Begründungsmuster religiös motivierter Beschneidungen von Jungen.

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Begründungsmuster religiös motivierter Beschneidungen von Jungen.
Begründungsmuster religiös motivierter Beschneidungen von Jungen.
Religionswissenschaftliche Perspektiven auf eine aktuelle Debatte
Bachelor Thesis
Religionswissenschaft
Evangelisch-Theologische Fakultät
WS 2012/2013
Autor:
Martin-Sebastian Abel
Matrikelnummer:
108010115499
Gutachter:
Dr. Michael Waltemathe
Dr. Markus Hero
Beginn:
10. September 2012
Abgabe:
22. Oktober 2012
Begründungsmuster religiös motivierter Beschneidungen von Jungen.
Religionswissenschaftliche Perspektiven auf eine aktuelle Debatte von
Martin-Sebastian Abel steht unter einer Creative Commons
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen
Bedingungen 3.0 Deutschland Lizenz.
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
1
THEOLOGISCHE HINTERGRÜNDE
6
Brit Mila - Beschneidung im Judentum
6
Symbol der Auserwählung
7
Berichte über die Praxis
9
Nationales Identitätsmerkmal
Prophetentradition - Beschneidung im Islam
Ritualkultur der Prophetentraditionen
10
11
12
RELIGIONSGESCHICHTLICHE UND ETHNOLOGISCHE HINTERGRÜNDE
15
RELIGIÖSE PRAXIS DER BESCHNEIDUNG
18
Daten und Zahlen
18
Ist die Beschneidung wirklich Pflicht?
18
Innerjüdische Kontroversen
19
Islamische Kontroversen
19
DAS URTEIL DES KÖLNER LANDGERICHTS VOM 7. MAI 2012
20
Reaktionen und Folgen
21
Kritik
22
DEBATTE DES ETHIKRATS AM 23. AUGUST 2012
23
Begründungsmuster im Beitrag von Dr.med. Leo Latasch
24
Begründungsmuster im Beitrag von Dr. phil. Ilhan Ilkilic
25
FAZIT
27
LITERATURVERZEICHNIS
30
Einleitung
Am 7. Mai 2012 fällte das Kölner Landgericht ein folgenschweres Urteil1: die
bisherige Praxis für die medizinisch nicht indizierte Beschneidung von
Jungen in der Bundesrepublik Deutschland wurde gestoppt. Die durch das
Urteil ausgelöste öffentliche Debatte ist in mehrfacher Hinsicht für eine
religionswissenschaftliche Untersuchung relevant: die juristische
Auseinandersetzung um die Beschneidung von Jungen brachte die religiöse
Praxis vieler hunderttausender Juden und Muslime in den Fokus einer
kontrovers geführten gesellschaftlichen Debatte. Im Kern dieser Debatte geht
es um nichts geringeres als die Frage nach den Grenzen der
Religionsfreiheit in unserem Rechtssystem und damit in unserer
Gesellschaft. Dabei sind zweifelsohne Parallelen zu vergangenen Debatten
erkennbar: Auseinandersetzungen um die Stellung der christlichen
Volkskirchen, exemplarisch genannt seien die Diskussionen um
Religionsunterricht, Kirchensteuer und Bekenntnisschulen, stellten den
bisher gültigen gesellschaftlichen Konsens über die Rolle und Funktionen der
- hier christlichen - Religion in einer pluralen Gesellschaft grundlegend in
Frage. Hauptsächlich entlang dieser Themenstränge verliefen die markanten
Konfliktlinien der öffentlichen juristischen und gesellschaftlichen Diskussion,
um die Stellung von Religion in der Öffentlichkeit und die Auslegung des
Grundrechts der Religionsfreiheit. In der Rechtsprechung und juristischen
Literatur der letzten Dekade sind nunmehr auch Auswirkungen einer
pluralisierten Gesellschaft zu beobachten2 : so waren Objekte der
Auseinandersetzung vor den Gerichten beispielsweise das „Kopftuchverbot“,
das Schächten von Tieren sowie die Bestrebungen kleinerer
Religionsgemeinschaften, welche die gleichen rechtsstaatlichen Privilegien
1
Urteil des Landgerichts Köln (151 Ns 169/11).
2
Vgl. Hilgendorf, Eric: „Strafrecht und Interkulturalität, Plädoyer für eine kulturelle
Sensibilisierung der deutschen Strafrechtsdogmatik“, in: JuristenZeitung (JZ) 2009, S.
139-144., hier S.139.; sowie Rohe, Mathias: „Islamisierung des deutschen Rechts?“, in: JZ
2007, S. 801-806., hier 801f.; sowie die empirischen Ergebnisse bei Langer, T./Poscher. R.:
„Integration und Recht: Religionsrechtliche Konflikte vor den Verwaltungsgerichten in
Nordrhein-Westfalen“, in: Hero, M./Krech, V./Zander, H. (Hg.), Religiöse Vielfalt in NordrheinWestfalen, Empirische Befunde und Perspektiven der Globalisierung vor Ort, Paderborn
2008, S. 179-189., hier S. 181ff.
1
der großen Amtskirchen erlangen wollten.3 Die Debatte um eine Lehrerin, die
im Schulunterricht ein Kopftuch tragen wollte, berührte das Grundrecht der
Religionsfreiheit in Form der individuellen, authentischen Religionsausübung
und den möglichen Konflikt mit der erforderlichen weltanschaulichen
Neutralität von Beamten im Staatsdienst.4
Die Debatte um das rituelle
Schächten berührte zweifelsohne den Konflikt zwischen freier
Religionsausübung und rechtlichen Vorschriften, doch handelte es sich
hierbei im juristischen Sinne nicht um den Konflikt mit einem anderen
Grundrecht, das durch die Religionsfreiheit tangiert wurde.5
Die letztgenannten Beispiele spiegeln eine jeweils ähnlich gelagerte
Anordnung zwischen den Interessen von religiösen Gruppen in einer
multikulturellen Gesellschaft und der Rechtspraxis wider, wie sie auch in der
Debatte um die religiös motivierte Beschneidung erkennbar wird. Ganz im
Gegensatz zu diesen vergangenen öffentlichen Debatten tangiert die
Beschneidung jedoch das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit. Diese
qualitative Stufe unterscheidet die aktuelle Debatte gravierend von den
vergangenen.
Neben dem Interesse an der skizzierten ethisch-moralischen
Auseinandersetzung, fand ich besonderes Interesse an diesem Thema
aufgrund meiner Annahme, dass die theologischen Hintergründe dieses
Rituals einer großen Mehrheit der Bevölkerung durch die alttestamentliche
Überlieferung bekannt sein müssten. Schließlich handelt es sich um eine
Jahrtausende alte Tradition, die durch Religionsunterricht, Predigten,
populäre Einführungsliteratur in die abrahmitischen Religionen 6 und nicht
3
Heining, Hans Michael/Morlok, Martin: „Von Schafen und Kopftüchern. Das Grundrecht auf
Religionsfreiheit in Deutschland vor den Herausforderungen religiöser Pluralisierung“, in: JZ
2003, S.777-785., hier S. 777f.
4
Vgl. Rohe, Mathias: „Thesen zu Grundlagen und Folgen eines „Kopftuchverbots", für
Lehrkräfte an öffentlichen Schulen." Stellungnahme im Rahmen der öffentlichen Anhörung
des Landtags von Nordrhein-Westfalen am 6. Mai 2004., hier Punkt 7.; dazu auch: Heining /
Morlok: „Von Schafen und Kopftüchern.“, 784.
5
vgl. Urteil des BVerwG vom 23.11.2006 (BVerwGE 127, 183)., hier insbesondere Punkt 8.
6
Etwa Affolderbach, Martin/Wöhlbrand, Inken (Hg.): „Was jeder über den Islam wissen
muss.“, 8. Aufl., Gütersloh 2011.
2
zuletzt vielfältigster Rezeption in der Popkultur 7 wahrgenommen wurde.
Jedoch war dieser Ritus in vielen Jahrzehnten deutscher
Nachkriegsgeschichte bisher kein Gegenstand einer solch kontroversen
öffentlichen Debatte, wie sie an der Entscheidung der Richter am Kölner
Landgericht entbrannte. Angesichts der emotionalen Intensität und Tonalität
in manchen Beiträgen ist dies erstaunlich. Umso bemerkenswerter scheint es
deshalb, dass es sich bei der Beschneidung um eine bisher ohne jegliche
Gesetzgebung8 durchgeführte Praxis handelt. Jahrzehntelange öffentlich
begangene religiöse Praxis und Teil der Biographie vieler Juden und Muslime
in Deutschland sind auf einmal Gegenstand einer intensiven Wertedebatte
geworden.
Zudem übte dieser Ritus seit jeher eine Faszination auf mich aus: Er verlangt
von den Empfangenden Schmerzen zu ertragen, bei Kindern natürlich in
erster Linie die Bereitschaft der gläubigen Eltern, die Schmerzen über ihr
Kind ergehen zu lassen. Diese Verbindung von Spiritualität und
Körperlichkeit, die Bereitschaft zur Einschränkung der körperlichen Integrität
unter Billigung von unangenehmsten Schmerzen und Gefahren,
unterscheidet die Beschneidung gravierend von anderen etablierten
(religiösen) Ritualen in unserer Gesellschaft. Es ist daher anzunehmen, dass
eben dies ursächlich ist für die Intensität der gegenwärtig andauernden
Debatte.
In einem relativ kurzen Zeitabschnitt zwischen der Urteilsverkündung und
ersten Gesetzesinitiativen im Deutschen Bundestag 9 äußerten sich viele
7
Der soziokulturelle Kontext dieses Rituals beschränkt sich nicht auf religiös-theologische
Aspekte vgl. dazu Fateh-Moghadam, Bijan: „Religiöse Rechtfertigung? Die Beschneidung
von Knaben zwischen Strafrecht, Religionsfreiheit und elterlichem Sorgerecht“, in:
Rechtswissenschaft, Heft 2/2010, S. 115-142., hier S.118.; beispielhaft die Darstellung in:
Larry Charles (Autor): Seinfeld, Season 5, Episode 5: „The Bris“.
8
Zur ausführlichen Darstellung des rechtlichen Rahmens vgl. Putzke, Holm: „Die
strafrechtliche Relevanz der Beschneidung von Knaben, Zugleich ein Beitrag über die
Grenzen der Einwilligung in Fällen der Personenfürsorge“, in: Putzke, H./Hardtung, B./
Hörnle, T. et al. (Hg.), Strafrecht zwischen System und Telos, Festschrift für Rolf Dietrich
Herzberg zum 70. Geburtstag am 14. Februar 2008, Tübingen 2008, S.669-709., hier S.
669ff.; sowie Fateh-Moghadam: „Religiöse Rechtfertigung“, 116.
9
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3
Verbände, Organisationen und religiöse Institutionen in Stellungnahmen zum
Thema der religiös motivierten Beschneidung und waren vielfältig an der
publizierten Debatte beteiligt.
Diese Arbeit konzentriert sich auf die Begründungsmuster für die religiöse
Beschneidung von Jungen. Dabei steht das wissenschaftliche Interesse an
der Motivation für das Ritual und seine religiöse Dimension im Mittelpunkt.
Begehen Juden und Muslime aus dem Glauben, ein Gebot Gottes erfüllen zu
wollen oder zu müssen die Beschneidung, oder steht die Erhaltung eines
identitätsstiftenden Ritus, das Fortbestehen einer Jahrtausende alten
Tradition und die Frage der Zugehörigkeit im Mittelpunkt? Warum wird dieser
Ritus, im Gegensatz zu vielen anderen Vorschriften und Bräuchen aus den
heiligen Büchern, heute noch immer vollzogen und welche Stellung hat er?
Eine qualitativ-empirische Befragung von Gläubigen kann im Rahmen dieser
Bachelor-Arbeit freilich nicht geleistet werden. Gegenstand der
Untersuchungen bilden daher stellvertretend Publikationen, Stellungnahmen
und Äußerungen anerkannter Institutionen und Persönlichkeiten der
Religionsgemeinschaften des Judentums und des Islams in der
Bundesrepublik Deutschland, die in Reaktion auf das Urteil des Kölner
Landgerichts vom 7. Mai 2012 und der dadurch ausgelösten öffentlichen
Debatte erfolgten.
Das Landgerichtsurteil sowie notwendige Erläuterungen über juristische
Publikationen, die zu diesem Urteil führten, werden dargestellt, da diese in
einigen Stellungnahmen erwähnt und in unterschiedlichen Aspekten kritisiert
werden. In diesem Zusammenhang wird auch die Entwicklung der
rechtlichen Argumentation erläutert, deren Wurzeln an die juristische Fakultät
der Ruhr-Universität Bochum führen. (siehe Abschnitt: Urteil des Kölner
Landgerichts vom 7. Mai 2012)
Die Debatte im Ethikrat, besonders die Stellungnahmen der Vertreter des
Zentralrats der Muslime und des Zentralrats der Juden in Deutschland, wird
4
in einem eigenen Abschnitt untersucht: Sie sind einerseits von besonderem
Interesse, weil die öffentliche Debatte zum Zeitpunkt der Sitzung des
Gremiums bereits weit voran geschritten war. Andererseits behandeln die
Beiträge in dieser Sitzung sowohl die religiöse Praxis, als auch die
theologisch-dogmatische Verankerung des Rituals in den jeweiligen
Religionsgemeinschaften.
Im Verlauf der Erstellung dieser Arbeit dauerte die Debatte um eine mögliche
rechtliche Rahmengebung für die religiös-motivierte Beschneidung noch
immer an. Ein entsprechender Gesetzentwurf der Bundesregierung sowie die
Beratungen im Deutschen Bundestag können in dieser Arbeit nicht
berücksichtigt werden. Die Parlamentsdebatte und die Reden in der
Sondersitzung des Deutschen Bundestags vom 19. Juli 2012, aus der eine
Resolution hervorging 10, welche die Bundesregierung zu einer gesetzlichen
Regelung auffordert, die Beschneidung grundsätzlich weiterhin zu
ermöglichen, bleiben unberücksichtigt, da die in den Redebeiträgen
vorgebrachten Begründungsmuster denen in dieser Arbeit ausgewählten
Texten gleichen. Zum anderen werden Ausführungen über juristische
Abwägungen und die Konsequenzen des Landgerichtsurteils durch die
Darstellung der rechtlichen Argumentation für die Zwecke dieser Arbeit
ausreichend erläutert.
Die Begründungsmuster für Knabenbeschneidung der Vertreter der
Religionsgemeinschaften stehen demnach im Fokus der Untersuchung. Die
verschiedenen Stellungnahmen zeigen unterschiedlichste Auslegung der
Gebote und Vorschriften zur Beschneidung, meist unter Berufung auf heilige
Schriften. Deswegen werden die unterschiedlichen Erwähnungen der
Beschneidung in der alttestamentlichen Überlieferung dargestellt und in
ihrem jeweiligen Kontext beleuchtet. Gleiches gilt für die theologische
Verankerung des Rituals im Islam. Zudem werden die wichtigsten
ethnologischen Entstehungshypothesen dargestellt.
10
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5
Diese Arbeit will eine kompakte religionswissenschaftliche Perspektive auf
die aktuelle Debatte geben und die religiös-theologischen Hintergründe
verständlich machen. Zweifellos können nicht alle Aspekte, und durch die
aktuelle Debatte aufgeworfenen Fragestellungen, im Rahmen einer
Bachelor-Arbeit erschöpfend beantwortet werden. Eventuell eignen sich die
folgenden Ausführungen als Anstoß für eine tiefergehende
religionssoziologische Forschung; etwa für eine qualitative Untersuchung
über die Bedeutung der religiösen Praxis der Knabenbeschneidung für
jüdische und muslimische Eltern und Jugendliche in Deutschland.
Theologische Hintergründe
Brit Mila - Beschneidung im Judentum
Im Tanach finden sich mehrere Erwähnungen der Beschneidung in
unterschiedlichen Zusammenhängen und Motiven. Die gebräuchlichste
Bezeichnung für Beschneidung in der jüdischen Religion und auch in
unserem heutigen Sprachgebrauch, ist „Brit Mila“11 das aus dem hebräischen
‫ ב ְ ּ ר ִית‬12
(Gebot, Zusage)13
und der Wurzel ‫( מ ּ ֥ ו ֹל‬beschneiden)
zusammengesetzt, in der Literatur häufig mit „Beschneidungsbund“ übersetzt
wird. Die Beschneidung gilt im Judentum gemeinhin als Zeichen des Bundes
zwischen Gott und seinem Volk. In der theologischen Betrachtung soll dieser
Ursprung näher untersucht werden, der zum Beginn der Tora, zu der
Erzväter-Erzählung des Pentateuch14 führt. „ ‫ “ מּ֥וֹל‬wird im gesamten Tanach
36 mal verwendet15, die Auswahl beschränkt sich deshalb auf die zentralsten
Stellen.
11
Siehe Ausführungen zu Gen 17,4 S.7.
12
Nach Gesenius, Wilhelm: „Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte
Testament“, Nachdruck der 17. Aufl. 1915, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1962.
13
Ebd. (so auch ff.); Blum, E., Art. „Beschneidung II. Bibel“, in: Betz, H.D. et al. (Hg.),
Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). Handwörterbuch für Theologie und
Religionswissenschaft, 4.Aufl., Tübingen 1998, Bd. 1, S.1355.
14
Siehe Ausführungen zu Gen 17,4 S.7.
15
Lisowsky, Gerhard: „Konkordanz zum Hebräischen Alten Testament“, 3. Aufl., Stuttgart
1993, S. 757.
6
Symbol der Auserwählung
Die zentrale biblische Überlieferung der Beschneidung ist zweifelsohne Gen
17,4 16: „ich habe meinen Bund mit dir“17 mit diesen Worten schließt Gott
„seinen Bund“ (‫)בְרִיתִ֖י‬18 mit Abraham, der zum Stammvater Israels werden
soll. Dieser Bund wird später durch die Beschneidung symbolisiert. Bis Gott
ihn in Gen 17,5 auf „Vater vieler Völker“19, w. „Vater von vielen“20(‫)אַבְרָהָם‬
umbenennt, was mit der Beschneidung korrespondiert, hieß Abraham
eigentlich Abram (‫)אַבְרָם‬, was übersetzt wird mit „der Vater ist erhaben“21 .
Das Gebot und die Bedeutung der Beschneidung wird in den folgenden
Versen verdeutlicht und detailliert beschrieben: so befiehlt Gott Abraham „(...)
alles was männlich ist unter Euch, (das) soll beschnitten (‫) ה ִ מ ּ ֥ ו ֹל‬
werden“ (17,10) und präzisierend wird wortwörtlich hinzugefügt „das Fleisch
eurer Vorhaut“ (‫)בְּשַׂ֣ר עָרְלַתְכֶ֑ם‬. Diese Präzisierung wird im Hinblick auf die
religionsgeschichtlich-ethnologische Betrachtung von großer Bedeutung
sein, denn sie unterscheidet einerseits die Art der Beschneidung wesentlich
von der älterer Verfahren22, andererseits handelt es sich bei Gen 17
wahrscheinlich um eine nachexilische Erzählung23, so dass vieles darauf
hindeutet, dass die Präzisierung einen bereits praktizierten, somit
16
Alle Bibelstellen nach „Beschneidung“, in: RGG; sowie Müller,G./Balz,H./Krause,G. (Hg.),
Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 5., Berlin 1976–2004.; Botterweck,G. et al. (Hg.):
Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament (ThWAT), Stuttgart 1973ff.; Zimmermann,
Ulrich.: „Kinderbeschneidung und Kindertaufe. Exegetische, dogmengeschichtliche und
biblisch-theologische Betrachtungen zu einem alten Begründungszusammenhang“,
Hamburg 2006.; Blaschke, Andreas.: „Beschneidung. Zeugnisse der Bibel und verwandter
Texte“ (TANZ 28), Tübingen / Basel 1998.; Lisowsky: „Konkordanz“.
17
Text: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Revidierte Fassung von 1984,
Stuttgart 1985.; w. Übersetzungen teilweise entnommen aus Steurer, Rita Maria: „Das Alte
Testament. Interlineare Übersetzung“, hebr.-dt., Bd. 1., Gen-Deut. 1989. (so auch im ff.)
18
Text: Elliger, K./Rudolph,W. (Hg.): Biblica Hebraica Stuttgartensia (BHS), 5. Aufl., Stuttgart
1997. (so auch im ff.)
19
Nach Luther 1984; allerdings weist Hieke, Th., Art. „Abraham“, in: Das wissenschaftliche
Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2008 (Zugriffsdatum: 23.9.2012) unter Punkt 1 auf
eine Volksetymologische Erklärung hin.
20
Blum, E.: Art. „Abraham I“, in: RGG, Bd. 1, S.70-73., hier 70.
21
Hieke, Th., Art. „Abram/Abraham“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon
(BBKL), Bd. XXIV, Nordhausen 2005, S.1-49., hier S.1.; vgl. auch Martin-Achard, R., Art.
„Abraham I“, in: TRE, Bd.1, S.364-371., hier 365.
22
Siehe Ausführungen in Religionsgeschichte und ethnologische Herkunft
23
Vgl. Blaschke 80; Blum „Abraham I“ RGG.
7
vorexilischen Brauch wiedergibt, wofür auch Ex 4,24-26 spricht24. Dieser
Vorgang der Beschneidung soll „Zeichen des Bundes“ (‫ )לְאֹ֣ות בְּרִ֔ית‬sein. Ohne
den folgenden Kapiteln vorzugreifen, ist der Rückbezug auf den in der
Literatur häufig genannten „Abrahamsbund”25 , in fast allen ausgewählten
Stellungnahmen der Religionsgemeinschaften wiederzufinden. Die
Erzählung von Gen 17 scheint also bis heute wichtiger theologischer
Orientierungspunkt für das Ritual der Beschneidung zu sein. In diesem
werden Erwählung und Beschneidung unzertrennbar miteinander
verknüpft.26
In Gen 17,12 folgt die genaue Zeitvorgabe zur Beschneidung „wenn das Kind
acht Tage alt ist“ (‫)וּבֶן־שְׁמֹנַ֣ת יָמִ֗ים‬. Das Gebot der Beschneidung erstreckt sich
nach Gen 17,13 auch auf Haussklaven, oder, in eigener Interpretation des
MT: soll beschnitten sein ein jeder, der in deinem Haus und [von] deinem
Geld lebt (ָ‫)הִמֹּ֧ול׀ יִמֹּ֛ול יְלִ֥יד בֵּֽיתְךָ֖ וּמִקְנַ֣ת כַּסְפֶּ֑ך‬.27
Die Bedeutung der Beschneidung in der Priesterschriftlichen Überlieferung
geht über einen rein symbolischen Charakter weit hinaus: nach der
Erzählung in der Genesis wird ohne die Beschneidung der „Bund“ mit Gott
durch den Menschen „gebrochen“ (‫ )אֶת־בְּרִיתִ֖י הֵפַֽר‬und dies zieht die Strafe
nach sich, dass derjenige „(...)ausgerottet werden [soll] aus seinem
Volk(...)“ (Gen 17,14).
Dabei handelt es sich um eine Bannformel 28, (ָ‫ )וְנִכְרְתָ֛ה הַנֶּ֥פֶשׁ הַהִ֖וא מֵעַמֶּ֑יה‬,
welche im Pentateuch häufig verwendet wird und hier die Bedeutung des
Bundes verstärkt.29 Häufig wird „‫( “וְעָרֵ֣ל‬Unbeschnittener) noch durch die in
Gen 17,10 eingeführte Präzisierung „‫“בְּשַׂ֣ר עָרְלָתֹ֔ו‬, bzw. auch in Gen 17,14
„‫( “לֹֽא־יִמֹּול֙ אֶת־בְּשַׂ֣ר עָרְלָתֹ֔ו‬w.= ist nicht beschnitten am Fleische der Vorhaut)
verstärkt.
24
Vgl. Blaschke 80.
25
Vgl. Zimmerli, Walther: „Sinaibund und Abrahambund“, in: ders., Gottes Offenbarung,
gesammelte Aufsätze zum Alten Testament, München 1963, S. 205-216.,hier 205ff.
26
Wobei dies auf P eingeschränkt werden muss, vgl. dazu Blaschke 88.
27
Luther übersetzt: „Gesinde, was Dir im Hause geboren oder was gekauft ist“
28
Vgl. Blaschke 90.
29
Ebd. s. Anm. zu 473.
8
Abraham folgt diesem Befehl und beschneidet seinen Sohn Ismael und alle
Knechte im Hause (Gen 17,23). Er ließ sich im Alter von 99 Jahren (‫בֶּן־תִּשְׁעִ֥ים‬
‫ )וָתֵ֖שַׁע שָׁנָ֑ה‬schließlich selbst „am Fleische seiner Vorhaut“ (‫)בְּשַׂ֥ר עָרְלָתֹֽו‬
beschneiden (Gen 17,24), wobei im MT nicht erwähnt wird durch wen30. Sein
Sohn Ismael soll 13 Jahre alt gewesen sein (‫ )בֶּן־שְׁלֹ֥שׁ עֶשְׂרֵ֖ה‬als er beschnitten
wurde. Auffällig ist, dass die in Gen 17,10 eingeführte Präzisierung „am
Fleische seiner Vorhaut“ (ֹ‫ )בְּשַׂ֥ר עָרְלָתֽו‬auch in diesen Perikopen zum hebr.
Verb beschneiden (‫ )מוּל‬hinzugefügt wird. Nach Isaaks Geburt folgt Abraham
dem Gebot Gottes und beschneidet seinen Sohn 8 Tage (‫)בֶּן־שְׁמֹנַ֖ת יָמִ֑ים‬31
nach der Geburt (Gen 21,4).
Berichte über die Praxis
Obwohl genauer Zeitpunkt (Gen 17,12) und mehrfach die zu beschneidende
Stelle der Haut (u.a. Gen 17,10) erwähnt werden, bleibt die Praxis in der
Genesis unerwähnt. Insofern ist die Überlieferung der Beschneidung des
Sohnes von Mose in Ex 4,24-26 besonders interessant, da die Ehefrau
Mose, Zippora, ihren Sohn mit einem „scharfen, harten Stein“ 32 (‫ )צֹ֗ר‬die, wie
in Gen 17,10ff. erwähnt, „Vorhaut“ (‫ )וַתִּכְרֹת֙ אֶת־עָרְלַ֣ת‬beschneidet33. Diese
Stelle ist eindeutig ein Beleg dafür, dass der Brauch der Kindesbeschneidung
geläufig war. Da Zippora dies ausweislich der Überlieferung jedoch vollzieht,
um Ihren Sohn vor Gott (‫ )יְהוָ֔ה‬zu retten (Ex 4,24), muss hier von einer
Notsituation ausgegangen werden, bei der die Wahl des Instruments wohl
eher zufällig auf einen Stein fiel. Dafür spricht auch die Bezeichnung des
Werkzeugs in der LXX, die von einem kleinen Stein (ψῆφον) berichtet, was
auch am deutlichsten durch die Übersetzung von Buber/Rosenzweig
30
LXX hingegen lässt vermuten, dass sich Abraham selbst beschnitten hat, aufgrund der
aktiven Form περιέτεµεν vgl. dazu Blaschke 109.
31
Wie in Gen 17,12
32
Nach Gesenius, wobei dies die einzige Perikope darstellt, in denen ‫ צֹ֗ר‬eine so detaillierte
Bedeutung haben soll.
33
Wobei die LXX deutlich von MT abweicht und ‫ מֹ֥ל‬wahrscheinlich durch περιτέµνειν
eingetragen wurde vgl. Blaschke 110f.
9
gewürdigt wird: „Zippora nahm einen Kiesel und riß die Vorhaut(...)“34. Dieser
Interpretation folgend, kann schwerlich von einer Beschneidung, sondern
muss vielmehr von einer „Herunterreißung“ ausgegangen werden. Gänzlich
anders verhält es sich bei der Wahl des Instrumentariums in Jos 5,2: hier
sprach Gott (֙‫ )יְהוָה‬zu Joshua: „(...)Mache dir steinerne Messer (‫)חַֽרְבֹ֣ות צֻרִ֑ים‬
und beschneide die Israeliten [noch einmal] 35 (‫)שֵׁנִֽית‬.“ Die Israeliten hatten
während der 40 Jahre andauernden Wüstenwanderung, also seit über einer
Generation, keine Beschneidung mehr durchgeführt36. In Kanaan wird dieser
Ritus am Passa schließlich zum ersten Mal wieder begangen. Da hier die
Beschneidung an erwachsenen Männern durchgeführt wurde, scheint es
doch mit Schmerzen und Komplikationen einhergegangen zu sein, so
berichtet in Jos 5,8: „Und als das ganze Volk beschnitten war, blieben sie (...)
bis sie genesen waren.“ Von Schmerzen nach der Beschneidung berichtet
auch Gen 34,25:
Simeon und Levi nutzen die schmerzlichen
Folgeerscheinungen der Beschneidung aus, um aus Rache für ihre
Schwester Dina, die dort „geschändet“ (֙‫ )טִמֵּא‬wurde, über die Stadt Sichem
und ihre Bewohner herzufallen, welche sie zuvor durch einen Hinterhalt zur
Beschneidung gedrängt haben.
Nationales Identitätsmerkmal
Das Motiv der Beschneidung wird in den weiteren Erwähnungen, vor allem
als Unterscheidungsmerkmal zu anderen Völkern erwähnt: So wird in Gen 34
die Beschneidung zum Kriterium der Volkszugehörigkeit erhoben und, wie
auch in Gen 17,10 und 17,13, ist diese genau so Voraussetzung für
Wohngemeinschaft und Familiengründung. So wollen Simeon und Levi
(wenn auch aus vorgeschobenen Gründen) ihre Schwester Dina nicht „an
einen, der unbeschnitten ist“ (‫ )אֲשֶׁר־לֹ֣ו עָרְלָ֑ה‬überlassen, weil das eine
„Schande“ (‫ )חֶרְפָּ֥ה‬sei (Gen 34,14). Dieser Perikope fehlt jedoch völlig die
theologische Dimension der Beschneidung.37
34
Text: Buber, Martin/Rosenzweig, Franz: „Die Schrift. Aus dem Hebräischen verdeutscht
von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig“, 1. Aufl., Stuttgart 1992.
35
Gesenius; Konkordanz.
36
Siehe Jos 5,5f.
37
Vgl. Blaschke 33ff.
10
Das Kriterium der Volkszugehörigkeit findet sich auch in Ri 14,3 und 15,18:
Dort werden, wie in vielen anderen Perikopen, die Philister (‫ )פְּלִשְׁתִּ֖ים‬mit den
„Unbeschnittenen“ (‫ )הָעֲרֵלִ֑ים‬gleichgesetzt. In 1. Sam 18,25 wünscht sich
König Saul als Brautpreis hundert Vorhäute von Philistern (‫בְּמֵאָה֙ עָרְלֹ֣ות‬
‫)פְּלִשְׁתִּ֔ים‬. Auch in 1. Sam 14, 6 und 1. Sam 17,26ff. werden die Philister als
„Unbeschnittene“ bezeichnet. Beide Bezeichnungen lassen die Denotation
erahnen. Ein deutlicher Beleg, wie verhasst die Völker untereinander waren,
kommt wohl am eindrücklichsten in der Überlieferung des Freitods Sauls
zum Ausdruck: Dieser stürzt sich nach 1. Sam 31,4 in sein Schwert, damit er
nicht durch „diese Unbeschnittenen“ (‫ )הָעֲרֵלִ֨ים הָאֵ֤לֶּה‬gepeinigt werden konnte.
Zusammenfassung:
Aus der Genesis Erzählung lässt sich die elementare theologische
Bedeutung der Beschneidungszeremonie ableiten: Wer sich nicht
beschneiden lässt, steht außerhalb des Bundes zwischen Gott und seinem
Volk, ja sogar außerhalb des Volkes. Die Beschneidung ist also die
notwendige Bedingung für die Einhaltung des Bundes. Sie ist nach Ex
12,43ff. außerdem Voraussetzung an der Teilnahme des Passahmahls.
Dieser Ritus wird nach Blaschke auch nicht durch Jer 4,438 in Frage gestellt
oder abgewertet, gleiches gilt für Jer 9,24-25. Beide Perikopen weisen auch
auf die Exklusivität des Bundes für die Israeliten hin, geben aber gleichzeitig
zu bedenken, dass die Beschneidung allein nicht die volle Hinwendung zu
JHWH ersetzen kann.
Prophetentradition - Beschneidung im Islam
Ist die theologische Verankerung für das Ritual der Beschneidung im
Judentum im Tanach zu finden und durch zahlreiche weitere Berichte
erläutert und verstärkt, fehlen diese Berichte im Koran ebenso wie eine
Gebotsvorschrift39 . Und das, obwohl Abraham (im arabischen: „Ibrahim“) in
38
In Jer 1-4 wird die Beschneidung nach wie vor als konstitutiv angesehen, jedoch wird vom
Mensch verlangt sich JHWH mit ganzem Herzen zuzuwenden, vgl. dazu Blaschke 55f.
39
Vgl. Kueny, Kathryn., Art. „Circumcision“, in: Martin, Richard C.: Encyclopedia of Islam,
New York u.a. 2004, S.148-149.
11
25 Suren 40
benannt wird und somit, natürlich nach dem Propheten
Mohammed, die am häufigsten genannte Person im Koran41
ist. Dem
Propheten galt Abraham als Vorbild im Glauben 42 und die gesamte Religion
Abrahams hatte für Mohammed Weisungscharakter43, was unter anderem
durch Sure 3,95 zum Ausdruck gebracht wird: „(...)So folgt der
Glaubensrichtung Abrahams, als Anhänger des reinen Glaubens(...).“44 Die
Bedeutung und Stellung dieser Sure als so weitreichend zu interpretieren,
dass in ihr die Grundlage für die Verbreitung der Beschneidung in der
islamischen Ritualkultur angelegt ist, wäre angesichts der theologischen
Gewichtung der Prophetentradition, welche die Beschneidung vorgibt45 ,
sowie der religionshistorischen Erkenntnisse 46, fraglich. Zumal die
Beschneidung in der gesamten Überlieferung des Koran unerwähnt bleibt
und auch keinen Bericht enthält, ob Mohammed beschnitten war.
Ritualkultur der Prophetentraditionen
Die theologische Grundlage der Beschneidung muss also in der Sunna, der
zweiten wichtigen Quelle in der islamischen Theologie47, gesucht werden.
Dabei ist der Begriff „Sunna“ ein vorislamischer Begriff48 , der wörtlich mit
„Brauch“49 übersetzt, sinngemäß als „Brauch der Väter“50 bezeichnet werden
40
BBKL „Abram/Abraham“ 34.
41
Ebd.; Nagel, Tilman., Art. „Abraham IV. Koran“, in: RGG, Bd.1.
42
Ebd.; Schall, A., Art. „Islam I“, in: TRE, Bd.16, S. 315-336., hier S. 325.
43
BBKL „Abram/Abraham“ 34.; vgl. auch die Ausführungen über das Abrahamsbild im
Koran bei Küng, Hans: „Der Islam.“, München 2004., S.85.
44
Khoury, Adel Theodor: „Der Koran: arabisch-deutsch / Übers. und wiss. Kommentar von
Adel Theodor Khoury.“, Bd. 4., Gütersloh, 1993., S.182.
45
Siehe „Ritualkultur und Prophetentraditionen“
46
Siehe „Religionsgeschichtliche und ethnologische Hintergründe“
47
Art. „Hadith“, in: Wensinck, A.J./Kramers, J.H. (Hg.), Handwörterbuch des Islam, Leiden
1976, S. 146-151.,hier S. 147f.; Tworuschka, Monika., Art. „Hadith“, in: Kasper, Walter (Hg.),
Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), 3. Aufl., Freiburg 1995., S.1132.
48
Vgl. Hadith, in „Handwörterbuch Islam“, 147.; Halm,Heinz., Art. „Sunna/Sunniten“, in:
RGG, Bd.4, S.1904.
49
Heine, Peter: „Der Islam. Erschlossen und kommentiert von Peter Heine.“ Düsseldorf
2007., hier S.110.
50
Hadith, in „Handwörterbuch Islam“, 147.
12
kann. Die Tugenden dieser heidnischen Sunna und die Lebensweise der
vorislamischen Gesellschaft51
standen großenteils im Widerspruch zum
theologischen Programm 52 des expandierenden Islams, so dass diese im
weiteren Wachstum durch eigene Handlungsempfehlungen ersetzt wurden,
welche sich aus Berichten über das Handeln oder Aussagen von und über
den Propheten speisten. Nur Überlieferungen von direkten Zeugen oder
Teilnehmern der Ereignisse werden als authentisch angesehen.53 Diese
Mitteilungen sind als eine wichtige Quelle für die Entwicklung des
islamischen Rechts 54 anzusehen und werden als „Hadith“55 (Pl. Hadithe)
bezeichnet. Der Begriff Sunna in der islamischen Theologie meint also die
Sammlungen der Hadithe. Hierbei ist zu beachten, dass verschiedene
Hadithsammlungen existieren, die unterschiedlich alt sind und nur teilweise
kanonisiert wurden.56 Die Vielfalt der Topoi variiert dabei erheblich: „(...)alles,
was das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen betrifft(...)“57 kann
Gegenstand der Hadithe sein. Über Authentizität und Gewichtung der Sunna
gegenüber dem Koran existieren unterschiedlichste theologische Konflikte
zwischen den einzelnen Rechtsschulen und Konfessionen im Islam.58 Die
Hadithsammlung Sahih al-Buhari, des Rechtsgelehrten Al-Buhari, gilt als alte
51
Heine, Peter: „Islam. Zur Einführung.“ Hamburg 2003., hier S.24.
52
Ebd., siehe auch Heine, Peter „Der Islam.“ 110.
53
Vgl. die Ausführungen über „isnad“ bei Heine „Islam“ 110.; vgl. außerdem Mason, Herbert
W., Art. „Hadith“, in: Martin, Richard C., Encyclopedia of Islam. New York u.a. 2004, S.
285-290., hier S. 286.; vgl. „Hadith“ LThK.
54
Heine „Einführung“ 97.
55
ebd.; Hadith „Handwörterbuch“ 147.
56
Heine „Islam“ 111f.
57
Hadith „Handwörterbuch“ 147.; Heine „Islam“ 112.
58
Hadith „Handwörterbuch“. 148f.; vgl. auch die Ausführungen zur Stellung der Hadith bei
Heine „Islam“ 111f.; Es kann jedoch als „common sense“ betrachtet werden, dass die
Sunna insgesamt eine Weisungsfunktion für Muslime hat vgl. dazu auch Mason „Hadith“
285.; vgl. dazu auch Ilkilic, Ilhan: „Beschneidung der minderjährigen Jungen aus der Sicht
der Muslime bzw. des Islam.“, Vortrag auf der Plenarsitzung des Deutschen Ethikrats vom
23. August 2012., hier S.1.
13
und anerkannte Sammlung.59 Im Hadtih 589160 dieser Sammlung wird der
beschnittene Zustand des Mannes zur „Fitra“ (= nach der Art und Weise der
Erschaffung durch Gott)61
zugeordnet. So wird die Vorschrift zur
Beschneidung an gleicher Stelle mit dem Schneiden der Fingernägel, Kürzen
des Schnurrbarts und Rasur der Schambehaarung erwähnt.62 Dies lässt
vermuten, dass diese Vorschrift eher die Charakteristik eines
Reinheitsgebots hat.
Zusammenfassung:
Es herrschen, je nach Rechtsschule und Konfession, unterschiedliche
theologische Beurteilungen der Beschneidung, insbesondere in Bezug auf
die Stellung gegenüber anderen Geboten und Vorschriften.63
Ein
Gebotscharakter wie im Judentum fehlt aufgrund der theologischen
Hintergründe, ebenso wie eine damit verbundene soteriologische
Komponente. Innerhalb der Muslime herrscht dennoch Konsens über die
Pflicht zur Beschneidung und wird als Symbol der Zugehörigkeit zum Islam
anerkannt.64
Für die Beschneidung existiert keine klar festgeschriebene Altersgrenze im
Islam. Es gibt allerdings Hinweise, dass der Prophet Mohammed empfohlen
hat, die Beschneidung in einem frühen Alter vorzunehmen und es ist
berichtet, dass er seine Söhne 7 Tage nach der Geburt hat beschneiden
59
Vgl. Heine „Islam“ 112.; Mason „Hadith“ 286.; Hadith „Handwörterbuch“ 151.; Tworuschka
LThK.; besonders Halm „Sunna/Sunniten“ RGG.
60
Anm: in der gesamten von mir recherchierten wiss. Literatur über die Beschneidung im
Islam und die Inhalte der Hadithe finden sich weder Quellenangaben noch Textbelege oder
Zitate für die Erwähnung der B. in der Sunna. Da die Sammlung al-Buhari authentisch
eingestuft werden kann (s. Anm. 59), der Verweis auf eine Internet-Quelle: http://islamischedatenbank.de/option,com_buchari/action,display/chapterno,70/hadith_id,28/ [Stand:
10.10.2012]; Gefunden wurde der zitierte Hadith aufgrund der wortwörtlichen Erwähnung auf
der Internetpräsenz des Zentralrats der Muslime. Abrufbar im Internet: http://islam.de/20776
[Stand 10.10.2012].
61
S. Art. Fitra, in: Handwörterbuch Islam, S.137.; Ilkilic übersetzt „Menschenbild“, S.1.
62
S. Anm. zu 60
63
S. Anm. 58.; vgl. Heine „Islam“ 117.; Wißmann, Hans., Art. „Beschneidung I“, in: TRE, Bd.
5, S.714-716., hier Seite 714.
64
S. Ilkilic S.1.
14
lassen.65 Daher lassen viele Muslime die Beschneidung an diesem Tag
durchführen, obwohl ein Muslim in jedem Alter beschnitten werden kann.
Religionsgeschichtliche und ethnologische Hintergründe66
Abb. 1: das wohl älteste Dokument: Szene einer Beschneidung von Männern. Aus Sakkara,
Ägypten. Quelle wird datiert etwa 2300 v.CHr. 67
Beschneidung ist ein Sammelbegriff für operative Eingriffe mit
unterschiedlichen Instrumenten an
Geschlechtsteilen von Männern und
Frauen. Es gibt unterschiedliche Arten der Beschneidung, die von Kulturkreis
und Kontinent variiert.68 Die Beschneidung von Männern ist weit älter als die
65
WHO/UNAIDS: „Male circumcision: global trends and determinants of prevalence, safety
and acceptability.“, Genua 2007., hier S.3.; Vgl. Rebstock, Ulrich., Art. „Beschneidung V.
Islam“, in: RGG, S. 1354.
66
Anm.: Praktiken, bei denen die Harnröhre aufgeschnitten oder Nadeln o.ä. Gegenstände
durch den Penis getrieben, oder bei denen Genitalien teilweise amputiert werden, verbreitet
besonders in Afrika, müssen unerwähnt bleiben, da sie für die Untersuchung der
Zirkumzision wenig ertragreich u. z.T ohne gänzlichen Bezug dazu sind. Selbiges gilt für den
ges. Themenkomplex der B. von Frauen. Eine umfassende Darstellung der
anthropologischen Reichweite der B. bietet Gray, L.H., Art. „Circumcision“, in: ERE, S.
659-670.
67
WHO/UNAIDS „Circumcision“ S.1.
68
Vgl. Schuster, Meinhard., Art. „Beschneidung Religionswissenschaftlich“, in RGG, Bd.1, S.
1354-1355.
15
Religion des Judentums und war über den später jüdischen bzw.
muslimischen Kulturraum hinaus weltweit verbreitet.69 Die älteste erhaltene
Darstellung (siehe Abb.1) ist etwa 4300 Jahre alt und zeigt ägyptische
Männer bei der Beschneidungszeremonie mit messerähnlichen Werkzeugen.
Die historische Einordnung über die Beschneidung in Mitteleuropa wird
anhand von Moorleichenfunden, welche vermutlich aus der Bronze- und
Kaiserzeit (also 2200 bis 800 v.Chr.) stammen70, vorgenommen. Belege für
die männliche Beschneidung im AT erwähnen auch andere Beschneidung
praktizierende Völker71 , diese sind teilweise mit den Berichten des Philo von
Alexandria und Flavius Josephus (hier: Ägypter und Edomiter) kongruent72 .
Die bereits erwähnte Präzisierung des Beschneidungsgebots durch die
Hinzufügung „das Fleisch eurer Vorhaut“ (‫ )בְּשַׂ֣ר עָרְלַתְכֶ֑ם‬ist im Hinblick auf
diese religionsgeschichtliche Betrachtung bemerkenswert, da sie entweder
als Unterscheidungsmerkmal zwischen der z.B. in Ägypten praktizierten
Form angesehen werden muss, oder ein Beleg für die Eintragung früherer
Riten in die heiligen Schriften darstellen73. Die in Jos 5,2 erwähnten
Instrumente der Steinmesser deutet Blum (RGG) als Beleg für einen
steinzeitalterlichen Brauch.74
Philo von Alexandrien war dieser Brauch nicht nur bekannt, sondern er
diskutierte über seine Deutung: So äußerte er die Vermutung, dass die
Beschneidung dazu diente, Krankheiten vorzubeugen75 . Auch in den
Aufzeichnungen Herodots 76
werden medizinische Argumentationen als
Ursache vermutet. Generell ist in frühen Überlieferungen, so auch bei
69
Ebd.; „Circumcision“, Encyclopedia of Islam, 287.; WHO/UNAIDS S.3.
70
Siehe Schuster „Beschneidung Religionswissenschaftlich“ RGG, 1354.
71
Siehe Erklärungshypothesen zu Jer 9,24, Blaschke 120.
72
Vgl. „Circumcision“, Encyclopedia of Islam, 287.
73
Siehe Erklärungshypothesen zu Jer 9,24, Blaschke 120.
74
Siehe Blum „Beschneidung“ RGG: dieser erwähnt im selben Zusammenhang auch Ex
4,25, was m.E. unhaltbar ist, siehe dazu die Ausführungen zum Kontext und Übersetzung im
Kapitel theologische Hintergründe.
75
Vgl. „Beschneidung“ TRE, 714.
76
Siehe Blaschke 15.; „Circumcision“, Encyclopedia of Islam, 287.
16
Josephus Flavius, die Theorie stark vertreten, dass die Beschneidung im
Zusammenhang mit Reinlichkeit77 stehe. Außerdem vermutet Philo, dass die
Beschneidung ein Fruchtbarkeitsritual sei, weil der Samen sich nicht
verlieren könnte 78. Diese Begründungsmuster sind allerdings umstritten 79,
ebenfalls wie Motive von Nahtod-Erfahrungen beim Ritual im alten
Ägypten.80
Religionsgeschichtlich wurde die Beschneidung folglich vom Judentum und
später dem Islam antizipiert und mit neuen Bedeutungsdimensionen
versehen.81 Die ethnologischen Befunde über die angewandten Techniken im
Islam und Judentum lassen auch auf die Technik der Zirkumzision schließen
und weisen darauf hin, dass die Eingriffe ohne Betäubung ausgeführt
wurden.82
Über die Ursachen und Entwicklungen existieren viele
Entstehungshypothesen, die in vier unterschiedliche Begründungskategorien
aufgeteilt werden können: Religion, Sexualität, Soziales und Medizin.83
Blaschke führt nach ausführlicherer Diskussion dieser Hypothesen zu dem
Fazit, dass die Beschneidung „mehrfach unabhängig voneinander
entstanden ist“, weswegen „eine monokausale Herleitung des gesamten
Phänomens“ nicht haltbar sei.84
Deswegen wird von einer näheren
Betrachtung dieser Begründungskategorien abgesehen (mit Hinweis auf
Anm. 66). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass vielfältige Einträge
und Einflüsse aus der Umwelt des Alten Testaments, auf die Ritualkultur der
Beschneidung im Judentum als wahrscheinlich anzunehmen sind. Gleiches
gilt für die Einflüsse der vorislamisch geprägten arabischen Welt auf die
Ritualkultur im Islam.85
77
Vgl. „Beschneidung“ TRE, 715.
78
Siehe ebd.
79
Vgl. dazu Schuster „Beschneidung Religionswissenschaftlich“ RGG, 1354.
80
Siehe ebd.
81
Ebd.
82
Ebd.
83
Übernahme von Blaschke S. 6.
84
Blaschke S. 17.
85
Vgl. „Circumcision“, Encyclopedia of Islam, 287.
17
Religiöse Praxis der Beschneidung
Daten und Zahlen
Eine statistische Erhebung zur Beschneidung von Jungen in der
Bundesrepublik ist nicht vorhanden. Lediglich die Angaben der WHO86
können eine grobe Andeutung über die Praxis erahnen lassen:
Die Weltgesundheitsorganisation nimmt an, dass wahrscheinlich 30% der
männlichen Weltbevölkerung im Alter von 15 Jahren oder älter, beschnitten
ist. Davon sind etwa zwei Drittel (69%) Muslime (hauptsächlich aus Asien,
dem Mittleren Osten und Nordafrika), 0.8% sind Juden und 13% sind
konfessionslose Männer aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Diese
Zahlen basieren auf Annahmen über die religiöse Praxis in Relation zu
Einwohnerzahlen in bestimmten Regionen und sind mangels qualitativer
Grundlage für eine Übertragung auf die Verhältnisse in Europa begrenzt
valide. Bemerkenswert an den Zahlen der WHO ist jedoch, dass fast alle
Juden dieses Ritual zu praktizieren scheinen: So sind nahezu alle jüdischen
Männer in Israel, sowie 99% der jüdischen Männer in Großbritannien und
98% der Juden in den Vereinigten Staaten beschnitten. Am häufigsten wird
die Beschneidung in den USA im Säuglingsalter vorgenommen.87
In
islamisch geprägten Ländern variiert das Alter hingegen stark.88 Die Zahlen
lassen jedoch vermuten, dass sich die Beschneidung als Fest zum Beginn
des Lebenszyklus 89 in beiden Religionen weitgehend etabliert hat.
Ist die Beschneidung wirklich Pflicht?
Auch wenn die publizierte Berichterstattung über Reaktionen auf das Urteil
des Kölner Landgerichts zur Annahme verleiten könnte, dass es einen
86
Alle Zahlenangaben übernommen aus: WHO/UNAIDS „Circumcision“. (sowie ff.)
87
WHO/UNAIDS „Circumcision“ S.11, die Studie besagt außerdem, dass 75% der
amerikanischen Männer beschnitten sind. Zur medizinisch-ästhetischen Dimension siehe
Anm. 7.
88
WHO/UNAIDS „Circumcision“ S.10
89
Vgl. Riesebrodt, Martin: „Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen“,
München 2007., hier S. 158f.
18
einvernehmlichen Konsens in den Religionsgemeinschaften über die
Beschneidung gäbe, ist diese Vorschrift keineswegs unumstritten. Um eine
ausgewogene Darstellung zu gewährleisten, sollen aus dem vielfältigen
Spektrum schlaglichtartig zwei divergierende Positionen skizziert werden.
Innerjüdische Kontroversen
Eines der Begründungsmuster in der Debatte ist die verbindende Funktion
der Beschneidung. Doch gibt es innerhalb des Judentums eine lang
andauernde Kontroverse über das Ritual. Eine gute Zusammenfassung aller
Gegenpositionen bietet die Internetseite der Onlinebewegung „Jews Against
Circumcision“ (JAC). Diese Gruppe gibt an, ein Zusammenschluss von
Juden aus unterschiedlichen Konfessionen, sozialen Schichten und
Professionen und aus dem englischsprachigen Raum zu sein.90 Neben
gesammelten Erkenntnissen über Auswirkungen und Risiken der
Beschneidung unter verschiedenen Gesichtspunkten, enthält sie auch einen
vielseitigen theologischen Diskurs. Wesentliche theologische Einwände sind
der Praxis der Beschneidung widersprechende Stellen aus dem Tanach, wie
z.B. Lev 19,28 (Verbot von Einschnitten in den Körper). Aufgrund auch der
vielfältigen medizinischen Auswirkungen der Brit Mila, hat diese Gruppe
einen Ersatz für das Ritual entwickelt, die Bris Shalom (=Bund des Friedens),
welche auf die Beschneidung verzichtet und im Wesentlichen als Fest zum
Beginn des Lebenszyklus verstanden wird.
Islamische Kontroversen
Wie in den vorangegangenen Abschnitten mehrfach erläutert, ist die Stellung
der Beschneidung im Islam in Liturgie und Dogmatik aufgrund der
Quellenlage uneinheitlich. Auch die religiöse Praxis der Beschneidung ist
umstritten. Die Soziologin Necla Kelek bringt in einem Gastbeitrag91
wesentliche Kritik an der, aus ihrer Sicht, nicht vorhandenen theol.
Begründung hervor. Der Brauch der Beschneidung werde in vielen
90
http://www.jewsagainstcircumcision.org [so gesehen 14.10.2012].
91
Siehe Kelek, Necla: Die Beschneidung - ein unnützes Opfer für Allah., in: Die Welt vom
28.06.2012, online: http://www.welt.de/debatte/kommentare/article107288230/DieBeschneidung-ein-unnuetzes-Opfer-fuer-Allah.html [so gesehen 14.10.2012].
19
muslimischen Gesellschaften längst nicht mehr mit religiösen, sondern
soziologischen Motiven begründet. Medizinische und hygienische
Begründungen sieht sie als Schutzbehauptung. Die Autorin schrieb in ihrem
Buch „Die verlorenen Söhne“ u.a. über die Beschneidung ihres Neffen.
Dieses Buch spielt auch eine maßgebliche Rolle in der Entwicklung der
rechtlichen Argumentation.
Das Urteil des Kölner Landgerichts vom 7. Mai 2012
Die nicht medizinisch intendierte Zirkumzision unterlag in der Bundesrepublik
Deutschland bislang keiner gesonderten gesetzlichen Regelung.92
Der
publizierte rechtswissenschaftliche Diskurs zeigte, meist in den
Strafrechtswissenschaften, eine zunehmende Ansicht, nach welcher der
Eingriff durch einen Arzt ohne medizinische Notwendigkeit und trotz
elterlicher Einwilligung eine ungerechtfertigte Körperverletzung darstellt.93
Diese neuere strafrechtliche Diskussion um die Beschneidung wurde von
dem an der Ruhr-Universität Bochum promovierten und an der Universität
Passau lehrenden Juraprofessor Holm Putzke angestoßen. Auf seine in
Aufsätzen und Artikeln zum Ausdruck gebrachte Rechtsansicht zur
strafrechtlichen Bewertung der Knabenbeschneidung verweist die
Strafkammer des Landgerichts Köln in ihrer Entscheidung 94 . Rückblickend
kann die Ruhr-Universität durchaus als Wiege der im Urteil aufgegriffenen
Argumentation bezeichnet werden 95: in einer Diskussion des emeritierten
Rechtsprofessors Rolf D. Herzberg mit einer muslimischen Studentin und
einem muslimischen Arzt lag für Herzberg (der das Buch „Die verlorenen
Söhne“ von Necla Kelek gelesen hatte) der entscheidende Anstoß, sich dem
Thema der Beschneidung juristisch zuzuwenden und er bat seinen
damaligen Mitarbeiter Holm Putzke, die juristische Einordnung des Rituals
der Beschneidung zu prüfen.
92
Vgl. Fateh-Moghadam, RW 2/2010, S. 117.
93
Ebd. S.116.; siehe auch Stellungnahme der Urologen (Anm. 99).
94
Siehe Urteil des Landgerichts Köln (151 Ns 169/11).
95
Darstellung nach: Eppelsheim, Philip: Beschneidungen. Das Urteil, in: FAZ vom
15.07.2012, online: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/beschneidungen-dasurteil-11820431.html [so gesehen 16.10.2012].
20
Reaktionen und Folgen
Der dargestellten Rechtsauffassung durch Putzke, Herzberg et al. folgten
auch die Richter am Kölner Landgericht und lösten damit eine breite und
teilweise international 96
aufgenommene Debatte aus, die sogar zu
außenpolitischen Irritationen führte97.
Putzke kommentierte das Urteil mit den Worten: „Es wird nachdem die
reflexhafte Empörung abgeklungen ist, hoffentlich eine Diskussion darüber in
Gang setzen, wie viel religiös motivierte Gewalt gegen Kinder eine
Gesellschaft zu tolerieren bereit ist.“98
Obwohl das Urteil keine
Rechtsbindung entfaltete, führte es zu einer erheblichen Verunsicherung bei
Gläubigen und bei Ärzten. Der Bundesverband der Deutschen Urologen
warnte davor anzunehmen, man könne die rituelle Beschneidung durch
Gerichtsurteile abschaffen 99. Er wies außerdem auf die Möglichkeiten
weiterer Urteile hin, die bei Gerichten anderenorts unterschiedlich ausfallen
könnten. Der Verband plädierte deswegen für eine gesetzliche Regelung,
oder will andernfalls eine höchstrichterliche Entscheidung herbeiführen.
Seinen Mitgliedern empfiehlt er aus dieser Rechtsunsicherheit heraus die
Beschneidung nicht durchzuführen.100 Auch das Jüdische Krankenhaus in
Berlin stellte seine Praxis als Reaktion auf das Urteil vorerst ein.101 Nach
96
Z.B. Dumalaon, Janelle: Circumcision ban ignites a religious battle in Germany, in: The
Washington Times vom 29.08.2012, online: http://www.washingtontimes.com/news/2012/
aug/29/circumcision-ban-ignites-a-religious-battle-in-ger/?page=all [so gesehen 16.10.2012].
97
Siehe: (ohne Autorenangabe) Irritationen ausgelöst. Westerwelle kritisiert Urteil zu
Beschneidungen, in: FAZ vom 29.06.2012, online: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/
irritationen-ausgeloest-westerwelle-kritisiert-urteil-zu-beschneidungen-11804167.html [so
gesehen 16.10.2012].
98
Siehe: (ohne Autorenangabe) Religiöse Beschneidungen sind strafbar.
Zentralrat der Juden fordert Korrektur von Gesetzgeber, in: dradio.de vom 26.06.2012,
online http://www.dradio.de/aktuell/1795599/ [so gesehen 16.10.2012].
99
Siehe: Stellungnahme des Bunds Deutscher Urologen zum „Beschneidungsurteil“ des
Landgerichts Köln vom 03.07.2012, online http://www.urologenportal.de/1802.html [so
gesehen 16.10.2012].
100
Ebd.
101
Siehe: (Ohne Autorenangabe) Jüdisches Krankenhaus Berlin stoppt religiöse
Beschneidungen., in: Spiegel Online vom 29.06.2012, online: http://www.spiegel.de/
panorama/gesellschaft/juedisches-krankenhaus-berlin-stoppt-religioese-beschneidungena-841804.html [so gesehen 16.10.2012].
21
Angaben des Krankenhauses werden dort jedes Jahr über 300
Beschneidungen durchgeführt, mehrheitlich an muslimischen Jungen 102.
Auch niedergelassene Ärzte stoppten als Reaktion auf das Urteil die
bisherige Praxis.103
Kritik
Der Zentralrat der Juden in Deutschland bezeichnete das Urteil in einer
ersten Stellungnahme als „(...) beispiellosen und dramatischen Eingriff in das
Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften.“104
Die
Beschneidung von neugeborenen Jungen wird außerdem als „fester
Bestandteil der jüdischen Religion (...)“ dargestellt, die „(...) an den heiligen
Bund, den Gott mit dem Stammvater Abraham geschlossen hat(...)“, erinnert.
Der Koordinationsrat der Muslime in Deutschland übte ebenfalls heftige Kritik
und bezeichnete das Urteil als „Eingriff in die Religionsfreiheit.“105 Auch in
seiner Stellungnahme verweist der Koordinationsrat auf die „abrahamitische
Tradition“ und stuft die Beschneidung als „wesentlichen Bestandteil von
Islam und Judentum“ ein.
Die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch,
bezeichnete die Beschneidung in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen
Zeitung106 als „Kern der jüdischen Identität“. So überschrieb sie Ihren Beitrag
mit der provokativen Frage "Wollt ihr uns Juden noch?" und führt weiter aus:
"Ich frage mich ernsthaft, ob dieses Land uns noch haben will". Sie geht
102
Ebd.
103
Siehe: (Ohne Autorenangabe) Nach Kölner Urteil verzichten viele Ärzte auf Eingriff., in:
stern.de vom 28. Juni 2012, online: http://www.stern.de/panorama/religioese-beschneidungnach-koelner-urteil-verzichten-viele-aerzte-auf-eingriff-1847388.html [so gesehen
16.10.2012].
104
Siehe: Presseerklärung des Zentralrats der Juden in Deutschland. Zum Urteil des Kölner
Landgerichts zur Beschneidung von Jungen, vom 26.06.2012, online http://
www.zentralratdjuden.de/de/article/3705.html [so gesehen 16.10.2012]. (so auch im ff.)
105
Siehe: Presseerklärung des Koordinationsrats der Muslime. Kölner Beschneidungsverbot
ist ein massiver Eingriff in die Religionsfreiheit, vom 27.06.2012, online: http://
koordinationsrat.de/detail1.php?id=91&lang=de [so gesehen 16.10.2012]. (so auch im ff.)
106
Knobloch, Charlotte: Wollt ihr uns Juden noch?, in: Süddeutsche Zeitung vom
25.09.2012, online: http://www.sueddeutsche.de/politik/beschneidungen-in-deutschlandwollt-ihr-uns-juden-noch-1.1459038 [so gesehen 16.10.2012].
22
konkret auf die aktuelle Debatte und insbesondere auf die Stellungnahmen
ein, die den Richterspruch positiv kommentierten: "Ich frage mich, ob die
unzähligen Besserwisser aus Medizin, Rechtswissenschaften, Psychologie
oder Politik, die ungehemmt über 'Kinderquälerei' und 'Traumata'
schwadronieren, sich überhaupt darüber im Klaren sind, dass sie damit
nebenbei die ohnedies verschwindend kleine jüdische Existenz in
Deutschland infrage stellen. Eine Situation, wie wir sie seit 1945 hierzulande
nicht erlebt haben." Knobloch verknüpft hiermit die Frage nach jüdischem
Leben in Deutschland mit der Befolgbarkeit des Beschneidungsgebots.
Im Bezug auf Ihre eigene Biographie, habe Sie die Entscheidung als
Überlebende der Schoah in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt zu halten
gegenüber "der restlichen jüdischen Welt" verteidigt, aber aufgrund der
aktuellen Debatte schreibt sie: "Erstmals geraten nun meine Grundfesten ins
Wanken." Und geht noch weiter: „Nicht einmal in meinen Albträumen habe
ich geahnt, dass ich mir kurz vor meinem achtzigsten Geburtstag die Frage
stellen muss, ob ich den Judenmord überleben durfte, um das erleben zu
müssen.“
Sie trifft zudem eine deutliche Unterscheidung zwischen der jüdischen und
islamischen Tradition: Anders als im Islam gehöre die Beschneidung im
Judentum zum Wesenskern der Religion, betont Knobloch. "Anders als im
Islam ist die Beschneidung im Judentum konstitutiv. Sie ist Kern der
jüdischen Identität." Anstatt die Entscheidung über künftige Regelungen dem
Gesetzgeber zu überlassen, gehe die Debatte darüber unvermindert weiter
und stehe nun wie ein „Keil zwischen Juden und Nichtjuden“.
Debatte des Ethikrats am 23. August 2012
Der Beitrag von Charlotte Knobloch lässt zweifelsohne Rückschlüsse darauf
zu, wie hitzig und emotional die gesellschaftliche Debatte von Befürwortern
und Gegnern zum Teil geführt wurde. Dies beeinflusste auch die Debatte im
Ethikrat.
23
Begründungsmuster im Beitrag von Dr.med. Leo Latasch107
Der Mediziner Leo Latasch ist seit 2012 Mitglied des Ethikrats und zudem
Direktoriumsmitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland. Ihm kommt
aufgrund seiner Profession gewissermaßen eine Doppelrolle zu. Auch er
geht auf den Ton der aktuellen Debatte ein und beginnt seine Präsentation
mit der Ankündigung „die in den letzten Wochen den Rahmen des Normalen
deutlich über- oder eigentlich eher unterschritten hat, wieder auf ein
normales Niveau zurückführen.“108 Was er damit meinte, zeigte er direkt auf
den ersten Folien seiner Präsentation auf: antijüdische, antireligiöse,
ausländerfeindliche und sonstige beleidigende Äußerungen, besonders
häufig in Form von anonymen Kommentaren im Internet, in abgeschwächter
Form auch in Leserbriefen und Kommentaren in Printmedien. Über den
Beitrag Lataschs kann nicht geschrieben werden, ohne auf die in seiner
Präsentation gezeigten Videos 109 einzugehen, die zugleich Kernstück seiner
Entgegnung auf medizinisch-psychologische Bedenken gegenüber der
Beschneidung sind:
Ein Video zeigt eine Brit Mila. Die Schreie eines
Säuglings bei der Beschneidung sind markerschütternd. Das nächste Video
zeigt ebenfalls ein schreiendes Kind, ein etwa vier bis sechs Jahre altes
Mädchen, das beim Durchstechen ihrer Ohrlöcher nicht minder erschütternd
schreit. Das Audioprotokoll 110 vermittelt einen Eindruck der Reaktionen der
Zuschauer und des Gremiums über das Gezeigte111. Im folgenden verstärkt
Latasch diese Argumentationskette, indem er auf weitere schmerzhafte
107
Latasch, Leo: „Brit Mila (Mila, Peria, Metzitza) - Medizin und Religion“, Präsentation auf
der Plenarsitzung des Deutschen Ethikrats vom 23. August 2012. Abrufbar im Internet: http://
www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung-23-08-2012-latasch-ppt.pdf [Stand: 11.10.2012].
(so auch im ff.)
108
Siehe: Deutscher Ethikrat. Simultanmitschrift der Vorträge und Diskussion zum Thema
„Religiöse Beschneidung“, Plenarsitzung vom 23. August 2012. Abrufbar im Internet:
http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/plenarsitzung-23-08-2012-simultanmitschrift.pdf [Stand:
11.10.2012]. (so auch im ff.)
109
Die auf den Seiten des Ethikrats hinterlegte Version (s. Anm. 67) lässt diese Videos leider
nicht abspielen. Daher wird an dieser Stelle auf Haupt, Friederike: Ethikrat.
Jacobs Beschneidung, in: FAZ vom 03.09.2012, online: http://www.faz.net/aktuell/politik/
ethikrat-jacobs-beschneidung-11875890.html [so gesehen 16.10.2012], verwiesen, der
Artikel enthält auch Links zu den gezeigten Videos.
110
Siehe Deutscher Ethikrat: Audioprotokoll des Votrags von Dr.med. Leo Latasch auf der
Plenarsitzung vom 23. August 2012. Abrufbar im Internet: http://www.ethikrat.org/dateien/
audio/plenarsitzung-23-08-2012-latasch.mp3 [Stand: 11.10.2012].
111
Sehr eindrücklich auch Haupt „Jacobs Beschneidung“ FAZ.
24
Eingriffe, wie Piercings, Tattoos etc. eingeht, über die es keine kontroverse
Diskussion wie bei der Beschneidung aus religiösen Gründen gäbe, obwohl
sie ähnlich schmerzhaft seien.
Auch Latasch sieht in der Erzählung über den Abrahamsbund in Gen 17, die
Begründung für die Beschneidung, also ein theologisches
Begründungsmuster. Zudem würde die Beschneidung gewissermaßen einen
Brückenkopf für unterschiedlichste Strömungen im Judentum bilden. Sie ist
bis heute Voraussetzung für liturgische Feste und nicht zuletzt für eine
jüdische Beerdigung. Natürlich gibt es auch keine Bar-Mitzwah ohne
Beschneidung. Ihr hoher Stellenwert im Judentum sei auch daran zu
erkennen, weil Sie der einzige Akt ist, der an hohen Feiertagen
vorgenommen werden dürfe. Wie überaus wichtig sie auch in der Praxis sei,
zeige die Diskussion bei verstorbenen Juden, die unbeschnitten sind und
zum Teil noch postmortem beschnitten werden. Der Zeitpunkt der
Beschneidung am 8. Tag sei außerdem ebenfalls essentiell.
In seiner medizinischen Argumentation verstärkt er die Vorteile der
Altersvorgabe, da zu diesem Zeitpunkt weniger Komplikationen und
Schmerzen auftreten.
Er geht auf die Vorwürfe von Traumata ein. Diese
bestreitet er nicht grundsätzlich, sondern versucht vielmehr über eine
Folgenabschätzung eine Einordnung vorzunehmen.
Begründungsmuster im Beitrag von Dr. phil. Ilhan Ilkilic112
Der Medizinethiker der Uni Mainz beginnt seinen Vortrag ebenfalls mit einer
Ermahnung zur Sachlichkeit. Im Gegensatz zum Beitrag von Leo Latasch,
fokussiert sich Ilkilic in seinem Beitrag auf die theologische Begründung und
die gesellschaftliche Dimension. Er beschreibt die theologische Verankerung
der Beschneidung in den Hadithen und auch die fehlende Erwähnung der
Beschneidung im Koran. Auf den fehlenden Gebotscharakter geht er
hingegen nicht ein, sagt lediglich, die Beschneidung sei eine „Anlehnung“ an
112
Ilkilic, Ilhan: „Beschneidung“.
25
die abrahamitsche Traditon.113 Vielmehr weist Ilkilic auf einen wichtigen
Aspekt, der auch für die aktuelle Debatte wichtig sei: die religiöse Praxis. Die
praktische Ausübung dieses Ritus habe auch bei den in Deutschland
lebenden Muslimen „einen hohen Stellenwert im religiösen Leben“.114 Sie sei
unabhängig von religiösen Experten anerkannt und geachtet und würde
häufiger wahrgenommen als andere Pflichten.
Dieser Umstand müsse
stärker be- und geachtet werden. So habe die Beschneidung für viele
Muslime einen identitätsbildenden Charakter, weswegen es Parallelen zur
Taufe gäbe. So sei die Beschneidung ein „Zeichen der persönlichen
Gottesbeziehung.“ Zudem werde die Beschneidung oft als Übergang zum
Erwachsenenleben, also als Initiationsritus, wahrgenommen. Die
Empfangenden dürften nach der Beschneidung stärker am religiösen und
sozialen Leben der Erwachsenen teilnehmen. Zwar sei dies mit der Taufe
nicht vergleichbar, aber in der Bedeutungsdimension seien diese ähnlich.
Aus diesen Gründen plädiert er auch gegen ein Verbot der Beschneidung, da
sie so fest bei den Gläubigen verankert sei, dass sie auch Verbote umgehen
würden.
113
Ebd., S.1.
114
Ilkilic, Ilhan: „Beschneidung“. (so auch im ff.)
26
Fazit
In den dargestellten Stellungnahmen lassen sich im Wesentlichen zwei
unterschiedliche Begründungsmuster erkennen: zum einen gesellschaftlichethischer und zum anderen theologisch-dogmatischer Ausprägung. Zu den
gesellschaftlich-ethischen Begründungsmustern werden diejenigen
Argumentationen zugeordnet, die auf die identitätsstiftende und soziale
Konnotation der Beschneidung eingehen, dies sowohl innerhalb der
Religionsgemeinschaft als auch bei der Frage nach gesamtgesellschaftlicher
Akzeptanz. Theologisch-dogmatische Begründungsmuster umschließen die
Rückbezüge auf ein Gebot oder eine Erzählung aus einer heiligen Schrift.
Theologisch-dogmatische Begründungsmuster kommen in allen
Stellungnahmen vor, allerdings sehr unterschiedlich gewichtet: im Beitrag
von Latasch und in den Stellungnahmen des Zentralrats finden sich deutliche
Rückbezüge auf den Abrahamsbund: Das Ritual sei aufgrund des Gebots
zwingend. Sie verweisen aber auch ganz deutlich auf identitätsstiftende
Elemente. Die sehr unterschiedlichen Konfessionen im Judentum würden
durch die gemeinsame Bedeutungszuweisung und die gemeinsame
Eigenschaft der Beschneidung verbunden. Dies ist angesichts der starken
Segmentierung 115 im Judentum wohl besonders gewichtig.
Die Beiträge des Koordinationsrats und von Ilikic beziehen sich auf die
Prophetentradition, also eher auf theologisch-dogmatische
Begründungsmuster. Jedoch zumeist in Erklärungszusammenhängen,
warum die Beschneidung auch ohne Überlieferung Pflicht sei. Ilikic verweist
selbst darauf, dass die theologische Bedeutung der Beschneidung für die
Gläubigen eher auf einer Verankerung in der Praxis beruht und zieht
Parallelen zur Taufe: das Motiv der Beschneidung als Initiationsritus,
Übergang zum Erwachsenenleben. In dieser Argumentation überschneiden
115
Vgl. Rubinstein, Michael: „Zwischen Normalität und neuem Aufbruch: Das jüdische
Gemeindeleben.“, in: Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen, S. 140-152., hier S. 144.
27
sich die theologisch-dogmatischen mit den gesellschaftlich-ethischen
Begründungsmustern zum Teil.
Der Beitrag von Charlotte Knobloch ist unter den ausgewählten Texten wohl
nicht nur der emotionalste, sondern auch kontroverseste. Ich habe ihn aber
deswegen nicht ausgewählt, sondern vielmehr um neben den religiösgesellschaftspolitischen Stellungnahmen der Verbände eine persönliche
Sichtweise auf die Debatte einer Überlebenden der Schoah einzubringen.
Ohne diese historisch-biographischen Hintergründe würde eine wichtige
Dimension der aktuellen Debatte nicht ausreichend gewürdigt und die
Beschreibung wäre in ihrer affektiven Nachvollziehbarkeit deutlich reduziert.
Zweifelsohne nutzt Charlotte Knobloch in ihrem Beitrag theologischdogmatische Begründungsmuster, bezieht sich aber lediglich in zwei Sätzen
auf die eigentliche Bedeutung der Beschneidung. Aus Ihrem Text ist
abzulesen, dass es ihr im Wesentlichen um die Akzeptanz und die Stellung
des jüdischen Glaubens in der deutschen Gesellschaft geht. Dieser
Rückbezug auf die Geschichte ist somit eindeutig einem gesellschaftlichethischen Begründungsmuster zuzuordnen.
Dieses Motiv klingt auch in den Stellungnahmen der Verbände an: der Platz
in der Gesellschaft der eigenen Religion, ja der Religion insgesamt.
Wie bereits festgestellt ist die Beschneidung für die Israeliten wahrscheinlich
seit dem Exil das Symbol für den Bund zwischen Gott und ihrem Volk. (s.
Kapitel theologische Hintergründe). Damit verbunden ist auch die
soteriologische Dimension im Heilsversprechen des Bundes. Das
unumkehrbare Zeichen am eigenen Fleisch weist jeden Mann als Mitglied
des Volkes Israels, also als Mitglied des Bundesvolkes aus. Besonders durch
die Erzählung des Abrahambundes hat die Brit Mila bis heute ihre
Verankerung im jüdischen Lebenszyklus.
Im Islam scheint die religionssoziologische Komponente stärker ausgeprägt.
Die Zugehörigkeit zum Islam drückt sich bei Männern durch die
28
Beschneidung aus. Die Stellungnahmen bedienen sich daher weniger den
theologisch-dogmatischen, als den gesellschaftlich-ethischen
Begründungsmustern. Wie im Judentum wird auch die Bedeutung der
Beschneidung als Klammer zwischen heterogenen Gruppen116 gesehen. Die
Beschneidung ist hier Beispiel eines kollektiven Prozesses in den
Religionsgemeinschaften.
Es wäre vor diesem Hintergrund interessant zu erforschen, welche
Begründungsmuster für die religiöse Praxis von Juden und Muslimen in
Deutschland tatsächlich vorhanden sind, welche Motivationen dominieren
und wie geläufig der theologische oder religionsgeschichtliche Hintergrund
überhaupt ist.
Religionswissenschaftlich besonders vielversprechend wäre eine Befragung
über die Motivation dieser Praxis im Islam, um die in der theologischen
Begründung fehlende Heilsdimension dieser institutionellen Praxis im
Glauben der Praktizierenden zu erforschen.
116
Chbib, Raida: „Heimisch werden in Deutschland: Die religiöse Landschaft der Muslime im
Wandel.“, in: Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen, S. 125-139., hier S. 126.
29
Literaturverzeichnis
Abbildungen Abb.1: Quelle: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/geschichte-derbeschneidung-kein-kind-ist-je-daran-gestorben-11829537.html [Stand:
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Abgekürzt wurde gemäß:
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35
Hiermit versichere ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Arbeit
selbständig angefertigt, außer den im Quellen- und Literaturverzeichnis
sowie den Anmerkungen genannten Hilfsmitteln keine weiteren benutzt und
alle Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinn
nach entnommen sind, unter Angabe der Quellen als Entlehnung kenntlich
gemacht habe.
________________________ Unterschrift
36
Düsseldorf, den 19.10.2012