Leseprobe_Völlig losgelöst

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Leseprobe_Völlig losgelöst
Leseprobe aus: Schilling, Völlig losgelöst, ISBN 978-3-407-85962-4
© 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel
http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-407-85962-4
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© 2013 Beltz Verlag, Weinheim Basel
1 intro
Der Mensch ist ein sehr komplexes, individuelles Wesen, mit all
seinen Verletzlichkeiten und Erfahrungen, die zum Teil weit in
seine Prägungsphase hineinreichen. Individuell auch schon deswegen, weil wir alle kulturell, intellektuell, emotional usw. auf
unterschiedlichste Weise geprägt sind.
Manchmal sitze ich im Auto, in der S-Bahn oder im Flugzeug, beobachte Menschen und frage mich, wie diese unterschiedlichsten Interessen, Egoismen, persönlichen Voraussetzungen, individuellen emotionalen Zustände überhaupt so zusammenwirken, dass unsere Gesellschaft auch nur halbwegs
funktioniert – wenn es denn so ist.
Einen Teil dieser Antwort findet man in psychologischen
oder psychoanalytischen Theorien, die von übergreifenden Ordnungsprinzipien ausgehen, sei es bei den Sozialpsychologen,
Motivationsforschern, in Untersuchungen zur moralischen
Entwicklung von Kindern, sei es bei Sigmund Freud oder C. G.
Jung, bei Letzterem zum Beispiel in der Lehre von den kollektiven Archetypen, die unser Bewusstsein beeinflussen. Also ist
der Mensch doch nicht so individuell?
Ich will an dieser Stelle in keine psychologische Theorie eintauchen, auch wenn ich später auf die eine oder andere zurückkommen werde. Denn eigentlich geht es in diesem Buch um eine
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Vision. Um die Vision, was unser Leben auf einen guten Weg
bringt. Man könnte mit dem Altbundeskanzler Helmut Schmidt
einwenden: »Wer Visionen hat, muss zum Arzt«, aber ich meine:
»Wer keine hat – auch.«
Ein Beispiel: Als ich im Jahre 1982 den Song U.S.A für mein
erstes Album schrieb, war ich noch nie dort gewesen. Erst in den
Jahren 1985/1986 lebte ich zwei Jahre lang in New York und
gelegentlich in Los Angeles. Ebenso durchquerte ich die USA auf
diversen Promotion-Touren. Doch ohne je vorher dort gewesen
zu sein, konnte ich in diesem Songtext diese Nation auf den
Punkt bringen.
Zweites Beispiel: Ich war – man glaubt es kaum – tatsächlich
noch nie im Weltall. Dennoch gelang es mir mit meinem bisher
größten Erfolg »Major Tom«, das Lebensgefühl der Astro-/Kosmonauten zu treffen. Ich weiß dies, da ich mittlerweile einige
der Jungs persönlich getroffen habe, die da oben waren. Von
Prof. Ernst Messerschmid, Gerhard Thiele über Miroslaw Hermaszewski bis hin zu Ed Buckbee.
Und noch ein drittes und letztes Beispiel: Der Text zu dem
Song »Die Wüste lebt« entstand 1981. Er ist heute (leider) aktueller denn je.
Vor diesem Hintergrund wage ich mich also an ein bereits von
vielen Seiten beleuchtetes Thema der Psychologie heran. Dabei
handelt es sich um das Thema »Selbstwert« mit all seinen Facetten.
Ich bin überzeugt, dass ich Ihnen dieses Thema und die vielfach damit verbundenen Probleme, untermauert mit meinen
sehr persönlichen Erfahrungen, auf eine Weise nahebringen
kann, in der Sie sich selbst wiederfinden, so dass Sie angeregt
werden, einige meiner Gedanken und Erkenntnisse auch auf
sich zu beziehen. Vielleicht sehen Sie nach der Lektüre dieses
Buches sogar das eine oder andere in Ihrem Leben anders und
sind bereit, was Sie schon lange stört, an sich zu ändern. Aber
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das bleibt natürlich einzig und alleine Ihnen überlassen. Dazu
gehe ich offen – und, wie ich glaube, auch ehrlich – auf Sie als
Leser zu und bedanke mich schon jetzt für diese nonverbale
Kommunikation und wiederum daraus folgend – Ihre Offenheit.
Es dauerte lange, bis ich endlich begriff, wie es dazu kam,
dass ich als deutscher Musiker mit unnachahmlichen Erfolgen
weltweit nach sieben Jahren auf der Überholspur, in denen ich
von nahezu allen geliebt und gefeiert wurde, relativ schonungslos wieder down to earth landete. Vorbei war es mit »völlig losgelöst von der Erde«: Ich war körperlich und psychisch an meine
Grenzen gestoßen und kündigte ad hoc alle meine nationalen
wie internationalen Verträge – und das, obwohl ich in den Hot100 -Billboard-Charts 1989 mit dem Titel »The different story«
ein weiteres Mal ganz oben eingestiegen war – alles andere als
selbstverständlich für einen europäischen – insbesondere einen
deutschen – Künstler!
Der von mir gewählte, freiwillige Ausstieg aus dem Geschäft
und das zu einem Zeitpunkt, an dem es so richtig »brummte«,
war beides: überlebensnotwendig und gleichzeitig ein schmerzhafter Schnitt. Denn wer mich kennt, weiß, wie sehr ich diesen
Beruf und meine Musik liebe.
Aber es musste sein, und womöglich wäre es zu diesem Buch
gar nicht mehr gekommen, wenn ich nicht so konsequent gegen
den Strom geschwommen wäre und entsprechend gehandelt
hätte.
Meinen damaligen inneren und körperlichen Zusammenbruch
nannten Mediziner »Burnout«. Ende der 80 er-Jahre des letzten
Jahrhunderts war das noch kein geläufiger Begriff.
Ich selbst aber stieg tiefer in meine Situation ein. Zuerst in
einer Art Selbsttherapie, bis ich nach einer gewissen Zeit spürte, dass ich ohne professionelle Hilfe nicht weiterkomme.
Somit begann die Suche nach dem geeigneten Psychotherapeuten, denn nicht jeder Therapeut passt zu jedem Patienten. Es
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dauerte zwei (!) Jahre, bis ich den richtigen gefunden hatte. Deswegen der »richtige«, weil ich mich durch seine väterliche Art
verstanden und nicht bewertet fühlte. Mag sein, dass es damit
zu tun hatte, dass ich meinen Vater persönlich nie gekannt habe.
Dieser Psychologe machte mir erst einmal klar, dass all das
Geschehene nichts mit Glück, Pech oder anderen schicksalhaften Mächten zu tun hatte, sondern vielmehr hausgemacht war:
der Erfolg UND der Misserfolg. Klingt abenteuerlich, werden Sie
sagen. Stimmt aber. Doch der Schlüssel, das Geschehene wirklich zu begreifen, hängt mit dem Thema zusammen, das für
mich seit geraumer Zeit und jetzt auch in diesem Buch absolut
im Vordergrund steht: Letztlich laufen alle Spuren beim Selbstwert zusammen, bei dem Gefühl, sich selbst etwas wert zu sein.
Das ist der Code, das ist der Schlüssel für alles!
Ob Sie erfolgreich sind, ob Sie glücklich oder unglücklich verheiratet sind, ob Sie mehr ins Verliebtsein verliebt sind oder
wirkliche Nähe zulassen können, ob Sie mit Ihren Projekten
scheitern oder Ihr Erfolg durch die Decke geht. Das alles lässt
sich aus einer Art Formel ableiten, auf die ich später noch zu
sprechen komme: Selbstwert=(M)m8 =Erfolg.
Ich begriff übrigens ziemlich schnell, dass einem bei der Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstwert schnell das Prinzip »Wer hat Schuld?« in den Sinn kommt, weil diese Frage zu
beantworten so herrlich leicht und bequem erscheint. Aber immer nur nach »Schuld« zu fragen, ob sie nun bei einem selbst
liegt oder den anderen, hilft überhaupt nicht weiter. Das Zauberwort heißt dagegen Eigenverantwortung, was auch mir auf
meiner Suche nach dem verlorenen Selbstwert enorm weiterhalf.
Nach einer schweren Kindheit, geprägt von Gewalt im Elternhaus und Kinderheim, später bei der Oma aufgewachsen, wurde
mir ein wesentliches Merkmal für ein gesundes Selbstwertgefühl nicht mit auf den Weg gegeben: das Urvertrauen. Psycholo10
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gen rätseln bis heute, ob dieses Manko reparabel ist, ob man es
auch zu einem späteren Zeitpunkt wiederherstellen kann oder
zumindest kompensieren.
Als ich zum Botschafter des Deutschen Kinderschutzbundes
ernannt wurde, machte ich Schluss mit Halbwahrheiten und
gab ein öffentliches Statement ab, warum ich authentisch für
diese Aufgabe stehe. Ich schloss diese Begründung mit den Worten: »Die blauen Flecken, die Schmerzen, die Prügel, die ich als
Kind abbekommen habe, das klingt hart, aber sie heilen, sie gehen vorbei. Was bleibt und was dich dein ganzes Leben begleitet, in jeder Sequenz, ist der bereits in der Kindheit niedergeprügelte Selbstwert, und das geschieht nicht nur durch körperliche Gewalt, sondern noch schlimmer: durch Worte der Geringschätzung, die so weit gehen, sich nur noch als ein ›Nichts‹ zu
fühlen, als ›ungewollt‹, ›wertlos‹ und so weiter. Mit dem Widerhall solcher Worte geht man als Kind in die Schule, auf den
Sportplatz und in die Pubertät – nicht ganz so einfach.«
Bei mir war damit der Grundstein für einen in manchen
Phasen des Lebens komplett außer Gefecht gesetzten Selbstwert gelegt. Erst in den Jahren der Therapie wurde mir klar,
dass ein weiterer erfolgreicher Lebensweg, und damit meine ich
nicht nur beruflichen Erfolg, zwingend auf einem gesunden
Selbstwert beruhen muss.
Somit ist an meiner Lebensgeschichte – da besonders plakativ, besonders schwarz/weiß, besonders öffentlich – die Bedeutung eines gesunden Selbstwerts besonders gut abzulesen.
Ich stehe als prominenter Protagonist für die Entschlüsselung
dieses persönlichen Codes, denn ich habe selbst erfahren, wie
der Selbstwert zu reparieren ist. Dennoch ist meine Erfahrung
auf jeden von uns anwendbar. Wenn Sie sich dem Thema öffnen,
werden Sie merken, dass Sie unter Umständen so manches Verhaltensmuster bei sich gar nicht vermutet hätten. Befand sich
Ihre Persönlichkeitsstruktur doch so angenehm geparkt im to11
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ten Winkel Ihres Lebens. Das Unterbewusste hat – vereinfacht
ausgedrückt – so tief liegende Schichten, da lassen sich ein paar
Trojaner in Ihrem persönlichen Netzwerk leicht verstecken.
Doch erst, wenn Sie hinschauen, entschlüsseln und das annehmen, was Ihnen widerfahren ist, können Sie Selbstzweifel, Sorgen und Ängste ablegen und zu einem gesunden Selbstwert gelangen.
Als ich kürzlich von einer Journalistin auf mein offenes Interview in der »Bild am Sonntag« angesprochen wurde, in dem
ich erzählte, dass ich in der Kindheit über Jahre geprügelt wurde und dass es mir erst nach Jahrzehnten geglückt war, meiner
Mutter zu verzeihen, zollte sie mir höchsten Respekt. »Das ist
groß«, meinte sie. Danke für das Kompliment. Ich habe zugegebenermaßen lange gebraucht bis zu diesem Punkt. Denn hinter
mir liegt eine weite Strecke, auf der ich nicht nur einmal das
Gefühl hatte, umdrehen zu wollen oder zu müssen. Denn eine
Psychotherapie ist am Ende ein Prozess des Verstehens und der
Einsicht. Das ist anstrengend und oftmals sehr schmerzlich.
Auf dem Gipfel meiner ersten Karriere in den 80 er-Jahren
lag mein Selbstwert bei vielleicht gerade einmal 20 Prozent.
Kaum vorstellbar, wenn man bedenkt, dass ich weltweit durchstartete, Festivals in Rio vor Menschenmassen spielte, meine
Songs sich millionenfach verkauften und ich mit namhaften
Größen wie The Police oder Fleetwood Mac im Studio war. Das
alles half nichts – zumindest meinem Selbstwert nichts. Im Gegenteil, es machte mich noch viel unsicherer, dass ich, dem absolut nichts zuzutrauen war, plötzlich in dieser Liga mitspielte.
Nicht ich kannte Freddie Mercury – nein –, er kannte mich. So
geschehen bei der Release-Party des Queen-Albums »I want to
break free« in Los Angeles. Aber ich besaß zu diesem Zeitpunkt
null Selbstwert, er war einfach weg, mein Vertrauen in mich
existierte nicht. Ich war mir einfach nichts wert.
Damit sind wir bei einem anderen Begriff, der sehr viel mit
Selbstwert zu tun hat, nämlich dem schon kurz angesprochenen
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»Urvertrauen«. Der Begriff stammt aus der Theorie der psychosozialen Entwicklung des Psychoanalytikers Erik H. Erikson.
Danach entwickelt sich das Urvertrauen in der frühesten Kindheit und hilft einem später, Nähe zu anderen Menschen aufzubauen und »solide sowie emotional erfüllende Beziehungen eingehen zu können«.
Tröstlich und untröstlich zugleich ist die Tatsache, dass
nicht nur Menschen aus zerrütteten Familien, so wie ich, sondern auch Kinder ganz mustergültiger Eltern mit Selbstwertschwäche durchs Leben gehen können. Man kann von Vater,
Mutter, Großeltern also geliebt und von Kollegen geschätzt werden und sich dennoch selbst wertlos fühlen. Aber jeder hat die
Gelegenheit – wie gerade oder ungerade der Lebenslauf auch
sein mag –, viel für den eigenen Selbstwert zu tun. Auch Sie
können die Blockaden in Ihrer Psyche niederreißen.
Manche tendieren dazu, sich ein Pseudoselbstwertgefühl
aufzubauen. Auch ich habe das hin und wieder versucht. Doch
auch diese Rechnung geht im Endeffekt nicht auf. Weil Sie Ihr
Inneres nicht überlisten können und weil jedes SelbstwertSchauspiel vor anderen Menschen enorme Kräfte kostet und ab
einem gewissen Zeitpunkt ohnehin in sich zusammenfällt, was
geradezu peinlich wirken kann. Im Übrigen ist der Weg in eine
Depression dann nicht mehr weit.
Ganz wichtig ist, sich seiner Gefühle bewusst zu werden. Das
ist nicht nur für unsere Gesundheit gut und wichtig, sondern
auch für den Aufbau bzw. die Reparatur unseres Selbstwerts.
Denn wenn Sie mit einem Rucksack voller Selbstzweifel, angestauter Furcht, hohem Kränkungspotenzial, oft auch Wut, Kritikunfähigkeit und so vielem mehr am sozialen Leben teilnehmen, senden Sie dort eine Mischung aus alldem aus und erzeugen meist Reibung. Sie ecken an. Womit Ihnen erneut bestätigt
wird, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt. Ich selbst habe mir
einen solchen Cocktail auch angerührt, der geradewegs in eine
Katastrophe führte: Karriere zu Fall gebracht und soziale Kon13
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takte nur an bestimmten Zielen ausgerichtet, die meiner damaligen inneren Struktur entsprachen. So waren echte partnerschaftliche Bindungen unmöglich und geprägt von einer Art
Selbst-Zweck oder, um deutlicher zu werden: Ich habe besonders
Frauen als Vehikel meines Egotrips eingesetzt.
So etwas geht eine ganze Zeit lang gut, besonders wenn man
noch jünger ist. Wer aber nicht aufpasst, verpasst den Zeitpunkt, sich rechtzeitig neu zu finden.
Aber wie soll das gehen? Im besten Fall hilft einem dabei ein
nahestehender Mensch aus dem persönlichsten Umfeld wieder
auf die Beine, vorausgesetzt er oder sie teilt Ihnen schonungslos
seine oder ihre Meinung mit. Oder Sie suchen nach professioneller Hilfe.
Mit den Lehren, die ich aus der Zeit mit »meinem« bereits
erwähnten Psychologen zog, habe ich dieses Buch erarbeitet,
das Ihnen Schritt für Schritt einen Weg zu gesundem Selbstwert aufzeigt und Ihnen – ganz ehrlich – ein schonungsloser
Ratgeber sein soll.
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Kindheit und Jugend:
hier liegt der Schlüssel
»Dann wird er halt Handwerker« – ein Satz, in dem
ich mich missverstanden und in meinem Wesenskern
unerkannt fühlte.
Was Selbstwert ist und dass Selbstwert sein muss, davon hatte
ich bis zu meinem fortgeschrittenen Erwachsenendasein kaum
Ahnung. In welch direkter Beziehung nicht ganz so geradlinig
verlaufende Kindheitsgeschichten zum später unterentwickelten Selbstwert stehen, sollte ich aber noch erfahren.
Rückblende: Meine Oma liebte es, mit dem Bus zu verreisen.
An Ostern 1968, sie war wieder einmal unterwegs und meine
Mutter mit der Rolle der Alleinerziehenden hoffnungslos überfordert, kam es bei mir zu einem Schlüsselerlebnis, das wohl
einen Wendepunkt in meinem Leben markierte. Meine Mutter
war schon tagelang depressiv gewesen, und ich hatte sie mehrfach dabei beobachtet, wie sie entgeistert und wie abwesend aus
dem Fenster starrte. Ich konnte natürlich nicht ahnen, was sie
plante. Es war Samstag früh, ich war darin vertieft, im Fußballbuch der WM 1966, das ich von Oma geschenkt bekommen hatte, zu blättern, als meine Mutter völlig benommen ins Wohnzimmer torkelte und kurz darauf auf der Türschwelle zusammenbrach. Ich muss wohl markerschütternd geschrien haben.
Um zur Wohnungseingangstür zu gelangen, musste ich mit viel
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Mut und Kraft über sie hinwegspringen. Die Nachbarn im Haus
reagierten sofort. Relativ schnell kam ein Notarzt, um dann
festzustellen, dass sie eine Überdosis Schlaftabletten zu sich genommen hatte. Somit war ich als Zwölfjähriger Zeuge ihres
Selbstmordversuchs.
Noch am selben Tag hat mich eine andere Familie mit an den
Tegernsee in die Osterferien genommen, denn meine Großmutter war schließlich noch im Urlaub.
Was diese Familie dem kleinen Pierre – so mein richtiger
Vorname – damit Gutes getan hat, vergesse ich nie. Wahrscheinlich hat sie auf ihre Weise ein definitiv schweres Trauma verhindert. Aufgrund der therapeutischen Aufarbeitung später weiß
ich heute, dass bei einem traumatisierenden Geschehen durch
sofortiges Gegenhalten der seelische Schaden begrenzt werden
kann. Wieder einmal Glück gehabt. Wie sich später noch oft herausstellen sollte, steht über meinem Leben ohnehin ein Glücksstern. Das mag – gerade im Zusammenhang des Erlebnisses von
1968 – paradox klingen, so ist es aber. Denn mit Erfahrungen
wie diesen ist der Weg in die soziale Hölle eigentlich vorgegeben, es sind dies die Erlebnisse des Lebens, die einen normalerweise abstürzen lassen.
Dienstag nach Ostern, meine Oma war zurück in Stuttgart,
sagte sie: »Wir müssen jetzt deine Mutter im Krankenhaus besuchen« – doch ich wollte nicht. Zum ersten Mal war mir meine
Mutter egal, zum ersten Mal hatte ich emotional abgeschlossen,
und das mit gerade mal zwölf Jahren. Ich wollte nicht zu ihr,
musste aber. Man hatte ihr den Magen ausgepumpt, wie man
mir erzählt hatte, und dort lag sie im Krankenzimmer wie ein
Häufchen Elend, streckte die Hand aus und wollte sich entschuldigen. Aber die Seele des kleinen Jungen war, was seine Mutter
betraf, gebrochen. Nur ein Jahr später zog sie mit einem weiteren unehelichen Kind aus. Auch meine Halbschwester wurde
einige Jahre später von Pflegeeltern großgezogen. Richtig aufgeatmet habe ich erst, als meine Großmutter das Sorgerecht für
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mich bekam. Heute vermag ich einzuordnen, dass auch meine
Mutter sich in einer für sie schweren Situation befand. Ich habe
in intensiver Auseinandersetzung mit meinen erfahrenen Traumata Frieden schließen und ihr verzeihen können. Dennoch
haben Erfahrungen wie diese meinem Lebensweg und meinem
Selbstwert den entsprechenden Stempel aufgedrückt.
Von Kindheit an verfügte ich nicht über ein gesundes Selbst.
Dabei liegt in der Kindheit einer der Schlüssel für den Lebensselbstwert. Man könnte auch sagen: Früh trainiert sich, wer einen gesunden Selbstwert haben möchte.
Bereits in der Schule zeigt sich, wohin ein schwacher Selbstwert führt. Heute gibt es dafür Kids-Coaching, zu meiner Schulzeit gab es kaum eine Lösung. Ich war, daraus habe ich nie einen
Hehl gemacht, aufgrund meiner Familiensituation immer ein
anerkannter Außenseiter. Selbstwertstärkende Maßnahmen
waren zu Hause Fehlanzeige. Weil ich jedoch gut im Fußball war
und sehr musikalisch, mein Musiklehrer lobte mich vor meinen
Klassenkameraden für meinen gelungenen Musikvortrag,
konnte ich immer mal kurz nippen an dem, wie Selbstwert
schmeckt.
Der Schlüssel des Selbstwertes wird zum einen genetisch
im – nennen wir es Gen-Code – festgelegt und zum anderen
durch den adäquaten oder auch nicht adäquaten Umgang mit
solcher Prädisposition. Ob Sie von Grund auf ängstlich und zurückhaltend sind, ist genetisch begründet, ob Ihre Bezugspersonen und später die Menschen Ihres näheren Umfelds in ausreichendem Maße damit umgegangen sind, lässt sich am späteren
Selbstwert ablesen. Was für den einen Menschen gut ist, kann
für einen anderen vollkommen überdosiert sein.
Heute bietet man den Kindern Kurse, damit sie nicht in der
Opferrolle verharren und permanente Zielscheibe von Mobbing
bleiben. Denn nur wer erfahren hat, geachtet, ermutigt und gefördert zu werden, kann selbstbewusst alle seine Ziele verfolgen.
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Wenn man elterlicherseits nicht das Rundum-sorglos-Paket
mitbekommen hat, neigt man schnell dazu, Schuldige zu suchen. Aber genau das hilft einem überhaupt nicht weiter. Man
muss am Istzustand ansetzen. Ist der Selbstwert schwach, dann
muss er repariert werden. Das können Sie mit Kontinuität und
Selbstreflexion selbst schaffen. Oder aber mit der professionellen Hilfe eines Psychologen.
Was war bei mir die Wurzel von nicht vorhandenem, schwachem oder geschwächtem Selbstwert? Ich erinnere mich an verschiedene Schlüsselszenen, die möglicherweise dazu beigetragen haben, und will im Folgenden auf einige, die mit dem Thema
Selbstwert besonders zu tun haben, zu sprechen kommen.
Vom Kindergarten wurde ich mit einem später diagnostizierten Schlüsselbeinbruch von meiner Mutter zum Kinderarzt
gebracht. Da spürte ich zum ersten Mal bewusst ihre Kälte.
Während der Arzt mich medizinisch versorgte, fühlte ich mich
emotional in meinem körperlichen Schmerz komplett allein.
Meine Großmutter war tagsüber auf der Arbeit, meine Mutter
hatte sich wohl kurz freigenommen. Komplette Leere, keine
Umarmung, keine tröstenden Worte.
Der ohnehin angeknackste Selbstwert des kleinen Jungen
bröckelte weiter. Heute weiß ich, dass ich mit diesem Gefühl
nicht alleine dastehe.
Wenn Sie sich auf die Reise zu Ihrem Inneren machen, werden Sie auf Stolpersteine der Vergangenheit stoßen. Vielleicht
suchen Sie zu Beginn Schuldige, fragen, wer Ihnen den Selbstwertmangel eingebrockt hat, der Vater, die Mutter, der Sportlehrer – wer auch immer. Und nach geraumer Zeit werden Sie
merken, dass Schuld verteilen nicht wirkliche Befriedigung verschafft. Vielmehr hilft es hinzuschauen, wo Kränkungen, Minderwertigkeitskomplexe ihren Ursprung haben. Wir wissen inzwischen aber auch, dass ein gesunder Selbstwert nicht unbedingt in direkter Verbindung zu einem guten Elternhaus steht
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und umgekehrt. Natürlich ist es von großer Bedeutung, wenn
Kindern das richtige Rüstzeug mitgegeben wird. Ich selbst weiß
aus meiner Erfahrung, dass mangelnde Erziehung und Aufmerksamkeit, bei mir im Speziellen auch noch Gewalt, lebenslang den Selbstwert schwächen. Ich habe inzwischen viele Zugänge gefunden, mir diesen verlorenen Selbstwert neu zu erschließen.
Meine Mutter war mit der Erziehung überfordert, mein Vater war nicht gegenwärtig. Und was man nicht hat, fällt einem
schwer zu vermissen. Es dauerte sogar lange, bis ich überhaupt
begriff, dass zu einer Familie mehrere gehören, mehr noch: was
Familie überhaupt meint.
Es gab nicht den Moment, in dem mir klar wurde, ich müsse
wohl doch einen Erzeuger haben. Es war vielmehr eine Summe
puzzleartiger Erlebnisse, die langsam in mein Bewusstsein
drang, nämlich dass mir wesentliche Informationen zu meiner
Herkunft von meiner Mutter vorenthalten wurden. Ich traute
mich jedoch nicht zu fragen, da unangenehme Fragen stets mit
tätlicher Gewalt beantwortet wurden. Erst als pubertierendem
14 -Jährigem zeigte mir meine Oma ein einzeiliges Schreiben
vom Jugendamt, in dem der Name meines Vaters stand.
Er hatte viele Jahre zuvor auf die Bitte um Anerkennung der
Vaterschaft sinngemäß geantwortet, er habe in seiner Zeit in
Deutschland mit unzähligen Frauen sexuelle Kontakte gehabt.
Da könne auch meine Mutter dabei gewesen sein, möglicherweise aber auch nicht. Er erkannte die Vaterschaft nicht an und verschwand in sein Heimatland.
Jetzt könnte man aus therapeutischer Sicht sagen, hier und
dort, da liegen die Schlüssel, da ist gründlich etwas schiefgelaufen. Doch auch ein intaktes Elternhaus ist kein Garant für
ein glückliches Leben. So stürzen junge Menschen, die zu Hause sehr viel Aufmerksamkeit erfahren haben, oftmals dann in
Lebenskrisen, wenn sie erstmals auf dem Boden der Realität
ankommen, und reagieren bei beruflichen Einbrüchen oder
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schwierigen Aufgaben mit seelischen oder körperlichen Symptomen. Sie sind im besten Sinne verwöhnt, aber nicht vorbereitet und weisen eine geringe Resilienz auf, worunter man die
Widerstandskraft in einer Krise versteht. Weil sie das Thema
»Problembewältigung« immer abgenommen bekommen haben,
von der Wohnungssuche bis zum Bewerben, drohen sie im wahren Leben zu scheitern. Ich erinnere mich an eine Mutter, die
es mit ihrer Tochter sehr gut meinte. Sie wollte sie im Job gut
untergebracht wissen und schrieb ihr knapp hundert Bewerbungen, immer und immer wieder, weil die Tochter im persönlichen Gespräch stets versagte oder das Schreiben vielleicht
nicht authentisch genug beim potenziellen Arbeitgeber ankam
und sie gar nicht mehr vorzusprechen brauchte. Sie begnügte
sich mit einem Beruf, einer Stelle, der sie bis heute treu ist. Keine Schande, ohne Frage. Ich persönlich aber glaube, da wäre
mehr drin gewesen, wenn sich das erwachsene Kind selbst
durchgeboxt hätte.
Aber Muster bleiben eben der Seele eingeprägt, bis man sie
verantwortungsvoll mit neuen Erlebnissen, am besten positiven, zupflastert. Eine Anekdote aus meiner Kindheit und deren
Prägung von Angst und dem Gefühl der Wertlosigkeit ist folgendes:
Ich erinnere mich noch immer an die Schritte meiner Mutter auf der Straße. Der Klang ihrer Schlüssel hat mich bis heute
zu einer perfekten Alarmanlage gemacht. Ich höre das Gras
wachsen, könnte man denken. Geschult durch die nackte Angst
des kleinen Jungen, habe ich heute ein so gutes Gehör und Unterbewusstsein, dass ich in der Umgebung untypische Geräusche sofort erfasse und nachts sogar davon aufwache. So hat
die Angst vor meiner alkoholisierten Mutter meine Sinne fürs
Leben so geschärft, dass ich ein regelrechtes Frühwarnsystem
bin. Und auch beim Thema Einschlafen gibt es eine Brücke bis
in die jüngere Vergangenheit: Hatte ich mit meiner inzwischen
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geschiedenen Frau Streit, schlief ich in dieser Nacht wie ein
Murmeltier. Die Reflexe, den Streit nicht mehr mitbekommen
zu wollen, hatte ich bis ins Erwachsensein behalten.
Von Kindheit an löste mein geringer Selbstwert, den ich mühevoll mit guten Leistungen im Fußball aufzupeppen versuchte,
Verweigerungsaktionen aus, wie ich sie nenne. In der Schule
durchlebte ich meine ersten, regelrechten Verweigerungsphasen. Ich suchte ein Ventil für meine angestauten Probleme, trug
wahnsinnig viel Wut und Zorn in mir. Gewalt war für mich nie
eine Lösung, also ging ich in die Verweigerung. Zunächst beim
Lernen. Mit einem Notendurchschnitt von 5,6 flog ich als Vierzehnjähriger von der Schule. Keine Chance, durchs Schuljahr zu
kommen, überall ungenügend, nur in Englisch eine 2 im Zeugnis. Den Schulwechsel empfand ich gar nicht so schlecht, denn
ich war auf einer reinen Jungenschule gewesen und wechselte
nun auf eine gemischte. So erlebte ich die erste Begegnung mit
dem weiblichen Geschlecht. Ich war total aufgeregt. Es war der
Hammer, Mädchen in der Klasse, manche sehr süß. Und so hatte
ich schon mit 15 erste positive Erfahrungen und kurz darauf
meine erste Freundin. Sogleich war ich angespornt, etwas für die
Schule zu tun. Es war geradezu unglaublich, aber nur ein halbes (!) Jahr später musste ich diese Schule wieder Richtung Jungenschule verlassen. Grund: Mein Notenschnitt hatte sich von
5,6 auf 1,2 verbessert, und die Schulbehörde stufte mich jetzt als
besonders begabt ein. Der Rektor meiner ehemaligen Schule bekam einen mittelmäßigen Schreianfall, seine Adern stachen am
Hals hervor, er schnaubte vor Ungläubigkeit. Sinngemäß fragte
er mich, ob ich ihn verarschen wolle. Mit unschuldigstem Blick
antwortete ich: »Nein!« Ich denke, er hat es mir nicht geglaubt.
Ich hatte seine Versetzungsentscheidung in nur wenigen Monaten ad absurdum geführt. Klar, dass ihn das nicht begeisterte.
Ich wurde wiederum wenig später zum Schulsprecher gewählt
und habe meine schulische Laufbahn mit 3,3 beendet.
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Mein eigener Selbstwert –
wie kann ich ihn messen?
Titel, Namen, Labels helfen deinem Leben wenig. Sie fallen
oft in sich zusammen, so wie Titels, Labels, Namen …
gelieh’n, bezahlt, erledigt. Spring jetzt und hier den
schwersten Sprung, spring in die Veränderung …
»Titel, Namen, Labels« aus dem Album »Das Prinzip Mensch« (2006)
Anfang der Nuller-Jahre hatte ich mein Burnout zwar weitestgehend überstanden, mich wieder aufgerichtet, der Marktwert
von Peter Schilling, also meine Karriere als Bühnenkünstler, lag
jedoch inzwischen am Boden. Kreativ war ich bekanntlich jahrelang außer Gefecht gesetzt gewesen, Konzerte, TV-Shows
etc. – alles Vergangenheit. So entschied ich mich für einen sanften Einstieg zurück ins Geschäft. Dachte ich. Spielte Solo-Auftritte, sogenannte Halbplayback-Jobs. Keine tatsächliche Herausforderung, aber ein florierendes Geschäft. Drei Jahre nach
Aufnahme dieser Jobs zählte ich bis zu 139 Termine im Jahr. An
Aufträgen mangelte es also nicht, aber meine Künstlerseele litt
entsetzlich. Es waren Auftritte in Kaufparks, zwischen Einkaufswagen und Coffeeshops, und Auftritte in Diskotheken,
grundsätzlich nichts Verwerfliches, aber manchmal mit widerlichem Beigeschmack, so wie diesem: Eine Veranstalterin hatte
mich in ihren Club gebucht. Es handelte sich um eine Ü30 -Party,
bei der es dem Publikum wohl darum ging, sich schnellstmög65
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lich bewusstlos zu saufen, um keinen klaren Gedanken mehr
fassen zu müssen. Die Veranstalterin war wohl auf Drogen, jedenfalls kam es mir so vor, als habe sie mich nicht zum Singen,
sondern für ihre privaten Zwecke gebucht. Und der sogenannte
Sound-Engineer hing über seinem Pult, über das er soeben erbrochen hatte. War es das, weswegen ich in den 70 er-Jahren vor
meiner Mehrspurmaschine in Omas Schlafzimmer gesessen
hatte, war es das, warum ich jahrelang geprobt hatte, mir das
Songschreiben beigebracht hatte? War das übrig geblieben von
meiner wahren Liebe zur Musik? Mir war entsetzlich schlecht,
ich schämte mich vor mir selbst.
Keine Frage, wo sich zu jenem Zeitpunkt mein Selbstwert
befand …
Wenn man mich in Interviews als Botschafter des deutschen Kinderschutzbundes nach meinem Bezug zu diesem Engagement fragt und dann schnell auf meine eigene Kindheit zu
sprechen kommt, ist es mir ein besonderes Bedürfnis, kundzutun, dass die blauen Flecken, resultierend aus der Gewalt, die
einem schutzbefohlenen Wesen angetan wurde, eines Tages
nicht mehr sichtbar sind. Damit ließe sich, ich spreche eben aus
eigener Erfahrung, vielleicht sogar noch umgehen. Am
schlimmsten jedoch ist der zusammengeprügelte Selbstwert.
Da sind wir wieder beim Thema: Dieses »Nicht-angenommenworden-Sein« begleitet einen durch das ganze Leben. Wie gut
Sie so ein Trauma bearbeiten, davon hängt ab, wie Sie später
durchs Leben gehen. Ich weiß heute, wie auch schon an mehreren Beispielen deutlich gemacht, dass ich mir meine sagenhafte Karriere damals Stück für Stück selbst zerstörte, scheibchenweise eine Fehlentscheidung nach der anderen traf. Auch
ich konnte mir auf dem Olymp seinerzeit nicht erklären, wie
mich alle Welt so lieben konnte. In mir war schließlich der Prägestempel, der besagte: »Du bist schuld, du bist nichts wert.«
Genau aus diesem Gefühl heraus war ich wohl auch in besagter Diskothek gelandet …
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»Mein« Therapeut hat mich in zahlreichen Sitzungen und intensiver Auseinandersetzung mit meiner Geschichte wieder zu
einem gesunden, selbstwertstarken Menschen gemacht. Ein
harter Prozess, kann ich Ihnen sagen. Denn ohne diesen hätte
ich für mein Versagen, meine Misserfolge immer meine Kindheit schuldig erklärt. Natürlich soll das nicht die Gewalttätigkeit meiner Mutter, ihre Unfähigkeit, angemessen für ihren
kleinen Sohn zu sorgen, relativieren und in irgendeiner Weise
gutheißen. Und doch war es für meine Heilung immens wichtig, mit meiner Vergangenheit Frieden schließen zu können.
Als ich das, auf mein Leben bezogen, endlich begriffen hatte,
war ein neuer, qualitativ anderer Sprung in meiner Karriere
möglich.
Wie das machbar war? Ich habe beschrieben, dass der
Mensch eine Gesamtpersönlichkeit darstellt, bestehend aus
Fehlern, Schwächen, Stärken, Fähigkeiten, eigener Optik und
vielem mehr. Erst wenn er – vereinfacht formuliert – alle seine
Teile dieser Persönlichkeit annimmt, wirkt er nach draußen
schlüssig, ist authentisch. Zu glauben, man könne unliebsame
Teile von sich einfach so abstoßen, ist falsch. Dann fehlen Bausteine im komplexen System des eigenen ICH.
Vielleicht haben Sie schon einmal bemerkt, dass, wenn Sie
mit Kollegen gemeinsam für eine Arbeit kritisiert wurden, jeder
unterschiedlich damit umging. Einer ganz entspannt, der andere selbstkritisch, wiederum andere – vielleicht auch Sie selbst –
gekränkt. Eine alte, vereinfacht formulierte Regel aus der Psychologie besagt, dass alles, was dich länger als drei Minuten
beschäftigt, mit dir zu tun hat. Fühlen Sie sich also gekränkt
und lässt Sie der Gedanke nicht los, oder versuchen Sie unter
Umständen, Schuld zu verteilen, dann sollten Sie besser ganz
woanders nachforschen, nämlich bei sich selbst. Auch wenn es
zunächst nicht so aussieht, aber es entspannt ungemein, wenn
Sie es kontinuierlich tun. Stellen Sie sich Ihren Selbstwert wie
das Immunsystem vor. Ist Letzteres geschwächt, kommen Grip67
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peviren schneller zum Ziel. Und das Ergebnis: Sie sind öfter
krank. Ist der Selbstwert geschwächt, schlägt jedes kritische
Wort, jeder schräge Blick zu Buche. Sie fangen an zu grübeln,
nehmen alles persönlich und fühlen sich noch unsicherer. Wichtig ist also, dass wir lernen, wohlmeinende von destruktiver
Kritik zu unterscheiden.
Man weiß inzwischen, dass so ziemlich jede psychische Störung mit einer Verletzung des Selbstwertgefühls zusammenhängt. Umgekehrt aber lässt sich sagen, dass auch bei »psychisch Gesunden« der Selbstwert in den verschiedenen Lebensbereichen unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann.
Das Ziel muss also sein, dass ich eine anhaltende Stärkung
meines Selbstwertes erreiche. Seien Sie Ihr eigener Bilanzbuchhalter und notieren Sie ganz wertfrei Ihre Stärken und Schwächen. Wenn Sie einen ehrlichen und vertrauenswürdigen Menschen bitten, Ihre Außenwirkung ebenfalls in PRO und KONTRA
zu gliedern, dann haben Sie einen guten Richtwert. Stufe 2 sollte sein, dass wir aufhören, von aller Welt geliebt werden zu wollen. Typisch für Selbstwertschwache ist nämlich auch, dass sie
meinen, man finde nur im Außen Anerkennung. Ist Ihr Chef
also heute nicht zufrieden mit Ihrer Leistung, kann und darf es
nicht sein, dass Ihre komplette Tagesform davon abhängt. Nur,
weil Ihr Sohn nicht mehr möchte, dass Sie ihn zum Sport fahren, weil er sich dafür zu alt fühlt, sollte das ebenfalls nicht mit
»Beleidigtsein« einhergehen.
Um ins Thema hineinzufinden, ist es erst einmal ganz hilfreich, sich die Bereiche herauszusuchen, in denen Sie stark sind,
wo nichts und niemand Ihren Selbstwert erschüttern kann, gewissermaßen Ihr individuelles Stärkeprofil anzulegen. Ich erinnere mich, dass mich meine Deutschlehrerin für einen Aufsatz
tadelte und ich mit einer 5 von dannen zog. Erschüttert hat
mich das aber nicht. In diesem Fall war mein Selbstwert offensichtlich nicht geschwächt, denn ich wusste, dass ich in dem Bereich etwas draufhabe. Im Schnitt betrifft noch heute jede zwei68
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te Mail, die mich über Facebook von meinen Fans erreicht, die
Qualität meiner Texte. Ich lag damals also offensichtlich nicht
ganz falsch.
Als ich früher mal mit einem schlechten Zeugnis nach Hause
kam, hörte ich von meiner Mutter nur: »Dann wird er halt
Handwerker!« Das hat mich so gekränkt, dass ich bis Mitte 40
keine Bohrmaschine angefasst habe. Erst nach meiner Scheidung, ich war schon knapp 50, habe ich den ersten Wasserhahn
repariert. Und als ich zwischendrin ein wohlgemeintes Geschenk, ein Heimwerkerbuch, bekam, fühlte ich mich angegriffen, empfand es als Anmaßung. Das aber ist nicht der Fehler
anderer, sondern meint eben nur, dass ich mich mit speziell diesem Bereich aussöhnen musste.
Dehnen Sie diese Bereiche aus. Gehen Sie raus aus Ihrer Opferrolle. Und irgendwann merken Sie, dass Sie so schnell nichts
mehr kränken kann.
Noch ein, zwei Beispiele aus meinem ganz persönlichen Selbstwert-Katalog? Seit inzwischen über 30 Jahren bin ich selbstständig tätig. Da gehört es natürlich dazu, dass ich Wochenenden komplett durcharbeite, nächtelang im Studio sitze, in zwei
Tagen knapp 2.000 Kilometer selbst mit dem Auto zurücklege
und dazwischen Fernsehtermine absolviere. Ein ganz normaler
Arbeitsrhythmus, den ich mir immer gewünscht habe. Wenn
ich jedoch dann, was recht einfach zu erklären ist, zeitweise erst
um 10.30 Uhr aufstehe, plagt mich – inzwischen seltener – immer noch das schlechte Gewissen, ich sei faul, weil ich nicht um
8 Uhr an die Arbeit gehe. Ja, das ist wirklich wahr.
Wenn ich mir früher das »Handelsblatt« zu lesen holte, überkam mich manchmal beim Lesen das schändliche Gefühl, alle
außer mir wüssten wahnsinnig viel. Dabei müsste ich, könnte
man denken, bei meinen künstlerischen wie unternehmerischen Erfolgen gar keine Komplexe haben. Es war ein langer
Weg zu dieser Erkenntnis, doch er hat sich gelohnt.
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Sich selbst also zu vertrauen, Fehler zu akzeptieren, Souveränität, Gelassenheit zu erarbeiten, Energieräuber zu entschlüsseln, Ziele zu fokussieren, all das kann Ihnen helfen auf dem
Weg zu Ihrem persönlichen Erfolg, denn dessen Motor ist ein
gesunder Selbstwert.
Überhaupt ist das Nachdenken über sich selbst schon die
halbe Miete. Wenn Sie persönlich Ihre Leistung, Ihre Eigenschaften wertschätzen, ist das aber nur bedingt wertvoll. Erst
die Anerkennung durch de facto geleistete Arbeit, die durch andere Menschen als Erfolg gewertet wird, macht diese Wertschätzung vollkommen. Solches Eingebundensein in soziale
Strukturen mit anderen Menschen lässt einen Menschen selbstwertstark und weitestgehend immun gegen »Kränkungsviren«
von außen werden.
Astrid Schütz bringt in ihrem Buch »Psychologie des Selbstwertgefühls« zum Ausdruck, was nur allzu logisch erscheint:
»Wer sich selber akzeptiert, akzeptiert mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit auch andere.« Das ist es, was ich meine,
wenn ich sage, die Menschen um mich herum besser verstanden zu haben, nachdem ich gelernt hatte, mich selbst zu verstehen. Eine tolle Erfahrung. Man hat einen Friedenspakt geschlossen mit der Meinung anderer, weil man nur bedingt Einfluss darauf hat.
Gelernt habe ich im Laufe der Jahre auch, mit meinen
Schwächen nicht mehr hinter dem Berg zu halten. Wenn Sie
sich Ihrer Stärken und Schwächen bewusst werden, sind Letztere kein Problem mehr. Aussöhnung mit sich selbst würde ich
das nennen.
Als ich mich beruflich wieder auf den Weg machte, ins Musikgeschäft zurückzukehren, bin ich beileibe nicht mit offenen Armen empfangen worden. Bei nicht intaktem Selbstwert wäre ich
bei so manchen Aussagen von Veranstaltern oder Redakteuren
wieder heftig ins Straucheln geraten. Von »Lebt der noch?« über
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»Wir besetzen nur erfolgreiche Acts« bis hin zu »Singt der noch
mehr als ›Major Tom‹?« war alles dabei. Für manche mag das
würdelos klingen, aber ganz hart formuliert, hat mich keine
dieser Attacken getroffen. Im Gegenteil: Es war doch klar, dass
nach so langer Abstinenz vom Showgeschäft keiner zwangsläufig auf Peter Schilling gewartet hat. Als ich trotz solcher Anlaufschwierigkeiten im Jahr 2005 mit Feuereifer weitermachte und
richtig Bock auf diesen Job hatte, wusste ich, dass ich die Krisen
hinter mir gelassen hatte. Erfolg setzt sich für mich heute aus so
vielen Bausteinen zusammen, dass einzelne Irritationen meinen Selbstwert nicht mehr angreifen. Das kann Ihnen genauso
gelingen.
Um an diesen Punkt zu kommen, sollten Sie kontinuierlich,
daran arbeiten. Das fängt schon im Kleinen an.
Den Lebensrucksack ausleeren ist eine der wichtigsten Aufgaben und kann ein tägliches Seelenbad sein, wie ich es gerne
nenne. Gehen Sie in Klausur mit Ihren stetig wechselnden
Ängsten, Einstellungen, Kränkungen, schreiben Sie quasi ein
Tagebuch Ihrer Erfahrungen. Irgendwann geht das auch gedanklich: Was ging mir heute nahe? Was hat mich gekränkt?
Wo fühlte ich mich missverstanden? Was gelang mir wie von
selbst! Warum wurde mein Erfolg nicht gewürdigt? Was regt
mich auf? Was blockiert mich? Was war mir peinlich und warum? Dieser Fragenkatalog ist beliebig fortzuführen. Bei der
SCHONUNGSLOSEN (Danke! :-)) Beantwortung dieser Fragen
kommen Sie sich selbst immer näher. Fragen Sie sich auch, woher diese Muster kommen. Irgendwann werden die alltäglichen
Bilanzen überschaubarer. Und der Selbstwert wächst stetig
dazu. In der Psychologie nennt man das, innere Achtsamkeit zu
lernen.
Das Interessante dabei: Über die Suche nach Ihrem eigenen
Selbstwert beginnen Sie irgendwann auch selbstwertstarke von
selbstwertschwachen Menschen unterscheiden zu können. Ein
Banker in Führungsposition, den ich bereits Ende der 80 er ken71
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nenlernte, beeindruckte mich sofort. Heute weiß ich, dass er
einen gesunden Selbstwert hatte, der ihn so authentisch sein
ließ. Er machte im Zuge unserer Gespräche keinen Hehl aus seiner Herkunft, einem sozialen Brennpunkt Deutschlands, stand
zu seinen Wurzeln und hatte es bis ganz nach oben auf der Karriereleiter einer der erfolgreichsten Banken geschafft. Fast wie
Obama bei seiner Antrittsrede als Präsidentschaftskandidat
der Demokraten: »Mein Name ist Barack Obama, ich komme
aus Hawaii, bin Farbiger, habe abstehende Ohren und möchte
Präsident der Vereinigten Staaten werden.« Was für ein Statement! Ein bisschen davon kann niemandem schaden.
Meint: Ich bin wer, trotz oder gerade mit meiner ganz persönlichen Geschichte. Sie, der Sie gerade diese Zeilen lesen, sind
einzigartig. In der gesamten Menschheitsgeschichte sind Sie
EINMALIG. Was wollen Sie mehr – bitte machen Sie etwas draus!
Auch Negatives prägt und kann sich, richtig verstanden, sogar
positiv auf den eigenen Charakter auswirken. Wie sagte Jürgen
Klopp, Trainer bei Borussia Dortmund, so schön nach einem
verlorenen Spiel: »Genau diese Lektion haben wir gebraucht,
um Meister zu werden.« So wird das eben noch negativ Erfahrene zur Motivation für das weitere Fortkommen.
Für Selbstmitleid ist in einem gesunden Selbstwertgefühl
kein Platz. Mal einen schwachen Tag zu haben, kennt, glaube
ich, jeder von uns. Aber tagelang in der Opferrolle zu verharren
ist schon bedenklich. Eine Bekannte erzählte mir vor ein paar
Jahren, sie sei vollkommen aufgelöst, weil ihr Bruder aus lauter
Selbstmitleid die gemeinsame, hochbetagte Mutter, inzwischen
weit über 80 Jahre alt, dafür verantwortlich machen wollte,
dass er selbst schwer krank geworden sei. Sie selbst hatte ihre
Kindheit, nicht immer leicht, psychotherapeutisch aufgeschlüsselt und war schockiert, dass es sich ihr älterer Bruder so einfach machte, Schuld zu verteilen.
Es gibt keine Schuldigen! Fang zunächst bei dir selbst an!
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Jetzt könnte man einwenden, dass ein Zuviel an Selbstwert
überheblich macht. Nein, ein Zuviel gibt es nicht. Selbstliebe
und gesunder Egoismus haben nichts, aber auch gar nichts mit
Narzissmus und Arroganz zu tun. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn Sie zu sich selbst stehen, Vertrauen in Ihre Fähigkeiten haben. Und Narzissmus, was wir gemeinhin mit einem
Zuviel an Selbstwert gleichsetzen, bedeutet genau das Gegenteil. Dazu später mehr.
Ein Minderwertigkeitskomplex wiederum hindert Sie in allen Lebensbereichen an einem erfolgreichen Fortkommen und
wirkt, wie Studien belegen, weniger attraktiv auf andere. Trainieren Sie also ruhigen Gewissens Ihren Selbstwert wie einen
Muskel. Jeden Tag aufs Neue.
Formulieren Sie eigene Ziele, denn häufig sagen sich Menschen mit schwachem Selbstwert:
• »Ich kann ja froh sein, dass ich überhaupt einen Partner
habe, auch wenn ich mich eigentlich nicht mehr wohl in dieser Beziehung fühle. Ehe ich als Single in der Gesellschaft
schräg angesehen werde, lasse ich alles, wie es ist, und stelle
keine Ansprüche.«
• »Das Geschenk war wirklich nicht nötig.« (Meint: Das bin ich
doch gar nicht wert!) Aus schlechtem Gewissen schenken
solche Menschen sofort wieder etwas zurück oder lehnen
das Präsent ab.
• »Besser, ich habe diesen Job als gar keine Arbeitsstelle. Ehe
ich unzählige Bewerbungen schreibe und dann wahrscheinlich doch nicht genommen werde, verharre ich, wo ich bin,
und ärgere mich lieber, bin unzufrieden.«
Damit nehmen Sie sich etwas? Genau, eine echte Chance, Ihr
Leben selbst und vor allem individuell zu gestalten.
Ergo: Es lohnt sich, um im Leben wirklich Erfolg zu haben,
die persönlich gefühlte Komfortzone zu verlassen. Ich habe es
häufig getan und mich dann gefragt: »Hättest du das nicht be73
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quemer haben können?« Auf den ersten Blick schon, aber als ich
meine angepeilten Ziele dann doch erreicht hatte, war das persönliche Glücksgefühl, der eigene Herr über seine Entscheidungen zu sein, unübertrefflich.
Mit der persönlichen Komfortzone verhält es sich wie mit
einem Teich: Steht das Wasser zu lang, wird es faul und beginnt
zu stinken.
Schauen Sie sich Ihr Selbstbild an: Welche Stellenanzeige lesen Sie, was trauen Sie sich zu? Welche Kleidung steht Ihnen gar
nicht? Welcher Partei vertrauen Sie? Wenn Sie nichts über sich
wüssten, könnten Sie sich solchen Grobrastern gar nicht zuordnen. Bleibt eben nur noch die Frage, ob Ihr Selbstbild realistisch
oder von Gewohnheiten genährt ist. Wie Monika Reichelt in
»Die verletzte Seele« veranschaulicht, »erlauben wir uns oft nur,
die Erfahrungen zu machen, die mit unserem Selbstbild übereinstimmen und die unser Selbstwertgefühl nicht gefährden«.
Das kann natürlich ein Trugschluss sein, weil alle anderen möglichen Erfahrungen durch das Selbstwertraster durchfallen.
Womit wir wieder beim blinden Fleck unseres Selbstbildes wären. So kann ein junger Mann, durch elterliche Erziehung mit
Samthandschuhen das Gefühl bekommen, er sei Iron Man. Die
Wirklichkeit zeigt jedoch, dass ihn die Eltern gar nicht gemessen an seinen tatsächlichen Fähigkeiten aufs Leben vorbereitet
haben und er an Grenzen stößt, weil er eigentlich hochsensibel
ist. Typisches Beispiel für ein verzerrtes Selbstbild.
Zurück zur Messung unseres eigenen Wertes: In sämtlichen
Lebensbereichen schreiben wir Bilanzen, im Job, zu Hause im
Haushaltsbuch, zählen Kalorien bei der Diät, machen eine Todo-Liste für den Urlaub, planen akribisch den Hausbau, pflegen
unser Bonusheft beim Zahnarzt, aber warum führen wir eigentlich kein Tagebuch über unseren Selbstwert?
Der Meditationslehrer Ananta Steuder hat hierzu im Schweizer Blatt »Der Bund« ein anschauliches Beispiel geschildert:
»Wir identifizieren uns oft stark mit den Rollen, die wir über
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Jahre angenommen haben, und klammern uns daran fest. Bei
der Meditation geht es auch darum, wieder leer zu werden, uns
von all dem zu befreien, was man uns eingetrichtert hat. Ein
Kleinkind ist ein stiller Teich mit klarem Wasser, man kann bis
auf den Grund schauen. Dann werfen die Eltern Steine in diesen
Teich, später tun es Lehrer, Sporttrainer, Pfarrer, viele andere.
Wir nehmen all diese Steine auf, meinen, es sei unser Eigenes
und lassen uns dadurch programmieren. Wenn wir 30 - oder
35 -jährig sind, ist das Wasser trüb. Wir spulen als Selbstläufer
unser Programm ab, wähnen uns auf Kurs, aber wir sehen nicht
auf den Grund, wissen nicht, wer wir sind.«
In der Ruhe, in der Stille, in der Meditation, lernen Sie, nach
innen zu sehen. Nach Ananta Steuders Metapher mit den Steinen, die das Wasser trüb werden lassen, geraten in der Zeit der
Stille keine weiteren Steine mehr ins eigene Gewässer. Und so
sinken mit zunehmender Einkehr bei sich selbst alle Steine auf
den Grund, und das Wasser wird wieder klarer. Wenn wir das
Ursprüngliche wiederfinden, werden wir automatisch gelassener und vertrauensvoller gegenüber dem Prozedere des Lebens.
Dabei muss jeder den ganz eigenen Zugang zu sich selbst finden.
Wenn sie zwischendurch Lust auf Musik von mir bekommen,
dann geben sie an dieser Stelle bei »YouTube« den Titel »100 Stufen« ein. Dieser Song beschreibt mein Gefühl auf dem Weg zu
mir selbst. Viel Spaß dabei!
Bleibt die Frage, wie Sie Ihren eigenen Selbstwert messen
können? Wir können nach dem bisher Gesagten davon ausgehen, dass er sich aus unterschiedlichen Bereichen höchst individuell zusammensetzt und nicht zwangsläufig heute so stark
sein muss wie morgen, er ist also immer wieder Schwankungen
unterlegen. Gibt es eine Skala, ein Thermometer? Womit misst
der Experte, der Psychotherapeut, wie ich drauf bin?
Ein solches Messgerät gibt es natürlich nicht, wohl aber Skalen, die von Profis erstellt wurden, anhand deren man schon mal
eine grobe Einschätzung hat, wo in etwa sich Ihr Selbstwert ein75
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gependelt hat. Sehr populär ist bereits seit Mitte der 60er-Jahre
die sogenannte »Self-Esteem-Scale« von Morris Rosenberg. Dieser Fragebogen wird heute noch verwendet. Eine weitere Skala
des Amerikaners Coopersmith von 1967 ist ebenfalls noch in
Gebrauch. Hierzulande wurden eher diese »Longseller« übersetzt als neue entwickelt. Offenbar haben sie eine Grundlage der
Selbstwert-Erfassung geschaffen, die sich bewährt hat. Mit der
erstgenannten Skala soll laut Uwe Kanning in seinem Buch
»Selbstwertmanagement« »der situationsstabile und zeitlich
überdauernde, private Selbstwert einer Person gemessen werden«. Womit wieder einmal bewiesen ist, dass der Selbstwert
von ganz verschiedenen Faktoren abhängig ist. Ein Psychotherapeut erfährt in einer etwa zweistündigen Anamnese, sprich
einem Gesundheitscheck, natürlich einen individuelleren Status des Selbstwerts. »Mein« Therapeut nennt diesen Wert häufig
auch Entwicklung/Dynamik einer Seele. Dazu gleich mehr.
Haben wir soeben über den privaten Selbstwert gesprochen,
so gibt es auch den öffentlichen, kollektiven Selbstwert. Dieser
Wert bemisst, wie wir im Kontext all jener sozialen Gruppen,
denen wir bewusst oder unbewusst angehören, selbstwertmäßig dastehen. Im Laufe unserer Entwicklung als Mensch unterliegt der Selbstwert naturgemäß Schwankungen, man denke
nur an die Pubertät oder den Eintritt ins Rentenalter. Für gewöhnlich pendelt sich der Selbstwert aber nach Übergang und
Neuordnung in der neuen Entwicklungsphase wieder ein. Tut er
das nicht, sollte dringend gegengesteuert werden.
Wir wissen, dass ein Kind von nicht einmal zwei Jahren erstmals im Spiegel realisiert: »Das bin ich (selbst)!« Die primärste
aller Selbsterfahrungen, könnte man sagen. Von dem Moment
an lernt der Mensch sich kennen und entwickelt einen Wert von
sich selbst – im Verhältnis zu anderen, durch Prägung, Erziehung und so weiter. Das Selbst-Bewusstsein wird also ebenfalls
»geboren«. Wenn wir erwachsen sind, hat sich der Blick meist
ein wenig getrübt. Beim einen mehr, beim anderen weniger.
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Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass wir bei anderen
Menschen häufig eine 1:1-Persönlichkeitsanalyse hinlegen,
selbst aber buchstäblich mit der Nase auf unsere eigenen Probleme gestoßen werden müssen. Das ist der tote Winkel, der blinde Fleck unserer Selbstwahrnehmung. Wenn Sie auch zu dieser
Spezies Mensch gehören und Sie eben beim Lesen gedacht haben: »So bin ich ja auch«, ist das ein guter Anfang. Jetzt müssen
Sie nur noch einen Spiegel zum Ausgleichen des toten Winkels
einbauen. Und da sind wir ja gerade dabei. Erwarten Sie bitte bei
der Selbsterkenntnis auch nicht den berühmten großen Knall.
Der wird nicht kommen. Es ist vielmehr ein Prozess, der fortwährend ist. Ich ging lange in meine Therapie und nichts hat
sich getan. Erst nach Jahren bemerkte ich eine Veränderung an
mir selbst, und zwar dadurch, wie andere mich plötzlich sahen.
Ich betrachte das wie eine seelische Fitnessübung. Jede neue
Aufgabe trainiert einen anderen Muskel.
Zurück zu unserem persönlichen Selbstwert. Wie die zweite Silbe schon vermuten lässt, hat auch der Selbstwert mit Werten an
sich zu tun. Jeder von uns hat sein eigenes Wertesystem. Das
können Sie am besten überprüfen, wenn Sie sich einmal die
Mühe machen und das angekündigte T-Konto eröffnen und nach
Wertmaßstäben aufgliedern. Ich weiß, das klingt zunächst hoffnungslos bürokratisch, aber zu Beginn ist es tatsächlich besser,
sich einmal handschriftlich einen Überblick zu verschaffen über:
a) Welche Eigenschaften besitze ich / besitze ich nicht?
b) Was gefällt mir an anderen? Was vermisse ich an mir?
c) In welchen Phasen geht mein Selbstwert geradezu gegen 0?
Welche Kränkungen kenne ich aus frühester Kindheit?
d) Habe ich ein Ideal von mir? Und warum bin ich nicht so?
Was hält mich davon ab, so zu sein, wie ich mich sehe?
e) Kann ich mich mit Schwächen und Stärken arrangieren?
Wie gehe ich mit den einen und den anderen um?
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Das ist nun eine ziemlich pauschale Liste, die mir aber geholfen
hat, mich einzunorden. Es spricht natürlich nichts dagegen,
diese zu individualisieren.
Was immer wieder auffällt bei der Erstellung solcher persönlichen Wertmaßstäbe: Manche Werte stammen gar nicht von
uns selbst, sondern wir haben sie einfach so übernommen.
Schließt sich die Frage an, ob man einen Selbstwert auch 1:1
übernimmt, es also so etwas wie einen generationenübergreifenden Selbstwert in der Familie gibt. Dazu später mehr.
Familie, Beziehung, Beruf, Gesundheit, soziale Kontakte, Finanzen, gesellschaftliche Stellung und, und, und – alles spielt
mit rein in die Bewertung unseres Selbstwertes. Jetzt merken
Sie, dass dieser nur bedingt konstant ist. Das heißt: Positive Ereignisse oder schlechte Erfahrungen werden natürlich auf den
Selbstwert gesattelt, mindern oder erhöhen ihn. Wenn Sie stark
von äußeren Ereignissen abhängig sind, kann es sein, dass Sie
heute Morgen bester Dinge waren, nach einem nicht so brillanten Arbeitstag aber abends alles an sich infrage stellen. Höchste
Zeit, etwas zu tun.
Jeder von uns hat andere Wertmaßstäbe, erhebt andere Ansprüche an sich und seine Umwelt: Das geht von Arbeitseifer
über Glaubwürdigkeit bis hin zu Zivilcourage, um nur einige
Werte zu nennen. Und wiederum unterscheiden wir uns kollektiv mit unseren Maßstäben natürlich wesentlich von anderen
Kulturkreisen. Dabei wären wir beim Thema Toleranz: Wenn Sie
feststellen, dass Sie nun mal nicht so sind wie andere, sondern
Ihre eigene individuelle Stellung akzeptieren, können Sie auch
tolerant mit anderen umgehen.
Wir kommen später noch ausführlich auf das Thema Schatten-Persönlichkeit zu sprechen. Dabei handelt es sich, knapp
formuliert, um Anteile unserer eigenen Persönlichkeit, die im
Dunkeln liegen. Sobald Sie bei einer Eigenschaft eines anderen
Menschen hochgehen könnten, sollten Sie sich fragen, was diese Eigenschaft eigentlich mit Ihnen selbst zu tun hat. Denn der
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andere spiegelt einen Teil Ihrer Persönlichkeit wider, den Sie
entweder leugnen, vor dem Sie sich fürchten oder den Sie ablehnen. Wenn Sie dieses aber wahrgenommen haben, können Sie
friedfertiger damit umgehen. Wieder ein Schritt zu gesünderem
Selbstwert.
Bei allem sind natürlich nicht nur äußere Parameter des Lebens wichtig oder Eigenschaften, die wir besitzen oder auch
nicht. Wichtig sind auch Einstellungen zu sich selbst: Das bedeutet Aufrichtigkeit sich selbst und anderen gegenüber und
auch, dass Sie Werte nicht nur im inneren Zirkel, sondern überall vertreten, was höchste Authentizität verlangt und Sie nicht
nur glaubwürdig, sondern auch unangreifbar macht. Ich habe
in dieser Echtheit eine tiefe Erlösung gefunden. Seitdem ich
nicht mehr glaube, mit dieser oder jener Einstellung irgendwo
anzuecken, sondern weitestgehend ich selbst bin, fühle ich mich
sehr wohl in meiner Haut.
Das Gleiche gilt auch für die Kommunikation mit anderen:
Wer lernt, seine Meinung überall angemessen zu vertreten,
nicht hintenherum zu reden oder gar mit gespaltener Zunge,
der findet größere Akzeptanz. Meint auch, wenn Sie im Unrecht
sind oder eine Entscheidung getroffen haben, die im Nachhinein die falsche war, mit offenem Visier damit umzugehen. Manche nennen das Integrität. Davon ist die Rede, wenn »unser Gefühl, unsere innere Einstellung und unser Verhalten einigermaßen übereinstimmen«, so die Autorin Verena Kast.
Zu guter Letzt ist auch die realistische Einstellung zu Ihren
eigenen Kräften wichtig: Ja und Nein klar artikulieren zu können, im Einklang mit seinen Kräften zu sein und mit großer
Achtung vor sich selbst an alle Aufgaben des Lebens zu gehen.
Um dieses »Nach-innen-Sehen« zu lernen, sollten Sie eine
natürliche Neugier an Wachstum und Entwicklung haben bzw.
wieder in sich wecken. »Persönlichkeiten reifen nur in den Tälern des Lebens« – eigentlich wollte ich auf diesen bekannten
Spruch verzichten, doch vielleicht treffen die Worte des mir un79
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bekannten Verfassers am ehesten, dass überstandene Prüfungen das Selbstwertgefühl steigern. Ich bin für jede Lektion
dankbar, weil sie mich weiterbringt. Mit einer solchen Einstellung verliert man auch diese typisch negative Haltung zu neuen
Dingen.
Ein weiterer wichtiger Faktor zur Messung des eigenen Selbstwerts ist, auf Ihren eigenen Sprachduktus zu hören. Wie reden
Sie? Wie gehen Sie instinktiv mit sich und anderen um? Sokrates hat schon in grauer Vorzeit gesagt: »Rede, damit ich dich
sehe.« Wenn Sie also mit einer sich selbst beschimpfenden Haltung agieren und Ihr Verhalten mit Floskeln wie »Ich bin aber
auch wirklich zu blöd« oder »Davon sollte ich gleich die Finger
lassen« abrunden, ist es mit Ihrer Wertschätzung nicht allzu
weit her. Der Psychologe spricht von »Entwertung«. Man unterscheidet dann wiederum zwischen Selbst- und Fremdabwertung. Letztere bedeutet nichts anderes, als andere schlecht
zu machen, um dadurch selbst besser dazustehen. Schöner
Trick der eigenen Psyche, der sich auch erst einmal ganz gut
anfühlt, aber am Ende doch nur auf einen Selbstbetrug hinausläuft.
Hüten Sie sich auch vor Perfektionsansprüchen jeder Art.
Denn emotionale Kontrolle über sich selbst ist genauso wenig
erstrebenswert wie machbar, und der rigide Anspruch, keine
Fehler machen zu wollen oder zu dürfen, ist ohnehin absurd.
Die Akzeptanz der eigenen Person von Unfehlbarkeit abhängig
zu machen ist grotesk. Ebenso unwahrscheinlich wird es sein,
dass Sie von jedermann akzeptiert werden. Überprüfen Sie
auch, aus welchem Grund Sie Ihren Freundeskreis, Ihre Partnerschaft führen. Geliebt sein zu wollen sollte nicht der Anspruch
sein, genauso wenig wie Angst vor dem Alleinsein. Wenn Sie Erfolg nicht als Summe Ihrer Leistungen sehen, sondern als Voraussetzung Ihrer sozialen Akzeptanz – auch nicht gut. Und kon80