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Z 6 Bilder und Zeiten Frankfurter Allgemeine Zeitung · 27. Februar 2010 · Nr. 49 Im Gespräch: Günter Gunia Wo stechen Sie am liebsten zu, Herr Gunia? Gestern hat der Akupunkturspezialist Professor Günter Gunia in Bramsche fast hundert Patienten behandelt, heute praktiziert er im AdlonSpa in Berlin. Die Nadeln sind die gleichen, zart wie Spinnenbeine, doch ihre Wirkung grenzt an Zauberei. Eignet sich Akupunktur auch, um einen inneren Richtungswechsel zu unterstützen und Selbstheilungsprozesse in Gang zu setzen? Wenn Sie Schmerzen haben, gibt es immer einen emotionalen Grund. Es gibt einen Trauerpunkt, der eventuell verspannt ist. Wenn ich einem Schmerzpatienten sage: Sie haben depressive Anteile, Sie neigen zu Sorgen und Nachdenklichkeit, ich sehe eine innere Unruhe bei Ihnen, dann ist es, als ob ein Vorhang fällt. Bei mir weinen die Patienten, selbst Machos weinen bei mir. Durch Akupunktur kann die Trauer explosionsartig verarbeitet werden, und danach ist man ein neuer Mensch. Von Ingeborg Harms Kann Akupunktur aber Menschen nützen, die sich eigentlich gesund fühlen? Sogar sehr. Was meine Patienten schon nach den ersten Behandlungen entwickeln, ist das subjektive Empfinden besserer Lebensqualität. Sie kommen mit einem Kernproblem zu mir wie Schmerzen, Migräne, Allergie, doch das rückt nach wenigen Behandlungen in den Hintergrund. Man wird nach außen hin gelassener und kann alles, was man gelernt hat, reproduzieren. Ich habe zum Beispiel eine Patientin therapiert, die in einem Großraumbüro arbeitet. Sie sagte danach, um sie herum herrsche zwar weiterhin das Chaos, aber ihr Schreibtisch sei eine stressfreie Zone. Sie kennen ja die asiatische Gelassenheit, das Lächeln des Buddhas. Das heißt nicht im Geringsten, dass diese Menschen zu unterschätzen wären. Sie können wesentlich leistungsfähiger als wir sein, weil sie effektiver arbeiten. Stress saugt uns ja auch Energie ab. Unter Stress spannen Sie Muskeln an, die Sie gar nicht benötigen, und verkrampfen sich. Wenn Sie das nicht mehr tun, können Sie diese Energie für intellektuelle Prozesse verwenden. Hat Akupunktur etwas mit Zauberei zu tun, Herr Professor Gunia? Zauberei kann man schon dazu sagen. Zauberei nennt man es ja, wenn wir Dinge sehen oder erfahren, die wir nicht verstehen. Und im Rahmen der Akupunktur können mit Nadeln Erfolge erzielt werden, die wir schulmedizinisch nicht für möglich halten. Aus der Sicht des Patienten wirkt es wie Zauberei, aus der Sicht des Experten aber lässt es sich durchaus nachvollziehen. Wobei das Medium Akupunktur und Chinesische Medizin so überdimensional ist, dass man unendlich viel Erfahrung und Konzentration braucht, um diese Medizin zu entzaubern und zu verstehen. Warum haben Sie Ihre Landarztpraxis verlassen und in China Akupunktur studiert? Meine Praxis war damals eine der größten in Deutschland. Wer gibt das auf, um sich auf so etwas einzulassen? Rein pekuniär war es Unsinn. Aber ich habe damals nach Möglichkeiten gesucht, meine Patienten besser zu behandeln. Zufällig hatte ein Freund von mir an der Medizinischen Hochschule in Hannover eine Vorlesung über Akupunktur gehalten. Und da wollte ich es dann selbst versuchen. Es brauchte damals Überzeugungsarbeit, um mich überhaupt für das Thema zu öffnen. Wie geht Akupunktur mit äußerlichen Beschwerden, zum Beispiel Narben, um? Wenn ich eine hässliche Narbe auf dem Bauch sehe, dann arbeite ich daran, auch wenn sie den Patienten bisher nicht gestört hat. Weil es für mich keinen großen Aufwand bedeutet. Bei Frauen lässt sich die Kaiserschnittnarbe farblich integrieren. Nach einer Akupunkturbehandlung hat sie keinerlei Erhabenheit mehr, es entsteht ein komplett normales Hautniveau. Gynäkologische Schnitte durchtrennen in der Regel alle Meridiane, das ist, als ob Sie einen Baum fällen. Selbst alte Narben aus der Kindheit lassen sich durch Akupunktur wieder heben, Verwachsungen und subkutane Verklebungen können sich lösen. Und was hat Sie dann für die Akupunktur gewonnen? Ein hoher Offizier am Pekinger Institut war mein Initialeindruck. Der Mann hatte einen Schlaganfall erlitten und kam mit eigener Militärärztin und fünf Autos angereist. Sie haben ihn getragen, er war halbseitig gelähmt. Von Tag zu Tag ist er von der Zuwendung unabhängiger geworden und nach einer Woche selbst auf die Liege gestiegen. Ich war damals noch ein ganz normaler Internist und habe gedacht: Aber hallo! Als ich Arzt in der Abteilung für Traditionelle Chinesische Medizin in Bramsche wurde, sind mir viele Patienten mit ungewöhnlichen Leiden vorgestellt worden. Dort habe ich lange mit jeweils zwei chinesischen Professoren vom Pekinger Institut zusammengearbeitet, die jährlich abgelöst wurden. Das hat mir sehr geholfen, die Tiefe der Chinesischen Medizin zu ermessen; gemeinsam konnten wir fast jede Krankheit erreichen. Hat sich die Akupunktur inzwischen in Deutschland etabliert? Sie wird hier völlig unterbewertet. Die Krankenkassen akzeptieren nur zwei oder drei Indikationen: Rückenschmerzen, Arthrose im Knie und zukünftig vielleicht Migräne. Vom 1. April an wird die Akupunkturunterstützung der Kassen wahrscheinlich massiv reduziert. Damit würde sie der Zweiklassengesellschaft geopfert. Die Kosten einer Behandlung liegen bei zwanzig Euro. Wenn sie nur noch mit fünf Euro honoriert würde, können sich die Ärzte das wirtschaftlich nicht mehr leisten. Dabei kann man mit Akupunktur im Prinzip alles behandeln – je exotischer die Erkrankung, desto größer die Chance, damit Abhilfe zu schaffen. Wie ist das zu erklären? Weil die chinesische Diagnostik eine zusätzliche Perspektive zum Krankheitsgeschehen des Patienten bietet und Akupunktur in sich schon eine psychosomatische Medizin ist, während in Deutschland die Diagnose Psychosomatik im Schnitt erst nach acht Jahren gestellt wird. Das heißt, dem Patienten wird eine Odyssee von acht Jahren zugemutet, bevor seine Erkrankung breiter angelegt therapiert wird. Das zweite Problem ist, dass Akupunktur von den Ärzten nicht in dem Umfang genutzt wird, wie es qualitativ möglich wäre. Wenn die Kompetenz da ist, kann man unendlich viel machen. Ich behandle Hämorrhoiden, Depressionen, schwere Augenerkrankungen, Entwicklungsstörungen bei Kindern. Doch neben der Qualität der Akupunkteure mangelt es auch an Akzeptanz unter den Fachärzten und Unikliniken. Ist die Weltgesundheitsorganisation visionärer als das deutsche Gesundheitssystem, oder wird die Chinesische Medizin von ihr eher aus folkloristischem Interesse gefördert? Illustration Burkhard Neie/xix Zur Person 쐽 Günter Gunia wird am 24. Juni 1952 in Gelsenkirchen geboren. Nach einer Schlosserlehre macht er 1973 das Abitur an einer katholischen Priesterschule. Er studiert Volkswirtschaft und wechselt im Anschluss an den Sanitäter-Ersatzdienst zur Medizin. 쐽 1990 nimmt er das Studium am Pekinger staatlichen und der WHO angebundenen Institut für Akupunktur und Moxibustion auf, das sich der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) verschrieben hat. 쐽 Von 1996 bis 2001 ist er Leitender Arzt der Abteilung für Traditionelle Chinesische Medizin am Johanniter-Krankenhaus in Bramsche. Von 2001 bis 2003 wirkt er an der Abteilung für TCM des Berliner St.-Hedwig-Krankenhauses. 쐽 Im Jahr 2002 richtet er eine Ohrakupunktur-Ambulanz für Obdachlose in Berlin ein – mit besonderer Konzentration auf Alkoholprobleme. Nein, gar nicht. Ich bin zweimal zur Weltgesundheitskonferenz nach Genf eingeladen worden. Da habe ich die Zusammenhänge erkannt. Die WHO ist für die Weltgesundheit zuständig, da fahren nicht nur jene Länder hin, die sich ein Gesundheitssystem leisten können. Die TCM ist ja sehr preiswert. Neben der Akupunktur basiert sie auf Kräuterheilkunde, und Kräuter kann man preiswert anbauen. Wenn Sie sich vorstellen, dass man mit diesen beiden Disziplinen Malaria, Hepatitis, Tuberkulose oder auch HIV behandeln kann, dann wird ihre weltweite Bedeutung klar. In diesem Jahr werde ich sehr wahrscheinlich in Kooperation mit Harvard eine Studie zum Thema HIV in Südafrika machen. Was sind die Grundelemente der Akupunktur, und wie funktioniert sie überhaupt? Für die TCM stehen alle Organ- und Stoffwechselsysteme sowie alle energetischen, spirituellen Bereiche im Einklang. Es geht ihr darum, diese Ausgeglichenheit zwischen Körper, Seele und Geist, aber auch in den drei Systemen herzustellen. Die Akupunktur ist eine Art Oberflächensoftware; über die Kombination einzelner Akupunkturpunkte kann ich das Nervensystem ansprechen und quasi mit einer Genesungssoftware in einzelne Organsysteme eingreifen. Stimulationen durch Akupunktur lassen sich auch computertomographisch nachweisen. Die Grundelemente sind nach den Jahreszeiten geordnet. Sie beginnen mit dem Frühling, Holz und Leber. Der Sommer sind Herz und Feuer. Der Spätsommer die Milz, auch das Mutterorgan, das oft als zentral dargestellt wird, von den anderen umgeben. Der Herbst sind Metall und die Lunge, der Winter die Niere und Wasser. Und diese Grundelemente verzweigen sich immer weiter. Es gibt eine alle Organe umfassende Kommunikation der Meridiane: Mit Lunge 7 zum Beispiel können Sie den Körper entwässern. Meine Frau hatte auf einer Südamerika-Reise einmal geschwollene Finger; die haben wir mit Akupunktur innerhalb von Minuten ausgeschwemmt. Ich habe ihr fünf Nadeln ins Ohr gestochen. Wir saßen an einem Tisch und hörten in Venezuela einem Vortrag zu, und auf einmal machte es „Ping!“. Da war meiner Frau unter hohem Druck die Nierennadel wie ein Projektil aus dem Ohr herausgeflogen und gegen ein Wasserglas geprallt. Aus dem Nierenpunkt kamen ein paar Tropfen Blut heraus, da hatte es eine absolute Blockade gegeben. Meine Frau war übersät mit Schweißperlen, denn das Wasser wurde über die Haut ausgeschieden. Wenn man mir das vor zwanzig Jahren als Internist erzählt hätte, hätte ich es nicht geglaubt. Sie kreieren also für jeden Patienten eine besondere Software? Jede Akupunktur hat eine Vielzahl von Möglichkeiten, auf die Organe einzuwirken. Wir haben 1500 Punkte auf der Haut, Sie können sich vorstellen, welche Kombinationsmöglichkeiten sich da ergeben. Dass sich kaum jemand darauf einlassen will, ergibt sich aus dieser riesigen Zahl. Mein Vorteil ist, dass ich fast zweihunderttausend Behandlungen gemacht habe. Das ist leider nicht die Regel in Deutschland. Schönheit spielt im Alltag eine immer größere Rolle. Können da ein paar Nadelstiche das Messer des plastischen Chirurgen ersetzen? Durch die Akupunktur wird der ganze Mensch erreicht. Das Gesicht zum Beispiel wird vom Magenmeridian dominiert. Wenn sie an ihm arbeiten, stärken Sie auch die neurologische Versorgung des Gesichts. Bedenken Sie, wie kompliziert die Mimik ist. Jedes Gefühl lässt sich auch über Mimik ausdrücken. Sie können sich vorstellen, wie wichtig gerade bei älteren Menschen eine neurologische Dynamisierung des Gesichts sein kann. Und wenn man dann noch weiß, dass die Psyche des Menschen über den Magen kommuniziert – eine Neurose wird im Chinesischen als „Magenfeuer“ bezeichnet. Und der Magenmeridian beginnt im Gesicht. Magen 45 am Fuß ist ein Punkt, der extrem mit neurotischen Verhaltensweisen verbunden ist. Der Unbedarfte würde jetzt nur im Gesicht stechen, der Bedarfte sticht auch in den Zeh. Meine Mutter hat Parkinson und saß auf einer ihrer Geburtstagsfeiern wie ein ungebetener Gast. Seit ich sie behandele, wirkt sie zehn Jahre jünger, hat ihren alten Charme, Humor und Witz zurückgewonnen. Das wächserne Parkinson-Gesicht ist wieder weg, und im Urlaub geht sie sechs Kilometer spazieren. Stehen der Akupunktur in Deutschland auch politische Hindernisse im Weg? Mich hat ein Freund schon vor zwölf Jahren gewarnt, dass ich natürlich zum Feind der Pharmaindustrie werde. Ein Beispiel: Mein kleiner Sohn hatte Asthma, die Kinderärztin hat gleich Inhalation aufgeschrieben, aber wir haben das Problem dann mit Akupunktur innerhalb von vier Tagen beseitigt. Wenn man sich vorstellt, dass sich ein Kind jahrelang mit Atemnot herumquält, weil die Pharmaindustrie daran Geld verdient! Natürlich können Medikamente helfen, sie machen aber auch abhängig, sie machen oft aus einem akuten Patienten einen chronischen Patienten. Wie oft muss man sich behandeln lassen, um von Akupunktur zu profitieren? Für einen dauerhaften Effekt sollte man mit zehn bis fünfzehn Mal rechnen. TCM kann chronische Leiden beseitigen, westliche Medizin nur lindern, sonst gäbe es keine chronischen Erkrankungen. Die Wirksamkeit der Behandlung danach geht noch drei Monate progressiv weiter.