2011-11-18 Hamburger Abendblatt

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Kirche - Missbrauchskandal: "Für die Opfer gibt es keinen Schluss" - S...
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STORMARN
KIRCHE
Maya Engelmann 18.11.2011, 06:00 Uhr
Pastorin kritisiert in Ahrensburg Verhalten der Kirchenführung im
Missbrauchsskandal - und bekommt Applaus in der Schlosskirche
Wolfgang Meißner und Wiebke Ehlert (beide 63) aus Ahrensburg protestieren vor der
Schlosskirche gegen das Redeverbot der Kirchenvertreter
Foto: Maya Engelmann
AHRENSBURG. "Für
Ahrensburger
MissbrauchÜberlebende ist heute
kein Tag für Buße. Ihr
habt ein Leben lang
gelitten, habt euch
geschämt für was ihr
euch nicht zu schämen
braucht. Es ist ein Bußund Bettag für die
Kirche". Pastorin
Susanne Jensen fand
beim Gottesdienst in
der voll besetzten
Ahrensburger
Schlosskirche deutliche
Worte für die Opfer des
Missbrauchsskandals in der Gemeinde.
"Das Thema sexueller Missbrauch berührt uns alle, und ich möchte Sie einladen,
innezuhalten. Wir sollen die Vergangenheit ansehen und nicht verdrängen, erst dadurch
werden Schritte in die Zukunft möglich", sagte Pastorin Anja Botta, die den Gottesdienst
leitete. Darum ging die Kollekte an diesem Abend auch an den Verein "Missbrauch in
Ahrensburg", dessen Ziel die vollständige Aufklärung der Geschehnisse ist. Pastor Dieter
Kohl hatte nach dem Geständnis, in den 70er- und 80er-Jahren Kinder und Jugendliche
missbraucht zu haben, seine Entlassung aus dem Dienst beantragt. Vorwürfe gibt es zudem
gegen Pastor Friedrich H.
Vereinsmitglieder fordern vom Bischof Ende des Redeverbots für Pastor Haak
Noch sei die Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht abgeschlossen, die genauen
Umstände seien weiter unklar. "Ihr wartet schon so lange, habt schon so lange um Hilfe
gerufen", sagte Pastorin Jensen, die selbst jahrelang von ihrem Vater missbraucht wurde.
18.11.2011 15:22
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Die Kerze, die sie beim Ahrensburger Buß- und Bettagsgottesdienst vor einem Jahr mit nach
Hause genommen habe, bleibe unangezündet. "Denn noch ist kein Licht, keine Aufklärung.
Immer noch sind keine Verantwortlichen bekannt", sagte Jensen.
In Leitungspositionen werde geschwiegen. "Die ,Titanic' ist gegen den Eisberg gefahren
wegen fataler Fehleinschätzung auf der Kommandobrücke. Ich schaue genau auf die
Kommandobrücke in Kiel, da muss es Verantwortung und Mitentscheider gegeben haben",
sagte Jensen.
Vor der Kirchentür protestierten die Ahrensburger Wolfgang Meißner und Wiebke Ehlert,
beide 63, mit einem Plakat gegen das Schweigen der Kirchenvertreter. Meißner: "Bischof
Ulrich sagte, die Wahrheit brauche offenen Raum. Doch da gibt es eine Diskrepanz zur
Realität, in der Pastor Haak klagen muss, um reden zu dürfen." Der Ahrensburger Pastor
Helgo Matthias Haak streitet mit dem Kirchenamt darüber, ob er öffentlich sagen darf, was
er über den Fall weiß. "Ich bemühe mich seit eineinhalb Jahren darum, dass ich reden darf.
Es muss generell geklärt werden, was ein Pastor sagen darf. Ich kann aber jetzt schon
sagen, dass ich zur Wahrheitsfindung beitragen kann", sagte Haak nach dem Gottesdienst.
Pastorin Jensen erklärte in ihrer Predigt, auch sie sei eingeschüchtert worden. Vor einem
Jahr habe ein Kirchenvertreter zu ihr gesagt, sie dürfe sich nicht öffentlich zu Missbrauch
äußern, bevor sie ihrem Vater nicht vergeben habe. "Doch ich habe mich nicht
einschüchtern lassen von der bevormundenden und belastenden Äußerung", sagte Jensen.
Diesmal habe ein Kirchenmann ihr geschrieben, es sei Zeit für Deeskalation. "Aber es kann
doch keinen Neubeginn mit Leichen im Keller geben und kein Teppich über die
lebenslangen Leiden der Menschen gelegt werden", sagte Jensen. Verantwortliche müssten
endlich benannt werden. "Wir lassen uns nicht unter den Teppich kehren!", rief die Pastorin
den Gottesdienstteilnehmern zu. Sie forderte die Ahrensburger zum Kämpfen auf: "Hinter
den Missbrauch-Überlebenden liegt eine tiefe Nacht. Ich möchte sie ermutigen. Mut und
nicht Demut, Mut zum Leben und Mut zum Aufstehen."
Der Kirche wirft sie vor, eigene Interessen vor die der Opfer zu stellen. "Das Leid der
Menschen wurde abgewogen und als zu leicht befunden gegenüber dem äußeren
Erscheinungsbild der Kirche. Das ist unmoralisch und unevangelisch", sagte Jensen.
Eindringlich fordert sie die Entscheider zum Handeln auf. "Die Kirche steht und fällt damit,
wie sie mit dem Skandal umgeht. Sie lebt von Menschen, die Verantwortung übernehmen",
sagte Jensen.
Tosender Applaus begleitete die sichtlich aufgewühlte Pastorin, die sich nach ihrer
flammenden Rede erst einmal zurückziehen musste. "Die Predigt war grandios, schneidend
und eindrucksvoll. Sie hat deutlich ihre Meinung gesagt", sagte Sigrid Steinbeg, 74. Sie
blieb mit einem Großteil der Gottesdienstbesucher noch zum anschließenden Austausch in
der Kirche.
"Wir sind eine veränderte Gemeinde", sagte Pastor Detlev Paschen, Vorsitzender des
Kirchenvorstands, zu Beginn der Diskussionsrunde. "Es gibt viele unbeantwortete Fragen.
Doch wir stehen an der Seite von Missbrauch-Überlebenden, wir versuchen zu verstehen,
was passiert ist."
Eine der häufigsten Fragen: Hätten es nicht alle wissen müssen?
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Auch wenn in der Vergangenheit noch vieles aufzudecken sei, habe die evangelische Kirche
in Ahrensburg doch einiges für die Zukunft getan. "Wir sind vor allem in präventiven
Maßnahmen weitergekommen, verlangen ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis. 30
Jugendgruppenleiter wurden intensiv zu dem Thema geschult, und
Selbstverpflichtungserklärungen wurden unterzeichnet", sagte Paschen.
Die sogenannte Krisen-Arbeitsgemeinschaft im Kirchenvorstand hatte für den Abend Plakate
vorbereitet, auf denen die häufigsten Anfragen der Bürger zu lesen waren. Ganz oben auf
der Liste: "Wenn es einige gewusst haben, hätten es dann alle wissen müssen oder
können?" Darüber diskutierten die Gäste genauso wie über die Aussagen "Endlich kann ich
darüber sprechen" und "Es passiert ja doch nichts". In einem waren sich alle einig: Auf die
Forderung "Es muss doch endlich mal Schluss sein" lautete die Antwort: Für die Opfer gibt
es keinen Schluss.
Weiterführende Links
Pastor Haak klagt und bewirbt sich(http://www.abendblatt.de/region/stormarn/article2097757/Pastor-Haak-klagtund-bewirbt-sich.html)
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