text zu medusa
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Das Floß der Medusa, Wort in den Tag Dierk Schäfer Bildfolge 1 Das Floß der Medusa - von Maler Théodore Géricault Das Bild ist in den Jahren 1818-1819 entstanden, hängt im Louvre und hat die gewaltigen Ausmaße von 4,91 x 7,16 m. Ein notdürftig zusammengezimmertes Floß treibt auf der stürmischen See, bedeckt mit Leichen und erschöpften Schiffbrüchigen. In einer letzten Kraftanstrengung türmen sich die Überlebenden zu einer Pyramide auf, an deren Spitze einer von ihnen ein Tuch schwenkt, um das am Horizont erscheinende Schiff auf sich aufmerksam zu machen. Die Hintergründe Diese schreckliche Szene hat ein reales Vorbild. Im Jahre 1816 stach die französische Fregatte Medusa gen Senegal in See. Als modernstes und schnellstes Schiff ihrer Zeit sollte sie die westafrikanische Kolonie wieder in Besitz nehmen, die England an Frankreich zurückgegeben hatte. Die Medusa stand unter dem Kommando von Hugues Du Roy de Chaumareys, dessen Königstreue mit einem Kapitänsposten belohnt worden war, obwohl er keinerlei nautische Erfahrung vorweisen konnte. Die Katastrophe blieb nicht aus: Navigationsfehler und Fahrlässigkeit ließen die Medusa zwei Wochen später bei ruhiger See und guter Sicht auf eine in allen Seekarten verzeichnete Sandbank nahe der afrikanischen Küste auflaufen. Nachdem man sich zwei Tage lang vergeblich um eine Reparatur bemüht hatte, wurde die Räumung des Schiffes angeordnet. Mit 400 Insassen befanden sich jedoch mehr Personen an Bord, als die Rettungsboote fassen konnten. Der neubestellte Gouverneur, der Kapitän und die höheren Offiziere drängten sich in die wenigen Rettungsboote, während die restlichen 150 Passagiere mit einem eilig zusammengezimmerten Floß vorlieb nehmen mußten, welches mit Tauen an Land gezogen werden sollte. Zwei Stunden später wurden die Taue gekappt und das Floß sich selbst überlassen. Die einzige Kiste Schiffszwieback war nach einem Tag verzehrt, der Wasservorrat ging in der ersten Nacht von Bord; übrig blieben einige Fässer Wein. Da das Floß an den Rändern ins Wasser hing, versuchten alle einen Platz in der Mitte zu erwischen, die jedoch schon von den bewaffneten Beamten und Offizieren besetzt war – den Matrosen hatte man die Waffen 1 abgenommen. In der ersten Nacht verschwanden zwanzig Matrosen, in der zweiten Nacht starben weitere 65 Männer. Die Geretteten behaupteten später, eine Meuterei wäre ausgebrochen, und sie hätten die Wahnsinnigen nur mit Gewalt an der Zerstörung des Floßes hindern können. In Wahrheit hatten die Offiziere wohl die Gelegenheit genutzt, die Konkurrenz um Wein und gute Plätze zu verringern. Nach dem vierten Tag wurde die Weinration durch Urin und Meerwasser ergänzt. Bereits nach dem dritten Tag kam es zu Kannibalismus, wie der Schiffsarzt Savigny später bezeugte: »Diejenigen, die der Tod verschont hatte, stürzten sich gierig auf die toten Körper, die das Floß bedeckten, schnitten sie in Stücke, und einige verzehrten sie sogleich. Ein großer Teil von uns lehnte es ab, diese entsetzliche Nahrung zu berühren. Aber schließlich gaben wir einem Bedürfnis nach, das stärker war als jede Menschlichkeit. Wir sahen in dieser gräßlichen Mahlzeit das einzige bedauerliche Mittel, unsere Existenz zu verlängern.« Nach einer Woche waren nur noch 28 Personen am Leben. Savigny schrieb später: »Von dieser Zahl schienen nur 15 imstande, einige Tage weiterzuexistieren, alle anderen waren mit schweren Wunden bedeckt und hatten ihren Verstand völlig verloren. Nach einer langen Beratung beschlossen wir, sie ins Meer zu werfen.« Savigny nahm die Auswahl der Opfer vor und schrieb später eine Doktorarbeit über „Die Wirkung von Hunger und Durst bei Schiffbrüchigen“. Nach 13 Tagen wurde die Floßinsassen durch die Brigg Argus geborgen. Von den 15 Geretteten starben fünf bereits an Bord der Argus, weil sie zu schnell zu viel Nahrung zu sich nahmen. Der Fall wurde zunächst nicht an die Öffentlichkeit getragen, bis im Herbst 1817 ein Bericht von zwei Überlebenden erschien, Henri Savigny und Alexandre Corréard. Mit ihrem Bericht wollten sie eine Entschädigung der Opfer erreichen, statt dessen wurden sie aus dem Staatsdienst entlassen und mit Strafgeldern sowie einer Gefängnisstrafe belegt. Die Affäre ließ sich jedoch nicht mehr vertuschen; französische Zeitungen befaßten sich monatelang mit dem Thema. Unter dem Druck der Presse und der Öffentlichkeit wurden schließlich der zuständige Minister und 200 Marineoffiziere entlassen. Unter dem Eindruck dieses Skandals nahm sich der französische Maler Théodore Géricault kurz darauf des Themas an. 2 Die andauernde Wirkung Das Bild übt eine merkwürdige Faszination aus. Es ist nach der Mona Lisa wohl das bedeutendste Bild im Louvre und wurde vielfach von anderen Künstlern aufgegriffen und für unterschiedliche Zwecke verwendet: 1967 parodierten Albert Uderzo und René Goscinny in ihrem Asterix-Band Asterix als Legionär das Bild. 1968 schrieb der Komponist Hans Werner Henze ein szenisches Oratorium mit dem Titel „Das Floß der Medusa“. In seinem 1975 erschienenen Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ reflektiert Peter Weiss neben der Geschichte vieler anderer Kunstwerke Darstellungsstil und -absicht des Bildes sowie dessen Rezeptionsgeschichte. 1985 wurde das Werk von einer Musikgruppe als Vorlage für das Cover ihres Albums benutzt. Dabei wurden die Gesichter der Bandmitglieder in das Bild eingearbeitet. In seinem 1989 erschienenen Roman „A History of the World in 10 1/2 Chapters“ widmet der britische Schriftsteller Julian Barnes das fünfte Kapitel, „Shipwreck“, dem Bild und dessen Entstehungsgeschichte. 1998 kam der Film Le radeau de la Méduse von Iradj Azimi in die französischen Kinos, der die Entstehung und die Hintergrundgeschichte thematisiert. 2006 erschien ein Nachdruck der Aufzeichnungen des Schiffsarztes in einem deutschen Verlag (Matthes § Seitz). Auch die bildende Kunst bearbeitete das Thema: Beispiele Bildfolge 2-4 Was macht die Faszination aus? Géricault hatte in einer anderthalbjährigen Recherchephase zwei Überlebende, den Schiffsarzt und den Geographen befragt, sich ein Modellfloß bauen lassen und sich sogar Leichenteile in verschiedenen Verwesungsstadien beschafft. Doch obwohl er alle Informationen für ein realistisches Zeugnis gesammelt hatte, malte er anders. Das Endresultat ist idealisiert – die Schiffbrüchigen sind nicht abgezehrt genug, die Leichen nicht authentisch dargestellt; zudem wählte Géricault zeitlose Kostüme. Auch das dramatisch-stürmische Wetter entspricht nicht den historischen Fakten, denn in Wahrheit herrschte schönster Sonnenschein. 3 Bildfolge 5 Mit der sich aus der Aufgipfelung der Schiffbrüchigen ergebenden Pyramidenform wählte Géricault eine gewollt klassische Kompositionsform. Tatsächlich war sein Ziel nicht eine realistische Darstellung, sondern eine kunstvoll aufgebaute Monumentalität. Bildfolge 6 Der kunstvolle Aufbau zeigt sich besonders in der Abstufung von der Basis zur Spitze der Pyramide, von der Region des Todes, übrigens der Standpunkt des Betrachters, über die Region der Trauer, zur Region der Verzweiflung und schließlich der der hoffenden Aktivität. In den Gesichtern der Schiffbrüchigen lesen sich Angst, Freude, Enttäuschung und Resignation. Bildfolge 7-10 Géricault hatte in seinem Atelier die komplette Szene nachgebaut und sich dabei von Überlebenden des historischen Dramas beraten lassen. Aber sein Bild geht weit über die konkreten Ereignisse hinaus: Peter Weiß schreibt in der „Ästhetik des Widerstands“: »Wie vom Blick eines Ertrinkenden war das Floß gesehen, und die Rettung war so entlegen, daß es schien, als müsse sie erst erdacht werden. Eine Täuschung, eine Halluzination konnte diese auftauchende Hilfe sein. Aus der vereinzelten Katastrophe war das Sinnbild eines Lebenszustands geworden«. Bildfolge 11 Die Wirkung auf Géricaults Zeitgenossen Géricault stellte „Das Floß der Medusa“ im Pariser Salon von 1819 aus, wo es unter dem weniger verfänglichen Titel „Schiffbruchszene“ geführt wurde. Dennoch erinnerten sich die Besucher sehr wohl an den realen Anlaß der Szene und reagierten zumeist wenig begeistert. Der Salon sollte in diesem Jahr vor allem Stabilität und Prosperität der Nation unter den 1814 auf den Thron zurückgekehrten Bourbonen demonstrieren. Inmitten der Regime und Kirche 4 huldigenden Kunstwerke nahm sich Géricaults „Floß der Medusa“ hingegen als offene Provokation aus, die an einen Skandal erinnerte, den die Regierung lieber vertuscht hätte. Das Floß der Medusa und die Schiffbrüchigen von Lampedusa So geriet ein Tagesereignis mit weiterreichender Bedeutung zum Sinnbild. Die Namen der beteiligten Schiffe mögen diese Bedeutungsgeschichte des Bildes unterstützt haben. Medusa, das ist eine der Gorgonen, ein Monster aus der griechischen Mythologie. Der Anblick ihres von Schlangen umgebenden Hauptes versteinerte jeden, der sie ansah. Und das rettende Schiff Argo hat seinen Namen vom Schiff der Argonauten erhalten, dahinter steht die Geschichte vom Goldenen Flies und von Jason und Medea – eine Geschichte, die auch nicht gut ausging. Wenn man ein solch altes Bild mit seinem historischen Hintergrund und seiner zeitlosen Bedeutung heute als Grundlage für ein „Wort in den Tag“ nimmt, dann nicht so sehr aus kunsthistorischem Interesse. Es ist nur ein Zufall, daß sich Medusa auf Lampedusa reimt. Aber wer die Bilder heutiger Bootsflüchtlinge sieht, die versuchen, Europa zu erreichen, oder die Meldungen von den Menschen hört, die sich in stickige Frachtcontainer einschließen lassen, der sieht die Parallelen. Auch wer kritisch – also nicht nur unter dem Aspekt der eigenen Besitzstandswahrung – wer also kritisch sich die Transformation unseres Sozialstaates anschaut, dieses allgemeine „Rette sich wer kann“, wobei es gar nicht um das Leben, sondern nur um das komfortable Leben geht, der versteht, daß Géricault mit seinem „Floß der Medusa“ ein wahrhaftes Sinnbild, eine Ikone des im Zweifel auch zu Kannibalismus bereiten Menschseins geschaffen hat, eine Medusa, deren Anblick versteinert. Aber Medusa, so lehrt uns die griechische Mythologie, war die einzige der Gorgonen, die nicht unsterblich war. Es gibt Hoffnung. Wann endlich nimmt sich ein Künstler des Themas der afrikanischen Bootspeople an und bedrängt uns mit Bildern, die mehr erreichen als das Infotainement des Fernsehens? Dieser Text wurde 2005 von mir als Wort in den Tag in der Evangelischen Akademie Bad Boll gehalten. Teile des Textes wie auch einige Bilder der begleitenden Bildfolge wurden dem Internet entnommen. 5