Vom »Boot« bis zum »Baader-Meinhof-Komplex«
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Vom »Boot« bis zum »Baader-Meinhof-Komplex«
Vom »Boot« bis zum »Baader-Meinhof-Komplex« Zur Situation des Fernsehfilms im Ersten · Von Verena Kulenkampff »Leuchtturmprojekte«, Eventprogrammierung, »Amphibienfilme« – Schlagworte, die für die aktuelle Entwicklung des Fernsehfilms im Ersten stehen. Dass dabei Qualität und Quote kein Widerspruch sein müssen, haben Filme wie »Contergan«, »Die Flucht« und »Der Untergang« bewiesen. Historische und zeitgeschichtliche Großprojekte, sorgfältig inszenierte Stücke für den FilmMittwoch, Literaturverfilmungen, Biografien, emotionale und spannende Unterhaltung am Freitag- bzw. Sonntagabend bilden das Repertoire des Fernsehfilmangebots – mehr als 150 Fernsehfilme im Jahr 2008. Höhepunkte sind u. a. das Drama um die Entführung der Lufthansamaschine Landshut 1977 unter dem Titel »Mogadischu« und der oscarprämierte Film »Das Leben der Anderen«. Fernsehfilm E in guter Film ist ein guter Film. In diesem Sinne haben die FernsehfilmRedaktionen der ARD-Landesrundfunkanstalten immer ihre Arbeit begriffen – sei es an ihren originären Fernsehfilmen, sei es an den Kino-Koproduktionen, an denen sie sich beteiligen: als ein Arbeitsfeld mit unterschiedlichen, aber sich doch weitgehend auch überschneidenden Aufgabenstellungen. Der Input der Redakteurinnen und Redakteure in die Filme ist in beiden Fällen ihre kreative Mit-Arbeit, die besonderer inhaltlicher und ästhetischer Qualität verpflichtet ist. Aktualität der Fragestellungen, gesellschaftliche Relevanz, vor allem aber die Stimmigkeit von Geschichte, Besetzung und Regie sind die Fragen, die glücklicherweise jenseits kommerzieller Interessen hier im Vordergrund stehen, ungeachtet aller Debatten über einen behaupteten Gegensatz von Kino und Fernsehen. Die Pflege einer zeitgemäßen Erzählkultur und einer ästhetisch reflektierten Bildsprache auf hohem Niveau ist ein Hauptanliegen – sei es bei den Fernsehfilmen des FilmMittwochs der ARD, sei es bei den Kinofilmen. Andererseits sind die zahlreichen preisgekrönten und mitunter auch an der Kinokasse erfolgreichen Kinofilme, die in Koproduktion mit ARD-Sendeanstalten entstanden sind, durchaus auch um 20.15 Uhr am FilmMittwoch oder an einem Feiertagstermin erfolgreich: wie »Good Bye, Lenin!« oder »Lola rennt« (beide WDR/ARTE), »Sophie Scholl« (BR/SWR/ ARTE), »Das Leben der Anderen« (BR/ARTE), ARD-JAHRBUCH 08 117 »Mein Führer« (WDR/BR/ARTE), »Wer früher stirbt, ist länger tot« (BR), »Emmas Glück« (SWR), »Der freie Wille« (WDR/ARTE), »Requiem« (WDR/SWR/BR/ARTE), »Gegenüber« (WDR) oder »Auf der andren Seite« (NDR). Umgekehrt haben immer einmal wieder relativ »kleine« Fernsehfilme Überraschungserfolge im Kino gefeiert wie – fast schon legendär – »Nach fünf im Urwald« (SWF/BR/ARTE), mit dem Franka Potente berühmt wurde, oder in etwas jüngerer Zeit Dani Levys »Alles auf Zucker!« (WDR/BR/ARTE). Die Unterscheidung zwischen dem Kino-Erlebnis einerseits und dem Film im Fernsehen andererseits ist also komplexer, als manche Filmkritik und manche öffentliche Debatte über den Einfluss des Fernsehens nahelegt. _ »Amphibienfilme« und originäre Fernseh-Highlights Eine aktuelle Entwicklung hat dieser Debatte neuen Zündstoff geliefert. Bereits Wolfgang Petersens berühmtes »Boot« entstand zugleich als Kinofilm und als Fernseh-Mehrteiler. Das war aber weitgehend vergessen, bis »Der Untergang« als Kinofilm und zugleich als Fernsehzweiteiler hergestellt wurde. Weitere, nach einem solchen »amphibischen« Produktions- und Finanzierungsmodell, bei dem ein Kinofilm und zugleich eine originäre Fernsehfassung – zumeist ein Zweiteiler – unter hoher finanzieller Beteiligung der Fernsehsender entstehen, sind zur Zeit in Arbeit oder gerade fertiggestellt: die Romanverfilmungen »Buddenbrooks« (WDR/ NDR/SWR/BR/Degeto/ARTE) von Heinrich Breloer, »Henri Quatre« (WDR/BR/SWR/Degeto/NDR/MDR) von Jo Baier und Uli Edels RAF-Film »Der Baader-Meinhof-Komplex« (NDR/BR/WDR/Degeto). Vorbereitet wird u. a. die filmische Biografie von »Ludwig II.«. Dabei rechtfertigt der »Mehrwert« in Form eines aufwändigen Fernsehzweiteilers, der den Kinofilm in Länge und damit höherem Aufwand und größerer inhaltlicher Ausführlichkeit übertrifft, den Einsatz hoher Etatmittel, die in diese KinoKoproduktionen investiert werden. Solche historischen, höchst aufwändigen Kinofilme wären ohne diese extrem hohen Fernsehmittel kaum realisierbar. »Mein Führer«, in der Titelrolle Helge Schneider, »Emmas Glück« mit Jördis Triebel und Regisseur Lars Kraume (r.) bei den Dreharbeiten zum Film »Guten Morgen, Herr Grothe« mit Sebastian Blomberg, Darsteller des Lehrers Grothe (v. o.) 118 Artikel ARD-JAHRBUCH 08 Der Fernsehfilm der ARD ist allerdings auch ohne diese Großproduktionen um originäre Highlights nicht verlegen: Der Zweiteiler »Die Flucht« (WDR/SWR/HR/BR/RBB/Degeto/ ARTE) unter der Regie von Kai Wessel mit Maria Furtwängler in der Hauptrolle war einer der erfolgreichsten Filme der ARD in den letzten Jahren: Durchschnittlich knapp elf Millionen Zuschauer verfolgten die Geschichte von Flucht und Vertreibung, die rund 60 Jahre nach dem historischen Geschehen zum ersten Mal fiktiv erzählt wurde. Auch die Zweiteiler »Die Frau vom Checkpoint Charlie« (MDR/BR/RBB/Degeto) von Miguel Alexandre und »Contergan« (WDR/Degeto) von Adolf Winkelmann haben historische Ereignisse und Befindlichkeiten für ein breites Publikum aufbereitet. Filmisch auf hohem Niveau haben sie Geschichte nacherlebbar gemacht, gerade auch für die jüngeren Zuschauer, die überdurchschnittlich stark vertreten waren. Themenschwerpunkte werden durch übergreifende Programmierung möglich: Dokumentationen und Talkformate als Ergänzung zu »Die Flucht« haben das Thema »Vertreibung« aufgearbeitet und fanden beste Resonanz beim Publikum. Und auch bei »Die Frau vom Checkpoint Charlie« blieb das Publikum dabei: Die sich anschließenden Dokumentationen und Gesprächssendungen erzielten eine sehr hohe, die übliche Akzeptanz dieser Sendungen weit übersteigende Aufmerksamkeit. Im Anschluss an den zweiten Teil von »Contergan«, »Der Prozess« (Foto r.), am 8. 11. 2007 lief die Dokumentation »Contergan – Die Opfer, die Anwälte und die Firma«. Zu Wort kam u. a. der Contergan-Geschädigte Klaus Becker (u.). Fernsehfilm _ Public Value im besten Sinne Der nicht zuletzt durch die vorhergegangenen Gerichtsprozesse von großer publizistischer Aufmerksamkeit begleitete Zweiteiler »Contergan« (WDR/Degeto) schließlich, mit dem die ARD ein sehr sensibles wie bewegendes Thema aufgegriffen hat, stieß nicht nur selbst auf ein überwältigendes Zuschauerinteresse. Die im Anschluss an Teil 1 ausgestrahlte Diskussionsrunde bei »hart aber fair« mit Frank Plasberg erreichte ihre bis dahin höchste Quote im Ersten, im Anschluss an Teil 2 konnte der Dokumentarfilm »Contergan – Die Opfer, die Anwälte und die Firma« einen Spitzenwert erzielen! Mit weiteren zahlreichen Hörfunk- und Fernsehbeiträgen wurde hier ein »öffentlich-rechtliches Qualitätsprogramm par excellence« geschaffen, berichtete die »Funkkorrespondenz« in ihrer Ausgabe 46/2007. So ist es der ARD gelungen, mit dieser Themensetzung durch Bündelung und Sonderprogrammierung von zweiteiligem Spielfilm, Talksendungen und Dokumentationen 50 Jahre nach der Markteinführung des Medikaments Contergan die Betroffenen und ihre Schicksale in den Mittelpunkt zu stellen und schließlich sogar ihre gesellschaftliche und finanzielle Situation in Bewegung zu bringen. Mit diesen »Leuchtturm«-Projekten hat die ARD die komplexen Möglichkeiten des Mediums Fernsehen auf das Beste und im öffentlichrechtlichen Sinn ausgeschöpft. Der große Publikumserfolg der prominent besetzten und hoch emotionalen Filme wurde genutzt, um in den verschiedensten nonfiktionalen Sendungen und Genres daran anzuknüpfen. Hinzu kommen für alle erwähnten so genannten »Event-Filme« zahlreiche Preise und ARD-JAHRBUCH 08 119 Auszeichnungen in allen Kategorien – Qualität und Quote, so sahen es auch die Kritiker und die Jurys aller wichtigen Fernsehfestivals und Fernsehpreise, müssen keineswegs ein Widerspruch sein. _ Grundversorgung durch Vielfalt Dabei ist der Fernsehfilm der ARD nicht auf bestimmte Genres festgelegt (Ausnahme sind die »Ermittler-Krimis« à la »Tatort«, die dem Sonntag vorbehalten sind). Neben aufwändigen historischen Mehrteilern und sozialkritischen und zeitgeschichtlichen Dramen gehören Familienfilme, Komödien, Thriller und Psychothriller der anspruchsvolleren Art zur Vielfalt der ARD. Erwartbar ist immer das Besondere, die herausragende Machart, die erstklassige Besetzung. Die verschiedenen »Senderfarben« der regionalen ARD-Anstalten tragen bei zu einem Kaleidoskop, in dem der Zuschauer mit Sicherheit überraschendes Fernsehen, gute Filme und Unterhaltung auf höchstem Niveau findet. Jenseits einer »Quoten«-Erwartung auf dem Mittwochs-Sendeplatz ist dennoch die Ambition da, so viele Zuschauer wie möglich auch für ästhetisch und erzählerisch unkonventionelle Filme zu interessieren. Dabei ist erfreulich, dass jüngere Zuschauer die breite Mischung schätzen. So wurden zahlreiche Fernsehfilme der ARD auf dem FilmMittwoch für wichtig und preis- 120 Artikel würdig erachtet und werden als das allwöchentliche Filmangebot und damit als die öffentlichrechtliche »Grundversorgung« des Publikums mit emotionalen, erholsamen, erschütternden, spannenden und komischen Filmen auch von den Redaktionen weiterhin wichtig genommen: Ergänzend zum Themenschwerpunkt rund um den 3. Oktober 2007 zeigte Das Erste »Heimweh nach drüben« (MDR) mit Wolfgang Stumph unter der Regie von Hajo Gies, ein eher heiterer Film, der das Leben vor 1989 mit einem Augenzwinkern betrachtete. »Guten Morgen, Herr Grothe« (WDR, Regie: Lars Kraume) gewann alle wichtigen deutschen Fernsehpreise von Baden-Baden bis Marl, »Rose« (BR, Regie: Alain Gsponer) wurde als bester Fernsehfilm mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Dieter Pfaff konnte weiterhin als Psychotherapeut »Bloch« (WDR/SWR) überzeugen. Einen der ersten Fernsehpreise des Jahres 2008, den Bayerischen Fernsehpreis, bekam Hermine Huntgeburth für ihren Zweiteiler »Teufelsbraten« (WDR/NDR/Degeto/ARTE), die Verfilmung von Ulla Hahns Roman »Das verborgene Wort«. Manfred Stelzer inszenierte das Drama »Meine fremde Tochter« (WDR/ARTE) mit Götz George in der Hauptrolle des Vaters, der sich in einem leidvollen Prozess der Selbsterkenntnis auf Spurensuche begibt, um den Tod seiner Tochter aufzuklären. Götz George kann in seinem 70. Lebensjahr ebenfalls in der modernisierten Neuverfilmung des George-Simenon-Romans »Die Katze« begeistern (NDR, Regie: Kaspar Heidelbach). Seit acht Jahren zeigt Das Erste nun schon ausgewählte Debütfilme seiner Landesrundfunkanstalten in der Reihe »Debüt im Ersten«. Der letztjährige Gewinner des Deutschen Fernsehpreises – »Rose« (BR) von Alain Gsponer – »Rose« (Corinna Harfouch) und ihr Freund Bernd (Torben Liebrecht) ARD-JAHRBUCH 08 ist vielleicht das beste Beispiel für die Ziele, die sich Das Erste im Jahr 2001 bei der Einführung der Reihe gesetzt hat: Vielfältig sollten die Filme sein, die Erstlingsregisseure und ihre Filme bekannter werden. Den Debütanten sollte eine breitere Plattform gegeben werden, und sie sollten die Chance bekommen, einen Sendeplatz im Ersten zu erhalten und darauf aufbauen zu können. Diese Ziele sind im Fall von »Rose« sogar in mehrfacher Hinsicht erreicht, denn Alain Gsponer kann nicht nur mit »Das wahre Leben« schon seinen zweiten Film nach einer erfolgreichen Kinoauswertung in »Debüt im Ersten« zeigen, sondern hat inzwischen auch einen »Polizeiruf 110« gedreht und arbeitet an seinem nächsten Kinofilm. Weitere Regisseure, die nach einem Debüt im Ersten erfolgreich weitergearbeitet haben, sind u. a. Hans Weingartner, dessen Film »Die fetten Jahre sind vorbei« (SWR) in Cannes für Aufsehen sorgte und dieses Jahr in »Debüt im Ersten« zu sehen sein wird, Züli Aladag, der mit seinem Fernsehfilm »Wut« (WDR) zahlreiche Preise gewinnen konnte, oder Sylke Enders, deren neuester Kinofilm »Mondkalb« (WDR/ RBB) gerade beim Festival des deutschen Films in Mannheim eine besondere Auszeichnung der Jury erhielt. Und auch dieses Jahr war für die Filme der Reihe »Debüt im Ersten« bereits erfolgreich. So wurde z. B. die WDR-Koproduktion »Mein Freund aus Faro« beim Filmfestival Max Ophüls Preis mit dem SR/ZDF-Drehbuchpreis ausgezeichnet, »Novemberkind« (SWR) gewann dort den Publikumspreis und Alice Dwyer wurde für ihre Rolle in »Höhere Gewalt« (HR) mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet. Auf der diesjährigen Berlinale reüssierte im Internationalen Forum des Jungen Films der Beitrag Fernsehfilm »Nacht vor Augen« (SWR) sowie in der Reihe »Perspektiven Deutsches Kino« »Die Besucherin« (WDR). _ Die kommenden Highlights Auch auf die kommenden Kino- und Fernsehfilme darf man gespannt sein: Im Weihnachtsprogramm 2008 wird »Liesl Karlstadt und Karl Valentin« (BR) zu sehen sein, Regie: Jo Baier, mit Hannah Herzsprung in der Hauptrolle. Der Film erzählt die Geschichte des Komikerpaares, die geprägt war von Eifersucht, Tränen, Erfolgen, Nervenzusammenbrüchen und von einer Liebe, die über den Tod hinaus bleibt. Vom NDR kommt »Es liegt mir auf der Zunge«, ein dokumentarisches Drama über den Aufstieg und Fall des Fernsehkochs Clemens Wilmenrod, gespielt von Jan Josef Liefers. Einen großen Film zum 20. Jubiläum des Mauerfalls 2009 dreht Friedemann Fromm mit Katja Flint, Edgar Selge, Herbert Knaup und Ulrike Krumbiegel noch in diesem Jahr (WDR/ MDR), Teile der Autobiografie von Marcel Reich-Ranicki (Foto links, l.) wird Dror Zahavi – mit Mathias Schweighöfer (r.) in der Rolle des jungen Marcel – verfilmen, nach dem Drehbuch von Michael Gutmann. »Romy Schneider« (SWR/WDR/ORF, Regie: Torsten C. Fischer), »Mogadischu« (Degeto/SWR/BR), »Glanz und Gloria« von Dieter Wedel (Degeto/WDR), die achtteilige Serie »Im Angesicht des Verbrechens« von Rolf Basedow und Dominik Graf für den späteren Freitagabend (WDR/Degeto/SWR/BR/NDR), der Kinofilm »Du bist nicht allein« (RBB/WDR) von Bernd Böhlich kommen ins Fernsehen. Die neuen Kinofilme von Mathias Glasner, Hans Christian Schmid und vielen anderen werden gemeinsam mit ARD-Sendern produziert. Es ist der Anspruch des Fernsehfilms am Mittwoch in der ARD, Woche für Woche ein hochwertiges Repertoireprogramm zusammenzustellen, das Bestand hat jenseits der Tagesaktualität, dessen Ideenreichtum sich nicht erschöpft im Kopieren von Plots amerikanischer Kinoerfolge, das renommierten wie aufstrebenden Filmkünstlern ein Forum bietet, ihre Geschichten zu erzählen. Verena Kulenkampff, WDR, Fernsehdirektorin, ARD-Koordinatorin Fernsehfilme ARD-JAHRBUCH 08 121