Leseprobe_Völlig losgelöst
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Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-407-85962-4 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel 1 intro Der Mensch ist ein sehr komplexes, individuelles Wesen, mit all seinen Verletzlichkeiten und Erfahrungen, die zum Teil weit in seine Prägungsphase hineinreichen. Individuell auch schon deswegen, weil wir alle kulturell, intellektuell, emotional usw. auf unterschiedlichste Weise geprägt sind. Manchmal sitze ich im Auto, in der S-Bahn oder im Flugzeug, beobachte Menschen und frage mich, wie diese unterschiedlichsten Interessen, Egoismen, persönlichen Voraussetzungen, individuellen emotionalen Zustände überhaupt so zusammenwirken, dass unsere Gesellschaft auch nur halbwegs funktioniert – wenn es denn so ist. Einen Teil dieser Antwort findet man in psychologischen oder psychoanalytischen Theorien, die von übergreifenden Ordnungsprinzipien ausgehen, sei es bei den Sozialpsychologen, Motivationsforschern, in Untersuchungen zur moralischen Entwicklung von Kindern, sei es bei Sigmund Freud oder C. G. Jung, bei Letzterem zum Beispiel in der Lehre von den kollektiven Archetypen, die unser Bewusstsein beeinflussen. Also ist der Mensch doch nicht so individuell? Ich will an dieser Stelle in keine psychologische Theorie eintauchen, auch wenn ich später auf die eine oder andere zurückkommen werde. Denn eigentlich geht es in diesem Buch um eine 7 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel Vision. Um die Vision, was unser Leben auf einen guten Weg bringt. Man könnte mit dem Altbundeskanzler Helmut Schmidt einwenden: »Wer Visionen hat, muss zum Arzt«, aber ich meine: »Wer keine hat – auch.« Ein Beispiel: Als ich im Jahre 1982 den Song U.S.A für mein erstes Album schrieb, war ich noch nie dort gewesen. Erst in den Jahren 1985/1986 lebte ich zwei Jahre lang in New York und gelegentlich in Los Angeles. Ebenso durchquerte ich die USA auf diversen Promotion-Touren. Doch ohne je vorher dort gewesen zu sein, konnte ich in diesem Songtext diese Nation auf den Punkt bringen. Zweites Beispiel: Ich war – man glaubt es kaum – tatsächlich noch nie im Weltall. Dennoch gelang es mir mit meinem bisher größten Erfolg »Major Tom«, das Lebensgefühl der Astro-/Kosmonauten zu treffen. Ich weiß dies, da ich mittlerweile einige der Jungs persönlich getroffen habe, die da oben waren. Von Prof. Ernst Messerschmid, Gerhard Thiele über Miroslaw Hermaszewski bis hin zu Ed Buckbee. Und noch ein drittes und letztes Beispiel: Der Text zu dem Song »Die Wüste lebt« entstand 1981. Er ist heute (leider) aktueller denn je. Vor diesem Hintergrund wage ich mich also an ein bereits von vielen Seiten beleuchtetes Thema der Psychologie heran. Dabei handelt es sich um das Thema »Selbstwert« mit all seinen Facetten. Ich bin überzeugt, dass ich Ihnen dieses Thema und die vielfach damit verbundenen Probleme, untermauert mit meinen sehr persönlichen Erfahrungen, auf eine Weise nahebringen kann, in der Sie sich selbst wiederfinden, so dass Sie angeregt werden, einige meiner Gedanken und Erkenntnisse auch auf sich zu beziehen. Vielleicht sehen Sie nach der Lektüre dieses Buches sogar das eine oder andere in Ihrem Leben anders und sind bereit, was Sie schon lange stört, an sich zu ändern. Aber 8 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel das bleibt natürlich einzig und alleine Ihnen überlassen. Dazu gehe ich offen – und, wie ich glaube, auch ehrlich – auf Sie als Leser zu und bedanke mich schon jetzt für diese nonverbale Kommunikation und wiederum daraus folgend – Ihre Offenheit. Es dauerte lange, bis ich endlich begriff, wie es dazu kam, dass ich als deutscher Musiker mit unnachahmlichen Erfolgen weltweit nach sieben Jahren auf der Überholspur, in denen ich von nahezu allen geliebt und gefeiert wurde, relativ schonungslos wieder down to earth landete. Vorbei war es mit »völlig losgelöst von der Erde«: Ich war körperlich und psychisch an meine Grenzen gestoßen und kündigte ad hoc alle meine nationalen wie internationalen Verträge – und das, obwohl ich in den Hot100 -Billboard-Charts 1989 mit dem Titel »The different story« ein weiteres Mal ganz oben eingestiegen war – alles andere als selbstverständlich für einen europäischen – insbesondere einen deutschen – Künstler! Der von mir gewählte, freiwillige Ausstieg aus dem Geschäft und das zu einem Zeitpunkt, an dem es so richtig »brummte«, war beides: überlebensnotwendig und gleichzeitig ein schmerzhafter Schnitt. Denn wer mich kennt, weiß, wie sehr ich diesen Beruf und meine Musik liebe. Aber es musste sein, und womöglich wäre es zu diesem Buch gar nicht mehr gekommen, wenn ich nicht so konsequent gegen den Strom geschwommen wäre und entsprechend gehandelt hätte. Meinen damaligen inneren und körperlichen Zusammenbruch nannten Mediziner »Burnout«. Ende der 80 er-Jahre des letzten Jahrhunderts war das noch kein geläufiger Begriff. Ich selbst aber stieg tiefer in meine Situation ein. Zuerst in einer Art Selbsttherapie, bis ich nach einer gewissen Zeit spürte, dass ich ohne professionelle Hilfe nicht weiterkomme. Somit begann die Suche nach dem geeigneten Psychotherapeuten, denn nicht jeder Therapeut passt zu jedem Patienten. Es 9 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel dauerte zwei (!) Jahre, bis ich den richtigen gefunden hatte. Deswegen der »richtige«, weil ich mich durch seine väterliche Art verstanden und nicht bewertet fühlte. Mag sein, dass es damit zu tun hatte, dass ich meinen Vater persönlich nie gekannt habe. Dieser Psychologe machte mir erst einmal klar, dass all das Geschehene nichts mit Glück, Pech oder anderen schicksalhaften Mächten zu tun hatte, sondern vielmehr hausgemacht war: der Erfolg UND der Misserfolg. Klingt abenteuerlich, werden Sie sagen. Stimmt aber. Doch der Schlüssel, das Geschehene wirklich zu begreifen, hängt mit dem Thema zusammen, das für mich seit geraumer Zeit und jetzt auch in diesem Buch absolut im Vordergrund steht: Letztlich laufen alle Spuren beim Selbstwert zusammen, bei dem Gefühl, sich selbst etwas wert zu sein. Das ist der Code, das ist der Schlüssel für alles! Ob Sie erfolgreich sind, ob Sie glücklich oder unglücklich verheiratet sind, ob Sie mehr ins Verliebtsein verliebt sind oder wirkliche Nähe zulassen können, ob Sie mit Ihren Projekten scheitern oder Ihr Erfolg durch die Decke geht. Das alles lässt sich aus einer Art Formel ableiten, auf die ich später noch zu sprechen komme: Selbstwert=(M)m8 =Erfolg. Ich begriff übrigens ziemlich schnell, dass einem bei der Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstwert schnell das Prinzip »Wer hat Schuld?« in den Sinn kommt, weil diese Frage zu beantworten so herrlich leicht und bequem erscheint. Aber immer nur nach »Schuld« zu fragen, ob sie nun bei einem selbst liegt oder den anderen, hilft überhaupt nicht weiter. Das Zauberwort heißt dagegen Eigenverantwortung, was auch mir auf meiner Suche nach dem verlorenen Selbstwert enorm weiterhalf. Nach einer schweren Kindheit, geprägt von Gewalt im Elternhaus und Kinderheim, später bei der Oma aufgewachsen, wurde mir ein wesentliches Merkmal für ein gesundes Selbstwertgefühl nicht mit auf den Weg gegeben: das Urvertrauen. Psycholo10 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel gen rätseln bis heute, ob dieses Manko reparabel ist, ob man es auch zu einem späteren Zeitpunkt wiederherstellen kann oder zumindest kompensieren. Als ich zum Botschafter des Deutschen Kinderschutzbundes ernannt wurde, machte ich Schluss mit Halbwahrheiten und gab ein öffentliches Statement ab, warum ich authentisch für diese Aufgabe stehe. Ich schloss diese Begründung mit den Worten: »Die blauen Flecken, die Schmerzen, die Prügel, die ich als Kind abbekommen habe, das klingt hart, aber sie heilen, sie gehen vorbei. Was bleibt und was dich dein ganzes Leben begleitet, in jeder Sequenz, ist der bereits in der Kindheit niedergeprügelte Selbstwert, und das geschieht nicht nur durch körperliche Gewalt, sondern noch schlimmer: durch Worte der Geringschätzung, die so weit gehen, sich nur noch als ein ›Nichts‹ zu fühlen, als ›ungewollt‹, ›wertlos‹ und so weiter. Mit dem Widerhall solcher Worte geht man als Kind in die Schule, auf den Sportplatz und in die Pubertät – nicht ganz so einfach.« Bei mir war damit der Grundstein für einen in manchen Phasen des Lebens komplett außer Gefecht gesetzten Selbstwert gelegt. Erst in den Jahren der Therapie wurde mir klar, dass ein weiterer erfolgreicher Lebensweg, und damit meine ich nicht nur beruflichen Erfolg, zwingend auf einem gesunden Selbstwert beruhen muss. Somit ist an meiner Lebensgeschichte – da besonders plakativ, besonders schwarz/weiß, besonders öffentlich – die Bedeutung eines gesunden Selbstwerts besonders gut abzulesen. Ich stehe als prominenter Protagonist für die Entschlüsselung dieses persönlichen Codes, denn ich habe selbst erfahren, wie der Selbstwert zu reparieren ist. Dennoch ist meine Erfahrung auf jeden von uns anwendbar. Wenn Sie sich dem Thema öffnen, werden Sie merken, dass Sie unter Umständen so manches Verhaltensmuster bei sich gar nicht vermutet hätten. Befand sich Ihre Persönlichkeitsstruktur doch so angenehm geparkt im to11 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel ten Winkel Ihres Lebens. Das Unterbewusste hat – vereinfacht ausgedrückt – so tief liegende Schichten, da lassen sich ein paar Trojaner in Ihrem persönlichen Netzwerk leicht verstecken. Doch erst, wenn Sie hinschauen, entschlüsseln und das annehmen, was Ihnen widerfahren ist, können Sie Selbstzweifel, Sorgen und Ängste ablegen und zu einem gesunden Selbstwert gelangen. Als ich kürzlich von einer Journalistin auf mein offenes Interview in der »Bild am Sonntag« angesprochen wurde, in dem ich erzählte, dass ich in der Kindheit über Jahre geprügelt wurde und dass es mir erst nach Jahrzehnten geglückt war, meiner Mutter zu verzeihen, zollte sie mir höchsten Respekt. »Das ist groß«, meinte sie. Danke für das Kompliment. Ich habe zugegebenermaßen lange gebraucht bis zu diesem Punkt. Denn hinter mir liegt eine weite Strecke, auf der ich nicht nur einmal das Gefühl hatte, umdrehen zu wollen oder zu müssen. Denn eine Psychotherapie ist am Ende ein Prozess des Verstehens und der Einsicht. Das ist anstrengend und oftmals sehr schmerzlich. Auf dem Gipfel meiner ersten Karriere in den 80 er-Jahren lag mein Selbstwert bei vielleicht gerade einmal 20 Prozent. Kaum vorstellbar, wenn man bedenkt, dass ich weltweit durchstartete, Festivals in Rio vor Menschenmassen spielte, meine Songs sich millionenfach verkauften und ich mit namhaften Größen wie The Police oder Fleetwood Mac im Studio war. Das alles half nichts – zumindest meinem Selbstwert nichts. Im Gegenteil, es machte mich noch viel unsicherer, dass ich, dem absolut nichts zuzutrauen war, plötzlich in dieser Liga mitspielte. Nicht ich kannte Freddie Mercury – nein –, er kannte mich. So geschehen bei der Release-Party des Queen-Albums »I want to break free« in Los Angeles. Aber ich besaß zu diesem Zeitpunkt null Selbstwert, er war einfach weg, mein Vertrauen in mich existierte nicht. Ich war mir einfach nichts wert. Damit sind wir bei einem anderen Begriff, der sehr viel mit Selbstwert zu tun hat, nämlich dem schon kurz angesprochenen 12 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel »Urvertrauen«. Der Begriff stammt aus der Theorie der psychosozialen Entwicklung des Psychoanalytikers Erik H. Erikson. Danach entwickelt sich das Urvertrauen in der frühesten Kindheit und hilft einem später, Nähe zu anderen Menschen aufzubauen und »solide sowie emotional erfüllende Beziehungen eingehen zu können«. Tröstlich und untröstlich zugleich ist die Tatsache, dass nicht nur Menschen aus zerrütteten Familien, so wie ich, sondern auch Kinder ganz mustergültiger Eltern mit Selbstwertschwäche durchs Leben gehen können. Man kann von Vater, Mutter, Großeltern also geliebt und von Kollegen geschätzt werden und sich dennoch selbst wertlos fühlen. Aber jeder hat die Gelegenheit – wie gerade oder ungerade der Lebenslauf auch sein mag –, viel für den eigenen Selbstwert zu tun. Auch Sie können die Blockaden in Ihrer Psyche niederreißen. Manche tendieren dazu, sich ein Pseudoselbstwertgefühl aufzubauen. Auch ich habe das hin und wieder versucht. Doch auch diese Rechnung geht im Endeffekt nicht auf. Weil Sie Ihr Inneres nicht überlisten können und weil jedes SelbstwertSchauspiel vor anderen Menschen enorme Kräfte kostet und ab einem gewissen Zeitpunkt ohnehin in sich zusammenfällt, was geradezu peinlich wirken kann. Im Übrigen ist der Weg in eine Depression dann nicht mehr weit. Ganz wichtig ist, sich seiner Gefühle bewusst zu werden. Das ist nicht nur für unsere Gesundheit gut und wichtig, sondern auch für den Aufbau bzw. die Reparatur unseres Selbstwerts. Denn wenn Sie mit einem Rucksack voller Selbstzweifel, angestauter Furcht, hohem Kränkungspotenzial, oft auch Wut, Kritikunfähigkeit und so vielem mehr am sozialen Leben teilnehmen, senden Sie dort eine Mischung aus alldem aus und erzeugen meist Reibung. Sie ecken an. Womit Ihnen erneut bestätigt wird, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt. Ich selbst habe mir einen solchen Cocktail auch angerührt, der geradewegs in eine Katastrophe führte: Karriere zu Fall gebracht und soziale Kon13 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel takte nur an bestimmten Zielen ausgerichtet, die meiner damaligen inneren Struktur entsprachen. So waren echte partnerschaftliche Bindungen unmöglich und geprägt von einer Art Selbst-Zweck oder, um deutlicher zu werden: Ich habe besonders Frauen als Vehikel meines Egotrips eingesetzt. So etwas geht eine ganze Zeit lang gut, besonders wenn man noch jünger ist. Wer aber nicht aufpasst, verpasst den Zeitpunkt, sich rechtzeitig neu zu finden. Aber wie soll das gehen? Im besten Fall hilft einem dabei ein nahestehender Mensch aus dem persönlichsten Umfeld wieder auf die Beine, vorausgesetzt er oder sie teilt Ihnen schonungslos seine oder ihre Meinung mit. Oder Sie suchen nach professioneller Hilfe. Mit den Lehren, die ich aus der Zeit mit »meinem« bereits erwähnten Psychologen zog, habe ich dieses Buch erarbeitet, das Ihnen Schritt für Schritt einen Weg zu gesundem Selbstwert aufzeigt und Ihnen – ganz ehrlich – ein schonungsloser Ratgeber sein soll. 14 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel 4 Kindheit und Jugend: hier liegt der Schlüssel »Dann wird er halt Handwerker« – ein Satz, in dem ich mich missverstanden und in meinem Wesenskern unerkannt fühlte. Was Selbstwert ist und dass Selbstwert sein muss, davon hatte ich bis zu meinem fortgeschrittenen Erwachsenendasein kaum Ahnung. In welch direkter Beziehung nicht ganz so geradlinig verlaufende Kindheitsgeschichten zum später unterentwickelten Selbstwert stehen, sollte ich aber noch erfahren. Rückblende: Meine Oma liebte es, mit dem Bus zu verreisen. An Ostern 1968, sie war wieder einmal unterwegs und meine Mutter mit der Rolle der Alleinerziehenden hoffnungslos überfordert, kam es bei mir zu einem Schlüsselerlebnis, das wohl einen Wendepunkt in meinem Leben markierte. Meine Mutter war schon tagelang depressiv gewesen, und ich hatte sie mehrfach dabei beobachtet, wie sie entgeistert und wie abwesend aus dem Fenster starrte. Ich konnte natürlich nicht ahnen, was sie plante. Es war Samstag früh, ich war darin vertieft, im Fußballbuch der WM 1966, das ich von Oma geschenkt bekommen hatte, zu blättern, als meine Mutter völlig benommen ins Wohnzimmer torkelte und kurz darauf auf der Türschwelle zusammenbrach. Ich muss wohl markerschütternd geschrien haben. Um zur Wohnungseingangstür zu gelangen, musste ich mit viel 39 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel Mut und Kraft über sie hinwegspringen. Die Nachbarn im Haus reagierten sofort. Relativ schnell kam ein Notarzt, um dann festzustellen, dass sie eine Überdosis Schlaftabletten zu sich genommen hatte. Somit war ich als Zwölfjähriger Zeuge ihres Selbstmordversuchs. Noch am selben Tag hat mich eine andere Familie mit an den Tegernsee in die Osterferien genommen, denn meine Großmutter war schließlich noch im Urlaub. Was diese Familie dem kleinen Pierre – so mein richtiger Vorname – damit Gutes getan hat, vergesse ich nie. Wahrscheinlich hat sie auf ihre Weise ein definitiv schweres Trauma verhindert. Aufgrund der therapeutischen Aufarbeitung später weiß ich heute, dass bei einem traumatisierenden Geschehen durch sofortiges Gegenhalten der seelische Schaden begrenzt werden kann. Wieder einmal Glück gehabt. Wie sich später noch oft herausstellen sollte, steht über meinem Leben ohnehin ein Glücksstern. Das mag – gerade im Zusammenhang des Erlebnisses von 1968 – paradox klingen, so ist es aber. Denn mit Erfahrungen wie diesen ist der Weg in die soziale Hölle eigentlich vorgegeben, es sind dies die Erlebnisse des Lebens, die einen normalerweise abstürzen lassen. Dienstag nach Ostern, meine Oma war zurück in Stuttgart, sagte sie: »Wir müssen jetzt deine Mutter im Krankenhaus besuchen« – doch ich wollte nicht. Zum ersten Mal war mir meine Mutter egal, zum ersten Mal hatte ich emotional abgeschlossen, und das mit gerade mal zwölf Jahren. Ich wollte nicht zu ihr, musste aber. Man hatte ihr den Magen ausgepumpt, wie man mir erzählt hatte, und dort lag sie im Krankenzimmer wie ein Häufchen Elend, streckte die Hand aus und wollte sich entschuldigen. Aber die Seele des kleinen Jungen war, was seine Mutter betraf, gebrochen. Nur ein Jahr später zog sie mit einem weiteren unehelichen Kind aus. Auch meine Halbschwester wurde einige Jahre später von Pflegeeltern großgezogen. Richtig aufgeatmet habe ich erst, als meine Großmutter das Sorgerecht für 40 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel mich bekam. Heute vermag ich einzuordnen, dass auch meine Mutter sich in einer für sie schweren Situation befand. Ich habe in intensiver Auseinandersetzung mit meinen erfahrenen Traumata Frieden schließen und ihr verzeihen können. Dennoch haben Erfahrungen wie diese meinem Lebensweg und meinem Selbstwert den entsprechenden Stempel aufgedrückt. Von Kindheit an verfügte ich nicht über ein gesundes Selbst. Dabei liegt in der Kindheit einer der Schlüssel für den Lebensselbstwert. Man könnte auch sagen: Früh trainiert sich, wer einen gesunden Selbstwert haben möchte. Bereits in der Schule zeigt sich, wohin ein schwacher Selbstwert führt. Heute gibt es dafür Kids-Coaching, zu meiner Schulzeit gab es kaum eine Lösung. Ich war, daraus habe ich nie einen Hehl gemacht, aufgrund meiner Familiensituation immer ein anerkannter Außenseiter. Selbstwertstärkende Maßnahmen waren zu Hause Fehlanzeige. Weil ich jedoch gut im Fußball war und sehr musikalisch, mein Musiklehrer lobte mich vor meinen Klassenkameraden für meinen gelungenen Musikvortrag, konnte ich immer mal kurz nippen an dem, wie Selbstwert schmeckt. Der Schlüssel des Selbstwertes wird zum einen genetisch im – nennen wir es Gen-Code – festgelegt und zum anderen durch den adäquaten oder auch nicht adäquaten Umgang mit solcher Prädisposition. Ob Sie von Grund auf ängstlich und zurückhaltend sind, ist genetisch begründet, ob Ihre Bezugspersonen und später die Menschen Ihres näheren Umfelds in ausreichendem Maße damit umgegangen sind, lässt sich am späteren Selbstwert ablesen. Was für den einen Menschen gut ist, kann für einen anderen vollkommen überdosiert sein. Heute bietet man den Kindern Kurse, damit sie nicht in der Opferrolle verharren und permanente Zielscheibe von Mobbing bleiben. Denn nur wer erfahren hat, geachtet, ermutigt und gefördert zu werden, kann selbstbewusst alle seine Ziele verfolgen. 41 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel Wenn man elterlicherseits nicht das Rundum-sorglos-Paket mitbekommen hat, neigt man schnell dazu, Schuldige zu suchen. Aber genau das hilft einem überhaupt nicht weiter. Man muss am Istzustand ansetzen. Ist der Selbstwert schwach, dann muss er repariert werden. Das können Sie mit Kontinuität und Selbstreflexion selbst schaffen. Oder aber mit der professionellen Hilfe eines Psychologen. Was war bei mir die Wurzel von nicht vorhandenem, schwachem oder geschwächtem Selbstwert? Ich erinnere mich an verschiedene Schlüsselszenen, die möglicherweise dazu beigetragen haben, und will im Folgenden auf einige, die mit dem Thema Selbstwert besonders zu tun haben, zu sprechen kommen. Vom Kindergarten wurde ich mit einem später diagnostizierten Schlüsselbeinbruch von meiner Mutter zum Kinderarzt gebracht. Da spürte ich zum ersten Mal bewusst ihre Kälte. Während der Arzt mich medizinisch versorgte, fühlte ich mich emotional in meinem körperlichen Schmerz komplett allein. Meine Großmutter war tagsüber auf der Arbeit, meine Mutter hatte sich wohl kurz freigenommen. Komplette Leere, keine Umarmung, keine tröstenden Worte. Der ohnehin angeknackste Selbstwert des kleinen Jungen bröckelte weiter. Heute weiß ich, dass ich mit diesem Gefühl nicht alleine dastehe. Wenn Sie sich auf die Reise zu Ihrem Inneren machen, werden Sie auf Stolpersteine der Vergangenheit stoßen. Vielleicht suchen Sie zu Beginn Schuldige, fragen, wer Ihnen den Selbstwertmangel eingebrockt hat, der Vater, die Mutter, der Sportlehrer – wer auch immer. Und nach geraumer Zeit werden Sie merken, dass Schuld verteilen nicht wirkliche Befriedigung verschafft. Vielmehr hilft es hinzuschauen, wo Kränkungen, Minderwertigkeitskomplexe ihren Ursprung haben. Wir wissen inzwischen aber auch, dass ein gesunder Selbstwert nicht unbedingt in direkter Verbindung zu einem guten Elternhaus steht 42 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel und umgekehrt. Natürlich ist es von großer Bedeutung, wenn Kindern das richtige Rüstzeug mitgegeben wird. Ich selbst weiß aus meiner Erfahrung, dass mangelnde Erziehung und Aufmerksamkeit, bei mir im Speziellen auch noch Gewalt, lebenslang den Selbstwert schwächen. Ich habe inzwischen viele Zugänge gefunden, mir diesen verlorenen Selbstwert neu zu erschließen. Meine Mutter war mit der Erziehung überfordert, mein Vater war nicht gegenwärtig. Und was man nicht hat, fällt einem schwer zu vermissen. Es dauerte sogar lange, bis ich überhaupt begriff, dass zu einer Familie mehrere gehören, mehr noch: was Familie überhaupt meint. Es gab nicht den Moment, in dem mir klar wurde, ich müsse wohl doch einen Erzeuger haben. Es war vielmehr eine Summe puzzleartiger Erlebnisse, die langsam in mein Bewusstsein drang, nämlich dass mir wesentliche Informationen zu meiner Herkunft von meiner Mutter vorenthalten wurden. Ich traute mich jedoch nicht zu fragen, da unangenehme Fragen stets mit tätlicher Gewalt beantwortet wurden. Erst als pubertierendem 14 -Jährigem zeigte mir meine Oma ein einzeiliges Schreiben vom Jugendamt, in dem der Name meines Vaters stand. Er hatte viele Jahre zuvor auf die Bitte um Anerkennung der Vaterschaft sinngemäß geantwortet, er habe in seiner Zeit in Deutschland mit unzähligen Frauen sexuelle Kontakte gehabt. Da könne auch meine Mutter dabei gewesen sein, möglicherweise aber auch nicht. Er erkannte die Vaterschaft nicht an und verschwand in sein Heimatland. Jetzt könnte man aus therapeutischer Sicht sagen, hier und dort, da liegen die Schlüssel, da ist gründlich etwas schiefgelaufen. Doch auch ein intaktes Elternhaus ist kein Garant für ein glückliches Leben. So stürzen junge Menschen, die zu Hause sehr viel Aufmerksamkeit erfahren haben, oftmals dann in Lebenskrisen, wenn sie erstmals auf dem Boden der Realität ankommen, und reagieren bei beruflichen Einbrüchen oder 43 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel schwierigen Aufgaben mit seelischen oder körperlichen Symptomen. Sie sind im besten Sinne verwöhnt, aber nicht vorbereitet und weisen eine geringe Resilienz auf, worunter man die Widerstandskraft in einer Krise versteht. Weil sie das Thema »Problembewältigung« immer abgenommen bekommen haben, von der Wohnungssuche bis zum Bewerben, drohen sie im wahren Leben zu scheitern. Ich erinnere mich an eine Mutter, die es mit ihrer Tochter sehr gut meinte. Sie wollte sie im Job gut untergebracht wissen und schrieb ihr knapp hundert Bewerbungen, immer und immer wieder, weil die Tochter im persönlichen Gespräch stets versagte oder das Schreiben vielleicht nicht authentisch genug beim potenziellen Arbeitgeber ankam und sie gar nicht mehr vorzusprechen brauchte. Sie begnügte sich mit einem Beruf, einer Stelle, der sie bis heute treu ist. Keine Schande, ohne Frage. Ich persönlich aber glaube, da wäre mehr drin gewesen, wenn sich das erwachsene Kind selbst durchgeboxt hätte. Aber Muster bleiben eben der Seele eingeprägt, bis man sie verantwortungsvoll mit neuen Erlebnissen, am besten positiven, zupflastert. Eine Anekdote aus meiner Kindheit und deren Prägung von Angst und dem Gefühl der Wertlosigkeit ist folgendes: Ich erinnere mich noch immer an die Schritte meiner Mutter auf der Straße. Der Klang ihrer Schlüssel hat mich bis heute zu einer perfekten Alarmanlage gemacht. Ich höre das Gras wachsen, könnte man denken. Geschult durch die nackte Angst des kleinen Jungen, habe ich heute ein so gutes Gehör und Unterbewusstsein, dass ich in der Umgebung untypische Geräusche sofort erfasse und nachts sogar davon aufwache. So hat die Angst vor meiner alkoholisierten Mutter meine Sinne fürs Leben so geschärft, dass ich ein regelrechtes Frühwarnsystem bin. Und auch beim Thema Einschlafen gibt es eine Brücke bis in die jüngere Vergangenheit: Hatte ich mit meiner inzwischen 44 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel geschiedenen Frau Streit, schlief ich in dieser Nacht wie ein Murmeltier. Die Reflexe, den Streit nicht mehr mitbekommen zu wollen, hatte ich bis ins Erwachsensein behalten. Von Kindheit an löste mein geringer Selbstwert, den ich mühevoll mit guten Leistungen im Fußball aufzupeppen versuchte, Verweigerungsaktionen aus, wie ich sie nenne. In der Schule durchlebte ich meine ersten, regelrechten Verweigerungsphasen. Ich suchte ein Ventil für meine angestauten Probleme, trug wahnsinnig viel Wut und Zorn in mir. Gewalt war für mich nie eine Lösung, also ging ich in die Verweigerung. Zunächst beim Lernen. Mit einem Notendurchschnitt von 5,6 flog ich als Vierzehnjähriger von der Schule. Keine Chance, durchs Schuljahr zu kommen, überall ungenügend, nur in Englisch eine 2 im Zeugnis. Den Schulwechsel empfand ich gar nicht so schlecht, denn ich war auf einer reinen Jungenschule gewesen und wechselte nun auf eine gemischte. So erlebte ich die erste Begegnung mit dem weiblichen Geschlecht. Ich war total aufgeregt. Es war der Hammer, Mädchen in der Klasse, manche sehr süß. Und so hatte ich schon mit 15 erste positive Erfahrungen und kurz darauf meine erste Freundin. Sogleich war ich angespornt, etwas für die Schule zu tun. Es war geradezu unglaublich, aber nur ein halbes (!) Jahr später musste ich diese Schule wieder Richtung Jungenschule verlassen. Grund: Mein Notenschnitt hatte sich von 5,6 auf 1,2 verbessert, und die Schulbehörde stufte mich jetzt als besonders begabt ein. Der Rektor meiner ehemaligen Schule bekam einen mittelmäßigen Schreianfall, seine Adern stachen am Hals hervor, er schnaubte vor Ungläubigkeit. Sinngemäß fragte er mich, ob ich ihn verarschen wolle. Mit unschuldigstem Blick antwortete ich: »Nein!« Ich denke, er hat es mir nicht geglaubt. Ich hatte seine Versetzungsentscheidung in nur wenigen Monaten ad absurdum geführt. Klar, dass ihn das nicht begeisterte. Ich wurde wiederum wenig später zum Schulsprecher gewählt und habe meine schulische Laufbahn mit 3,3 beendet. 45 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel 6 Mein eigener Selbstwert – wie kann ich ihn messen? Titel, Namen, Labels helfen deinem Leben wenig. Sie fallen oft in sich zusammen, so wie Titels, Labels, Namen … gelieh’n, bezahlt, erledigt. Spring jetzt und hier den schwersten Sprung, spring in die Veränderung … »Titel, Namen, Labels« aus dem Album »Das Prinzip Mensch« (2006) Anfang der Nuller-Jahre hatte ich mein Burnout zwar weitestgehend überstanden, mich wieder aufgerichtet, der Marktwert von Peter Schilling, also meine Karriere als Bühnenkünstler, lag jedoch inzwischen am Boden. Kreativ war ich bekanntlich jahrelang außer Gefecht gesetzt gewesen, Konzerte, TV-Shows etc. – alles Vergangenheit. So entschied ich mich für einen sanften Einstieg zurück ins Geschäft. Dachte ich. Spielte Solo-Auftritte, sogenannte Halbplayback-Jobs. Keine tatsächliche Herausforderung, aber ein florierendes Geschäft. Drei Jahre nach Aufnahme dieser Jobs zählte ich bis zu 139 Termine im Jahr. An Aufträgen mangelte es also nicht, aber meine Künstlerseele litt entsetzlich. Es waren Auftritte in Kaufparks, zwischen Einkaufswagen und Coffeeshops, und Auftritte in Diskotheken, grundsätzlich nichts Verwerfliches, aber manchmal mit widerlichem Beigeschmack, so wie diesem: Eine Veranstalterin hatte mich in ihren Club gebucht. Es handelte sich um eine Ü30 -Party, bei der es dem Publikum wohl darum ging, sich schnellstmög65 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel lich bewusstlos zu saufen, um keinen klaren Gedanken mehr fassen zu müssen. Die Veranstalterin war wohl auf Drogen, jedenfalls kam es mir so vor, als habe sie mich nicht zum Singen, sondern für ihre privaten Zwecke gebucht. Und der sogenannte Sound-Engineer hing über seinem Pult, über das er soeben erbrochen hatte. War es das, weswegen ich in den 70 er-Jahren vor meiner Mehrspurmaschine in Omas Schlafzimmer gesessen hatte, war es das, warum ich jahrelang geprobt hatte, mir das Songschreiben beigebracht hatte? War das übrig geblieben von meiner wahren Liebe zur Musik? Mir war entsetzlich schlecht, ich schämte mich vor mir selbst. Keine Frage, wo sich zu jenem Zeitpunkt mein Selbstwert befand … Wenn man mich in Interviews als Botschafter des deutschen Kinderschutzbundes nach meinem Bezug zu diesem Engagement fragt und dann schnell auf meine eigene Kindheit zu sprechen kommt, ist es mir ein besonderes Bedürfnis, kundzutun, dass die blauen Flecken, resultierend aus der Gewalt, die einem schutzbefohlenen Wesen angetan wurde, eines Tages nicht mehr sichtbar sind. Damit ließe sich, ich spreche eben aus eigener Erfahrung, vielleicht sogar noch umgehen. Am schlimmsten jedoch ist der zusammengeprügelte Selbstwert. Da sind wir wieder beim Thema: Dieses »Nicht-angenommenworden-Sein« begleitet einen durch das ganze Leben. Wie gut Sie so ein Trauma bearbeiten, davon hängt ab, wie Sie später durchs Leben gehen. Ich weiß heute, wie auch schon an mehreren Beispielen deutlich gemacht, dass ich mir meine sagenhafte Karriere damals Stück für Stück selbst zerstörte, scheibchenweise eine Fehlentscheidung nach der anderen traf. Auch ich konnte mir auf dem Olymp seinerzeit nicht erklären, wie mich alle Welt so lieben konnte. In mir war schließlich der Prägestempel, der besagte: »Du bist schuld, du bist nichts wert.« Genau aus diesem Gefühl heraus war ich wohl auch in besagter Diskothek gelandet … 66 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel »Mein« Therapeut hat mich in zahlreichen Sitzungen und intensiver Auseinandersetzung mit meiner Geschichte wieder zu einem gesunden, selbstwertstarken Menschen gemacht. Ein harter Prozess, kann ich Ihnen sagen. Denn ohne diesen hätte ich für mein Versagen, meine Misserfolge immer meine Kindheit schuldig erklärt. Natürlich soll das nicht die Gewalttätigkeit meiner Mutter, ihre Unfähigkeit, angemessen für ihren kleinen Sohn zu sorgen, relativieren und in irgendeiner Weise gutheißen. Und doch war es für meine Heilung immens wichtig, mit meiner Vergangenheit Frieden schließen zu können. Als ich das, auf mein Leben bezogen, endlich begriffen hatte, war ein neuer, qualitativ anderer Sprung in meiner Karriere möglich. Wie das machbar war? Ich habe beschrieben, dass der Mensch eine Gesamtpersönlichkeit darstellt, bestehend aus Fehlern, Schwächen, Stärken, Fähigkeiten, eigener Optik und vielem mehr. Erst wenn er – vereinfacht formuliert – alle seine Teile dieser Persönlichkeit annimmt, wirkt er nach draußen schlüssig, ist authentisch. Zu glauben, man könne unliebsame Teile von sich einfach so abstoßen, ist falsch. Dann fehlen Bausteine im komplexen System des eigenen ICH. Vielleicht haben Sie schon einmal bemerkt, dass, wenn Sie mit Kollegen gemeinsam für eine Arbeit kritisiert wurden, jeder unterschiedlich damit umging. Einer ganz entspannt, der andere selbstkritisch, wiederum andere – vielleicht auch Sie selbst – gekränkt. Eine alte, vereinfacht formulierte Regel aus der Psychologie besagt, dass alles, was dich länger als drei Minuten beschäftigt, mit dir zu tun hat. Fühlen Sie sich also gekränkt und lässt Sie der Gedanke nicht los, oder versuchen Sie unter Umständen, Schuld zu verteilen, dann sollten Sie besser ganz woanders nachforschen, nämlich bei sich selbst. Auch wenn es zunächst nicht so aussieht, aber es entspannt ungemein, wenn Sie es kontinuierlich tun. Stellen Sie sich Ihren Selbstwert wie das Immunsystem vor. Ist Letzteres geschwächt, kommen Grip67 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel peviren schneller zum Ziel. Und das Ergebnis: Sie sind öfter krank. Ist der Selbstwert geschwächt, schlägt jedes kritische Wort, jeder schräge Blick zu Buche. Sie fangen an zu grübeln, nehmen alles persönlich und fühlen sich noch unsicherer. Wichtig ist also, dass wir lernen, wohlmeinende von destruktiver Kritik zu unterscheiden. Man weiß inzwischen, dass so ziemlich jede psychische Störung mit einer Verletzung des Selbstwertgefühls zusammenhängt. Umgekehrt aber lässt sich sagen, dass auch bei »psychisch Gesunden« der Selbstwert in den verschiedenen Lebensbereichen unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Das Ziel muss also sein, dass ich eine anhaltende Stärkung meines Selbstwertes erreiche. Seien Sie Ihr eigener Bilanzbuchhalter und notieren Sie ganz wertfrei Ihre Stärken und Schwächen. Wenn Sie einen ehrlichen und vertrauenswürdigen Menschen bitten, Ihre Außenwirkung ebenfalls in PRO und KONTRA zu gliedern, dann haben Sie einen guten Richtwert. Stufe 2 sollte sein, dass wir aufhören, von aller Welt geliebt werden zu wollen. Typisch für Selbstwertschwache ist nämlich auch, dass sie meinen, man finde nur im Außen Anerkennung. Ist Ihr Chef also heute nicht zufrieden mit Ihrer Leistung, kann und darf es nicht sein, dass Ihre komplette Tagesform davon abhängt. Nur, weil Ihr Sohn nicht mehr möchte, dass Sie ihn zum Sport fahren, weil er sich dafür zu alt fühlt, sollte das ebenfalls nicht mit »Beleidigtsein« einhergehen. Um ins Thema hineinzufinden, ist es erst einmal ganz hilfreich, sich die Bereiche herauszusuchen, in denen Sie stark sind, wo nichts und niemand Ihren Selbstwert erschüttern kann, gewissermaßen Ihr individuelles Stärkeprofil anzulegen. Ich erinnere mich, dass mich meine Deutschlehrerin für einen Aufsatz tadelte und ich mit einer 5 von dannen zog. Erschüttert hat mich das aber nicht. In diesem Fall war mein Selbstwert offensichtlich nicht geschwächt, denn ich wusste, dass ich in dem Bereich etwas draufhabe. Im Schnitt betrifft noch heute jede zwei68 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel te Mail, die mich über Facebook von meinen Fans erreicht, die Qualität meiner Texte. Ich lag damals also offensichtlich nicht ganz falsch. Als ich früher mal mit einem schlechten Zeugnis nach Hause kam, hörte ich von meiner Mutter nur: »Dann wird er halt Handwerker!« Das hat mich so gekränkt, dass ich bis Mitte 40 keine Bohrmaschine angefasst habe. Erst nach meiner Scheidung, ich war schon knapp 50, habe ich den ersten Wasserhahn repariert. Und als ich zwischendrin ein wohlgemeintes Geschenk, ein Heimwerkerbuch, bekam, fühlte ich mich angegriffen, empfand es als Anmaßung. Das aber ist nicht der Fehler anderer, sondern meint eben nur, dass ich mich mit speziell diesem Bereich aussöhnen musste. Dehnen Sie diese Bereiche aus. Gehen Sie raus aus Ihrer Opferrolle. Und irgendwann merken Sie, dass Sie so schnell nichts mehr kränken kann. Noch ein, zwei Beispiele aus meinem ganz persönlichen Selbstwert-Katalog? Seit inzwischen über 30 Jahren bin ich selbstständig tätig. Da gehört es natürlich dazu, dass ich Wochenenden komplett durcharbeite, nächtelang im Studio sitze, in zwei Tagen knapp 2.000 Kilometer selbst mit dem Auto zurücklege und dazwischen Fernsehtermine absolviere. Ein ganz normaler Arbeitsrhythmus, den ich mir immer gewünscht habe. Wenn ich jedoch dann, was recht einfach zu erklären ist, zeitweise erst um 10.30 Uhr aufstehe, plagt mich – inzwischen seltener – immer noch das schlechte Gewissen, ich sei faul, weil ich nicht um 8 Uhr an die Arbeit gehe. Ja, das ist wirklich wahr. Wenn ich mir früher das »Handelsblatt« zu lesen holte, überkam mich manchmal beim Lesen das schändliche Gefühl, alle außer mir wüssten wahnsinnig viel. Dabei müsste ich, könnte man denken, bei meinen künstlerischen wie unternehmerischen Erfolgen gar keine Komplexe haben. Es war ein langer Weg zu dieser Erkenntnis, doch er hat sich gelohnt. 69 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel Sich selbst also zu vertrauen, Fehler zu akzeptieren, Souveränität, Gelassenheit zu erarbeiten, Energieräuber zu entschlüsseln, Ziele zu fokussieren, all das kann Ihnen helfen auf dem Weg zu Ihrem persönlichen Erfolg, denn dessen Motor ist ein gesunder Selbstwert. Überhaupt ist das Nachdenken über sich selbst schon die halbe Miete. Wenn Sie persönlich Ihre Leistung, Ihre Eigenschaften wertschätzen, ist das aber nur bedingt wertvoll. Erst die Anerkennung durch de facto geleistete Arbeit, die durch andere Menschen als Erfolg gewertet wird, macht diese Wertschätzung vollkommen. Solches Eingebundensein in soziale Strukturen mit anderen Menschen lässt einen Menschen selbstwertstark und weitestgehend immun gegen »Kränkungsviren« von außen werden. Astrid Schütz bringt in ihrem Buch »Psychologie des Selbstwertgefühls« zum Ausdruck, was nur allzu logisch erscheint: »Wer sich selber akzeptiert, akzeptiert mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch andere.« Das ist es, was ich meine, wenn ich sage, die Menschen um mich herum besser verstanden zu haben, nachdem ich gelernt hatte, mich selbst zu verstehen. Eine tolle Erfahrung. Man hat einen Friedenspakt geschlossen mit der Meinung anderer, weil man nur bedingt Einfluss darauf hat. Gelernt habe ich im Laufe der Jahre auch, mit meinen Schwächen nicht mehr hinter dem Berg zu halten. Wenn Sie sich Ihrer Stärken und Schwächen bewusst werden, sind Letztere kein Problem mehr. Aussöhnung mit sich selbst würde ich das nennen. Als ich mich beruflich wieder auf den Weg machte, ins Musikgeschäft zurückzukehren, bin ich beileibe nicht mit offenen Armen empfangen worden. Bei nicht intaktem Selbstwert wäre ich bei so manchen Aussagen von Veranstaltern oder Redakteuren wieder heftig ins Straucheln geraten. Von »Lebt der noch?« über 70 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel »Wir besetzen nur erfolgreiche Acts« bis hin zu »Singt der noch mehr als ›Major Tom‹?« war alles dabei. Für manche mag das würdelos klingen, aber ganz hart formuliert, hat mich keine dieser Attacken getroffen. Im Gegenteil: Es war doch klar, dass nach so langer Abstinenz vom Showgeschäft keiner zwangsläufig auf Peter Schilling gewartet hat. Als ich trotz solcher Anlaufschwierigkeiten im Jahr 2005 mit Feuereifer weitermachte und richtig Bock auf diesen Job hatte, wusste ich, dass ich die Krisen hinter mir gelassen hatte. Erfolg setzt sich für mich heute aus so vielen Bausteinen zusammen, dass einzelne Irritationen meinen Selbstwert nicht mehr angreifen. Das kann Ihnen genauso gelingen. Um an diesen Punkt zu kommen, sollten Sie kontinuierlich, daran arbeiten. Das fängt schon im Kleinen an. Den Lebensrucksack ausleeren ist eine der wichtigsten Aufgaben und kann ein tägliches Seelenbad sein, wie ich es gerne nenne. Gehen Sie in Klausur mit Ihren stetig wechselnden Ängsten, Einstellungen, Kränkungen, schreiben Sie quasi ein Tagebuch Ihrer Erfahrungen. Irgendwann geht das auch gedanklich: Was ging mir heute nahe? Was hat mich gekränkt? Wo fühlte ich mich missverstanden? Was gelang mir wie von selbst! Warum wurde mein Erfolg nicht gewürdigt? Was regt mich auf? Was blockiert mich? Was war mir peinlich und warum? Dieser Fragenkatalog ist beliebig fortzuführen. Bei der SCHONUNGSLOSEN (Danke! :-)) Beantwortung dieser Fragen kommen Sie sich selbst immer näher. Fragen Sie sich auch, woher diese Muster kommen. Irgendwann werden die alltäglichen Bilanzen überschaubarer. Und der Selbstwert wächst stetig dazu. In der Psychologie nennt man das, innere Achtsamkeit zu lernen. Das Interessante dabei: Über die Suche nach Ihrem eigenen Selbstwert beginnen Sie irgendwann auch selbstwertstarke von selbstwertschwachen Menschen unterscheiden zu können. Ein Banker in Führungsposition, den ich bereits Ende der 80 er ken71 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel nenlernte, beeindruckte mich sofort. Heute weiß ich, dass er einen gesunden Selbstwert hatte, der ihn so authentisch sein ließ. Er machte im Zuge unserer Gespräche keinen Hehl aus seiner Herkunft, einem sozialen Brennpunkt Deutschlands, stand zu seinen Wurzeln und hatte es bis ganz nach oben auf der Karriereleiter einer der erfolgreichsten Banken geschafft. Fast wie Obama bei seiner Antrittsrede als Präsidentschaftskandidat der Demokraten: »Mein Name ist Barack Obama, ich komme aus Hawaii, bin Farbiger, habe abstehende Ohren und möchte Präsident der Vereinigten Staaten werden.« Was für ein Statement! Ein bisschen davon kann niemandem schaden. Meint: Ich bin wer, trotz oder gerade mit meiner ganz persönlichen Geschichte. Sie, der Sie gerade diese Zeilen lesen, sind einzigartig. In der gesamten Menschheitsgeschichte sind Sie EINMALIG. Was wollen Sie mehr – bitte machen Sie etwas draus! Auch Negatives prägt und kann sich, richtig verstanden, sogar positiv auf den eigenen Charakter auswirken. Wie sagte Jürgen Klopp, Trainer bei Borussia Dortmund, so schön nach einem verlorenen Spiel: »Genau diese Lektion haben wir gebraucht, um Meister zu werden.« So wird das eben noch negativ Erfahrene zur Motivation für das weitere Fortkommen. Für Selbstmitleid ist in einem gesunden Selbstwertgefühl kein Platz. Mal einen schwachen Tag zu haben, kennt, glaube ich, jeder von uns. Aber tagelang in der Opferrolle zu verharren ist schon bedenklich. Eine Bekannte erzählte mir vor ein paar Jahren, sie sei vollkommen aufgelöst, weil ihr Bruder aus lauter Selbstmitleid die gemeinsame, hochbetagte Mutter, inzwischen weit über 80 Jahre alt, dafür verantwortlich machen wollte, dass er selbst schwer krank geworden sei. Sie selbst hatte ihre Kindheit, nicht immer leicht, psychotherapeutisch aufgeschlüsselt und war schockiert, dass es sich ihr älterer Bruder so einfach machte, Schuld zu verteilen. Es gibt keine Schuldigen! Fang zunächst bei dir selbst an! 72 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel Jetzt könnte man einwenden, dass ein Zuviel an Selbstwert überheblich macht. Nein, ein Zuviel gibt es nicht. Selbstliebe und gesunder Egoismus haben nichts, aber auch gar nichts mit Narzissmus und Arroganz zu tun. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn Sie zu sich selbst stehen, Vertrauen in Ihre Fähigkeiten haben. Und Narzissmus, was wir gemeinhin mit einem Zuviel an Selbstwert gleichsetzen, bedeutet genau das Gegenteil. Dazu später mehr. Ein Minderwertigkeitskomplex wiederum hindert Sie in allen Lebensbereichen an einem erfolgreichen Fortkommen und wirkt, wie Studien belegen, weniger attraktiv auf andere. Trainieren Sie also ruhigen Gewissens Ihren Selbstwert wie einen Muskel. Jeden Tag aufs Neue. Formulieren Sie eigene Ziele, denn häufig sagen sich Menschen mit schwachem Selbstwert: • »Ich kann ja froh sein, dass ich überhaupt einen Partner habe, auch wenn ich mich eigentlich nicht mehr wohl in dieser Beziehung fühle. Ehe ich als Single in der Gesellschaft schräg angesehen werde, lasse ich alles, wie es ist, und stelle keine Ansprüche.« • »Das Geschenk war wirklich nicht nötig.« (Meint: Das bin ich doch gar nicht wert!) Aus schlechtem Gewissen schenken solche Menschen sofort wieder etwas zurück oder lehnen das Präsent ab. • »Besser, ich habe diesen Job als gar keine Arbeitsstelle. Ehe ich unzählige Bewerbungen schreibe und dann wahrscheinlich doch nicht genommen werde, verharre ich, wo ich bin, und ärgere mich lieber, bin unzufrieden.« Damit nehmen Sie sich etwas? Genau, eine echte Chance, Ihr Leben selbst und vor allem individuell zu gestalten. Ergo: Es lohnt sich, um im Leben wirklich Erfolg zu haben, die persönlich gefühlte Komfortzone zu verlassen. Ich habe es häufig getan und mich dann gefragt: »Hättest du das nicht be73 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel quemer haben können?« Auf den ersten Blick schon, aber als ich meine angepeilten Ziele dann doch erreicht hatte, war das persönliche Glücksgefühl, der eigene Herr über seine Entscheidungen zu sein, unübertrefflich. Mit der persönlichen Komfortzone verhält es sich wie mit einem Teich: Steht das Wasser zu lang, wird es faul und beginnt zu stinken. Schauen Sie sich Ihr Selbstbild an: Welche Stellenanzeige lesen Sie, was trauen Sie sich zu? Welche Kleidung steht Ihnen gar nicht? Welcher Partei vertrauen Sie? Wenn Sie nichts über sich wüssten, könnten Sie sich solchen Grobrastern gar nicht zuordnen. Bleibt eben nur noch die Frage, ob Ihr Selbstbild realistisch oder von Gewohnheiten genährt ist. Wie Monika Reichelt in »Die verletzte Seele« veranschaulicht, »erlauben wir uns oft nur, die Erfahrungen zu machen, die mit unserem Selbstbild übereinstimmen und die unser Selbstwertgefühl nicht gefährden«. Das kann natürlich ein Trugschluss sein, weil alle anderen möglichen Erfahrungen durch das Selbstwertraster durchfallen. Womit wir wieder beim blinden Fleck unseres Selbstbildes wären. So kann ein junger Mann, durch elterliche Erziehung mit Samthandschuhen das Gefühl bekommen, er sei Iron Man. Die Wirklichkeit zeigt jedoch, dass ihn die Eltern gar nicht gemessen an seinen tatsächlichen Fähigkeiten aufs Leben vorbereitet haben und er an Grenzen stößt, weil er eigentlich hochsensibel ist. Typisches Beispiel für ein verzerrtes Selbstbild. Zurück zur Messung unseres eigenen Wertes: In sämtlichen Lebensbereichen schreiben wir Bilanzen, im Job, zu Hause im Haushaltsbuch, zählen Kalorien bei der Diät, machen eine Todo-Liste für den Urlaub, planen akribisch den Hausbau, pflegen unser Bonusheft beim Zahnarzt, aber warum führen wir eigentlich kein Tagebuch über unseren Selbstwert? Der Meditationslehrer Ananta Steuder hat hierzu im Schweizer Blatt »Der Bund« ein anschauliches Beispiel geschildert: »Wir identifizieren uns oft stark mit den Rollen, die wir über 74 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel Jahre angenommen haben, und klammern uns daran fest. Bei der Meditation geht es auch darum, wieder leer zu werden, uns von all dem zu befreien, was man uns eingetrichtert hat. Ein Kleinkind ist ein stiller Teich mit klarem Wasser, man kann bis auf den Grund schauen. Dann werfen die Eltern Steine in diesen Teich, später tun es Lehrer, Sporttrainer, Pfarrer, viele andere. Wir nehmen all diese Steine auf, meinen, es sei unser Eigenes und lassen uns dadurch programmieren. Wenn wir 30 - oder 35 -jährig sind, ist das Wasser trüb. Wir spulen als Selbstläufer unser Programm ab, wähnen uns auf Kurs, aber wir sehen nicht auf den Grund, wissen nicht, wer wir sind.« In der Ruhe, in der Stille, in der Meditation, lernen Sie, nach innen zu sehen. Nach Ananta Steuders Metapher mit den Steinen, die das Wasser trüb werden lassen, geraten in der Zeit der Stille keine weiteren Steine mehr ins eigene Gewässer. Und so sinken mit zunehmender Einkehr bei sich selbst alle Steine auf den Grund, und das Wasser wird wieder klarer. Wenn wir das Ursprüngliche wiederfinden, werden wir automatisch gelassener und vertrauensvoller gegenüber dem Prozedere des Lebens. Dabei muss jeder den ganz eigenen Zugang zu sich selbst finden. Wenn sie zwischendurch Lust auf Musik von mir bekommen, dann geben sie an dieser Stelle bei »YouTube« den Titel »100 Stufen« ein. Dieser Song beschreibt mein Gefühl auf dem Weg zu mir selbst. Viel Spaß dabei! Bleibt die Frage, wie Sie Ihren eigenen Selbstwert messen können? Wir können nach dem bisher Gesagten davon ausgehen, dass er sich aus unterschiedlichen Bereichen höchst individuell zusammensetzt und nicht zwangsläufig heute so stark sein muss wie morgen, er ist also immer wieder Schwankungen unterlegen. Gibt es eine Skala, ein Thermometer? Womit misst der Experte, der Psychotherapeut, wie ich drauf bin? Ein solches Messgerät gibt es natürlich nicht, wohl aber Skalen, die von Profis erstellt wurden, anhand deren man schon mal eine grobe Einschätzung hat, wo in etwa sich Ihr Selbstwert ein75 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel gependelt hat. Sehr populär ist bereits seit Mitte der 60er-Jahre die sogenannte »Self-Esteem-Scale« von Morris Rosenberg. Dieser Fragebogen wird heute noch verwendet. Eine weitere Skala des Amerikaners Coopersmith von 1967 ist ebenfalls noch in Gebrauch. Hierzulande wurden eher diese »Longseller« übersetzt als neue entwickelt. Offenbar haben sie eine Grundlage der Selbstwert-Erfassung geschaffen, die sich bewährt hat. Mit der erstgenannten Skala soll laut Uwe Kanning in seinem Buch »Selbstwertmanagement« »der situationsstabile und zeitlich überdauernde, private Selbstwert einer Person gemessen werden«. Womit wieder einmal bewiesen ist, dass der Selbstwert von ganz verschiedenen Faktoren abhängig ist. Ein Psychotherapeut erfährt in einer etwa zweistündigen Anamnese, sprich einem Gesundheitscheck, natürlich einen individuelleren Status des Selbstwerts. »Mein« Therapeut nennt diesen Wert häufig auch Entwicklung/Dynamik einer Seele. Dazu gleich mehr. Haben wir soeben über den privaten Selbstwert gesprochen, so gibt es auch den öffentlichen, kollektiven Selbstwert. Dieser Wert bemisst, wie wir im Kontext all jener sozialen Gruppen, denen wir bewusst oder unbewusst angehören, selbstwertmäßig dastehen. Im Laufe unserer Entwicklung als Mensch unterliegt der Selbstwert naturgemäß Schwankungen, man denke nur an die Pubertät oder den Eintritt ins Rentenalter. Für gewöhnlich pendelt sich der Selbstwert aber nach Übergang und Neuordnung in der neuen Entwicklungsphase wieder ein. Tut er das nicht, sollte dringend gegengesteuert werden. Wir wissen, dass ein Kind von nicht einmal zwei Jahren erstmals im Spiegel realisiert: »Das bin ich (selbst)!« Die primärste aller Selbsterfahrungen, könnte man sagen. Von dem Moment an lernt der Mensch sich kennen und entwickelt einen Wert von sich selbst – im Verhältnis zu anderen, durch Prägung, Erziehung und so weiter. Das Selbst-Bewusstsein wird also ebenfalls »geboren«. Wenn wir erwachsen sind, hat sich der Blick meist ein wenig getrübt. Beim einen mehr, beim anderen weniger. 76 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass wir bei anderen Menschen häufig eine 1:1-Persönlichkeitsanalyse hinlegen, selbst aber buchstäblich mit der Nase auf unsere eigenen Probleme gestoßen werden müssen. Das ist der tote Winkel, der blinde Fleck unserer Selbstwahrnehmung. Wenn Sie auch zu dieser Spezies Mensch gehören und Sie eben beim Lesen gedacht haben: »So bin ich ja auch«, ist das ein guter Anfang. Jetzt müssen Sie nur noch einen Spiegel zum Ausgleichen des toten Winkels einbauen. Und da sind wir ja gerade dabei. Erwarten Sie bitte bei der Selbsterkenntnis auch nicht den berühmten großen Knall. Der wird nicht kommen. Es ist vielmehr ein Prozess, der fortwährend ist. Ich ging lange in meine Therapie und nichts hat sich getan. Erst nach Jahren bemerkte ich eine Veränderung an mir selbst, und zwar dadurch, wie andere mich plötzlich sahen. Ich betrachte das wie eine seelische Fitnessübung. Jede neue Aufgabe trainiert einen anderen Muskel. Zurück zu unserem persönlichen Selbstwert. Wie die zweite Silbe schon vermuten lässt, hat auch der Selbstwert mit Werten an sich zu tun. Jeder von uns hat sein eigenes Wertesystem. Das können Sie am besten überprüfen, wenn Sie sich einmal die Mühe machen und das angekündigte T-Konto eröffnen und nach Wertmaßstäben aufgliedern. Ich weiß, das klingt zunächst hoffnungslos bürokratisch, aber zu Beginn ist es tatsächlich besser, sich einmal handschriftlich einen Überblick zu verschaffen über: a) Welche Eigenschaften besitze ich / besitze ich nicht? b) Was gefällt mir an anderen? Was vermisse ich an mir? c) In welchen Phasen geht mein Selbstwert geradezu gegen 0? Welche Kränkungen kenne ich aus frühester Kindheit? d) Habe ich ein Ideal von mir? Und warum bin ich nicht so? Was hält mich davon ab, so zu sein, wie ich mich sehe? e) Kann ich mich mit Schwächen und Stärken arrangieren? Wie gehe ich mit den einen und den anderen um? 77 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel Das ist nun eine ziemlich pauschale Liste, die mir aber geholfen hat, mich einzunorden. Es spricht natürlich nichts dagegen, diese zu individualisieren. Was immer wieder auffällt bei der Erstellung solcher persönlichen Wertmaßstäbe: Manche Werte stammen gar nicht von uns selbst, sondern wir haben sie einfach so übernommen. Schließt sich die Frage an, ob man einen Selbstwert auch 1:1 übernimmt, es also so etwas wie einen generationenübergreifenden Selbstwert in der Familie gibt. Dazu später mehr. Familie, Beziehung, Beruf, Gesundheit, soziale Kontakte, Finanzen, gesellschaftliche Stellung und, und, und – alles spielt mit rein in die Bewertung unseres Selbstwertes. Jetzt merken Sie, dass dieser nur bedingt konstant ist. Das heißt: Positive Ereignisse oder schlechte Erfahrungen werden natürlich auf den Selbstwert gesattelt, mindern oder erhöhen ihn. Wenn Sie stark von äußeren Ereignissen abhängig sind, kann es sein, dass Sie heute Morgen bester Dinge waren, nach einem nicht so brillanten Arbeitstag aber abends alles an sich infrage stellen. Höchste Zeit, etwas zu tun. Jeder von uns hat andere Wertmaßstäbe, erhebt andere Ansprüche an sich und seine Umwelt: Das geht von Arbeitseifer über Glaubwürdigkeit bis hin zu Zivilcourage, um nur einige Werte zu nennen. Und wiederum unterscheiden wir uns kollektiv mit unseren Maßstäben natürlich wesentlich von anderen Kulturkreisen. Dabei wären wir beim Thema Toleranz: Wenn Sie feststellen, dass Sie nun mal nicht so sind wie andere, sondern Ihre eigene individuelle Stellung akzeptieren, können Sie auch tolerant mit anderen umgehen. Wir kommen später noch ausführlich auf das Thema Schatten-Persönlichkeit zu sprechen. Dabei handelt es sich, knapp formuliert, um Anteile unserer eigenen Persönlichkeit, die im Dunkeln liegen. Sobald Sie bei einer Eigenschaft eines anderen Menschen hochgehen könnten, sollten Sie sich fragen, was diese Eigenschaft eigentlich mit Ihnen selbst zu tun hat. Denn der 78 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel andere spiegelt einen Teil Ihrer Persönlichkeit wider, den Sie entweder leugnen, vor dem Sie sich fürchten oder den Sie ablehnen. Wenn Sie dieses aber wahrgenommen haben, können Sie friedfertiger damit umgehen. Wieder ein Schritt zu gesünderem Selbstwert. Bei allem sind natürlich nicht nur äußere Parameter des Lebens wichtig oder Eigenschaften, die wir besitzen oder auch nicht. Wichtig sind auch Einstellungen zu sich selbst: Das bedeutet Aufrichtigkeit sich selbst und anderen gegenüber und auch, dass Sie Werte nicht nur im inneren Zirkel, sondern überall vertreten, was höchste Authentizität verlangt und Sie nicht nur glaubwürdig, sondern auch unangreifbar macht. Ich habe in dieser Echtheit eine tiefe Erlösung gefunden. Seitdem ich nicht mehr glaube, mit dieser oder jener Einstellung irgendwo anzuecken, sondern weitestgehend ich selbst bin, fühle ich mich sehr wohl in meiner Haut. Das Gleiche gilt auch für die Kommunikation mit anderen: Wer lernt, seine Meinung überall angemessen zu vertreten, nicht hintenherum zu reden oder gar mit gespaltener Zunge, der findet größere Akzeptanz. Meint auch, wenn Sie im Unrecht sind oder eine Entscheidung getroffen haben, die im Nachhinein die falsche war, mit offenem Visier damit umzugehen. Manche nennen das Integrität. Davon ist die Rede, wenn »unser Gefühl, unsere innere Einstellung und unser Verhalten einigermaßen übereinstimmen«, so die Autorin Verena Kast. Zu guter Letzt ist auch die realistische Einstellung zu Ihren eigenen Kräften wichtig: Ja und Nein klar artikulieren zu können, im Einklang mit seinen Kräften zu sein und mit großer Achtung vor sich selbst an alle Aufgaben des Lebens zu gehen. Um dieses »Nach-innen-Sehen« zu lernen, sollten Sie eine natürliche Neugier an Wachstum und Entwicklung haben bzw. wieder in sich wecken. »Persönlichkeiten reifen nur in den Tälern des Lebens« – eigentlich wollte ich auf diesen bekannten Spruch verzichten, doch vielleicht treffen die Worte des mir un79 Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4 © 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel bekannten Verfassers am ehesten, dass überstandene Prüfungen das Selbstwertgefühl steigern. Ich bin für jede Lektion dankbar, weil sie mich weiterbringt. Mit einer solchen Einstellung verliert man auch diese typisch negative Haltung zu neuen Dingen. Ein weiterer wichtiger Faktor zur Messung des eigenen Selbstwerts ist, auf Ihren eigenen Sprachduktus zu hören. Wie reden Sie? Wie gehen Sie instinktiv mit sich und anderen um? Sokrates hat schon in grauer Vorzeit gesagt: »Rede, damit ich dich sehe.« Wenn Sie also mit einer sich selbst beschimpfenden Haltung agieren und Ihr Verhalten mit Floskeln wie »Ich bin aber auch wirklich zu blöd« oder »Davon sollte ich gleich die Finger lassen« abrunden, ist es mit Ihrer Wertschätzung nicht allzu weit her. Der Psychologe spricht von »Entwertung«. Man unterscheidet dann wiederum zwischen Selbst- und Fremdabwertung. Letztere bedeutet nichts anderes, als andere schlecht zu machen, um dadurch selbst besser dazustehen. Schöner Trick der eigenen Psyche, der sich auch erst einmal ganz gut anfühlt, aber am Ende doch nur auf einen Selbstbetrug hinausläuft. Hüten Sie sich auch vor Perfektionsansprüchen jeder Art. Denn emotionale Kontrolle über sich selbst ist genauso wenig erstrebenswert wie machbar, und der rigide Anspruch, keine Fehler machen zu wollen oder zu dürfen, ist ohnehin absurd. Die Akzeptanz der eigenen Person von Unfehlbarkeit abhängig zu machen ist grotesk. Ebenso unwahrscheinlich wird es sein, dass Sie von jedermann akzeptiert werden. Überprüfen Sie auch, aus welchem Grund Sie Ihren Freundeskreis, Ihre Partnerschaft führen. Geliebt sein zu wollen sollte nicht der Anspruch sein, genauso wenig wie Angst vor dem Alleinsein. Wenn Sie Erfolg nicht als Summe Ihrer Leistungen sehen, sondern als Voraussetzung Ihrer sozialen Akzeptanz – auch nicht gut. Und kon80