Tour de France 1998. 15. Etappe.

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Tour de France 1998. 15. Etappe.
Renner: Live-Sportkommentator - aktueller Stand: 20.1.2005Karl N. Renner
- S. 1 v 13 Zur Veröffentlichung in:
FS Volker Hoffmann 2005
Tour de France 1998. 15. Etappe.
Über die Fortexistenz des
„dämonologischen Erzählers“ als Live-Sportkommentator.
1. Sportjournalismus: zwischen Journalismus und Unterhaltung
Sportjournalisten, zumal wenn sie als Live-Kommentatoren fürs Fernsehen arbeiten, besitzen ein höchst unterschiedliches Ansehen. Das große Publikum betrachtet sie als Stars, in Journalistenkreisen sind sie dagegen bevorzugte Objekte von Kritik und Kollegenschelte.
Die Vorwürfe an die Sportberichterstatter werden in Konsequenz ständig wiederholt. Mangelnde Distanz zum Sportgeschehen, reduzierte Konfliktfähigkeiten, einseitige Konzentration auf den Hochleistungssport und effektheischende Berichterstattung. (Fischer 1994, S. 57)
Lange Zeit galten die Sportjournalisten als die „Außenseiter der Redaktion“ (Weischenberg 1976). Die jüngere
Generation hat zwar offensichtlich zu einem neuen Selbstverständnis gefunden (vgl. Hackforth 1994).1 Doch
nach wie vor gelten im Sportjournalismus eigenen Regeln, die sich von den üblichen Regeln des Journalismus
deutlich unterscheiden. Charakteristisch ist die Vermischung von Nachricht und Wertung, die der Trennung von
Information und Meinung, einem zentralen Grundsatz des Journalismus, diametral gegenübersteht.
Im Sportjournalismus hat sich eine Berichtform herausgebildet, die Information und Meinung verbindet. Sportjournalisten sprechen von kommentierender Nachricht oder nachrichtlicher Kommentierung. (Fischer 1994, S. 64)
Die Journalistik sieht diese Sonderrolle in einem engen Zusammenhang mit der Unterhaltungsfunktion des
Sportjournalismus.
Mediensport ist ein Zuschauermagnet, der nach Meinung der meisten Autoren, die sich mit
diesem Thema beschäftigt haben, irgendwo zwischen Unterhaltung und Information angesiedelt ist. Denn Sport wird von den Medien in einem hohen Maße als Unterhaltung angeboten vor allem von den Nutzern primär als Unterhaltung rezipiert - aber zumeist mit den Stilmitteln und Darstellungsformen des Journalismus übermittelt. (Schierl 2004, S. 7)2
So unbestreitbar diese Befunde sind, der Begriff der Unterhaltung ist zu pauschal, um damit das Besondere der
sportjournalistischen Berichterstattung zu erfassen. Selbst bei einer Live-Übertragung gibt es unübersehbare
Differenzen gegenüber dem, was man üblicherweise unter einer Unterhaltungssendung versteht. Denn Sportsendungen haben den Anspruch, über Ereignisse zu berichten, die für die Berichterstattung nicht eigens arrangiert
wurden. Damit soll nicht bestritten werden, daß es sich dabei durchwegs um „mediatisierte Ereignisse“ handelt3,
die ohne finanzielle Beteiligung der Sendeanstalten kaum mehr stattfinden könnten. Das ist ja gerade ein Kritikpunkt der Verflechtung von Sport und Medien. Dennoch besteht zwischen Unterhaltungssendungen wie Einer
wird gewinnen und der Übertragung eines Fußball-Länderspiels ein kategorieller Unterschied.
2. Die Sportübertragung als eine besondere Form der Erzählung
2.1. Unterhalten und Erzählen
Der Unterhaltungsbegriff ist nicht besonders gut geeignet, Medienbeiträge zu charakterisieren. Denn er ist in
erster Linie auf Rezeptionsaspekte bezogen. Jeder Beitrag kann unterhalten. Die spezifischen Qualitäten von
Sportübertragungen werden eher greifbar, wenn man sie mit den Sportmeldungen in den Nachrichten vergleicht.
Nachrichten berichten. Sportübertragungen geht es dagegen nicht um die bloße Berichterstattung. Ihnen geht es
1
Die Ausführungen von Hackforth beruhen auf der „Kölner Studie“ von 1993. Bei dieser Vollerhebung wurden
4.087 Sportjournalisten in Deutschland befragt. Vgl. Hackforth 1994, 20 f.
2
„Darstellungsformen“ ist der Fachbegriff der Journalistik für die verschiedenen journalistischen Textsorten.
3
Kepplinger unterscheidet zwischen genuinen Ereignissen wie Erdbeben, mediatisierten Ereignissen wie den
Olympischen Spielen, die wegen der r zu erwartenden Berichterstattung „einen spezifischen, mediengerechten
Charakter erhalten“ und inszenierten Ereignissen (Kepplinger 2001, S. 126).
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um eine möglichst attraktive Gestaltung. Sie entwickeln einen anderen Darstellungsmodus als Nachrichten. Sie
benutzen sie alle journalistischen Stilmittel, die „das TV-Erlebnis aufwerten und den Spannungswert erhöhen“
(Scheu 1994, S. 272). Ist der zentrale Darstellungsmodus von Nachrichten das Berichten, so ist es bei LiveÜbertragungen der des Erzählens
Der Ausdruck „Live-Reportage“, der als ein Synonym für „Live-Übertragung“ verwendet wird, weist ebenfalls
in diese Richtung. Denn die Reportage wird in der Journalistik oft als eine unterhaltende Darstellungsform verstanden. Achtet man aber auf ihre Darstellungstechniken, so ist sie nichts anderes als eine nicht-fiktionale Erzählung. Ihr Ziel ist es „die Zuhörer / Leser am Geschehen geistig und emotional teilhaben, sie miterleben lassen
durch die authentische Erzählung.“ (Haller 1995, S. 62, Hervorhebung KNR).
Andererseits besteht seit jeher eine enge Verwandtschaft von Erzählen und Unterhalten. Man erzählt Geschichten, um sich und die Gesellschaft zu unterhalten. Erinnert sei an Goethes 1795 veröffentliche Sammlung von
Erzählungen, den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Das Ziel dieser Unterhaltung ist - so Klaus Kanzog unter Bezug auf Erich Feldmann - „die durch ‘stimulierende Kommunikation erzeugte befriedigende Beschäftigung’ mit dem aufgeworfenen Problem“ (Kanzog 1976, S. 26).
2.2. Die Geschichte und die Erzählinstanz einer Sportübertragung
Versteht man eine Sportübertragung als eine besondere Form der Erzählung, dann ist zu fragen, inwieweit sie
jene Komponenten besitzt, die die Erzähltheorie als die elementaren Bestandteile der Erzählung identifiziert.
Das ist auf die Ebene des Erzählten das Vorliegen einer Geschichte und auf der Ebene des Erzählens die Organisation und Ausgestaltung dieser Geschichte durch eine Erzählinstanz.
Die Geschichten, die von Sportübertragungen erzählt werden, sind nicht so elaboriert wie die etablierter Erzählungen. Sie sind auf einen elementaren Handlungskern reduziert: auf den Wettkampf der Athleten. Dieses Sujet
ist in einem autonomen Handlungsraum angesiedelt, der von der Alltagswelt geschieden ist und als Spielfeld,
Stadion oder Wettkampfstrecke konkrete Form annimmt. Den Extrempunkt, der in diesem semantischen Feld
alle Handlungsabläufe organisiert, bildet der Sieg.
Überschreitet ein Held die Grenze eines semantischen Feldes, dann führt ihn der Weg innerhalb dieses Feldes zu dessen Extrempunkt. Kehrt er in seinen Ausgangsraum zurück, dann
ändert sich dort seine Bewegungsrichtung: Der Extrempunkt ist ein Wendepunkt. Ansonsten
endet hier der Weg des Helden: Der Extrempunkt ist der Endpunkt (Renner 1986, S. 128).
Alle Handlungen der Wettkämpfer sind auf den Sieg ausgerichtet, auch die von denen, die im Wettkampf unterliegen. Seine besondere Spannung gewinnt dieses Sujet, weil man zu Beginn des Wettkampfes den Sieger noch
nicht kennt. Man weiß nur, einer der Protagonisten wird der Sieger sein.
So einfach dieses Handlungsschema ist, so schwierig ist die Organisation seiner Erzählung. Das ist einerseits auf
die komplexe Ausdruckssubstanz des Mediums Fernsehen zurückzuführen, das sich aus Bildern, Wörtern und
anderen Zeichensystemen zusammensetzt. Das ist aber ebenso dem besonderen Status dieser großen Sportereignisse geschuldet. Denn ein einzelner Wettkampf steht hier nie für sich allein, er ist immer in größere Zusammenhänge eingebunden. Sei es in ein Turnier, in eine Meisterschaft oder in den nicht endenden Zyklus der
Olympischen Spiele. Alle diese Zusammenhänge müssen beim Akt des Erzählens vergegenwärtigt werden.
Die Organisation dieser Erzählung aus bewegten Bildern und gesprochener Sprache ist eine Leistung, die Regie
und Kommentar gemeinsam erbringen. Live-Kommentator und Regisseur erfüllen gemeinsam jene Erzählerfunktionen, die sie als journalistische Gegenstücke der Erzählinstanzen literarischer Texte ausweisen.
Genau diese Erzählerfunktionen führen zu den oft erwähnten Konflikten mit den etablierten Normen des Journalismus. „Denn die Feststellung einer Erzählstrategie (über die Erzählperspektive) und damit die ‘Anwesenheit’
eines Erzählers ist stets mit dem Akzeptieren oder Verwerfen eines Norm- und Wertsystems verbunden“ (Kanzog 1976, S. 81). Wegen dieser systemimmanent vorgegebenen subjektiven Erzählerperspektive kann ein Sportkommentator nie jene quasi objektive Position einnehmen, welche die Trennung von Information und Meinung
von ihm verlangt.
2.3. Der Erzähler vom Typ des dämonologischen Grenzüberschreiters
Der Off-Kommentator einer Sportübertragung ist aber nicht nur ein auktorialer Erzähler, wie er in vielen Romanen und Erzählungen auftritt Er scheint vielmehr jenem besonderen Typ von Erzähler zu entsprechen, die von
Volker Hoffmann als „dämonologischer Grenzüberschreiter“ charakterisiert wurde.
Dieser Typ ist vor allem in den phantastischen Teufelspaktgeschichten der Goethezeit und des Realismus anzutreffen. Er wird auf der Textoberfläche als ein alter, meist unverheirateter und kinderloser Mann gezeichnet, der
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kurz vor dem Greisenalter steht oder diese letzte Lebensphase bereits erreicht hat. Dieser Erzähler steht also
selbst an der Grenze jener anderen Welt, die den Gegenstand seiner Erzählung bildet.
Die Nähe des realistischen Erzählers zum Geisterreich läßt sich weiter erhärten, wenn man
die für den Realismus typische Rahmenerzählsituation mit in Erwägung zieht. Diese ist in aller Regel eine Erinnerungssituation, in deren Mittelpunkt ein Rahmenerzähler steht, der
selbst hochbetagt in der Nähe des Todes und damit nach alter Vorstellung an der Schwelle
zum Geisterreich steht und der seine Verlusterfahrung bezüglich Lebenswerten, Partnerliebe
und Besitz durch geistige Aktivität, nämlich durch den Erinnerungs- und Erzählakt auszugleichen sucht. (Hoffmann 2004, S. 98).
Der kreative Akt des Erzählens erweist sich dann - das ergibt sich aus dem strukturellen Gefüge dieser Texte -als
Akt einer männlichen Kopf-Geist-Geburt, die den Verlust der biologischen Zeugungsfähigkeit kompensieren
kann. Offensichtlich wird in diesem Denken geistige Kreativität nach dem Vorbild der biologischen Kreativität
verstanden. Berücksichtigt man außerdem, daß dieses Kreativitätskonzept mit einer Grenzüberschreitung in das
Geisterreich verbunden wird, dann läßt sich dieser Typ des dämonologischen Erzählers als die Verkörperung der
Aufeinanderprojektion zweier komplementärer Handlungsschemata auffassen, des Beuteholer-Schemas und des
Aufgehens im Gegenraum (vgl. Lotman 1972, S. 339). Dieser Erzähler kann als eine zweifach vermittelnde
Größe zum einem die Grenze zum Reich des Geistes überschreiten. Zum anderen ist er in der Lage, den in diesem Reich gewonnenen Ideen Gestalt zu verleihen, so daß sie für die Zuhörer faßbar werden.
Damit verspricht dieser Erzählertyp eine Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der textinternen Welt in einer Erzählung und der Welt außerhalb von ihr. In der Rahmenerzählung wird der transzendentale Charakter dieser Figuren besonders deutlich. Mit dieser besonderen strukturellen Position ist auch eine
besondere Hierarchie des Wissens verbunden: „Die Raumüberlegenheit der ranghohen Erzählinstanzen ist eng
mit Wissensüberlegenheit korreliert, die Raumunterlegenheit mit Wissensdefiziten“ (Hofffmann 2004, S. 104).
Alle diese Faktoren kennzeichnen auch die strukturelle Position des Off-Kommentators in einer Sport-Übertragung. Daher kann der Typ des dämonologischen Erzählers, vergleichbar einer Metapher, als Modell für die
spezifischen Leistungen eines Off-Kommentators angesehen werden. Ich will das am Beispiel einer Live-Übertragung während der Tour de France 1998 demonstrieren.
3. Die Königsetappe der Tour de France 1998
3.1. Extrempunkt Les Deux Alpes
Die 15. Etappe der Tour de France 1998, die am 27. Juli 1998 gefahren wurde, führte über 189 km von Grenoble nach Les Deux Alpes, einem kleinen Wintersportort im Département Isère.
Es ist das nicht irgendein Etappenziel. Wie einer der beiden Off-Kommentatoren bemerkt, gibt es „hier in der
Umgebung fünfzig Berggipfel mit einer Höhe zwischen drei - und viertausend Meter. Also, das Zentrum der
Alpen liegt hier in dieser Region“ (1:59:22).4 Seiner besonderen geographischen Position entsprechend bildet
dieses geographische Zentrum einen Extrempunkt dieses Rennens durch ganz Frankreich. Les Deux Alpes ist
das Ziel der Königsetappe. Wer hier gewinnt, hat alle Chancen, die Tour insgesamt zu gewinnen. Der Höhepunkt der Etappe ist der Aufstieg über den Col de Tèlègraphe zum 2645 Meter hohen Col du Galibier, einem
Berg der hors catégorie, „also das beste, was man an Bergen zu bieten hat“ (1:35:12). Ein zweiter Höhepunkt ist
dann die Bergankunft in Les Deux Alpes.
Was die Strapazen der Fahrer noch vergrößert, ist das Wetter. Es hat umgeschlagen. Die Hitze der letzten Tage
ist verflogen, es regnet in Strömen. So müssen die Fahrer nicht nur mit der Strecke fertig werden, sondern auch
mit Nässe und mit Kälte. Selbst die Fernsehzuschauer sind von den schlechten Bedingungen betroffen. Wegen
des dichten Nebels im Gebirge können die Kamera-Helikopter nicht fliegen. Nur die Motorrad-Kameras verfolgen das Rennen. Durch den Regen beschlagen die Objektive, Wassertropfen auf der Linse trüben das Bild. Das
Bild fällt immer wieder aus. Eine dramatische Kulisse, passend für ein dramatisches Rennen an einen dramatischen Tag:
Denn hier zählt heute nur der Kampf um die Sekunden, um die Minuten, um das Gelbe Trikot --- wie die Regentropfen aufspritzen vom Hinterrad des Motorrads. Das sind wahnsinnige Bilder. Der Nebel da vorne: nur eine Sichtweite von etwa 30, 40 Meter. Schemenhaft die
Zuschauer am Straßenrand. Das sind in der Tat Giganten der Landstraße (0:36:50)
4
Die Zeitangaben (Stunde: Minuten: Sekunden) geben in etwa den Zeitpunkt der Äußerung an. Die fett gedruckten Passagen sind mit besonderem Nachdruck gesprochen.
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Dennoch nimmt das Rennen zunächst einen normalen Verlauf. Als die ARD zuschaltet,5 um die letzten zweieinhalb Stunden zu übertragen, gibt es das übliche Geplänkel. Eine kleine Gruppe hat sich abgesetzt. „Aber es sind
nur wenige Sekunden, die sie Vorsprung haben, gegenüber dem Feld“ (0:05:45). Ganz vorne im Feld fährt das
Team Deutsche Telekom6, die Mannschaft von Jan Ullrich, an diesem Tag der Träger des Gelben Trikots.
Und hier vorne beim Anstieg zum Galibier in der Gruppe der Favoriten: Bjarne Riis, der Sieger der Tour 1996, dahinter das Gelbe Trikot und Vorjahressieger Jan Ullrich. Eine Demonstration der Stärke durch das Team Deutsche Telekom (0:49: 20).
Dann, beim Aufstieg zum Galibier, kommt der Moment des Marco Pantani. „Ganz rechts außen - jetzt sieht
man das Piratenkopftuch, jetzt ist er wieder verdeckt, ganz rechts außen ist Pantani. [...] jetzt kommt er langsam
nach vorne, rechts, Marco Pantani, da bin ich mal gespannt.“ (1:03:00). Noch kann ihn Ullrich abfangen, er
startet eine Gegenattacke - und verliert sein Team, das nicht mithalten kann.
Und er [= Ullrich knr] geht alleine. - Julich geht mit und rechts am Bildrand kommt Pantani.
Klar: jetzt muß er kommen. Pantani führt noch einige andere heran, aber das ist natürlich eine Wahnsinnsleistung von Jan Ullrich, der [...] an Garcia vorbei fliegt, um jetzt nach vorne
zu fahren. Eine Demonstration der Stärke, also wenn er das schafft, wenn er hier allein hin
fährt und das Gelbe Trikot verteidigt, dann ist er natürlich der Matchwinner des heutigen Tages. Jan Ullrich offensichtlich in der Form seines Lebens (1:09.30).
Pantani, ein ausgesprochener Bergspezialist, läßt sich nicht abschütteln und schlägt im steilsten Stück endgültig
zu.
Das ist die Stelle: 10 % Steigung, 8 km vor der Paßhöhe, er [= Pantani knr] schaut sich
zurück. Luc Leblanc kann ihm noch folgen. Die anderen: im Moment nicht zu sehen.
Und in der Tat, wie ein Pirat macht er sich aus dem Staub, mit seiner typischen Fahrweise, il
scalatore, wie die Italiener sagen, ein wahrer Kletterer. 1,72 ist er groß, 55 Kilogramm
nur schwer. Das bevorteilt ihn natürlich und Jan Ullrich fährt seinen Rhythmus. Er darf jetzt
nur nicht unruhig werden, Denn er kann diese Fahrweise von Pantani normalerweise nicht
mitgehen die Fahrweise wohlgemerkt, die Kondition hat er allemal. (1:18:42).
Zunächst scheint es noch so, als ob die Kommentatoren Recht behalten sollte. Aber Ullrich hat ausgesprochenes
Pech. Seine Teamkameraden können die Lücke nicht mehr schließen. So kostet ihm die Aufholjagd während der
nächsten 50 km alle Kraft. Denn der Vorsprung von Pantani darf nicht zu groß werden, sonst ist seine Gesamtführung in Gefahr.
Etwa eine Stunde später passiert es dann. M. Pantani - maillot jaune virtuel. wird von der Regie ins Bild eingeblendet. Pantani hat die Gesamtführung übernommen. Und fast zeitgleich sieht man, wie Ullrich langsamer
wird, seinen Arm hoch hält. „Was ist los mit Jan Ullrich? Hält hier an! Hat er Defekt? Ja, er hat Defekt.“
(2:13:45). Der eine Kommentator fällt seinem Kollegen mitten in das Wort. Das Begleitfahrzeug ist sofort zur
Stelle ist, der Mechaniker springt heraus. Dennoch, die panische Reaktion der Reporter verrät es, es bahnt sich
ein Desaster an. Ullrich verliert wertvolle Zeit.
Mindestens 30, 45 Sekunden. Endlos - [an dieser Stelle fällt das Bild aus knr] - und sehen
Sie diese Bilder, die man ... - und sehen Sie eben nicht, man kann es ja nur erahnen - […]
Dramatischer kann es gar nicht sein. Mehr Pech kann man gar nicht haben. (2:14:17)
Pantani ist der Tagessieg nicht mehr zu nehmen. Jetzt geht es um das Gelbe Trikot. Und für Ullrich kommt alles
noch viel schlimmer. Ist es die lange Verfolgungsfahrt ohne Helfer? Ist es das von ihm gefürchtete bitterkalte
Regenwetter? Auf den letzten Kilometern, beim Schlußanstieg nach Les Deux Alpes bricht der Energiehaushalt
seines Körpers zusammen. Er hat, wie die Radfahrer sagen, „einen Hungerast“. Mit fast neun Minuten Rückstand kommt er völlig geschlagen in das Ziel, geschleppt von seinen Mannschaftskameraden, die ihn auf den
letzten Kilometern wieder einholen.
Auch 1998 gewinnt der Sieger der Königsetappe die gesamte Tour. Marco Pantani trägt das Gelbe Trikot bis
nach Paris. Nachdem er in diesem Jahr bereits den Giro d’Italia gewonnen hat, gehört er zu den wenigen Fahrern, die dieses legendäre Double geschafft haben. Er steht auf dem Höhepunkt seiner Karriere.
5
Die Sendung wurde vom französischen Fernsehen produziert und von der ARD live übernommen. Die beiden
deutschen Kommentatoren sind Jürgen Emig und Herbert Watterott. Sie kommentieren das Rennen aus einer
Sprecherkabine am Ziel und wechseln sich dabei ab. Da es hier nicht um die individuelle Leistung der Kommentatoren, sondern um den Kommentar geht, habe ich die Sprecher nicht individuell erfasst.
6
Die wichtigsten Fahrer von Telekom sind 1998 Jan Ullrich, Bjarne Riis, Udo Bölts, Rolf Aldag und der
Sprintspezialist Erich Zabel.
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Für Jan Ullrich markiert der Extrempunkt Les Deux Alpes einen Wendepunkt. Er kann zwar noch den zweiten
Platz im Gesamtklassement erreichen, eine Plazierung, die er seit dem noch einige Male erzielt. Doch der erwartete zweite Sieg steht bis heute aus. Stattdessen überschatten Verletzungspech und eine Dopingsperre seine
nächsten Jahre. Auch hat er seit dem 27. Juli 1998 das Gelbe Trikot nicht mehr getragen.
3.2. Der Mythos „Tour de France“
Die Tour de France gehört zu den Mythen der Moderne. Nicht nur, weil sie von den Medien mit schöner Regelmäßigkeit so apostrophiert wird. Ausschlaggebend ist viel eher das alljährliche Ritual ihrer Wiederholung. Sie
besitzt, um die Überlegungen von Claude Lévi-Strauss zum Verhältnis von Mythos und Zeit aufzugreifen, jene
„zugleich historische und ahistorische Struktur“, die für jeden Mythos charakteristisch ist (Lévi-Strauss [1955]
1978, S. 230 Hervorhebung im Original). Diese spezifische Beziehung von aktuellem Geschehen und unvergänglicher Geschichte wird maßgeblich von den Medien etabliert, wie auch die Tour selbst eine Schöpfung der
Medien ist.
Die erste Tour de France wurde 1903 von der Sportzeitung L'Auto, der heutigen L’Equipe, veranstaltet. Der
Chefredakteur des Blattes, Henri Desgrange, wollte die Auflagenhöhe steigern. Seitdem findet dieses Radrennen
quer durch Frankreich jeden Sommer statt, von den Kriegsjahren abgesehen. Desgrange wurde Direktor der
Tour und blieb das bis 1936. Auch seine Nachfolger einschließlich des heutigen Chefs, Jean-Marie Leblanc,
kamen aus dem Journalismus.7
Vergleichbar mit einer religiösen Zeremonie wird auch am 28. Juli 1998 die Gründungsgeschichte der Tour de
France in der gebotenen Form rekapituliert. Denn der erste Rennfahrer, der an diesem Tag den Galibier erreicht,
gewinnt das Souvenir Henri Desgrange. Eine Trophäe, die „bei den Kletterern ganz hoch im Kurs steht“
(0:48.00). Der Kommentator führt dann genauer aus:
Souvenir Henri Desgrange, also ein Extrapreis für den ersten, zum Andenken des Gründers
der Tour de France, der ja 1903 diese Frankreichrundfahrt ins Leben rief [...]. Man hat ihn
damals für verrückt erklärt. Ganz wenige Fahrer haben sich gemeldet, und inzwischen, bis
1998 sind fast 4000 Fahrer bei dieser Frankreichrundfahrt an den Start gegangen. 1902 im
November ist diese Projekt der Tour de France hier ins Leben gerufen worden. Schon am
1.Juni 1903 konnte Henri Desgrange seinen Lebenstraum erfüllen, nicht wissend, daß er
mittlerweile das drittgrößte Sportereignis der Welt kreiert hat. (0:49:00)
Auch sonst bieten die „legendären Berge der Tour de France“ (0:26:30) immer wieder die Gelegenheit, an die
Gründerväter zu erinnern:
Ja die [Fahrer knr] sind schon mitten drin im Télégraphe, der übrigens 1911 zum ersten Mal
im Parcours der Tour de France zu finden war. Zusammen mit dem Galibier, auf der Etappe
zwischen Chamonix und Grenoble. Die Tour 1911, die übrigens Gustave Garrigou aus
Frankreich gewann (0:16:45).
Die Zitate zeigen exemplarisch, wie der Off-Kommentar den Mythos der Tour de France konstruiert und forterzählt. Er begnügt sich nicht, das aktuelle Geschehen zu erklären. Er verleiht viel mehr dem allen eine historische Bedeutung. Das aktuelle Rennen vergegenwärtigt die vergangenen Rennen der Tour de France. Diese Etappe wiederholt das Geschehen der vorhergehenden. Wie Garrigou 1911am Télégraphe und Galibier um den
Sieg kämpfte, so kämpfen dort heute Ullrich und Pantani um den Sieg. Zeichenhaft vertreten die Fahrer des
Jahres 1998 all die früheren Heroen der Radsportgeschichte.
Die Voraussetzung dieser Semiotisierungsoperation ist das entsprechende historische Wissen. Seine Vermittlung
ist eine zentrale Leistung des Kommentars. Dazu überschreitet der Kommentator wie ein dämonologischer Erzähler die Grenzen des aktuellen Geschehens und bezieht historische Ereignisse in den Kommentar mit ein.
Bereits die Gestaltung dieses Kommentars zeigt, daß es hier nicht bloß um die Erläuterung der Bilder geht. Dieser Kommentar unterscheidet sich von der üblichen journalistischen Berichterstattung genauso, wie sich das
Geschehen auf und an der Rennstrecke vom üblichen Straßenverkehr unterscheidet.8 Seine zentralen Gestaltungstechniken scheinen viel eher den großen Epen zu entstammen, die die Mythen des Abendlands erzählen.
7
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Tour_de_France [1.1.2005]
Für die Fahrer gelten keine Verkehrsregeln. Viele Fans am Straßenrand tragen keine normale Kleidung, sondern die Trikots der Rennställe oder sind mit den Nationalfarben geschminkt. Manche wie Diabolo, der Star
unter den Fans, sind maskiert.
8
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3.3.Der mythisierende Gestus des Kommentars
3.3.1 Arma virumque cano ...
(Singen will ich von den Kämpfen und dem Mann ...; Vergil, Aeneis, Vers 1)
Dem ersten Anschein nach hat die Sprachgestalt des Live-Kommentars einer Sportübertragung mit der Sprachgestalt eines Epos nicht viel zu tun. Ein Epos ist gebundene Rede. Der Rhapsode ist kein Sprecher, er ist ein
Sänger. Sportkommentatoren verwenden dagegen die Prosa der gesprochenen Sprache. Doch die Spannung in
ihrer Stimme und ihre Emphase unterscheiden ihr Sprechen erkennbar von der Alltagssprache und weisen ihre
Kommentare ebenfalls als eine Form der gehobenen Rede aus.9
Das wird auch von der vorliegenden Übertragung demonstriert. Zwar erlaubt es ihre Länge nicht, dieses Stilmittel fortwährend zu verwenden. Aber die entscheidenden Passagen werden mit markantem Nachdruck kommentiert. „Die Stimme ist Stilmittel. ‘Gasgeben und sich zurücknehmen’ in bewußtem Wechsel analog dem Ereignisverlauf.“ Journalistisch salopp, aber treffend genau beschreibt Hans-Reinhard Scheu diesen besonderen Redegestus eines Live-Kommentars (Scheu 1994, S. 273).
Die Emphase ist nicht das einzige Stilmittel, das an den hohen Ton des Epos erinnert. In den spannenden Momenten prägt ein vergleichbarer rhetorischer Schmuck aus Anaphern, Asyndeta und Metaphern diesen Kommentar.
„Ja er schaut sich um, wer ist noch da? Es ist keiner mehr da. Aldag ist nicht mehr dabei, Bölts nicht mehr dabei,
und irgendwann muß natürlich Jan Ullrich versuchen, die Initiative zu übernehmen“ (1:08:00). So bei einem
Blick Ullrichs während der Attacken am Galibier. Und vor der langen und steilen Abfahrt heißt es: „Da muß
Pantani runter. Da muß Ullrich runter. Da muß Julich runter, und da müssen alle anderen auch runter“ (1:27:32).
An manchen Stellen wie beim Schlußanstieg nach Les Deux Alpes, erreicht der Kommentar poetische Qualität.
„Noch 9 km für Pantani und seine letzten Wegbegleiter. Es wird nicht lange dauern, bis er den anderen davonfliegen wird, mit seiner unnachahmlichen Art, die Berge anzugehen, sie zu erklettern, sie zu meistern“(2:15:27
Hervorhebung KNR).10
Eine besondere Aufmerksamkeit verdient die Metapher „davonfliegen“. Die Rennfahrer treten die Berge nicht
hinauf, sie fliegen hinauf. „Und schauen Sie mal, wie der Adler von Herning - der macht seinem Spitznamen
alle Ehre - fliegt Bjarne Riis heran und in seinem Sog Jan Ullrich“ (1:05:10). Diese Metapher für das Radfahren
ist so oft zu hören, daß man sie für einen Schlüsselbegriff des Kommentars halten muß. Beseitigt sie doch mit
den Mitteln der Sprache den Gegensatz von Mensch und Maschine.
Dieser Gegensatz von Mensch und Maschine ist aber für den Radsport ebenso fundamental wie für die ganze
Kultur der Moderne. Geht man davon aus, daß „das Objekt des Mythos ein logisches Modell liefern soll, um
einen Widerspruch aufzulösen“ (Lévi-Strauss [1955] 1978, S. 253), so erscheint die Tour de France als ein alljährliches Ritual, das die Versöhnung von Mensch und Maschine, Natur und Technik beschwört.
3.3.2. Uns ist in alten maeren wunders vil geseit / von helden lobebaeren ...
(Uns ist in alten Geschichten viel Wunderbares berichtet,
von ruhmreichen Helden ... Nibelungenlied, Vers 1) .
Ebenso archaisch wie die gehobene Sprechweise des Kommentars sind die stereotypen Angaben, mit denen er
die Fahrer charakterisiert. Wie ein Epos die großen Taten seiner Helden immer wieder aufs Neue erwähnt, so
zählt der Kommentar in den entscheidenden Momenten ihre früheren Siege enumerativ aufs Neue auf. Exemplarisch ist die Situation, als sich Pantani erfolgreich von seinen Verfolgern abgesetzt hat.
Und Pantani alleine. So dominierte er in den Dolomiten den Giro d’Ìtalia , so flog er nach
Plateau de Beille hoch, Nichts zu sehen von den Verfolgern. Genau das, was ich vermutet
habe, von Beginn an, ist jetzt eingetreten. Pantani setzt an der steilsten Rampe am Galibier seinen Angriff. --- Escartin ist eingeholt, --- Schauen Sie! Jetzt setzt er sich einen Moment hin um dann sofort wieder aus dem Sattel heraus zu gehen, und das alles mit einer im-
9
Auch das Sprechen des Kommentars unterscheidet sich deutlich von der Alltagsrede. „Mitteilungsbedürfnis
und Mitgehen mit dem Ereignis bedingen, daß 45 Minuten für den Reporter im Nun verfliegen“ (Scheu 1994, S.
274). Diese Beobachtung von Scheu, der selbst als Live-Kommentator arbeitet, erinnert an den Topos der poetischen Begeisterung
10
Poetische Strukturen sind kein Privileg von Dichtung. Erinnert sei an Jakobsons „horrible Harry“. (Jakobson
[1960] 1972 S. 125)
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mensen Beschleunigung. So zermarterte er Alex Zülle beim Giro d’ Ìtalia am Croce Domini Paß, am Fedaiapaß, an der Marmolada, am Sellajoch (1:20:25)
In ähnlicher Weise, wenn auch nicht immer so emphatisch, werden auch bei den anderen Fahrern sofort deren
große Erfolge erwähnt, wenn sie eine besondere Aktion starten. Als aber Pantani seine letzten Kilometer zurücklegt, steigert sich der Kommentar zu einem geradezu hymnischen Gestus:
Il pirata! Auf dem Weg zu seinem 6. Etappensieg und zu seinem ersten Gelben Trikot bei
der Tour de France. [2. Kommentator dazwischen: In seiner Laufbahn ! ] Ja. Ich hab ein
Moment gezögert, aber das ist das erste Gelbe Trikot in seiner Laufbahn. - Zweimal Alpe
d’Huez gewonnen, 1995 und 1997. Ebenso Guzet Neige in den Pyrenäen, Morzine 1997,
Plateau de Beille und jetzt vielleicht: Les Deux Alpes. (2:16:30)
Diese Aufzählung der „Heldentaten“ erfüllt die gleiche Funktion wie die Rekapitulation der Gründungsgeschichte. Sie verbindet das aktuelle Geschehen mit den großen Ereignissen der Radsportgeschichte.
3.3.3. Ανδρα µοι εννεπε, µουσα ...
(Nenne mir Muse den Namen des Mannes,... Homer, Odyssee, Vers 1)
Aber nicht immer ist es nötigt, alle Heldentaten einzeln aufzuzählen. Denn, wenn sich jemand einen Namen
gemacht hat, dann reicht es aus, diesen Namen zu nennen. Dann garantiert bereits der Name die historische
Bedeutung des Augenblicks. Die Bildung einer Marke, so nennt man in der Wirtschaft dieses Prinzip.
Selbstverständlich dienen nicht alle Namensnennungen diesem Zweck. Weitaus öfters erwähnen die Kommentatoren die Namen der Athleten, um die Zuschauer über aktuelle Geschehen zu orientieren. Dazwischen leuchtet
jedoch immer wieder diese archaische Verwendungsweise auf. Zunächst nur als Vergleich:
Jan Ullrich fährt ja ähnlich wie Bernard Hinault früher oder Miguel Indurain ein gleichmäßiges Tempo. Immer sitzt er, geht kaum einmal aus dem Sattel (0:23:00 ).
Dann aber, wenn die Situation an Dramatik nicht mehr zu überbieten ist, geht Jan Ullrich in diese Gemeinschaft
der großen Namen ein. Im Bild ist zu sehen, wie er nach seinem Zusammenbruch total erschöpft von Riis den
Berg hinauf „gezogen“ wird, und der Kommentar führt dazu mit einer eigenartigen Pluralbildung aus:
Er leidet - Bilder, die - wahrscheinlich auch Ihnen zu Hause unter die Haut gehen, meine
Damen und Herren. -- Aber das macht auch einen Champ aus. Das haben sie alle durchgemacht: die Hinaults, die Indurains, die Anquetils, die Eddie Merxs. Alle sind sie so schon
einmal zusammengebrochen auf einer Etappe, auch Bjarne Riis. Da muß er durch, auf dem
Weg ganz nach oben. (2:32:00)
Die besondere Rolle der Namen gipfelt in den Namenskulten, die die Zuschauer und die Journalisten zelebrieren. Mit großen Buchstaben haben die Fans am Galibier die Namen ihrer Favoriten auf die Straße gepinselt. Und
während Pantani bei seiner Attacke über seinen Namen „fliegt“, wechseln die Kommentatoren - nicht ganz
sprachsicher - zu jenem Heldennamen, den ihm die italienische Presse verliehen hat: Il Pirata, der Pirat.
2.Kommentator: Sehen Sie: Namen - Pantani, Ullrich - und jetzt der Kameraschwenk zurück,
1.Kommentator: Da kommt er [ = Pantani] schon,
2.Kommentator: ist an Massi vorbei geflogen,
1.Kommentator: Ja !
2.Kommentator: hat die anderen stehen gelassen.
1. Kommentator: Die Italiener hier oben knallen voll durch, sind voll aus dem Häuschen. El Pirato (!)
aus Cesena, Marco Pantani, der in Italien die Popularität eines Spitzenfußballers hat.
[...] erreicht Rinero 2.Kommentator: und läßt ihn stehen (1:31:30).
Pantanis Beiname11 rührt von seinem Piratenkopftuch her, das er als Sonnenschutz auf seinem Kahlkopf trägt.
Doch wie alle diese Sportlernamen verweist er auf die magische Namensverwendung in den Märchen und den
Mythen. Denn „il Pirata“ ein sprechender Name, der einen entscheidenden Wesenszug seines Trägers besonders
gut zum Ausdruck bringt: „Und in der Tat, wie ein Pirat macht er sich aus dem Staub, mit seiner typischen Fahrweise“ (1:18:42).
11
Bei Pantani wird die typisierende Funktion dieser Beinamen besonders deutlich. Die italienische Presse bezeichnete ihn wegen seiner Ohren zunächst als „Elefantino“ und taufte ihn erst später „il Pirata“.
Renner: Live-Sportkommentator - aktueller Stand: 20.1.2005-
- S. 8 v 13 -
4. Der Live-Kommentator als Nachfahre des dämonologischen Erzählers
4.1. Rahmenerzähler und Live-Kommentator
Auf diese mythisierende Weise rekapituliert der Kommentar den Mythos der Tour de France und fügt ihm
zugleich die Geschehnisse des 27.Juli 1998 als ein neues Kapitel hinzu. Seine sprachliche Gestaltung und das
historische Wissen, das er fortwährend verbreitet, zeigen, daß die Erzählinstanz dieses Textes ihre besondere
Aufgabe darin sieht, Aktualität und Geschichte miteinander zu verbinden. Genauso wie ein Rahmenerzähler
verknüpft der Off-Kommentator Gegenwart und Vergangenheit miteinander.12
Bei einer Rahmenerzählung13 ist diese Gegenwart der Rahmen, aus dem die Erzählsituation erwächst. Und die
Vergangenheit ist die erzählte Geschichte. Beide Ebenen werden durch den Akt des Erzählens aufeinander bezogen und erhellen sich gegenseitig. In ähnlicher Weise projiziert auch die Sportübertragung Gegenwart und
Vergangenheit aufeinander. Allerdings ist die Gewichtung der beiden Ebenen vertauscht. Legt die Rahmenerzählung ihr Gewicht auf die Darstellung des Vergangenen, so konzentriert sich die Live-Übertragung auf das
gegenwärtige Geschehen.
Dies verweist auf eine gegensätzliche Erzählintention. Die Rahmenerzählung erklärt das gegenwärtige Geschehen aus der Geschichte. Die Live-Übertragung erklärt die Gegenwart zur Geschichte. Ihr geht es um die angeblich großen Momente, die die Zuschauer live erleben. Daher überhöht der mythisierende Kommentar das aktuelle Geschehen und historisiert es im Moment seines Zustandekommens. „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen.“ So drückte Goethe 1792, nach der
Kanonade von Valmy, diese Faszination des Historischen aus.
Beide Vermittlungsoperationen hängen am transzendenten Status der Erzählinstanz. Denn sie muß die Grenze
zwischen gestern und heute, zwischen Gegenwart und Vergangenheit überschreiten. Das Kultursystem des
19.Jahrhunderts, in dem die Rahmenerzählung zu Hause ist, kleidet das in die Gestalt einer Grenzüberschreitung
in das Reich der Geister. Und die Nachfahren dieser besonderen Erzähler haben es heute mit dem säkularisierten
Nachfahren dieses Geisterreichs zu tun, dem Geist der Geschichte.
An der Textoberfläche wird die transzendente Position dieser Erzähler durch ihre charakteristischen Attribute
signalisiert. In der Rahmenerzählung ist dies das betagte Alter dieser Figuren. Die Live-Übertragung siedelt
diese Instanz wiederum in einem Raum jenseits der Bilder an. Der Platz des Kommentators ist das Off. Er wird so der Fernsehjargon - zur Stimme aus dem Jenseits.
Geradezu eine Metapher dieser grenzüberschreitenden Fähigkeiten sind die Hinweise auf RadioTour, dem offiziellen Streckenfunk der Tour de France und das Live-Interview per Funktelefon mit dem Begleitfahrzeug von
Ullrich (0:50:00). Das Telefonat selbst ist ziemlich banal. Es bestätigt nur, was die Reporter eh schon sagten.
Doch es demonstriert eindrucksvoll, daß der Aktionsraum der Kommentatoren weit über das hinausgeht, was
man als Zuschauer sieht. Und es unterstreicht, daß das, was diese Kommentatoren sagen, wichtig und richtig ist.
Genauso wie in der Rahmenerzählung ist also auch in der Live-Übertragung die Raumüberlegenheit des Erzählers mit einer Wissensüberlegenheit korreliert. Zwar kennen weder Kommentatoren noch die Rahmenerzähler
den weiteren Fortgang des aktuellen Geschehens. Nichtsdestoweniger agieren sie wie allwissende Erzähler.
So kennen die Kommentatoren nicht nur die früheren Resultate aller Fahrer. Sie wissen auch, daß die Zuschauer
bei Kaffee und Kuchen sitzen (0:1:25). Sie sind sich „sicher, daß Jan Ullrich vorher mit Bjarne Riis im Tal gesprochen hat, daß er gesagt hat: Also Junge, wenn du jetzt nicht mehr kannst, dann fahre ich alleine nach vorne“
(1:11.27). Und wer anders als sie sollte die Lösung des Zuschauerrätsels bekannt geben (1:57:30) ?
4.2. Künstliche Kreaturen und Teufelspakt
Um allerdings den Sportreporter als „legitimen Nachkommen“ des dämonologischen Erzähler aufzuzeigen,
fehlen noch zwei wichtige Ingredienzen: die künstlichen Kreaturen und der Teufelspakt. Es gibt jedoch zwei
auffällige Phänomene, die sehr eng mit dem Sportjournalismus korreliert sind und die man durchaus als modernes Pendant dieser beiden Motive verstehen kann.
12
Es gibt deutliche Indizien, daß auch andere Sportsendungen vergleichbare Strukturen entwickeln. So die vielen Trailer, die historische und aktuelle Aufnahmen kombinieren, oder die zahlreichen Statistiken, die die Ereignisse des Tages mit historischen Leistungen verknüpfen.
13
Das Vergleichsobjekt meiner Überlegungen ist hier Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ (1888).
Vgl. Hoffmann 2004.
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4.2.1. Der Star
Das Modell des dämonologischen Erzählers interpretiert den kreativen Akt des Erzählens als ein Analogon der
natürlichen Reproduktion. Jedes Werk, das durch einen kreativen Prozeß entsteht, wird gewissermaßen zu einem
künstlich hervorgebrachten Kind. Daher kann in diesem Denksystem14 der kulturelle Akt des Erzählens an die
Stelle der natürlichen Fortpflanzung treten.
In diesem Sinne erzeugt der Sportjournalismus ebenfalls künstliche Geschöpfe. Allerdings sind das nicht die
Fernsehübertragungen oder die Zeitungstexte, sondern deren Protagonisten. Es sind jene besonderen Athleten,
die Schlagzeilen machen und um die alle Geschichten immer wieder auf das Neue kreisen. Dadurch werden sie
aus der Welt der normalen Sportler weit entrückt und steigen auf in die Welt der Stars.
Der Star - ob Filmstar, Popstar oder Sportstar - verdankt seine Existenz ausschließlich den Medien.15 Er ist ein
Mensch gewordenes Thema der Berichterstattung. Im Gegensatz zum gewöhnlichen Prominenten scheint ein
Star nicht mehr aus Fleisch und Blut: Er ist ein „Stern“. Diese Metapher faßt alle Eigenschaften in sich zusammen, die ihn von den Sterblichen unterscheiden.
Er ist (1.) für jedermann von überall aus sichtbar [...] Der Star zeichnet sich (2.) durch eine
besondere Leuchtkraft, Ausstrahlung und Aura aus [...]. Er steht (3.) immer über dem Betrachter und befindet sich nie auf einer Augenhöhe [...]. Er ist (4.) nah und fern zugleich [...].
Des Weiteren ist er (5.) vom Betrachter nicht greifbar, kann nicht persönlich besessen werden. Er gehört (6.) in eine ferne Welt, die sich zum Tagträumen anbietet [...]. Der Betrachter
sieht (7.) lediglich den Schein eines Sternes, dessen Leuchten jedoch eine Form der optischen Täuschung sein kann, da manche Sterne zeitgleich zu kaltem Gestein erstarrt sind. Das
zum Zeitpunkt der Rezeption Sichtbare, ist bereits ein konserviertes Bild, das sich von seinem Original gelöst hat (Schneider 2004, S, 72 f.).
Auch die Live-Sendung der 15. Etappe konzentriert sich zusehend auf die Stars. Zeigt die Regie zunächst das
Geplänkel zwischen den Ausreißern und den Verfolgern, so verdichtet sie durch ihre Bildauswahl das Rennen
dann auf einen Zweikampf zwischen Ullrich und Pantani.
Besonders deutlich wird diese Intention des visuellen Erzählers in der Schlußpassage, als die Live-Bilder des
unterlegenen Ullrich immer wieder mit aufgezeichneten Zeitlupenbildern der Zieleinfahrt Pantanis gegen geschnitten werden. Wie die Rhythmusgruppe einer Jazzcombo gibt hier das Bild das Thema vor, über das der
Off-Kommentar dann seine Solos legt. In den Bildern kommen einem dabei die Stars greifbar nahe, während sie
der Kommentar im gleichen Moment in unerreichbar weite Ferne rückt:
Marco Pantani kann eingehen in die Radsportgeschichte seines Landes, aufsteigen zu einem
ganz großen Campionissimo, wie die Italiener sagen, wie Bartali und wie Fausto Coppi
(2:18:30).
Doch seine Leuchtkraft, Ausstrahlung und Aura verdankt der Star nicht bloß seinen Siegen. Jemand, der immer
siegt, über den kann man nicht viel Neues mehr erzählen.16 Es ist der Schmerz der Niederlage, die Finsternis der
Katastrophe, die den Glanz eines Stars erst voll zum Erstrahlen bringt.17
Was gibt der Gas da vorne. Marco Pantani, [...] Er ist schon toll drauf. 94, bei seiner ersten
Tour de France wurde er Dritter. Im letzten Jahr wieder Dritter. Dazwischen: über 18 Monate verletzt, nach diesem fürchterlichen Crash, als ihm bei Mailand - Turin ein Jeep entgegenkam und ihn über den Haufen fuhr (1:25:50).
Vor diesem Hintergrund bekommt Ullrichs Zusammenbruch seinen besonderen Sinn. Seine Qualen sind die
obligatorische Leiden, die ein Athlet bei seiner Initiation zum Star ertragen muß.
Und ich glaube, es müssen auch Niederlagen kommen, für einen jungen Mann wie Jan Ullrich. Ich glaube, daran wächst man für die Zukunft, um dann wieder in den Erfolg hineinzufahren. Was hat dieser Mann [Das Bild zeigt Pantani groß.] hinter sich. Dritter 1994, 18 Monate praktisch mit schwersten Verletzungen ans Krankenbett gefesselt, und dann ist er zu14
Zum Begriff „Denksystem“ vgl. Titzmann 2003, S. 3093 f.
Das gilt für den einzelnen Star wie für das Starwesen als Ganzes. Es entwickelt sich im Umfeld des Theaters
und wird von Hollywood für kommerzielle Zwecke adaptiert. Vgl. Schneider 2004, S. 66 ff.
16
So sind die Dauersiege von Michael Schuhmacher für den Automobilrennsport inzwischen zu einem Problem
geworden.
17
Auch Lance Armstrong bestätigt diese Regel. Er fehlte 1998, weil er - wie es der Kommentr erwähnt - in
diesem Jahr noch gegen seine Krebserkrankung kämpfte. Bezeichnend ist weiterhin, daß Jan Ullrich nach
seiner Formkrise von den deutschen Sportjournalisten 2003 zum Sportler des Jahres gewählt wurde.
15
Renner: Live-Sportkommentator - aktueller Stand: 20.1.2005-
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rückgekommen, [Der zweite Kommentator]: was ja keiner geglaubt hat, alle haben wir doch
gedacht, der wird nie mehr radfahren. Er hatte ja wirklich fürchterliche Verletzungen, offene
Brüche [...] (2:26:40).
Diese Funktion der Niederlage verleiht der Tour de France ihren besonderen Ruhm als Tour der Leiden. Die
Pässe der Alpen und der Pyrenäen, das sind der Orte, an denen die Athleten zum Firmament der Stars aufsteigen
und Träume wirklich werden.
[Bild: Pantani kommt ins Ziel. Nahaufnahme. Erste Zeitlupenwiederholung der Zieleinfahrt, unmittelbar nach der realen Zieleinfahrt] Jetzt schlagen natürlich die Wogen der Begeisterung über Marco
Pantani zusammen. Schauen Sie mal auf die Beine: Viele, viele Wunden und Flecken sind da von
den Stürzen bei der Tour de Swiss, bei der Tour de France, bei Mailand - Turin, am Ende seines
Traumes, endlich in Gelb fahren zu können (2:37:08).
Irgendwann freilich müssen die Sportstars den Zenit verlassen. Auch sie werden alt, verlieren ihre Kräfte, haben
dann keine Chancen mehr auf einen Sieg. Dann treten sie in die Fußstapfen ihrer künstlichen Erzeuger. Sie werden Trainer, Clubmanager. Oder sie konservieren ihre frühere Existenz durch ihr Erzählen und werden ebenfalls Sportkommentatoren.
4.2.2. Redeverbote
Bleibt der Teufelspakt...
Am 15. Februar 2004 wurde Marco Pantani in einem Hotel nahe seiner Heimatstadt
Cesenatico tot aufgefunden. Neben seinem Leichnam lagen Tranquilizer und Medikamente. Spätestens seitdem
man ihn 1999 beim Giro d’Italia wegen eines zu hohen Hämatokrit-Wertes sperrte, war er ein schwarzer Stern.
Ein zu kaltem Gestein erstarrter Star.
Es deutet alles auf einen Selbstmord hin. Der mehrfach wegen Dopings angeklagte Pantani
litt seit einiger Zeit unter Depressionen und zunehmender Vereinsamung
(www.radsportnews.net).
Den Ermittlungen zufolge starb Pantani an einer Überdosis Kokain.18 In vergangenen Zeiten hätte man dieses
deprimierende Ende eines großen Sportlers durchaus als Einlösung eines Teufelspaktes interpretiert. Denn nicht
anders als der Teufel früher, verspricht das Doping heute den sicheren Erfolg mit Hilfe illegaler Mittel. So wie
der Böse einst der Feind des Guten war, so verkörpert das Doping das böse Gegenprinzip in der heilen Welt des
Sports.
Noch eine zweite Gemeinsamkeit verbindet das Gestern mit dem Heute. Durfte man in früheren Zeiten den Gottseibeiuns nicht beim Namen nennen, so versucht man heute, das Thema Doping auf eigenartige Weise tot zu
schweigen. Nicht daß darüber nicht berichtet würde, aber in der Live-Übertragung vom 27. Juli 1998 wird das
Thema Doping genau ein einziges Mal angesprochen: exakt eine Minute und fünf Sekunden bei insgesamt fast
drei Stunden Sendezeit (vgl. 0:43:09 - 0:44:14).
Diese Relation ist deswegen so bemerkenswert, weil das Doping während der Tour de France 1998 das zentrale
Thema in allen Medien ist. Denn das ist die berüchtigte Skandaltour 98, bei der ein Skandal den anderen jagt
und alles dann im Fahrerstreik während der 19 Etappe eskaliert.
Bereits vor dem Beginn der Tour wurde von der französischen Polizei ein Begleiter des Festina -Teams verhaftet, weil man in seinem Mannschaftsfahrzeug „über 400 Ampullen und Falschen mit EPO und anderen DopingSubstanzen“ fand (http://radsport-news.com/news/skandal1.htm). Nach langem Leugnen gestand dann auch der
Sportdirektor von Festina gegenüber der Polizei, daß es in seinem Team ein organisiertes Doping gab. Daraufhin
wurde am 18. Juli zum ersten Mal in der Geschichte der Tour eine ganze Mannschaft disqualifiziert. Aber der
Skandal nahm damit kein Ende. Am 24. Juli, also drei Tage vor unserer Etappe, meldet radsport-news.com:
Die 85. Tour de France wird immer bizarrer. Rennfahrer und Sportdirektoren werden reihenweise verhaftet. Fernseh-Reporter suchen im Müll vor den Teamhotels nach Spritzen. Am
Freitag ging es in dieser Tonlage weiter. Ein Fahrerstreik entzweite das Peloton: Die einen
wollten die 12. Tour-Etappe absagen aus Protest gegen die „Behandlung wie Vieh“, die anderer wollten sie unbedingt fahren (http://.radsport-news.com/news/tdf12.htm)
Vergleicht man die damalige Präsenz des Themas Doping mit seinem Stellenwert in der Live-Übertragung, so
kann man daraus nur schließen, daß hier ein ungeschriebenes Redeverbot existiert, so daß man im Rahmen einer
solchen Sendung dieses Thema nicht erwähnen kann.
18
Vgl. o. V. Anklage im Fall Pantani. SZ 24./25./26. Dez. 2004.
Renner: Live-Sportkommentator - aktueller Stand: 20.1.2005-
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Doping ist aber nicht das einzige wichtige Thema, bei dem ein solches Redeverbot existiert. In der Übertragung
werden auch alle Informationen ausgeblendet, die darauf hinweisen könnten, daß es bei hier nicht nur um Sport,
sondern auch um wirtschaftliche Interessen geht. Die Kommentatoren, die sonst alles wissen, wissen zu den
finanziellen Aspekten der Tour de France nichts zu sagen. Sie kennen weder die Kosten der Fernsehübertragung
noch die Umsatzsteigerungen in den Etappenorten. Sie schweigt zur Finanzierung der aufwendigen Trainingszeiten, sagen nichts zu den Ausrüstungskosten und zum Gehalt der Fahrer.
Dieses Tabu gilt auch für den visuellen Erzähler.19 Die kilometerlange Werbekolonne vor den Fahrern ist in den
Übertragungen nie zu sehen. Glaubt man den Bildern, so findet dieses Rennen einzig und allein in der grandiosen Kulisse Frankreichs statt. Selbst die Firmennamen auf den Trikots der Fahrer scheinen keine Werbung, da in
diesem durch und durch kommerzialisierten Sport diese Firmennamen die Namen der jeweiligen Rennställe
sind.
Kaum weniger als das Doping stellen auch diese kommerziellen Aspekte die Autonomie des Sports in Frage.
Denn in unserem Denksystem gilt der Sport als eine in sich selbst sinnvolle Beschäftigung. Diese Vorstellung
verträgt sich nicht mit der Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen. Nicht von ungefähr gilt der Amateur, der
den Sport zum Inhalt seiner Freizeit macht, als das Ideal des Sports. Der Kommerz degradiert dagegen nach
diesem Denken den Sport zu einem Zirkus, in dem die Leistungen der Athleten nur noch abgesprochene Showeffekte sind.
So gesehen haben weder Pantani noch die Festina-Fahrer den Teufelspakt abgeschlossen. Abgeschlossen hat ihn
bereits Henri Desgrange, als er zur Auflagensteigerung seines Blattes 1903 die Tour de France ins Leben rief.
Dieser Pakt wird so lange fortbestehen, so lange die Sportjournalisten diesen Wettkampf zu einen Mythos stilisieren. So lange sie ein Wirtschaftsunternehmen mit einer Ideologie verbrämen, die aus professionellen Athleten
Recken einer längst vergangenen Vorzeit macht.20
5. Schlußbemerkungen
Ich habe hier den Typ des dämonologischen Erzählers ähnlich wie eine Metapher als ein Modell verwendet, um
damit die spezifischen Leistungen des Off-Kommentators in der Live-Übertragung von Sport-Großereignissen
zu beschreiben. Dieses Vorgehen führt nicht nur zu neuen Einsichten. Es wirft auch theoretische Probleme auf,
die zu weiteren Überlegungen Anlaß geben.
Da ist der doppelte Transfer dieses Modells. Es entwickelt sich im Rahmen der Literatur und wird von mir auf
die journalistische Medienkommunikation in einem audiovisuellen Mediums bezogen.
Der Transfer zwischen den beiden Kommunikationsgattungen läßt sich damit rechtfertigen, daß die Sprechhandlung des Erzählens hinsichtlich der Opposition „authentisch vs. fiktional“ nicht markiert ist.21 Die weiter
Fragen betreffen die Erzählerfiguren. Ein literarischer Autor kann sie durch das Mittel der Fiktionalität von
seinem Ich abspalten, der journalistische Autor dagegen nicht, was seine Erzählmöglichkeiten vermutlich sehr
beschränkt.
Der Transfer in das audiovisuelle Medium Fernsehen wirft die Frage auf, inwieweit der „Mann am Mikrofon“
ein Erzähler und nicht nur ein Kommentator ist. Denn anders als der „Hörfunkmann, der mit seiner NonstopÜbertragung für den Rezipienten erst jenes ‘Bild’ des Ereignisses schafft“, liegt dem Fernsehreporter dieses Bild
„bereits ohne einen Mucks des Journalisten“ vor (Scheu 1994, S. 250). Eine Antwort bietet die Erkenntnis, daß
der Off-Kommentar das Bild nicht eins-zu-eins beschreibt, sondern Platz für Einordnungen und ergänzende
Kommentare läßt.22 Über diese sprachlichen Informationen wird dann eine spezifisch sprachliche Erzählerperspektive aufgebaut. Notwendig wird damit aber eine Klärung der Beziehungen zwischen dem Off-Kommentator
als den sprachlichen und dem Regisseur als dem visuellen Erzähler.
Zentral ist aber die Frage, wie diese deckungsgleichen Erzählstrukturen der Literatur und des Sportjournalismus
zu erklären sind. Denn eine bewußte Übernahme ist alles andere als wahrscheinlich. Einen Ansatz zur Erklärung
ist wohl in der spezifischen Sprechsituation des Live-Kommentators zu suchen. Hier fallen erzählte Zeit und
Erzählzeit vollständig zusammen. Der Kommentator spricht in dem Moment, in dem er das Gesprochene erlebt.
19
Das wird schlagartig deutlich, wenn man die Live-Übetragung 1998 mit der Dokumentation Tortur de France. Bericht über eine Radrundfahrt vergleicht, die Dieter Ertel 1960 für die ARD Reihe Zeichen der Zeit drehte,
um „ hinter die Kulissen der Monstre-Veranstaltung zu sehen“ (K. Hoffmann 1996, S.130).
20
Bezeichnend ist der bizarre Vorwurf des Verrats, den sich Jens Voigt bei der Tour de France 2004 vom ARDKommentator gefallen lassen mußte, als er entsprechend seiner Team-Order das gegnerische Team von Ullrich
behinderte. Vgl. Rene Martens (2004): Schwache Leistung. - in: journalist 10/2004, S. 33 f.
21
Vgl. Kanzog 1976, S. 12.
22
Vg. Renner 2001.
Renner: Live-Sportkommentator - aktueller Stand: 20.1.2005-
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Er hat keinen Abstand zum Geschehen, kann das was er sagt, nicht reflektieren. Live-Kommentatoren, so ist zu
vermuten, müssen daher mehr oder minder bewußt übernommene Erzählstrukturen aktivieren, um so spontan zu
reagieren, wie man es von ihnen verlangt.
Spezifisch ist die Sprechsituation eines Live-Kommentators aber auch deswegen, weil er zentrale Leistungen für
den Erfolg der Medienunternehmen erbringt, für die er arbeitet. Ob privater Sender oder öffentlich-rechtlicher,
hier steht immer sehr viel Geld auf dem Spiel. Daher wird in dem Moment, in dem sich diese Unternehmen als
Unterhaltungsindustrie verstehen, die Unabhängigkeit der Journalisten suspendiert, die fürs Fernsehen arbeiten.23
Deutlich wird auch, daß der Begriff der Unterhaltung viel zu pauschal ist, um die besonderen Gestaltungsstrategien des Sportjournalismus genauer zu erfassen. Hier bietet die Literaturtheorie viele feinere Analyseinstrumente
an, von denen die Journalistik nur Nutzen haben kann.
23
Dieser Zusammenhang blitzt auch in dem heftigen Streit zwischen Fernseh- und Zeitungsjournalisten auf, der
gegenwärtig das Lager der Sportjournalisten entzweit (vgl. die entsprechenden Artikel in: Sportjournalist 2004,
Nr.10 und Nr.12)
Renner: Live-Sportkommentator - aktueller Stand: 20.1.2005-
- S. 13 v 13 -
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Weitere Materialien
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http://de.wikipedia.org/wiki/Tour_de_France [1.1.2005].
René Martens (2004): Schwache Leistung. - in: journalist 10/2004, S. 32 -34
Sportjournalist 2004 Nr. 10 Nr.12
o. V. Anklage im Fall Pantani. SZ 24./25./26. Dez. 2004.