lesarten zum Ausdruck bringen, dass ein E in einem Zustand resultiert, der bis zu einem R in der Vergangenheit anhält (also eine PTS wie in (18), aber nur mit einem R), dann könnte man die reversed-result-Interpretation im Superperfekt pragmatisch erklären (Gricesche Quantitätsmaxime): Hätte man ausdrücken wollen, dass ein Zustand noch zum Sprechzeitpunkt anhält, dann hätte man stattdessen das einfache Perfekt gewählt; die markiertere Form muss etwas Zusätzliches bedeuten à Uminterpretation – – 2.2.4 – auch wenn solche Beispiele in traditionellen Darstellungen fehlen, lassen sie sich in Befragungen (Syn-ALM) elizitieren und auch mit google-Recherchen relativ leicht finden womöglich sind diese Beispiele auch vergleichbar mit sog. redundanten Verwendungen des Plusquamperfekts, cf. Ammann (2007) Anstatt solche Beispiele einfach als Performanzfehler einzuordnen, ist es womöglich angemessener, sie aus einer Grammatikalisierungsperspektive zu betrachten: gemäß Squartini (1999) ist die Entwicklung des Plusquamperfekts von einem absolut-relativen Tempus zu einem unspezifischen remote past unmarkiert; ein ähnlicher Entwicklungspfad für das DPF würde angesichts der sonstigen Ähnlichkeiten nicht erstaunen; inwieweit das DPF bei solchen Sprechern auch in past in the past-Kontexten wie (16a) möglich ist, bleibt zu untersuchen Spekulation: in Sprachen, die vom Präteritumsschwund betroffen sind, erweitert sich die Verwendungsdomäne des DPF sowohl im Hinblick auf weitere Plusquamperfektkontexte (mit spezifischen Adverbien, die auf E Bezug nehmen) als auch im Hinblick auf absolute Kontexte Doppeltes Plusquamperfekt und Tripling DPF ist auch mit Plusquamperfekt möglich, cf. (15). Eine Superperfekt-Lesart ist naheligend, da der temporale Beitrag schon durch das Plusquamperfekt geliefert wird. In einer Sprache, die eine temporale Interpretation auch/nur über doppeltes Perfekt ausdrückt (Anterior), ist zu erwarten, dass das doppelte Plusquamperfekt durch ein dreifaches Perfekt realisiert wird (eines für Anterior (≈ Plusquamperfekt) und eines für Superperfekt). Genau solche Beispiele wurden gefunden: 2.2.3.2 Absolute Lesarten § § § – – Hier ist kein klarer Referenzpunkt erkennbar Eine Kombination mit spezifischen Positionsadverbien scheint eher nicht möglich zu sein Ob eine statische/resultative Komponente vorliegt, lässt sich nicht so leicht testen Wenn man annimmt, dass eine PTS wie in (18) (aber nur mit einem R) vorliegt, könnte man die Interpretation evtl. erfassen, wenn man Folgendes annimmt: ein Sprecher, der eine Form verwendet, die einen Referenzpunkt voraussetzt, ohne diesen explizit anzugeben, lädt den Hörer zur Inferenz ein, dass das Ereignis als vom Sprechzeitpunkt distanziert anzusehen zu ist womöglich besteht auch eine Verbindung zur nächsten Lesart: 2.2.3.3 Episodische/deiktische/Verwendung (auch: past temporal frames) § – – (20) Squartini (1999) erwähnt, dass es im Zürichdeutschen eine Tendenz zu deiktischer Verwendung des DPF gebe (die aber als inkorrekt betrachtet werde von Sprachpflegern), d.h. einer Verwendung, die vergleichbar ist mit remote-past-Verwendungen des Plusquamperfekts in anderen Sprachen, wobei nicht mehr Anteriorität zu einem Referenzzeitpunkt in der Vergangenheit ausgedrückt wird (relativ-absolutes Tempus), sondern einfach Anteriorität bezüglich des Sprechzeitpunkts in diesen Verwendungen ist DPF auch kompatibel mit spezifischen Positionsadverbien: ich bin au die ganz Wuche chrank dehei gsi. Ha mega Halsweh, Huste, Schnupfe usw. Ich ha ihm Arzt am Mittwoch aglüte gha will ich mir au Sorge wägen Chline gemacht ha. Er het gseit mehr müessti mehreri Täg hochs Fieber ha, denn müesst mehr zum Arzt go. ‘Ich habe den Arzt am Mittwoch angerufen gehabt, weil ich mir auch Sorgen machte wegen des Kleinen.’ hon’ habe s es ganz ganz vergesse ghabt vergessen gehabt ich ich (22) Oh mei - dia hot's scho. Abr i ignorierse bis zom Mede (am Migda honne da Urlaub gwasi zwengara Todelinie au ondrbrocha ghabt ghett). Abr heid ned. Heid hanne Luse ond dua Brod bacha ond omanandleasa ond an Dengs beim Bildrgruschdla schdera. ‘Am Mittwoch habe ich den Urlaub quasi wegen einer Deadline auch unterbrochen gehabt gehabt.’ http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=%22ghabt%20ghett%22&source=web&cd=2&cad=rja&ved=0CC0QFjA B&url=http%3A%2F%2Fdict.leo.org%2Fforum%2FviewGeneraldiscussion.php%3FidThread%3D1021664%26lp %3Dende%26lang%3Dde&ei=bcgsUKyiEs3Msgbmg4CIDg&usg=AFQjCNGXd_YdHXHcRabwnsxEx2PTjXT3iQ – Dies ist nur möglich in Dialekten, die zwei verschiedene Formen von gehabt zur Verfügung haben. Im Fall der schwäbischen Beispielen oben sieht es so aus, als ob die Form ghabt aus dem Standarddeutschen entlehnt ist (Laut SSA gibt es nur die Form ghet). Auch im Bodensee-Alemannischen sind Fälle wie in (21) möglich: hier tritt eine Kombination aus gha (Bodensee-Alemannisch) und ghet (Schwäbisch) auf. Die Akzeptanz/Verbreitung dieser Konstruktion ist Gegenstand zukünftiger Forschung. § – – Zusammenfassung: gehabt ist die Lexikalisierung der RB einer PTS à keine genuine aspektuelle Markierung die Funktionalität des Plusquamperfekts wird durch DPF nur annäherungsweise erreicht (de facto jedoch in den meisten Fällen Funktionsgleichheit) damit ist auch verständlich, warum das ‘einfache’ diachrone Szenario (hat gehabt ersetzt schlicht hatte) empirisch nicht haltbar ist – http://www.babycenter.ch/thread/31319/januarlis-2013---wir-sind-schwanger--?startIndex=500, gefunden am 10.9.2012 7 ghet gehabt (21) 8 Brandner/Salzmann/Schaden: Das doppelte Perfekt aus alemannischer Sicht 2.3 § – – – § (23) a. Strukturen – Der Abschnitt zu den Interpretationen des DPF hat gezeigt, dass es zwingend eine RB und damit einen Nachzustand eines Ereignisses/ein Resultat involviert strukturell entsprechen Resultate/Zustände häufig adjektivischen Strukturen, das DPF kann man daher als Kopula-Struktur modellieren Angesichts der sprachgeschichtlichen Entwicklung des Perfekts aus einem possessiven Verb + statischen Partizip scheint dies naheliegend dabei drückt das lexikalische Partizip den Zustand/das Resultat aus, gehabt/gewesen fungiert als Kopula und das finite haben/sein ist ein reguläres Auxiliar. DPFs scheinen somit einen Zwischenstatus einzunehmen, indem alle Argumente, auch das externe, in der Struktur vorhanden sind, es sich aber trotzdem um eine Kopulakonstruktion handelt (was gut zur Modellierung als PTS passt, die E + Nachzustand enthält) § – Evidenz für die VP-Struktur bei DPFs können Adverbien auftreten, die sich auf das Subjekt beziehen (und damit Agentivität voraussetzen): Ich habe die Haare gefärbt gehabt. c. Der Adler ist verschwunden gewesen. Der Adler ist verschwunden. – alle Beispiele sind ambig Interpretation: – die a-Bsp. können sowohl bedeuten, dass die Haare vom Friseur gefärbt wurden (und man die Haare nun gefärbt trägt: statisch) als auch dass man sie selbst gefärbt hat (eventiv). Bei b) zeigt die lexikalische Alternanz, dass das Partizip die Adjektivstelle besetzen kann. C) kann ausdrücken, dass ein Verschwinden des Adlers stattgefunden hat (eventiv) oder dass ein Zustand des Verschwundenseins eines Adlers vorliegt (statisch). Das Problem reduziert sich also auf das allgemeine Problem, wie die Argumentvererbung bei Partizipien abläuft, s. z.B. Rapp (1997): das interne Argument wird immer vererbt, ist also syntaktisch vorhanden. Dies ist kompatibel mit einer rein statischen Lesart à Kopulakonstruktion. Da Verben, die ihr Perfekt mit sein bilden (unakkusativische Verben), in aller Regel nur über ein internes Argument verfügen (außer Bewegungsverben), erklärt sich, dass die sein-Verben eher dazu tendieren, eine adjektivische Interpretation zu bekommen, s. Hundt (2011): DPFs mit sein sind Kopula-Strukturen, die mit haben sind DPFs. Die Beispiele zeigen aber, dass die Grenze nicht zwischen sein und haben verläuft, sondern zwischen einer reinen Adjektiv-Kopulakonstruktion (die auch mit haben-Verben möglich ist) und einer “erweiterten Adjektivstruktur”, in der alle Argumente zugänglich sind und die daher eine VP enthält: b. ich ha s Fenschter dreimal uffg'macht gha ich habe das Fenster dreimal aufgemacht gehabt (Bodensee-Alemannisch) c. (25) a. ebenso kann ein Adverb wie mehrmals/dreimal auftreten, das auf den eventiven Charakter hinweist: Ich habe die Haare gefärbt. Ich habe das Fenster geöffnet/offen. – – (und immer wieder het s ebber zueg'macht) und immer wieder hat es jemand zugemacht b. – Ich ha s Fenschter extra/absichtlich ggöffnet gha, demit … ich habe das Fenster extra/absichtlich geöffnet gehabt damit (27) Ich habe das Fenster geöffnet/offen gehabt. – (26) Vom Doppelperfekt ist allerdings eine weitere Kopula-Struktur zu unterscheiden, die sich im Perfekt wie im Doppelperfekt findet: b. (24) a. IGDD 2012 Kiel – (28) zwischen einer rein statischen und [VP ich1 [VP __1 [AP Fenster geöffnet] gehabt] habe] statisch [VP ich1 [VP __1 [AP [PRO1 Fenster geöffnet]] gehabt] habe] eventiv 9 einer Folgendes DPF-Beispiel mit sein wird präferiert eventiv gelesen Kontrollier mal ob bide Türe unde no alli Gummis druf sind, sind quasi hinter de Alulistli. Min Gummi isch bide Bifahrertüre usegheit gsi, hanen denn neu akläbt und jetzt hebet er wider. ‘Mein Gummi ist bei der Beifahrertüre rausgefallen gewesen, habe ihn dann neu angeklebt und jetzt hält er wieder.’ http://www.tuningforum.ch/print.php?threadid=16339&page=1&sid=5e11f8866ae4b25a4b708448e360468 2 eventiven § Es handelt sich beim DPF also um eine ‘Mischkonstruktion’, indem eine komplette VP (mit ihren Argumenten) syntaktisch zugänglich ist, aber unter einem adjektivischen Kopf eingebettet ist. Demnach wäre zu erwarten, dass morphosyntaktische Evidenz für den Adjektivstatus zu finden ist. In Hinblick auf die Diskussion von oben sollte es jedoch morphosyntaktisch keinen Unterschied geben zwischen Anterior und Superperfekt Interpretation (in beiden Fällen lexikalisiert gehabt die RB). 10 Brandner/Salzmann/Schaden: Das doppelte Perfekt aus alemannischer Sicht 3 Evidenz aus dem Alemannischen 3.1 Wortstellungsevidenz für Adjektivstatus 3.1.1 Das Partizip im Niederländischen als Adjektiv: Wortstellung § – (29) a. b. IGDD 2012 Kiel Koeneman et al. (to appear), basierend auf Barbiers and Bennis (2010): Wortstellungsevidenz im Niederländischen Das lexikalische Partizip verhält sich nicht-verbal: es kann nicht am Ende eines Verbclusters stehen (was sonst im Niederländischen grundsätzlich möglich ist): dat iemand Jan zijn fiets moet1 heben2 gestolen3 dass jemand Jan sein Fahrrad muss haben gestohlen ‘dass jemand Jans Fahrrad gestohlen haben muss’ dat Jan een dass Jan ein (123) (30) (i) * heeft1 gehad2 gestolen3 hat gehabt gestohlen (123) (ii) gestolen3 gehad2 heeft1 (iii) gestolen3 heeft1 gehad2 (321) (312) (31) a. b. Klare Evidenz für Adjektivstatus? Nur beschränkt, weil 3-V-Cluster mit V3 = Partizip nie eine 123-Abfolge zulassen, nicht einmal im Berndeutschen, cf. Kolmer (2011) (wo eine generelle Präferenz für die 132Abfolge berichtet wird): Mod-Aux-Part (muss haben verauft), Aux-werden-Part (ist worden verkauft), Mod-werden-Part (muss werden verkauft), Fut-sein-Part (wird sein verkauft) à die Daten sind kompatibel mit einer Adjektivanalyse, aber nicht gänzlich konklusiv gsi, wi me‘ s no nie het1 gseh3 gha2 gewesen wie man es noch nie hat gesehen gehabt (132) Hodler (1969: 494f.) Flektierte Partizipien im DPS als Evidenz für Adjektivstatus? 3.2.1 Partizipien = adjektivisch? (32) In einigen alemannischen Varietäten (Berner Oberland, Wallis) werden auch prädikative Adjektive noch flektiert, cf. e.g. folgende Bsp. aus dem Dialekt von Visperterminen, Bucheli (2005: 150) a. Är er ischt alt-e ist alt-M.SG b. Schi sie ischt ist mied-i. müde-F.SG § Flexion findet sich auch bei Partizipien, und auch beim doppelten Perfekt § Gemäß Hodler (1969: 346, 494) und Dauwalder (1992) ist das lexikalische Partizip im doppelten Perfekt obligatorisch flektiert (es kongruiert mit dem zugrundeliegenden Thema, also = Objekt mit haben, = Subjekt mit sein, bei nichtergativischen Verben und transitiven ohne Objekt erscheint die neutrale Endung -s) (33) a. Win er der wie er den Namen Namen Gottes het1 usgsprochn-a3 Gottes hat ausgesprochen-M.SG ghabe2 gehabt Das Partizip im Alemannischen als Adjektiv? – Wortstellung b. Alemannisch ist hier relevant, weil ansteigende Verbcluster möglich sind, z.B. 12 im Berndeutschen, cf. Hodler (1969: 688): Wo wir Zmorge gchochet-s3 u g'ässe-s3 hei1 gchaa2 als wir Frühstück gekocht -NTR.SG und gegessen-NTR.SG haben gehabt c. won als we der Att als der Onkel § Also Partizipien = Adjektive? – nicht alle! § Problem1: es ist nicht klar, ob sich Flexion auch in anderen Dreiverbclustern findet (also z.B. mit muss haben gelesen, weder positive noch negative Evidenz) Problem 2: Partizipien beim Vorgangspassiv Scheinbare zusätzliche Evidenz: im Gegensatz zum Niederländischen lässt das CHDeutsche beim Passiv keine 12- (oder 123-)Abfolgen zu. Passivpartizipien sind in diesen Dialekten ebenfalls flektiert, cf. Wipf (1910: 145) für den Dialekt von Visperterminen und Fuchs (1993) für den Dialekt von Steg (a/b = Vorgangspassive, c = Zustandspassiv): i es Ross ha1 gchouft2 ich ein Pferd habe gekauft (Berndeutsch) § § – § à als Adjektiv wird das Partizip statisch interpretiert, was eine Resultatsinterpretation zur Folge hat; das non-finite Auxiliar wird dann als Kopula analysiert à die im NL vorherrschende reversed-result-Lesart ergibt sich als Implikatur aus der Kombination lexikalisches haben + funktionales haben (cf. ich habe viele Bücher gehabt) § Es isch es Läbe es ist ein Leben 3.2 fiets Fahrrad à es verhält sich also wie ein nicht-verbales Element à wenn man es als Adjektiv analysiert, ergeben sich die Wortstellungsrestriktionen automatisch, da Adjektive nicht im Nachfeld stehen können 3.1.2 c. Interessanterweise lässt das doppelte Perfekt (selbst im Berndeutschen) keine 123Abfolge zu, es finden sich bloß folgende Abfolgen: 321, 312, 132 (213 und 231 sind generell ausgeschlossen), cf. Hodler (1969: 684f.) § – Es het is nid rächt gfalle, dass ihri Tochter am Tag vorhär verreiset3 isch1 gsi2. es hat uns nicht recht gefallen dass ihre Tochter am Tag vorher verreist ist gewesen 312 Marti (1985: 170) Wenn me de ds Gschirr use gruumt3 gha2 het1, wenn man dann das Geschirr hinaus geräumt gehabt hat so hei d Chinder d Ufgabe dann haben die Kinder die Aufgaben 11 gmacht gemacht (34) a. (321) b. isch1 i ds Chötteli gschloffn-a3 gsii2 ist in das Kittelchen geschlüpft-MSC.SG gewesen Wie chund daas wie wird das gmacht-s? gemacht-NTR.SG der chunnt dernaa va denä Gsellu im Regierigssaal gidreet-ä und chesslut-ä. der wird danach von diesen Typen im R. gedreht-MSG und eingekreist-M.SG 12 Brandner/Salzmann/Schaden: Das doppelte Perfekt aus alemannischer Sicht c. Da da § – Aber: Problem: wenn man das Passivpartizip als Adjektiv analysiert, ergeben sich Probleme bei der Interpretation: Adjektive sind statisch, was unproblematisch ist beim Zustandspassiv, aber inkompatibel ist mit eventiven Passiven wie in (34a/b), wo keine statische Komponente eruiert werden kann 3.2.2 § (35) a. b. § – (36) a. – (37) ist ist IGDD 2012 Kiel en Hund aambundn-a gsi. ein Hund angebunden-MSC.SG gewesen (Berner Oberland, Hodler (1969: 346)) § – Andere Aussagen sind dagegen nicht so klar, tendieren eher hin zu Abgeschlossenheit Dauwalder (1992: 50): Haslital: Flexion beim einfachen Perfekt nur dann, wenn ausgedrückt werden soll dass “eine Handlung, eine Arbeit vollständig beendet worden ist”; Flexion beim doppelten Perfekt scheinbar obligatorisch § Hodler (1969: 345f.): “wie die Umschreibung mit sy kann auch die mit ha einfach präterital sein oder einen in der Gegenwart erreichten (Zustand) (echtes Perfekt) ausdrücken. Das letztere war jedenfalls das, was die Verbindung mit flektiertem Ptz. von derjenigen mit unflektiertem, die ja ebenso ursprünglich und als nebenform wohl im ganzen Gebiet vorhanden war, unterschied.” Hodler (1969: 345f.): “Der in der Vergangenheit erreichte Zustand wird nun jedenfalls durch das Plusquamperfekt ausgedrückt. Daher ist es kein Zufall, dass für die Umschreibung des Plusquamperfekt das flektierte Partizip obligatorisch ist im Oberländischen” Flektierte Partizipien als Evidenz für Resultativität? – aber: Flexion = Zeichen für Resultativität? à die klassische Erklärung, cf. Bucheli (2005)); Kongruenz nur bei einem resultativen Perfekt, nicht aber wenn einfach ein Ereignis in der Vergangenheit ausgedrückt werden soll (perfektive Interpretation) ds rächt Bei het är üüsgschtreckt das rechte Bein hat er ausgestreckt ‘Er hat das rechte Bein ausgestreckt.’ Ereignis ds rächt Bei het är üüsgschtreckt-s das rechte Bein hat er ausgestreckt-NTR.SG ‘Er hält das rechte Bein ausgestreckt.’ Resultat (38) Darmid han i ggässe-s Damit habe ich gegessen-NTR ‘damit habe ich gegessen’ (= davon bin ich satt geworden) – – in der traditionellen Literatur finden sich viele Hinweise, wonach die Flexion einen Resultatszustand ausdrückt und nicht bloß Abgeschlossenheit: Stucki (1917: 288) (Jaun, Freiburg): “Kongruenz des Ptc. Praet. mit dem Objekt ist Regel als Ausdruck des prasentischen bezw. präteritalen Zustandes” § ər hæk kxüra:tə-s er hat geheiratet-NTR ‘er ist verheiratet’ § b. ər hæt ts suntək kxüra:tə er hat des Sonntag geheiratet Clauss (1929: 186) (Uri): “In den mit haben zusammengesetzten Verbalformen wird das Ptc. anscheinend nur dann flektiert, wenn der aus der Aktion hervorgegangene Zustand bezeichnet werden soll. Unflektiert ist das Ptc. hingegen, wenn der Abschluss der Handlung schlechthin ausgedrückt wird” mər hent ts § 3.3 pro:k kæssə-s § – Henzen (1927: 204) (Freiburg): “Kongruenz des Part. Praet. mit dem Subjekt oder Objekt drückt präsentischen (bzw. präteritalen) Zustand aus” – – – – Hotzenköcherle (1934: 407) (Mutten): “Das mit haben zusammengesetzte Ptc. Praet. kennt die Kongruenz nur dann, wenn der Resultatszustand als solcher (nicht die abgeschlossene Handlung) bezeichnet werden soll. Doch ist die Kongruenz auch in diesen Fällen selten und durchaus nicht zwingend” Szadrowsky (1936: 457) (Walsermundarten): “In den mundarten zeigt solches part. prät. mit han die übereinstimmung nur dann, wenn das ergebnis, der zustand bezeichnet wird, nicht die abgeschlossene handlung” In vielen der Beispiele ist ein Resultatszustand nicht Teil der lexikalischen Bedeutung eines Verbs ist (nur bei solchen mit sog. target state, z.B. verbs of creation); sie sind aber insofern resultativ als zu einer PTS ein Nachzustand dazugehört, der meist kontextuell inferiert werden kann (essen à satt sein; heiraten à verheiratet sein) die Tatsache, dass sich im DPF immer Flexion findet, suggeriert, dass es eine allen Beispielen zugrunde liegende Gemeinsamkeit gibt, und diese wird durch die Annahme, dass das DPF eine PTS bezeichnet, die bis zu einem R in der Vergangenheit anhält, direkt erfasst Weshalb sich auch beim Vorgangspassiv Flexion findet, bleibt zu untersuchen Weitere Adjektivtests wir haben das Brot gegessen-NTR ‘wir haben das Brot gegessen’ (es ist keines mehr im Hause) – Hodler (1969: 493): “Im Maa. des BO. zeigt die Flexion des Partizips nach sy und ha die perfektive Bedeutung der Umschreibung an.” Hodler (1969: 494): “In den maa. des O. wird der perfektische Sinn des zusammengesetzten Präteritums durch Flexion des Ptz. markiert und so auch die abgeschlossene Handlung des Pqpf. in ihrem Verhältnis zum Hauptsatz” (39) a. Auf den ersten Blick scheint es auch so zu sein, dass das doppelte Perfekt typische Adjektivtests wie in Gese et al. (2009) erfüllt (in der Umgangssprache wie in Dialekten): das DPF ist kompatibel mit dem un-Präfix das Partizip kann gesteigert werden das Partizip kann mit einem eindeutigen Adjektiv koordiniert werden Ich Ich ha s Feischter hüüfig habe das Fenster häufig b. Mer isch doozmal man ist damals c. Ich ha Ich habe s das unggöffnet ungeöffnet ghaa. gehabt eifach immer abglänkt-er einfach immer abgelenkter Feischter putzt und offe Fenster geputzt und offen gsii. gewesen ghaa. gehabt (Zürichdeutsch) 13 14 Brandner/Salzmann/Schaden: Das doppelte Perfekt aus alemannischer Sicht § – – – (40) IGDD 2012 Kiel Aber: die Bsp. in (39) sind keine echten DPF-Konstruktionen, sondern rein statische Kopulakonstruktionen, cf. Abschnitt 2.3 das Agens des Öffnens in (39a) muss nicht mit dem Subjekt identisch sein (was beim DPF aber zwingend ist) beim DPF ist immer ein Ereignis impliziert, während die Bsp. in (39) rein statisch sind die unterschiedlichen Lesarten (eventiv vs. statisch) lassen sich mit Adverbien triggern, je nachdem muss das Agens identisch sein oder nicht: Ich ha s Feischter scho/immer no ggöffnet ghaa. Ich habe das Fenster schon/immer noch geöffnet gehabt ‘Ich hatte das Fenster schon geöffnet/immer noch in geöffnetem Zustand.’ – (41) Sobald man eine Anterior-Lesart erzwingt in (39c) mittels des Adverbs sälber ‘selber’, ist die Koordination nicht mehr möglich: * Ich ha s Feischter sälber putzt und offe ghaa. Ich habe das Fenster selber geputzt und geöffnet gehabt (Zürichdeutsch) à diese Fakten zeigen vor allem, dass die rein-statische Kopulakonstruktion rein adjektivisch ist 4 Zusammenfassung § § § das DPF drückt keinen aspektuellen Wert aus, sondern operiert auf temporalsemantischen Größen wie PTS und RB, wobei gehabt/gewesen eine overte Realisierung für die RB ist Das DPF markiert in der restriktiven Variante eine PTS mit Resultatszustand, was die Superperfektlesart erklärt sowie (mit gewissen Modifikationen) die Anterior-Lesart; darüber hinaus aber finden sich Erweiterungen hin zu absoluter und episodischer/deiktischer Verwendung Wortstellung und Adjektivflexion im Alemannischen liefern unabhängige Evidenz für den adjektivischen Status des Partizips in diesen Konstruktionen Literaturverzeichnis Ammann, Andreas. 2007. The fate of ‘redundant’ verbal forms – Double perfect constructions in the languages of Europe [2007/08/01]. STUF - Language Typology and Universals 60:186204. Barbiers, Sjef, and Bennis, Hans. 2010. De plaats van het werkwoord in zuid en noord. In Voor Magda. Artikelen voor Magda Devos bij haar afscheid van de Universiteit Gent, eds. Johan De Caluwe and Jacques Van Keymeulen, 25-42. Gent: Academia Press. Barbiers, Sjef, Brandner, Ellen, Koeneman, Olaf, Lekakou, Marika, Poletto, Cecilia, Salzmann, Martin, and Schaden, Gerhard. in preparation. Mesocomparative syntax of perfect doubling. Ms. Universities of Amsterdam, Konstanz, Frankfurt, Leipzig and Lille. Bossard, Hans. 1962. Zuger Mundartbuch : Grammatik und Wörterverzeichnisse : ein Wegweiser zur guten Mundart. Zürich: Schweizer Spiegel-Verlag. Bucheli, Claudia. 2005. Depictive agreement and the development of a depictive marker in Swiss German dialects. . In Secondary predication and adverbial modification. Crosslinguistic explorations in the syntax and semantics of depictives, eds. Nikolaus P. Himmelmann and Eva Schultze-Berndt, 141-171. Oxford: Oxford University Press. Buchwald-Wargenau, Isabel. 2010. Zur Herausbildung der doppelten Perfektbildungen. In Historische Textgrammatik und historische Syntax des Deutschen. Traditionen, Innovationen, Perspektiven, ed. Arne Ziegler, 221-235. Berlin: De Gruyter. 15 Clauss, Walter. 1929. Die Mundart von Uri Laut- und Flexionslehre. Frauenfeld: Huber & Co. Dauwalder, Hans. 1992. Haslitiitsch : wie mma s seid und cha schriiben : eine haslideutsche Kurzgrammatik. Meiringen: Verlag Gemeinnütziger Verein. Fischer, Ludwig. 1960. Luzerndeutsche Grammatik. Ein Wegweiser zur guten Mundart. Zürich: Schweizer Spiegel Verlag. Fuchs, Gabriela. 1993. Das prädikative Adjektiv und Partizip im Walliserdeutschen. In Variationslinguistik und Dialektologie. Ergebnisse aus studienabschliessenden Arbeiten an der Universität Freiburg/Schweiz, ed. Helen Christen, 65-79. Freiburg: Universitätsverlag. Gese, Helga, Stolterfoht, Britta, and Maienborn, Claudia. 2009. Context Effects in the Formation of Adjectival Resultatives. In The Fruits of Empirical Linguistics, Volume 2: Product, eds. Susanne Winkler and Sam Featherston, 125-155. Berlin, Germany: Mouton de Gruyter. Henzen, Walter. 1927. Die deutsche Freiburger Mundart im Sense- und südöstlichen Seebezirk. Frauenfeld: Huber. Hodler, Werner. 1969. Berndeutsche Syntax. Bern: Francke Verlag. Hotzenköcherle, Rudolf. 1934. Die Mundart von Mutten : Laut- und Flexionslehre. Frauenfeld: Huber. Hundt, Markus. 2011. Doppelte Perfektkonstruktionen mit haben und sein. Funktionale Gemeinsamkeiten und paradigmatische Unterschiede. Deutsche Sprache 1/11:1-24. Iatridou, Sabine, Anagnostopoulou, Elena, and Izvorski, Roumyana. 2001. Observations about the form and meaning of the perfect. In Ken Hale: A life in language, ed. Michael Kenstowicz, 189-238. Cambridge: MIT Press. Klein, Wolfgang. 1992. The present perfect puzzle. Language 68:525-552. Koeneman, Olaf, Lekakou, Marika, and Barbiers, Sjef. to appear. Perfect Doubling. To appear in: Linguistic Variation. Linguistic Variation. Kolmer, Agnes. 2011. Zur Verbabfolge im Nebensatz. Ergebnisse einer Untersuchung zum Berndeutschen und Mittelbairischen. In Dynamik des Dialekts – Wandel und Variation. Akten des 3. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD), eds. Elvira Glaser, Jürgen Erich Schmidt and Natascha Frey, 147-158. Stuttgart: Franz Steiner Verlag. Litvinov, Viktor. 1969. Die doppelte Perfektstreckung im Deutschen. Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 22. Litvinov, Viktor P., and Radcenko, Vladimir I. 1998. Doppelte Perfektbildungen in der deutschen Literatursprache. Tübingen: Stauffenburg-Verlag. Noth, Harald. 1993. Alemannisches Dialekthandbuch vom Kaiserstuhl und seiner Umgebung. Freiburg im Breisgau: Schillinger. Pancheva, Roumyana, and von Stechow, Arnim. 2004. On the present perfect puzzle. Proceedings of NELS 34:469-483. Rapp, Irene. 1997. Partizipien und semantische Struktur: zu passivischen Konstruktionen mit dem 3. Status. Tübingen: Stauffenburg-Verlag. Rödel, Michael. 2007. Doppelte Perfektbildungen und die Organisation von Tempus im Deutschen. Zugl : Bamberg, Univ , Diss , 2006, Stauffenburg-Verlag. Rothstein, Björn. 2008. The perfect time span : on the present perfect in German, Swedish and English. Amsterdam; Philadelphia: John Benjamins. Schaden, Gerhard. 2007. La sémantique du parfait. Etude des "temps composés" dans un choix de langues germaniques et romanes. PhD Dissertation, Paris 8. Squartini, Mario. 1999. On the semantics of the Pluperfect: Evidence from Germanic and Romance. Linguistic Typology 3:51-89. Stucki, Karl. 1917. Die Mundart von Jaun im Kanton Freiburg : Lautenlehre und Flexion. Frauenfeld: Huber. Szadrowsky, Manfred. 1936. Zur Hochalemannischen Syntax. Beiträge zur Geschichte der Deutschen Sprache und Literatur 60:445–458. Thieroff, Rolf. 1992. Das finite Verb im Deutschen Tempus - Modus - Distanz. Diss FU Berlin, 1991, Narr. Wipf, Elisa. 1910. Die Mundart von Visperterminen im Wallis. Frauenfeld: Huber & Co. 16