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braunschweiger beiträge
für theorie und praxis von ru und ku
111
1/2005
issn 0172-1542
herausgegeben vom
KIRCHENCAMPUS Wolfenbüttel
schriftleitung: hans-georg babke und heiko lamprecht
arbeitsbereich religionspädagogik und medienpädagogik
der ev.-luth. landeskirche in braunschweig
postfach 16 64, 38286 wolfenbüttel
telefon: [05331] 802-507 oder -504 • fax: [05331] 802 713
http://www.arpm.de • e-mail: [email protected]
impressum
Schriftleitung:
Pfarrer Dr. Hans-Georg BABKE, ARPM, Wolfenbüttel
Pfarrer Heiko LAMPRECHT, ARPM, Wolfenbüttel
in Kooperation mit Axel KLEIN, Dozent für Konfirmandenarbeit und schulnahe Jugendarbeit, Wolfenbüttel
Mitarbeiter dieses Heftes:
Prof. Dr. Werner BESCH, Hobsweg 64, 53125 Bonn
Hilke GERHOLD, Leipziger Weg 17, 38256 Salzgitter
Ernst-Diedrich HABEL, Am Grauhöfer Holz 140, 38644 Goslar
Dr. Martin TREU, Collegienstr. 54, 06886 Lutherstadt Wittenberg
Layout:
Veronika SCHNEIDER, ARPM, Wolfenbüttel
Druck:
Druckerei KOTULLA, Wolfenbüttel
‘braunschweiger beiträge’ erscheinen viermal im Jahr. Preis im Abonnement 9,00 EURO; Einzelheft 3,00 EURO
Auflagenhöhe ‘bb’ Heft 111-1/2005: 2.000 Exemplare
Bestellaufnahme:
Arbeitsbereich Religionspädagogik und Medienpädagogik
der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig
Dietrich-Bonhoeffer-Str. 1, 38300 Wolfenbüttel
Tel.: [05331] 802 507 • Fax: [05331] 802 713
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Landeskirchenkasse Wolfenbüttel, EKK Hannover, Konto 65 05, BLZ 250 607 01
Ab- und Raubdrucke sowie Fotokopien und sonstige Vervielfältigungen sind dringend erwünscht.
Bitte Quellenangaben nicht vergessen, zwei Exemplare immer als Beleg an uns.
Wir freuen uns, danke!
Quellen:
Titelbild: „Martin Luther“, Lucas Cranach d. Ä., Öl auf Holz, um 1520, Leihgabe des Landes Sachsen-Anhalt /
Ostdeutsche Sparkassenstiftung im Land Sachen-Anhalt gemeinsam mit der Sparkasse Wittenberg an die
Stiftung Luthergedenkstätten
Folie:
„Gesetz und Gnade“, Lucas Cranach d. Ä., Öl auf Holz, um 1551, Lutherhaus Wittenberg
(Dauerleihgabe des Landes Sachsen-Anhalt)
Wir bedanken uns für die Abdruckgenehmigungen bei der Stiftung Luthergedenkstätten sowie den Verlagen
Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) und Max Niemeyer (Tübingen)
Liebe Kollegin, lieber Kollege,
dieses Mal haben wir ein Themenheft zur Reformation zusammengestellt. Der Grund hierfür ist die Tatsache, dass der Feiertagserlass von 2002 (unterrichtsfrei für die evangelischen Schüler, Arbeitszeit für die
Lehrkräfte) sich nicht bewährt hat und die evangelischen Kirchen beim Kultusministerium angeregt haben,
diesen Tag in der Schule dem Anlass entsprechend in besonderer Weise zu gestalten.
Unsere Empfehlung lautet: Der Reformationstag wird als Projekttag durchgeführt, an dem sich möglichst
viele Fächer beteiligen. Das Thema „Reformation“ eignet sich für einen multiperspektivischen Zugang:
Im Deutschunterricht kann die Bedeutung der Lutherbibel für die Entwicklung einer einheitlichen deutschen Sprache herausgearbeitet werden (Vgl. den Beitrag von Werner Besch). Für den Kunstunterricht
bietet es sich an, das Neue der Kunst in der Renaissance-Zeit aufzuzeigen bzw. sich mit der spezifisch
reformatorischen Kunst eines Lucas Cranach, Adolf Dürer oder Tilmann Riemenschneider zu beschäftigen.
Im Englischunterricht könnten die Unterschiede zwischen der Reformation in England und auf dem Kontinent erarbeitet werden. Hier bietet sich die Internetrecherche an. Empfehlenswert sind der BBC-Beitrag
von Andrew Pettegree „The English Reformation“ unter http://www.bbc.co.uk/history/state/church_reformation/index.shtml und die tabellarische Übersicht unter http://justus.anglican.org/resources/timeline/06reformation.
html. Hingewiesen sei auf das Standardwerk: Diarmaid MacCulloch, Reformation: Europe`s House Divided 1490-1700, Allen Lane, 2003, von dem The Guardian schreibt: „In its field it is the best book ever
written.“ Für das Fach Musik bietet es sich an, das Verhältnis von Melodie und Text bei Luther zu rekonstruieren (Vgl. Beitrag von Heiko Lamprecht). Der Politikunterricht kann sich mit der Frage befassen, ob
und ggf. inwiefern die Auffassung Luthers von der Funktion des Staates für moderne Demokratien noch
relevant ist. Auch andere Themen drängen sich auf: die fatale Wirkungsgeschichte der judenpolitischen
Empfehlungen Luthers, seine Haltung im Bauernkrieg sowie die Wirkungsgeschichte des engen Bündnisses
von Thron und Altar als Folge des landesherrlichen Kirchenregiments oder die Bedeutung der Entdeckung
des subjektiven Gewissens als eine Quelle der individuellen Menschenrechte. Im Physikunterricht ließe
sich das Funktionieren des Gutenbergschen Letterdrucks als eine der Bedingungen der Multiplikation der
reformatorischen Ideen rekonstruieren oder gar mit einfachen Materialien nachbauen. Dass sich das Fach
Geschichte mit der Reformationszeit unter den machtpolitischen Konstellationen des zergliederten Reiches
oder unter sozialgeschichtlichem Aspekt befassen kann, muss nicht eigens erwähnt werden.
Die Reformationsgeschichte eignet sich aber nicht nur für einen multiperspektivischen, sondern auch für einen multimedialen Zugang. Hier ist an erster Stelle natürlich der 2002 erschienene Lutherfilm mit Joseph
Fiennes, Peter Ustinov u. a. zu erwähnen, der nicht nur die Konflikte der Reformationszeit zeigt, sondern
sich auch für eine filmkritische Analyse eignet. Zu erwähnen ist das vielfältige Begleit- und Unterrichtsmaterial, das auf der DVD educativ bereitgestellt wird. Auch die Recherchen im Internet können hilfreich zur
Erschließung der Reformation sein. Exemplarisch dafür sind die Quizspiele „Luther“ und „Melanchthon“
unter www.ekd.de Button „Spiele“ auf der Menüleiste. Das sind nur wenige Hinweise auf Internetseiten, die
sich beliebig erweitern ließen.
Auch können außerschulische Lernorte aufgesucht werden, z. B. jüdische Friedhöfe oder Gedenkhinweise
auf jüdisches Leben und jüdische Einwohner am Schulort, katholische und evangelische Kirchen, an denen
jeweils das konfessionell Besondere erhoben werden kann.
Im vorliegenden Heft werden einige Aspekte dokumentiert. Sie sind das Ergebnis einer Lehrerfortbildungsveranstaltung, die im April 2005 in der Lutherstadt Wittenberg stattgefunden hat. Das Besondere dieses
Kurses war der genius loci, die besondere Atmosphäre in der Stadt, in der Luther die meiste Zeit seines
Lebens zugebracht hat. Mit der Schlosskirche und der Stadtkirche, an der Luther gepredigt hat, mit dem
Universitätsgelände und dem Cranach-Haus mit Apotheke, Atelier und Kneipe, mit dem Melanchthon-Haus
und dem ehemaligen Augustiner-Kloster, das später der Familie Luther als Wohnhaus diente. Dieser genius
loci ist nicht vermittelbar, der muss selbst erlebt werden. Vermittelbar aber sind die zeitgeschichtlichen
Hintergründe und die wesentlichen Ideen, die die Reformation ausgemacht haben. Vermittelbar ist auch die
Wirkungsgeschichte der Reformation bis in die Gegenwart.
Wir weisen auch auf eine Ausstellung unter dem Thema „Die Wittenberger Juden im Dritten Reich“
hin, die vom 14. Juni 2005 bis Ende September im Tagungshaus auf dem Kirchencampus in Wolfenbüttel
besichtigt werden kann.
Mit diesem Heft wollen wir einige Anregungen geben, wie der Reformationstag als Projekttag in diesem
Jahr in der Schule begangen werden kann, und hoffen, dass uns das gelungen ist.
Die Religionsfachgruppen werden ermutigt, dass sie sich in den Gesamtkonferenzen durchsetzen, damit der
Reformationstag nicht wie jeder andere Tag in der Schule abläuft.
reformations-mindmap
hilke gerhold
Nichts bleibt, wie es ist – auch nicht der Reformationstag. Was jahrelang fraglos Feiertag für die evangelische Schülerschaft und Lehrerschaft war, wurde 2002 neu geregelt und reduziert – mit organisatorischen Konsequenzen und Auflagen, die zu etlichen Unklarheiten, zu Verärgerung und Beschwerden führten
(Gemeindegottesdienst? Schulgottesdienst? Unterrichtsfreier Tag nur für die Schüler/-innen? Anrechnung
von Minusstunden für die Lehrkräfte?..).
Nichts bleibt, wie es ist – wohl auch nicht die derzeitige Erlassregelung, die sich offensichtlich nicht bewährt
hat. Entweder schulfrei für alle Evangelischen, Lehrer wie Schüler, weil es ein religiöser Feiertag mit einer
bedeutsamen Wirkungsgeschichte ist. Oder aber dieser Tag wird in der Schule in besonderer Weise gestaltet
mit Bezug auf den historischen Ausgangspunkt und seine Wirkung bis hinein in die Gegenwart.
Die folgende Mindmap-Skizze kann unabhängig von künftigen Regelungen Anregungen geben für die thematische Behandlung des Reformationstages an diesem Tag selbst oder aber für den ganz normalen Unterricht.
Bezweckt ist sie als Erste-Hilfe-Werkzeug mit Übersichts- und Impulscharakter: Sie bietet eine schnelle
Orientierung über mögliche Themenaspekte und deren Vernetzung, Vertiefungsmöglichkeiten, Folge-Aspekte
auf einen Blick. Die Breite der Themenpalette zeigt, dass das Thema nicht nur im regulären Religionsunterricht, sondern gut im Rahmen von Projekttagen zu erarbeiten wäre, wobei sich etliche Teilsaspekte (in
der Skizze markiert) außerdem für eine Fächer übergreifende Behandlung anbieten (Geschichte, Politik,
Deutsch, Musik, Kunst, Englisch, Französisch).
Andererseits erleichtert es die Mindmap-Struktur aber auch, Leitfäden für eine sinnvolle Themenauswahl
oder -eingrenzung zu finden, die den jeweiligen Gegebenheiten (Jahrgangsstufe, Vorwissen, Zeitbudget etc.)
angepasst werden kann.
Als Ausgangspunkt für das Thema bieten sich drei verschiedene Ansatzmöglichkeiten an:
-
-
-
der Reformationstag
der Reformator,
christliche Feiertage
als Gedenktag auf Grund bestimmter Ereignisse und deren Wirkungen
ohne dessen Beweggründe und Wirken es diesen Gedenktag nicht gäbe;
als Tage des Gedenkens und Feierns in konfessioneller Gemeinsamkeit und Verschiedenheit.
Auf jeden Fall thematisiert werden sollte (z. B. am Schluss) die grundsätzliche Frage nach der Bedeutung
und dem Nutzen von Gedenk- und Feiertagen in ihrem ursprünglichen als auch im heutigen Kontext (z. B.
die Selbstvergewisserung hinsichtlich der kulturellen Herkunft oder die Diskrepanz zwischen christlichen
Gedenktagen und gesetzlichen Feiertagen). Gerade am Beispiel des Buß- und Bettages sowie des Reformationstages (Veränderungen im Feiertagsgesetz; neuerdings auch die Konkurrenz des Reformationstages mit
Halloween) lassen sich die Veränderung mit solchen Tagen und der gesellschaftlichen Einschätzung und
Wertschätzung erörtern.
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'bb' 111-1/2005
Reformationstag:
Gedenktag und Feiertag
31. 10. 1517:
sog. „Beginn“ der
Reformation
Martin Luther
Christl. Feier- und Gedenktage
Wer war Martin Luther?
(Biographisches Gerüst; seine
Motive, seine Aktivitäten)
Sinn und Zweck solcher Tage
Gemeinsam:
95 Thesen
Advent,
Weihnachten,
Karfreitag/Ostern
Himmelfahrt,
Pfingsten, Trinitatis
Erntedank
Inhalt (exemplarisch)
Kritik an Ablasspraxis;
ursprüngl. Zweck:
Disputationsgrundlage
Soziokulturelle,
theologische und
politische Hintergründe
und Bedingungsfaktoren
Paradigmenwechsel von
der Scholastik zur
Bibeltheologie;
Zersplitterung der
deutschen Territorien,
Letterdrucktechnik,
Situation der Bauern, des
Adels und der Bürger
Konfessionellverschieden:
Ev.
Reformationstag
Buß- und Bettag
Kath.
Fronleichnam
Mariae Himmelfahrt
Allerheiligen
Allerseelen u.a.
Evangelisch-Katholisch
Gemeinsamkeiten (Bekenntnis zu Trinität,
Zweinaturenlehre u.a.)
Unterschiede (Kirchen – und Amtsverständnis,
Sakramente, Heiligenverehrung, Gottesdienst,
Kirchengebäude)
Folgen
für die Kultur
für die Politik
für die Kirche
für den Gottesdienst
Bedeutung der
Bibelübersetzung für die
Spracheinigung
Gewissensfreiheit;
Landesherrliches
Kirchenregiment;
Verhältnis Staat-Kirche
Staatsverständnis (säkulare
Schutzfunktion)
Antijudaismus/
Antisemitismus
Konfessionelle Spaltung nicht
nur in Deutschland, sondern in
ganz Europa,
Allgemeines Priestertum gegen
Ämterhierarchie
Kirchenrecht als menschl.
Recht gegen göttl. Recht
Sakramente
Keine Wandlung beim
Abendmahl, Feiertage
Gottesdienst in deutscher
Sprache,
Evangelische Lieder
Katechismus
Wozu Gedenk- und Feiertage?
Sinn und Zweck
Heutige Relevanz
(Auswirkungen auf Religion, Kultur und Gesellschaft, wenn
Feiertage weiter reduziert werden)
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'bb' 111-1/2005
meditation
Gesetz und Gnade – eine theologische Bildergeschichte
von Lucas Cranach
Das Bildnis von Lucas Cranach d. Ä. „Gesetz und Gnade“ aus dem Jahre 1551 stellt eine heilsgeschichtliche
Bildergeschichte dar. Durch einen in der Bildmitte stehenden Lebensbaum ist das Bild klar in zwei Teile
geteilt, und dies deutlich antithetisch. Auf der linken Seite wird aus paulinisch-reformatorischer Perspektive die Lebenswirklichkeit des Menschen unter der Herrschaft des Gesetzes und seinen Leistungsanforderungen, auf der rechten Seite das Selbst- und Weltverständnis unter der Gnade Gottes dargestellt, die im
stellvertretenden Leiden Christi zum Ausdruck kommt. Das Bild ist in Leserichtung von links nach rechts zu
lesen, wobei die linke Bildhälfte ein überholtes, altes Heilsverständnis und die rechte Bildhälfte das neue,
gültige Heilsverständnis darstellen. Die Antithese von alt/neu, überholt/gültig, schlecht/gut zeigt sich bereits
an dem Lebensbaum als Bildteiler. Während die Äste und Zweige auf der linken Seite abgestorben sind, trägt
er auf der rechten Seite immergrüne Blätter.
Die Antithese wird zusätzlich durch Bibelzitate zum Ausdruck gebracht, die jeweils oben links auf beiden
Bildhälften und unterhalb des Bildes zu sehen sind.
Die Texte für die Gesetzesseite lauten:
oben links: „Offenbar ist Gottes Zorn vom Himmel her gegen alle Gottlosigkeit und (Un-)Gerechtigkeit
der Menschen“ (Röm. 1,8)
unten links: „Denn alle sind Sünder und haben die Herrlichkeit verloren, die Gott ihnen zugedacht hatte.“
(Röm. 3.23)
„Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft aber der Sünde ist Gottes Gesetz.“
(1.Kor. 15,56)
„Das Gesetz richtet nur Zorn an.“ (Röm. 4,15)
„Alle Propheten und das Gesetz selbst haben geweissagt bis hin zu Johannes.“ (Matth. 11,13)
Die Texte für die Evangeliums- oder Gnadenseite lauten:
oben rechts: „Der Herr selbst wird euch ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau empfängt und gebiert
einen Sohn.“ (Jes. 7,14)
unten rechts: „Denn in Jesus Christus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der
Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“ (Gal. 5,6)
„Siehe, das ist das Lamm, das der Welt Sünde trägt“ (Joh. 1,29) „durch die Heiligung des
Geistes zum Gehorsam und zur Besprengung mit dem Blut [Jesu Christi].“ (1. Petr. 1,2)
„Der Tod ist verschlungen vom Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Wo ist dein höllischer Sieg?
Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unseren Herrn [Jesus Christus].“ (1. Kor.
15,54.55.57)
Innerhalb der beiden Bildhälften gibt es jeweils wiederum mehrere Szenen, die sich zu einem kohärenten
Gesamtgedanken zusammenfügen lassen.
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Das Leben aus dem Gesetz
Oben in der Mitte ist Gott oder Christus dargestellt, umgeben von einer goldenen Aureole, auf der Weltkugel
sitzend, und zwar als Richter zum Jüngsten Gericht, in dem er die Guten zu seiner Rechten und die Gottlosen
zu seiner Linken trennt. Das ist hier lediglich durch die unterschiedlichen Handbewegungen angedeutet.
Umgeben ist er von geflügelten Engeln, von denen zwei die Posauen zum endzeitlichen Gericht blasen.
Links unterhalb Gottes, jedoch der irdischen Sphäre zugehörig, ist die Sündenfallszene dargestellt, eindeutig erkennbar an den nackten Gestalten von Adam und Eva, dazwischen der Baum der Erkenntnis mit der
Schlange. Nach der jahwistischen Erzählung (Gen. 3) bestand der Sündenfall in dem Wunsch der Menschen,
so zu sein wie Gott bzw. sein eigener Gott zu sein. Diese Eigenmächtigkeit, sein Vertrauen auf sich selbst und
seine eigene Kraft anstatt auf Gott wird als die jedem Menschen angeborene sündhafte Natur des Menschen
angesehen, die von dem ersten Sündenfall hergeleitet wird. Diese sog. Erb- oder Ursünde gilt als Ursache für
die metaphysischen Übel (Tod), die physischen Übel (Krankheiten) und die moralischen Übel (Mord, Brudermord des Kain/Gen 4), Krieg zwischen den Völkern (Gen. 11).
Rechts neben der Sündenfallszene wird der Widerstand der Israeliten gegen das unbehagliche Wüstenleben beim Auszug aus Ägypten dargestellt (Num. 21,4-9)): Als die Israeliten sich darüber beschwerten, dass
sie in der Wüste nicht genug Wasser und Nahrung hätten und sich nach den Fleischtöpfen in der Sklaverei
zurücksehnten, wurden sie von Gott mit einer Giftschlangenplage bestraft, der viele Israeliten zum Opfer fielen. Dadurch in Schrecken versetzt, bereuten die Israeliten ihren Widerstand und baten Mose, er möge sich
bei Gott für ein Ende der Plage einsetzen. Darauf richtete Mose an einem Holz eine eherne Schlange auf, bei
deren Anblick der Schlangenbiss wirkungslos blieb.
Das Motiv der ehernen Schlange wurde im NT unterschiedlich rezipiert: Während im Joh.-Ev. der
ursprüngliche Charakter als Heilssymbol bewahrt wird, das freilich durch das Kreuz Christi überboten wird
(„wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die
an ihn glauben, das ewige Leben haben“ Joh. 3,14f.), ist für Paulus die Schlange eher ein Symbol, das an den
Ungehorsam und das Unheil der Israeliten erinnert. („Lasst uns auch nicht Christus versuchen, wie einige
von ihnen ihn versuchten und wurden von der Schlange umgebracht.“ (1. Kor. 10,9.)
Auffällig ist die parallele Darstellung des Kreuzes und der Schlange bzw. Christi auf der linken und rechten Bildhälfte. Diese Parallelität würde für die johanneische Typologie sprechen, dass die Heilserfahrung in
der Wüste ein schwaches Abbild der Heilserfahrung durch das Kreuz Christi darstellt. Im Zusammenhang der
linken Bildhälfte jedoch soll vermutlich an den weiteren selbstmächtigen Sündenfall der Menschen erinnert
werden.
Vorn links befindet sich ein halbnackter Mann auf der Flucht, gejagt von einem Skelett mit einem Spieß
in der Hand, ikonographisches Symbol für den Tod, und gejagt von einem Dämon, einem Tiermenschen mit
großen Vogelklauen und Kapuze, Symbol für den Teufel. Und er läuft direkt auf das Höllenfeuer zu, in dem
bereits eine verkohlte Gestalt sitzt.
Daneben eine Männergruppe, ein Mann mit langem weißen Bart und rotem Mantel, wahrscheinlich
Mose, davor ein vornehm gekleideter Mann mit Gesetzestafeln in der Hand, wahrscheinlich ein Vertreter der
damaligen Kirche oder der katholischen Obrigkeit, dahinter Propheten, die auf die pünktliche Einhaltung des
göttlichen Gesetzes dringen.
Die Botschaft dieser Bildhälfte lautet: Der eigenmächtige und dadurch sündhafte Mensch will sich durch
die Erfüllung der göttlichen Gebote selbst sein Heil und seine Daseinsberechtigung verschaffen, um im
endzeitlichen Gericht zu bestehen. Und die kirchlichen Autoritäten bestätigen ihn noch in seinem eigenmächtigen Streben. Selbst das gute Gesetz Gottes wird noch instrumentalistisiert und verstrickt den Menschen
noch weiter in die Sünde, so dass das Ende nur der Tod sein kann. Die eigenmächtige Vereinnahmung des
Gesetzes führt zu einer Bestätigung der Macht des Todes sowie zur Verzweifelung von Menschen, die erkennen, dass sie das Gesetz nicht erfüllen können.
Das Leben aus Gnade
Analog zur linken Bildhälfte beginnt die Bildergeschichte auch hier oben in der Mitte. Anstelle des Weltenrichters findet man hier in der göttlichen Aureole ein nacktes Baby, das bereits mit einem Kreuz in den
Händen der irdischen Sphäre zustrebt, ebenfalls umgeben und abwärts getragen von geflügelten Engeln.
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Ziel dieses Babys ist die Gottesmutter Maria, die allein auf einer Anhöhe steht, unter den grünen Blättern
des Lebensbaumes, und bereit ist, das Kind zu empfangen.
Die Heilsgeschichte setzt sich fort im gekreuzigten Jesus in der Bildmitte. Rechts daneben eine unterirdische Gruft, die Totenwelt, in die Jesus nach seinem Sterben hinabsteigt und in der er das Skelett (den Tod)
und den Dämon (Teufel) siegreich mit einem Herrscherstab bekämpft. Als Symbol des Sieges zieht ein Lamm
mit Siegesfahne am Kreuz vorbei. Das Lamm mit Siegesfahne – ikonographische Darstellung der Paradoxie,
dass im Tod Jesu, in der Niederlage, seine Herrschaft über den Tod begründet ist. „Und das Lamm wird sie
[die Gegner] überwinden, denn es ist der Herr aller Herren und der König aller Könige, und die mit ihm sind,
sind die Berufenen und Auserwählten und Gläubigen.“ (Off. 17,14). Und: „Das Lamm, das geschlachtet ist,
ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.“ (Off. 5,12).
Die Heilsgeschichte Jesu endet mit seiner Auferstehung bzw. Himmelfahrt, die rechts oben dargestellt wird.
Von dem Auferstandenen in der Aureole sieht man nur noch die Füße mit den Wundnarben, den Rocksaum
sowie den Herrscherstab, mit dem er Tod und Teufel getötet hat. Auch der Auferstandene wird von Engeln
aufwärts getragen.
Im Vordergrund links befinden sich zwei Männer: Der eine von ihnen ist identisch mit dem von Tod und
Teufel gejagten halbnackten Mann auf der linken Bildhälfte. Hier in der Gemeinschaft mit Johannes, der auf
den Gekreuzigten weist. „Siehe, das ist das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt“, scheint er zu sagen.
Und der Halbnackte fasst an den Ellbogen des Johannes und verlängert damit den Arm des Johannes und
schafft eine Verbindung zu sich.
Ganz anders auch die Atmosphäre: Dort gefordert, gejagt, verzweifelt, ausweglos – hier getröstet mit der
Gewissheit, dass Gott nicht der unbarmherzige Weltenrichter ist, sondern ihm seine sündhafte Natur vergibt.
Der Botschaft dieser Bildhälfte
Der Mensch braucht sich sein Leben nicht zu erleisten. Und er kann es überhaupt nicht. Er kann nur dem
gnädigen Urteil Gottes vertrauen, dass er schon immer gewollt und gemocht ist. Und darauf, dass im Kreuz
Christi der fröhliche Tausch vollzogen ist: dass Christus die Strafe trägt, die eigentlich dem Menschen
gebührt, und der Mensch den Lohn, der eigentlich Christus gebührt.
Durch dieses Gemälde hat Lucas Cranach ins Bild gesetzt, was Paulus mit den Worten sagt:
„Wie durch die Sünde des Einen [Adam] die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch
durch die Gerechtigkeit des einen [Christus] für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen, die zum Leben
führt.“ (Röm. 5,18)
Hans-Georg Babke
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'bb' 111-1/2005
fachbeitrag: „martin luther:
leben – werk – wirkung“
martin treu
Martin Luthers Weg nach Wittenberg
Martin Luther war kein Wittenberger, auch wenn er den
größten Teil seines Lebens in dieser Stadt verbrachte.
Geboren wurde er am 10. November 1483 in Eisleben,
wo sein Vater Arbeit im Kupferschieferbergbau gefunden
hatte. Am Tag darauf taufte man ihn auf den Namenspatron des 11. Novembers, den heiligen Martin. Luthers
Geburtshaus ist heute noch in Eisleben als Museum zu
besichtigen. Bereits kurz nach der Geburt ihres ersten
Sohnes zog die Familie nach Mansfeld um. Dort gelang
es dem Vater in den folgenden Jahren, vom Arbeiter zum
anteiligen Besitzer von Bergwerken und Schmelzfeuern
aufzusteigen. Das dabei verdiente Geld investierte Hans
Luder, so sein eigentlicher Name, in die Ausbildung seines
Sohnes. Der besuchte be­reits im Alter von fünf Jahren die
örtliche Schule, um seine Ausbildung später dann in Magdeburg und Eisenach fortzusetzen.
1501 konnte sich Martin Luther dann an der berühmten Universität in Erfurt als Student der freien Künste
einschreiben lassen. Offensichtlich plante sein Vater für
ihn eine Lauf­bahn als Jurist. 1505 schloss Luther das Studium an der artistischen Fakultät mit der Promotion zum
Magister ab, dann jedoch nahm sein Leben eine dramatische Wende. Am 2. Juli 1505 geriet er bei Stotternheim
nahe Erfurt in ein Unwetter. Durch Blitze geängstigt,
gelobte er: „Hilf du, heilige Anna, ich will ein Mönch werden!“ Schon am 17. Juli trat er in das Kloster der Augustinereremiten ein. Nach einjähriger Prüfung legte er im
September 1506 die endgülti­gen Mönchsgelübde ab.
Sicher ist, dass sein Vater diesen Weg ihm lange nicht
verzeihen konnte.
1507 wurde Luther zum Priester geweiht und begann
auf Anordnung seiner Vorgesetzten im Kloster mit dem
Theologiestudium. Dies weist darauf hin, dass der junge
Ordensbruder besondere Begabungen besaß, denn längst
nicht jeder Mönch wurde Priester oder studierte gar Theologie. Im Rückblick zeichnete Luther seine Erfurter Zeit
in düsteren Farben.
Ende 1508 wurde Luther auf Wunsch des Gründungsdekans der theologischen Fakultät der erst 1502 gegründeten Universität Wittenberg an die Elbe berufen, um dort
Vorlesungen über Moralphilosophie zu halten, während
er sein Theologiestudium weiterführte. Nach einem
Zwischenspiel in Erfurt kehrte Luther im Herbst 1511
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endgültig nach Wittenberg zurück, um sich hierauf seine
Doktorpromotion vorzubereiten.
Wittenberg: Stadt – Residenz –
Universität
Wittenberg, 1180 erstmals erwähnt und 1293 mit dem
Stadtrecht versehen, gehörte am Beginn des 16. Jahrhunderts mit etwa 2.000 Einwohnern zu den mittelgroßen Städten Deutschlands. Erfurt, aus dem Luther kam,
zählte dagegen ca. 20.000 Bewohner. Seitdem jedoch
Kurfürst Friedrich III. von Sachsen (Abb. 1) im Ergebnis der
Leipziger Teilung von 1485 seine Regierung nach Wittenberg verlegte, veränderte sich das Stadtbild schnell und
durchgreifend. Eine der ältesten Stadtansichten aus der Zeit
vor 1546 (Abb. 2) zeigt dies deutlich. Im Osten der Stadt,
deren Befestigung erneuert und verstärkt wurde, erbauten
die Augustinereremiten seit 1503 mit Hilfe des Kurfürsten
ein neues Kloster, das nach der Farbe ihrer Kutten das
Schwarze genannt wurde. Daran schloss sich der Komplex der neuen Universitätsgebäude an. Im Westen wurde
ein Schloss in den Formen der Renaissance errichtet,
dessen nördlicher Flügel eine allen Heiligen gewidmete
Kirche bildete. Auf dem Holzschnitt sieht man eindrücklich, wie die Strahlen der aufgehenden Sonne das Kloster
treffen, in dem Martin Luther leben und wirken sollte.
Abb. 1: Kurfürst Friedrich III.,
Lucas Cranach d. Ä. (Werkstatt) Öl auf Holz, 1532
'bb' 111-1/2005
Abb. 2: Ansicht von Wittenberg,
Holzschnitt von drei Druckstöcken, 1536-1546
Ein modernes Stadtmodell bietet einen Überblick über die
Strukturen der Kommune. In der Mitte ist die Stadtkirche
mit dem angrenzenden Marktplatz und dem Rathaus als
Zentrum der sich entwickelnden Bürgerschaft zu erkennen. Kurfürst Friedrich von Sachsen, den schon seine
Zeitgenossen den Weisen nannten, bezog erhebliche
Einkünfte aus dem Silberbergbau im Erzgebirge. Das
ermöglichte ihm den schnellen Stadtumbau zwischen
1490 und 1525.
Der Kurfürst sammelte mit großem Eifer Heiligenreliquien. 1509 besaß er schon 5.005 Exemplare, darunter mehrere Flaschen mit der Milch der Jungfrau Maria,
Stroh von der Krippe Jesu und einen ganzen Körper eines
der von König Herodes ermordeten Kinder. Diese Teile
wurden in kunstvollen Behältern, so genannten Reliquiaren, meist aus vergoldetem Silber, aufbewahrt, und einmal
im Jahr für die Gläubigen zur andachtsvollen Verehrung
ausgestellt. 1509 konnte jeder Besucher einen Ablass von
einhundert Tagen pro Reliquie bekommen, wenn er etwas
für die Erhaltung der Schlosskirche spendete.
Der Kurfürst vergrößerte in der Folgezeit nicht nur
die Zahl der Reliquien auf 19.013 im Jahre 1520, sondern auch die dazugehörigen Ablassprivilegien, so dass
schließlich mehr als 1,9 Millionen Jahre Ablass durch die
Gläubigen zu gewinnen waren. Die Quantifizierung der
Frömmigkeit ist typisch für die Verhältnisse vor Beginn
der Reformation. Mit der Reliquienfrömmigkeit ging eine
intensive Heiligenverehrung einher. Bei den Wittenberger Bürgern war der heilige Antonius besonders populär.
Ein 1095 qestifteter Orden, der ihn als Schutzpatron
verehrte, besaß auch eine Niederlassung in Wittenberg.
Da der Legende nach Antonius in der Wüste von einem
Schwein begleitet wurde, gehörte dieses Tier als Attribut
zur Darstellung des Heiligen. Die Wittenberger Antoniter
besaßen wie ihre Ordensbrüder anderswo auch das Privileg, Schweine zu halten, die von den Bürgern gefüttert
wurden, was als verdienstlich galt.
Die Antoniter-Schweine bekamen zur Unterscheidung
Glöckchen in die Ohren und ein Antoniuskreuz in die
Borsten auf dem Rücken geschoren.
1513 verbot ein erboster Kurfürst den Wittenbergern
ihre Schweine ebenso auszustatten, um sie so auf Kosten
der Allgemeinheit durchzufüttern.
Luthers reformatorische Entdeckung
Nach seiner Doktorpromotion 1512 erhielt Luther die
Professur für Bibelauslegung. Traditionellerweise galt dieser Lehrstuhl weniger als die philosophische Theologie.
Jedoch blieb Luther sein Leben lang Ausleger der Heiligen
Schrift. Aus diesem Grund begann er auch, die biblischen
Ursprachen zu lernen.
Zwischen 1513 und 1518 hielt Luther vier Vorlesungen
über einzelne biblische Bücher, wobei er mit den Psalmen
begann. Aus dem Römerbrief schließlich gewann er die
Erkenntnis, dass die Christen allein durch den Glauben an
die von Gott geschenkte Gerechtigkeit das Heil empfangen. Dieser scheinbar abstrakte Satz sollte sich in der
Folge als grundstürzend erweisen. Denn mit der Konzentration auf das geschenkte Heil in Christus verloren
alle menschlichen Frömmigkeitsbemühungen ihren Wert.
Christus allein ist es, der dem Gläubigen das Heil zuwendet. Das kommt sehr deutlich in der überlebensgroßen
Darstellung des Christus am Kreuz von Lucas Cranach d.
J. zum Ausdruck. Luther selbst fasste seine Erkenntnisse
1538 so zusammen: „Wer die Worte beherzigt: ‚Wer da
glaubt an mich‘, der braucht das Jüngste Gericht nicht
zu fürchten.“ Es ist nicht ganz klar, wann Luther beim
Studium des Römerbriefes diese Erkenntnis hatte. Sicher
ist nur, dass sie in seiner privaten Turmstube stattfand,
deren Fundamente heute im Eingangsgebäude zu besichtigen sind. Öffentliche Konsequenzen zog Luther vorerst
nicht. Seine Vorlesungen, erst im 19. Jahrhundert wieder
aufgefunden, fanden hinter den Mauern der Universität
statt. Stattdessen macht er innerhalb des Klosters Karriere. Als Subprior trug er hier Verantwortung. 1515 wurde
er zum Distriktsvikar ernannt. Damit beaufsichtigte er
elf Klöster der Augustinereremiten zwischen Dresden
und Magdeburg, Wittenberg und Erfurt. Auf ausgedehnten dienstlichen Reisen lernte er die Verhältnisse dort
kennen. Die Universität in Wittenberg florierte anfänglich.
Schon im Gründungssemester schrieben sich 416 Studenten ein. Aller­dings dauerte es, bis eine funktionierende
Verwaltung aufgebaut werden konnte.
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Die 95 Thesen – der Beginn der
Reformation
Der Ablass entstand im hohen Mittelalter als finanzielle
Entschädigung für die den Gläubigen auferlegten Sündenstrafen. Eine Wallfahrt nach Rom konnte so beispielsweise durch die Begleichung der dabei anfallenden
Kosten ersetzt werden. Mit dem Renaissancepapstum
entwickelte sich der Ablass zum reinen Finanzierungsinstrument für den immer stärkeren Geldbedarf der Kirche
in Rom. So wurde seit 1515 offiziell im Erzbistum Magdeburg ein Ablass zur Fertigstellung der Peterskirche in
Rom vertrieben.
In Wirklichkeit diente der Ablass von 1515 der Tilgung
von Schulden beim Heiligen Stuhl, die der Erzbischof von
Magdeburg Herzog Albrecht von Brandenburg machen
musste, als er auch das Erzbistum von Mainz für sich
gewinnen wollte. Solche Ämterhäufung war eigentlich
verboten, außerdem war der Erzbischof nach kirchlichem
Recht zu jung für sein Amt. Die päpstlichen Sondererlaubnisse mussten für mehrere tausend Gulden erworben
werden, wobei das mächtige Bankhaus Fugger in Augsburg das Geld vorstreckte. Albrecht beauftragte einen
der besten Ablasshändler seiner Zeit mit dem Vertrieb.
Johann Tetzel gilt auch als Urheber des später legendär
gewordenen Satzes: „Sobald das Geld im Kasten klingt,
die Seele in den Himmel springt.“ Luther übernahm ihn
in etwas anderer Form in seine Thesen gegen den Ablass.
Das von Tetzel gesammelte Geld kam in eine Ablasstruhe
mit mindestens drei Schlössern, so dass die Be­auftragten
der Fugger und des Papstes nur gemeinsam an das Geld
gelangen konnten.
Die Legitimation der Kampagne bildete eine prunkvolle
Urkunde Papst Leos X., ähnlich der gezeigten Urkunde, die
achtzehn Kardinäle in der Diözese Salzburg 1492 ausstellten. Die Gläubigen bekamen für ihr Geld einen so genannten Ablasszettel in die Hand, ein Beichtformular, das es
ihnen erlaubte, einmal im Leben und in der Todesstunde
eine vollständige Beichte abzulegen und dafür die Vergebung zu erlangen.
Nach eigenem Bekunden erfuhr Martin Luther von der
Problematik des Ablasses erst durch seinen Kontakt mit
der Gemeinde. Seit etwa 1514 hatte der Mönch und Professor eine Stelle als nebenamtlicher Stadtprediger inne.
Mit Hinweis auf die gekauften Ablassbriefe bestanden
seine Gemeindeglieder auf der Vergebung in der Beichte
und glaubten auf Reue und Genugtuung verzichten zu
können. So stand also die Kanzel und Luthers Verbindung
zu den einfachen Gläubigen am Beginn des Ablassstreites. Auch später hielt er von dort einen großen Teil seiner
insgesamt etwa 2.000 überlieferten Predigten.
Unter dem 31. Oktober 1517 schrieb er bewegt von
seelsorgerlichen Gefühlen seinem kirchlichen Vorgesetzten, dem Erzbischof Albrecht von Magdeburg, einen Brief,
in dem er die gängige Ablasspraxis als gefährlich für die
Gemeinden kritisierte. Dazu legte er ein Manuskript mit
95 Thesen, die als Grundlage für eine geplante Disputation über das Wesen und die Bedeutung des Ablasses an
10
der Wittenberger Universität dienen sollten. Der Erzbischof antwortete allerdings nicht, sondern sandte die Thesen wegen des Verdachts der Ketzerei weiter nach Rom.
Die geplante Disputation in Wittenberg kam nicht
zustande. Luther schickte die Thesen im November an
befreundete Gelehrte, die sie in Leipzig, Nürnberg und
Basel zum Druck brachten. Grundsätzlich befassten sich
die Thesen mit dem Missbrauch des Ablasses, nicht mit
einer Fundamentalkritik, wenn auch einige deutliche
Sätze zu hören waren. Der Ablass war in Rom noch nicht
dogmatisch festgelegt, das geschah erst einige Jahre später, und so befand sich Luther mit seinen Thesen durchaus innerhalb des Rechts als Doktor der Heiligen Schrift
über offene Glaubensfragen zu disputieren. Allerdings
hörten seine Kritiker aus den Sät­zen jedoch auch eine
scharfe Kritik am Papst heraus, und dies musste als ketzerisch gelten.
Den öffentlichen Durchbruch erzielte Luther aber erst
mit seiner Schrift „Ein Sermon von Ablass und Gnade“,
die im Frühling 1518 erschien, aber wohl schon früher
verfasst wurde. Auf acht Seiten fasste Luther hier seine
Argumente noch einmal in deutscher Sprache zusammen.
Innerhalb von zwei Jahren erschienen 22 Nachdrucke,
wobei neben Wittenberg auch Augsburg, Leipzig, Nürnberg und Basel Druckorte waren. Gleichzeitig kam eine
niederdeutsche Übertragung in zwei Ausgaben auf den
Markt sowie Übersetzungen ins Holländische, Dänische
und Tschechische. Schließlich eröffnete eine Rückübertragung ins Latein dem kleinen Werk auch die Möglichkeit
internationaler Resonanz. Schlagartig war der Wittenberger sehr weit über die Gren­zen seiner Stadt und des
Kurfürstentums Sachsen hinaus bekannt geworden. Die
Gründe dafür lagen sowohl in der Thematik – gerade der
Ablass interessierte die einfachen Gläubigen – als auch
in der Form. Die Schrift ist durch Nummerierung klar
gegliedert, die Sprache plastisch und zum Vorlesen geeignet. Letzteres spielte bei einer Lesefähigkeit von etwa 10
Prozent der Bevölkerung für die Weiterverbreitung eine
erhebliche Rolle. Nicht zufällig trägt die Flugschrift den
Begriff ‚Sermon‘ im Titel, auch wenn es sich nicht um
eine Predigt im engeren Sinne handelt. Vielmehr ver­weist
der Begriff auf die Herkunft des Inhalts aus Predigten und
die Fähigkeit Luthers, die Schriftsprache dem gesprochenen Wort anzunähern.
Die Zehn Gebote
Lucas Cranach und seine Werkstatt schufen diese Darstellung der Zehn Gebote (Abb. 3, siehe auch S. 18) im
Auftrag des Wittenberger Rates 1516. Ursprünglich
war sie für die Gerichtslaube im Rathaus bestimmt. Der
Magistrat hatte so das Gesetz Gottes vor Augen, wenn
er seine Gerichtsbarkeit ausübte. Das Bild zeigt in den
Darstellungen zu den einzelnen Geboten eine Fülle von
Details aus dem Alltagsleben am Beginn des 16. Jahrhunderts. Der sich über die Bilder ziehende Halbkreis verweist auf den Regenbogen als Symbol des ersten Bundes
Gottes mit den Menschen, wie er in der Noah-Geschichte
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Abb. 3: Gemähldetafel der Zehn Gebote
erzählt wird. Diese Darstellungsweise gilt als einzigartig. Nicht zufällig ruhen die Enden des Regenbogens auf
den Wappen des Kurfürstentums Sachsen. Auch schon
vor der Reformation galt die weltliche Obrigkeit als eine
gute Gabe Gottes. In den einzelnen Bildern werden die
Verstöße gegen die Gebote dem Betrachter plastisch vor
Augen gestellt. Auffallend ist die Anwesenheit von Engeln
und Dämonen, die das Schicksal der Menschen bestimmen. Die wiederkehrende Darstellung eines Edelmannes,
kenntlich an Kleidung und Schwert, als Verächter der
göttlichen Gebote, lässt sich wohl durch den Auftraggeber
des Bildes erklären: Am Beginn des 16. Jahrhunderts gab
es zahlreiche Konflikte zwischen Adligen und den aufstrebenden Städten, die allerdings in Kursachsen durch den
Fürsten meist zugunsten der Städte gelöst wurden.
Das Verhör in Augsburg und die
Leipziger Disputation 1518–1519
Luthers Vorstoß gegen den Ablass fand nach anfänglichem Zögern die Zustimmung seiner Wittenberger Kollegen. Besonders der ursprünglich skeptische Doktorvater
Luthers Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt (Abb. 4),
verteidigte Luther so energisch, dass ihn ein engagierter
Verfechter der Alten Kirche, der Ingolstädter Theologe
Johann Eck, als ersten herausforderte.
Abb. 4: Andreas Bodenstein, genannt
Karlstadt, Radierung, 16. Jh.
Inzwischen war in Rom der Ketzerprozess gegen Luther
eröffnet worden. Da der Kurfürst Friedrich der Weise ein
Interesse daran haben musste, das Wirken seines nun
berühmtesten Professors in Wittenberg gedeihlich weiterzuführen, versuchte er, die Sache in Rom gütlich beizulegen. Ein Kompromiss sah vor, Luther nicht nach Rom zu
zitie­ren, sondern ihn vor einem Abgesandten des Papstes
„väterlich“ zu verhören. Im Sommer 1518 traf Luther zu
diesem Zweck in Augsburg mit Kardinal Cajetan, einem
der bedeutendsten Theologen seiner Zeit, zusammen.
Allerdings ließ Luther im Gespräch nur Argumente aus
der Heiligen Schrift, nicht aber solche aus der kirchlichen
Tradition gelten, so dass der Wittenberger schließlich
die Stadt fluchtartig verlassen musste. Der erste Vermittlungsversuch war damit gescheitert. Luther fühlte sich
so sehr im Recht, dass er gleich ein Gesprächsprotokoll
mit dem Kardinallegaten unter dem Titel „Acta Fratris
M. Lutheri“ drucken ließ, was den Konflikt verschärfte.
11
'bb' 111-1/2005
Inzwischen hatte sich Johann Eck ebenfalls gegen Luther
gewandt, wovon der sächsische Herzog Georg (Abb. 5)
unterrichtet wurde.
Abb. 5: Herzog Georg von Sachsen,
Lucas Cranach d. J., Holzschnitt, um 1562
Georg, ein Vetter des Kurfürsten, regierte in den östlichen
Teilen Sachsens. Ursprünglich stand er der Notwendigkeit
einer Reform der Kirche aufgeschlossen gegenüber. Als
Enkel des im Bann gestorbenen „Ketzerkönigs“ Georg
Podiebrad von Böhmen konnte und wollte er sich jedoch
nicht von Rom lösen. Gegen den Willen der Leipziger Universität verfügte er eine öffentliche Disputation in Leipzig
(Abb. 6) zwischen Luther und Johann Eck, die in akademischen Kreisen für erhebliches Aufsehen sorgte.
Abb. 6: Die Leipziger Disputation,
kolorierter Holzschnitt, 1557
Die öffentliche Meinung neigte sich den Wittenbergern zu,
was auch aus einer von Sympathie getragenen Beschreibung Luthers in Leipzig hervorgeht:
„Martinus ist von mittlerer Gestalt. Er hat einen
hageren Körper, gleichermaßen von Sorgen und Stu-
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dien erschöpft, so dass der, der genau hinsieht, fast alle
Knochen zählen kann. Er ist noch immer von jugendlichem und frischem Lebensalter und hat eine scharfe und
deutliche Stimme. In Gesellschaft ist er ein heiterer und
scherzhafter Unterhalter, der überall munter und sorglos
und immer mit fröhlichem Gesicht erstrahlt, wenn die
Feinde auch noch so wild drohen.“ Der eigentliche Anlass
der Disputation, das Ablasswesen, spielte kaum mehr
eine Rolle. Eck, dem es darum ging, Luther um jeden
Preis als Ketzer darzustellen, drängte den Wittenberger
auf das Thema der Rolle und Bedeutung des Papstes.
Dabei gelang es Eck, Luther die Feststellung abzuringen,
dass das Papstum nicht heilsnotwendig sei und Ketzer
wie Johann Hus in Wirklichkeit gute Christen darstellten.
Johann Hus, der Reformator Böhmens, war 1415 auf dem
Konzil zu Konstanz verbrannt worden, weil er eine Kirche
forderte, die zu ihren urchristlichen Wurzeln zurückkehren sollte. Für Eck war Luther nun ein öffentlich überführter Ketzer, da er sich mit einem rechtmäßig verurteilten Irrlehrer solidarisiert hatte.
Die reformatorischen Hauptschriften
und die Verbrennung des
Kirchenrechtes 1520
Der Zuspruch seiner Freunde wie die Kritik der Gegner
schienen Luther förmlich zu beflügeln. In kurzer Zeit veröffentlichte er eine Folge von Flugschriften, die als Basis
seines reformatorischen Programmes verstanden werden
können. Er begann mit einer Ethik, die er „Von den guten
Werken“ betitelte. Mit einer Auslegung der Zehn Gebote
verband er eine Erörterung, was als gute Werke biblisch
geboten sei. Die Unterscheidung von Glauben und Werken
gehört zu den Konstanten in Luthers Theologie. Indem
er den Glauben als die Basis jedes christlichen Lebens
begriff, relativierte er ein vordergründig nur auf religiöse
Handlungen bezogenes Leben.
Als Nächstes verfasste Luther ein Glauben und Leben
umfassendes Reformprogramm, das unter dem Titel „An
den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen
Standes Besserung“ die bisherige Teilung in geistlichen
und weltlichen Stand in Frage stellte. Das bedeutete
auch, dass die Kirche keinen weltlichen Besitz brauchte
und ihr eine eigene Rechtsprechung nicht zukam. Für die
politische Obrigkeit ergab sich daraus die interessante
Perspektive einer Säkularisierung des Kirchengutes.
Die dritte Flugschrift erschien auf Latein mit dem
übersetzten Titel „Von der babylonischen Gefangenschaft der
Kirche. Vorspiel“. Die Schrift stellt einen Generalangriff auf
die traditionelle Kirche dar, da sie die überlieferte Siebenzahl der Sakramente kritisiert und nur zwei, nämlich Taufe
und Abendmahl, als biblisch begründet zulässt. Damit
entzog Luther der Römischen Kirche ihre Verwurzelung im
Volk, spielten doch Firmung und letzte Ölung im populären
Glauben eine große Rolle. Auch die Bestreitung der Ehe
als Sakrament sollte gewichtige Folgen haben.
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Die vierte, wohl populärste Schrift nannte Luther
„Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Sie erschien im
November 1520 und umriss das neue Frömmigkeitsideal.
Danach lebt der Christ in der Welt, aber in seinem Glauben weiß er sich ganz allein auf Gott gestellt. Alle vier
Schriften wurden bis 1525 mehrfach aufgelegt.
Am 15. Juni 1520 erschien in Rom die Bannandrohungsbulle gegen Luther, die dem Ketzer sechzig Tage Zeit zum
Widerruf ließ. Andernfalls erfolgte die endgültige Bannung und die Auslieferung an die weltliche Gewalt. Die
Erinnerung an das Schicksal von Jan Hus war in Sachsen
durchaus noch lebendig. Weiterhin forderte die Bulle die
Verbrennung der Schriften Luthers.
In gedruckter Form wurde das Dokument von Johann
Eck und seinen Helfern in Deutschland verbreitet, allerdings fand sich dafür in Kursachsen niemand. Offensichtlich fühlte sich Luther seiner Sache so sicher, dass
er seinen Freund Georg Spalatin veranlasste, die Bulle
in deutscher Übersetzung in Leipzig drucken zu lassen.
Nachdem in Köln Luthers Bücher öffentlich verbrannt
worden waren, wie ein Holzschnitt von 1524 darstellt,
fühlte sich dieser zu einem weiteren Schritt des Widerstandes ermutigt. Am 10. Dezember 1520 verbrannte er
vor dem Elstertor unter großem Zulauf von Studenten
Werke des Kirchenrechtes und Schriften seiner Gegner. Als
letztes Stück übergab er auch ein Exemplar der Bannandrohungsbulle den Flammen. Luther war also überzeugt,
dass er mit gleichem, ja besserem Recht den Papst aus
der Kirche ausschließen könne, als jener es mit ihm getan
hatte. Luther erblickte nämlich im Papst den in der Bibel
geweissagten Antichrist, der am Ende aller Tage in der
Kirche die Macht an sich reißen und die wahren Gläubigen verfolgen sollte.
Worms – vor Kaiser und Reich
Nach der Gewohnheit der Zeit folgte auf die Exkommunikation durch die Kirche die Reichsacht, die den Gebannten für vogelfrei erklärte. Das heißt, jeder konnte ihn
ungestraft töten. Außerdem wurde seinen Freunden jede
Hilfe für ihn untersagt.
Im Falle Luthers intervenierte Kurfürst Friedrich der
Weise abermals erfolgreich, diesmal bei Kaiser Karl V..
Der Enkel Kaiser Maximilians I. aus dem Hause
Habsburg war als König von Spanien 1519 nach schwierigen Verhandlungen auf den Thron gekommen. In der
Auseinandersetzung mit seinen Mitbewerbern Franz I.
von Frankreich und Heinrich VIII. von England hatte er
den mächtigen Kurfürsten Deutschlands weitreichende
Versprechungen machen müssen. Dazu gehörte auch die
Zusage, keinen Untertan des Reiches von einem fremden
Gericht verurteilen zu lassen.
Auf diese Zusage berief sich der sächsische Kurfürst.
Als Reichserzmarschall hatten seine Wünsche zudem
selbst im Kreis der Kurfürsten besonderes Gewicht. So
erwirkte der Kurfürst beim Kaiser ein Verhör seines Wittenberger Professors auf dem Reichstag in Worms und
gleichzeitig freies Geleit für die Hin- und Rückreise.
Am 17. April 1521 stand Martin Luther vor den
versammelten Reichsständen. Das ausgestellte Porträt
(Titelbild) zeigt ihn in der Kutte mit dem Doktorhut und
bartlos.
Verabredungsgemäß las der Offizial des Erzbischofs
von Trier, Johann von der Ecken, nicht zu verwechseln mit
Luthers altem Gegner Johann Eck, die Titel der aufgestapelten Schriften Luthers laut vor. Luther bekannte, sie
verfasst zu haben. Auf die Frage nach einem Widerruf
der Schriften erbat er sich jedoch zur Überraschung aller
einen Tag Bedenkzeit, der ihm zögernd gewährt wurde.
Am nächsten Tag erklärte er dann mit leiser Stimme, dass
„mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, ich
kann und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und
unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott
helfe mir. Amen.“ Das berühmte „Hier stehe ich, ich kann
nicht anders“ wurde erst später in die Überlieferung eingefügt. Die Verweigerung des Widerrufes und die Berufung auf das eigene Gewissen gegen alle kirchlichen und
weltlichen Autoritäten sollten weltgeschichtliche Folgen
haben.
Offensichtlich war dies gerade dem jungen Kaiser am
deutlichsten. Zur Überraschung seiner Räte antwortete er
Luther mit einer kurzen lateinischen Rede, die er selbst
ausgearbeitet hatte, in der er seine unwandelbare Treue
zur Alten Kirche herausstellte. Seiner Umgebung erklärte
er später: „Der räudige Mönch soll mich nicht zum Ketzer
machen.“ Allerdings hielt Karl sein Versprechen und ließ
Luther unbehelligt aus Worms abziehen.
Hätte er anders gehandelt, wäre es wohl zu einem
Aufstand gekommen. Die öffentliche Meinung in Worms
stand vorbehaltlos auf Seiten Luthers, wie der päpstliche
Gesandte Hieronymus Aleander vermerkte. Dies zeigte
sich auch in einer beispiellosen Flut von Flugschriften, die
von Luthers Auftritt in Worms berichteten und ihn kommentierten. Man verglich ihn mit Paulus, mit Daniel oder
einem deutschen Herkules. Ohne Zweifel befand er sich
auf dem absoluten Höhepunkt seiner Popularität.
Daher verwundert es nicht, dass das offizielle Edikt
gegen Luther erst nach dem Ende des Reichstages, als
der sächsische Kurfürst schon abgereist war, erschien.
Angesichts der realen Stimmung im Reich stellte das
Edikt jedoch eher Wünsche als Befehle dar. Luther selbst
schrieb auf der Rückreise von Worms einen ausführlichen Brief an den Kaiser, in dem er noch einmal darlegte,
warum er den Widerruf seiner Schriften nicht leisten
konnte. Obwohl in dem Brief dem Kaiser ausdrücklich für
das gehaltene Geleit gedankt wurde, fand der kurfürstliche Sekretär Georg Spalatin niemanden, der ihn seinem
Adressaten aushändigen wollte. Trotzdem erschien bald
eine gedruckte Fassung.
Luther auf der Wartburg 1521–1522
Der sächsische Kurfürst konnte und wollte einem Edikt
des Kaisers keinen offenen Widerstand entgegensetzen,
andererseits lag ihm das Schicksal seines Professors am
Herzen. Die Lösung bestand in einem längeren Aufenthalt
13
'bb' 111-1/2005
Luthers auf der Wartburg. Sehr wahrscheinlich kannte
Friedrich der Weise keine Einzelheiten, so dass er mit
gutem Gewissen in der Öffentlichkeit erklären konnte, er
wisse auch nicht, wo Luther sei.
Am 4. Mai 1521 wurde Luther von Bewaffneten bei
Altenstein in Thüringen zum Schein überfallen und auf die
Wartburg gebracht. Die Festung spielte im 16. Jahrhundert kaum eine Rolle. Es gab nur eine kleine Besatzung,
die das Geheimnis des neuen Mitbewohners für sich
behielt. Luther ließ sich Haare und Bart wachsen und
trug ritterliche Kleidung. Aus dem Mönch wurde der „Junker Jörg“, wie ihn Cranach im Spätherbst 1521 malte.
Zwar klagte Luther brieflich über die ungewohnte
Lebensweise, besonders das Essen bekam ihm nicht,
jedoch hinderte ihn dies nicht an intensiver Arbeit.
Von größter Bedeutung wurde Luthers Übertragung
des Neuen Testaments ins Deutsche. Philipp Melanchthon
hatte ihn von Wittenberg aus zu dieser Arbeit angeregt.
Zwar gab es schon seit dem späten 15. Jahrhundert
gedruckt deutsche Bibelübersetzungen, denen jedoch der
lateinische Text der Vulgata zugrunde lag. Luther nahm
den griechischen Text, den Erasmus von Rotterdam, der
„Fürst der Humanisten“, zusammen mit einer lateinischen
Fassung erstmals 1516 veröffentlicht hatte. In nur elf
Wochen entstand eine Rohfassung der Übersetzung. Im
März 1522 brachte Luther das Werk mit nach Wittenberg,
wo er es zusammen mit Melanchthon, dessen Kenntnisse
des Griechischen die von Luther übertrafen, zum Druck
überarbeitete. Von Mai bis September arbeitete der Drucker Melchior Lotter im Hause Lucas Cranachs an der
ungewöhnlich hohen Auflage von 3.000 Exemplaren. Die
war jedoch so schnell vergriffen, dass bereits im Dezember eine weitere Auflage von 1.500 Stück ausgeliefert
werden musste.
Die Wittenberger Bewegung und
Luthers Rückkehr 1522
Während Luthers Abwesenheit begannen in Wittenberg
seine Mitstreiter, allen voran Andreas Karlstadt, Philipp
Melanchthon und der Augustinermönch Gabriel Zwilling, mit konkreten Reformen. Unter dem Eindruck von
Luthers Schriften heirateten die ersten Pfarrer und die
Mönche verließen ihre Klöster, so dass 1523 sowohl das
Graue Kloster der Fran­ziskaner als auch das Schwarze
der Augustiner leer standen.
Weihnachten 1521 feierte Karlstadt mit der Gemeinde
das erste evangelische Abendmahl, bei dem auch die
Laien den Kelch bekamen. Fast die gesamte Wittenberger
Bevölkerung fand sich in der Stadtkirche ein. Regelmäßig
wurde nun in den Gottesdiensten gepredigt.
Unter dem Druck der Bevölkerung gab sich die Stadt
Wittenberg eine neue Ordnung, ohne auf die Rechte des
Kurfürsten Rücksicht zu nehmen. In ihr geht es vor allem
um die Reform des sozialen Lebens. Fremde Bettler sollen
aus der Stadt gewiesen werden, das städtische Bordell
wurde geschlossen. Zur Versorgung der städtischen
14
Armen, aber auch zur geordneten Verwaltung der kirchlichen Einkünfte richtete man einen Gemeinen Kasten ein.
Auch nachdem der Kurfürst die Ordnung aufhob, blieb
die­se Institution bestehen. Luther begrüßte sie ausdrücklich und verfasste 1523 für die Stadt Leisnig eine eigene,
die Leisniger Kastenordnung. Stadtrat, Gemeinde und
Prediger verwalteten paritätisch die kirchlichen Einnahmen, die nun alle in einer Kasse zusammengefasst waren.
Aus den Einkünften bezahlte man die Pfarrer und den
Erhalt der Kirchengebäude, aber auch die Armen- und
Krankenpflege. Nach dem Grundsatz der ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ erhielten Handwerker zinsgünstige Kredite. Auch
der Schulbesuch für Kinder armer Eltern fand Unterstützung. Die soziale Bedürftigkeit erfuhr durch die Kastenvorsteher eine genaue Prüfung nach dem Grundsatz:
„Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“. Armut
galt in der alten Kirche als Möglichkeit, durch Almosen
gute Werke zu tun. Bettler organisierten sich in förmlichen Gilden. Mit dem Wegfall des Verdienstgedankens bei
der Armenhilfe begann eine rationalere Betrachtung des
Armenwesens.
Die Verwaltung des Kastens wurde schriftlich dokumentiert. Eine Quittung von 1531 belegt die Einnahmen.
Die in der Stadtkirche Wittenberg erhaltenen Akten
zeigen, dass zumindest im 16. Jahrhundert das System
befriedigend funktionierte.
Strittiger blieb die Frage nach der Reform des Gottesdienstes. Mit Berufung auf das biblische Bilderverbot
begannen radikale Kräfte auf die Entfernung der Heiligenbilder aus den Kirchen zu drängen. Karlstadt unterstützte
die Bewegung mit seiner Schrift „Von Abtuung der Bilder“.
Luther selbst meinte, dass durch die Heiligenverehrung das erste Gebot verletzt würde. Die Anbetung von
Statuen und Bildern lehnte er ab. Allerdings brachte er
Maria lebenslang tiefe Verehrung entgegen. Die Gestaltung des Gottesdienstes und des Kirchenraumes lag für
ihn prinzipiell in der Beurteilung durch die Gemeinde, wie
er 1523 in der Schrift „Dass eine christliche Versammlung
oder Gemeinde Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen
und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursache aus der Schrift“ ausführte.
Das Problem erblickte Luther vielmehr in der Gefährdung der evangelischen Freiheit. Gegen den Willen des
Kurfürsten kehrte er im März 1522 nach Wittenberg
zurück. In seinen so genannten Invokavitpredigten wandte
er sich gegen die neue Gesetzlichkeit der Reformen. Unter
dem Einfluss Luthers verlangsamte sich das Reformtempo. Schrittweise Veränderungen fanden die Zustimmung der großen Mehrheit der Bevölkerung.
Reformen in der Gemeinde
Der traditionelle Gottesdienst, in dessen Zentrum die
Mes­se stand, trennte streng zwischen Geistlichen und
Laien. Der Priester unterschied sich durch Chorrock und
eine reich geschmückte Kasel von den einfachen Gläubigen, die in einer Zuschauerrolle verharrten. Die Abendmahlsliturgie, in einem prunkvollen Missale aufgezeich-
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net, wurde lateinisch gehalten, so dass die Laien sie nicht
verstanden. In der Eucharistie erhielten sie nur das Brot,
da man befürchtete, der Wein, das wahre Blut Christi,
könnte verschüttet werden.
Luther sorgte in einem ersten Schritt dafür, dass nun
in jedem Gottesdienst gepredigt wurde. Er selbst stand
regelmäßig auf der Kanzel. Die Auslegung des Wortes
Gottes trat damit gleichberechtigt neben das Sakrament.
In den Wochengottesdiensten wurde zur Bildung der Gläubigen der Katechismus ausgelegt. In seiner Schrift „Von
Ordnung des Gottesdiensts in der Gemeinde“ erklärte Luther,
dass im Zweifel alles zu unterlassen sei, was der Wortverkündigung schaden könne. So ist es auch nur konsequent,
dass er den gestifteten Messen, vor allem wenn sie ohne
Gemeindebeteiligung als so genannte Stillmessen gehalten wurden, entgegentrat. Die Abschaffung der Stillmessen machte einen großen Teil des kirchlichen Personals
entbehrlich. Auch der Zwang zur Beichte wurde von
Luther abgeschafft, obwohl er selbst bis zu seinem Tode
regelmäßig Johann Bugenhagen beichtete. Später setzte
Luther an die Stelle der Beichte ein Glaubensverhör vor
dem Abendmahl, um sicherzustellen, dass die Gemeinde
um dessen Bedeutung wusste.
Die Austeilung des Abendmahles brachte auch den
Laien den Kelch. Der Holzschnitt um 1550 (Abb. 7) zeigt
Luther mit Jan Hus gemeinsam bei der Kommunion.
Obwohl anachronistisch, erinnert das Blatt daran, dass
schon die Hussiten im 15. Jahrhundert den Laienkelch
auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Für diesen Gebrauch
mussten größere Abendmahlskelche angeschafft werden,
wobei man oft den Schaft beließ und nur den oberen Teil
vergrößerte.
Mit der Einführung des evangelischen Kirchenliedes
verlieh Luther den Laien im Gottesdienst eine Stimme.
Zwar wolle er die bestehenden berufsmäßigen Chöre
keineswegs abgeschafft wissen, aber es schien ihm doch
von großer Bedeutung, der Gemeinde eine aktive Rolle
zuzuweisen. 1524 erschien in Wittenberg das erste evangelische Kirchengesangbuch. In einer Vorrede lobte Luther
die Künste. Das evangelische Kirchenlied dürfte bei der
Ausbreitung und beim Sieg der Reformation eine hervorragende Rolle gespielt haben. Luther begann seit 1523,
solche Lieder zu dichten und wenigstens auch teilweise
selbst zu vertonen, An die Seite der Gottesdienstreformen
traten eine Sozial- und eine Schulreform. Mit der programmatischen Schrift „Von Kaufhandlung und Wucher“ suchte
Luther, auch das wirtschaftliche Leben neu zu ordnen.
Dabei dachte er vor allem an die sozialen Unterschichten,
deren Versorgung mit Brotgetreide für ihn auch Aufgabe
der Gemeinde war.
Erfolgreicher als in der Wirtschaftsreform war Luther
in der Schulreform. Seine Schrift „An die Ratsherren aller
Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ erwies sich als Fundament einer
Entwicklung, die schließlich in ein flächendeckendes Elementarschulsystem in Deutschland münden sollte. Entscheidend war, dass Luther theologisch argumentierte. Da
jeder für seinen Glauben selbst einzustehen habe, müsse
jeder Mensch – und das umschloss in revolutionärer
Weise auch den weiblichen Teil der Bevölkerung – lesen
und schreiben können, um die Heilige Schrift selbst zu
verstehen. Jeder Pfarrgemeinde sollte eine Schule zugeordnet werden. Das galt auch für die Dörfer, wo etwa 80
Prozent der Bevölkerung wohnte und wo es bis dahin keinerlei Schulen gegeben hatte. Gerade die Bauern waren
höchstens aus religiösen Gründen bereit, ihre Kinder in
die Schule zu schicken. Wirtschaftlich sinnvoller war
es für sie, den Nachwuchs so früh wie möglich auf den
Feldern einzusetzen. Der Schulreform lief die Reform der
Universität in Wittenberg, die vor allem mit dem Namen
Philipp Melanchthons verknüpft ist, zeitlich voraus.
Gerade die Ausbildung an der philosophischen Fakultät
unterlag starken Veränderungen, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden: Statt kirchlich geweihter
Priester wurden jetzt studierte Pastoren benötigt.
Der Bauernkrieg und Thomas Müntzer
Abb. 7: Austeilung des Abendmahls in beiderlei Gestalt durch
Luther und Hus, Cranach-Werkstatt. Holzschnitt, um 1550
Im Zuge der Reformation verstärkten sich ältere soziale
Konflikte, neue kamen hinzu. Luthers Begriff von der
christlichen oder evangelischen Freiheit wurde vor allem
auch in Süd­deutschland zunehmend politisch verstanden.
1524 begannen hier Aufstände. Den Bauern schien von
diesem Ansatz die Leibeigenschaft nicht mehr länger hinnehmbar. Luther selbst hatte sich 1523 mit der Frage in
seiner Schrift unter dem Titel „Von weltlicher Obrigkeit, wie
weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ befasst. In einer Auslegung von Römer 13 hielt er im Grundsatz die weltliche
Obrigkeit für eine gute Gabe Gottes, verbot ihr aber, über
die Seelen zu herrschen. Reformen sollten nur durch das
15
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Wort und ohne jede Gewalt durchgeführt werden. Thomas
Müntzer, zuerst Student in Leipzig und Wittenberg, später
Gemeindepfarrer in Allstedt, zog eine andere Konsequenz.
Nach seiner Auffassung musste der Geist Gottes in
den Herzen der Auserwählten Platz finden. Dazu sollten
sie sich vom Streben nach Reichtum, Macht und Ruhm
reinigen, um dann die Gottlosen mit aller Strenge zu
bekämpfen.
Im Frühjahr 1525 kam es auch zu Aufständen in Thüringen. Luther versuchte in einer Schrift „Ermahnung zum
Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben“
beide Seiten zum Einlenken zu bewegen. Bei Erscheinen
der Flugschrift war jedoch schon Blut geflossen. Nun legte
Luther mit „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten
der anderen Bauern“ nach, weil er an sich jeden Aufstand
der Untertanen gegen ihre Obrigkeit aus biblischen Gründen für verboten hielt. Auch diese Schrift kam zu spät. Bei
ihrem Erscheinen war der bäuerliche Aufstand schon im
Blutbad von Frankenhausen zusammengebrochen.
Den Waffen der fürstlichen Landsknechte hatten die
Aufständischen nichts entgegenzusetzen. Thomas Müntzer, der sich als Prediger bei den Bauern aufhielt, wurde
gefangen genommen und hingerichtet. In der Öffentlichkeit
wirkte Luthers Schrift, als rechtfertige er die Grausamkeit der Fürsten gegenüber den geschlagenen Bauern. Der
Bauernkrieg tat Luthers Popularität zweifellos Abbruch.
Den Reformator wiederum lehrten die Ereignisse, sich
im Zweifel an der Seite der Obrigkeit zu halten, um eine
Wiederholung dieses Konfliktes auszuschließen. Auf dem
Höhepunkt des Aufstandes war Kurfürst Friedrich der
Weise gestorben. Ihm folgte sein Bruder Johann nach, der
entschlossen Luthers Positionen verfocht. 1532 sollte ihn
sein Sohn Johann Friedrich der Großmütige beerben.
Ehe und Familie
Zwar hatte Luther schon seit 1521 die Ehe für Kleriker
und Mönche gefordert, doch er selbst zögerte, seinen
eigenen Aufforderungen zu folgen, obwohl er in seiner
Schrift „Vom ehelichen Leben“ auf die Notwendigkeit der
Heirat verwies. Mit diesem Lobpreis der Ehe als göttlicher
Ordnung beendete Luther radikal eine lange kirchliche
Tradition, die die Enthaltsamkeit höher schätzte als die
Geschlechtlichkeit.
Zu Ostern 1523 flüchteten aus dem Kloster Nimbschen bei Grimma neun Nonnen und baten in Wittenberg
um Hilfe. Luther gelang es in der Folgezeit, die meisten
zu verheiraten und so ihre Existenz zu sichern. In seiner Schrift „Ursache und Antwort, dass Jungfrauen Klöster
göttlich verlassen mögen“ verteidigte er sein Vorgehen und
nannte die Namen der Nonnen. Unter ihnen befand sich
auch Katharina von Bora, die aus einem alten, aber armen
sächsischen Adelsgeschlecht stammte und schon seit
frühster Kindheit im Kloster lebte.
Völlig überraschend heiratete Luther Katharina von
Bora am 13. Juni 1525. Offensichtlich wollte er sich durch
diesen Schritt mit seinem Vater versöhnen, der ihm seit
dem Eintritt ins Kloster grollte. Auf dem Höhepunkt des
16
Bauernkrieges fürchtete Luther außerdem, dass er nicht
mehr lange zu leben habe, und wollte so seine Lehre
durch Taten bekräftigen. Ausschlaggebend aber dürfte
gewesen sein, dass Katharina erklärt hatte, falls sie nicht
Luther oder seinen Freund Nikolaus von Amsdorf heiraten
könne, bliebe sie lieber ledig.
Die Ehe erregte bei den Feinden Luthers großes Aufsehen. Aber auch Luthers Freunde, besonders Philipp
Melanchthon, äußerten Kritik.
Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor, drei Jungen
und drei Mädchen. Vier der Kinder erreichten das Erwachsenenalter, was bei einer Säuglingssterblichkeit von rund
30 Prozent in der frühen Neuzeit darauf verweist, dass
es selbst in den schweren Anfangsjahren im Lutherhaus
genügend zu essen gab. Vor allem der Tod seiner Tochter
Magdalena im Alter von zwölf Jahren hat Luther schwer
getroffen.
Nach 1530 ging es mit der Familie wirtschaftlich aufwärts. Luthers Gehalt wurde mehrfach erhöht, und der
Kurfürst übersandte regelmäßig Geschenke vor allem an
Lebensmitteln und Stoffen. Katharina eröffnete im Lutherhaus ein Wohnheim für Studenten, eine so genannte
Burse, aus der sie nach Berechnungen der Haushaltsausgaben mindestens ebenso viele Einnahmen erzielte wie
Luther durch sein Gehalt.
Luthers Freunde
Trotz vieler Arbeit am Schreibtisch liebte Martin Luther
die Geselligkeit. Im Laufe seines Lebens war er erst als
Mönch von seinen Ordensbrüdern, dann als Familienvater
von seinen Kindern und Freunden umgeben. In ihnen sah
Luther den engsten Kreis der christlichen Gemeinde. Man
betete und sang gemeinsam. Hier fand er auch Trost in
der Anfechtung.
Von den Freunden können nur die zwei wichtigsten
vorge­stellt werden. Philipp Melanchthon, der eigentlich
Schwarzerd hieß, kam 1518 auf Luthers Initiative nach
Wittenberg, um an der Universität den neuen Lehrstuhl
für Griechisch zu besetzen. Trotz des Altersunterschiedes entwickelte sich eine enge kollegiale Bindung, die
Melanchthon zum wichtigsten Mitstreiter Luthers werden
ließ. Obwohl Luther drängte, wechselte er nicht in die
Theologische Fakultät, so dass er weiterhin allen Studenten Unterricht in Grammatik und Rhetorik erteilte. Er las
auch über die antiken Dichter und Philosophen. So wurde
Melanchthon zum eigentlichen Lehrer Deutschlands und
darüber hinaus Europas.
Mit Johann Bugenhagen aus Pommern verband Luther
eine lebenslange enge Freundschaft. Luther hatte ihn
1523 gegen den Widerstand des altgläubigen Allerheiligenstifts als Stadtpfarrer Wittenbergs durchgesetzt. Später wurde er auch Professor an der Universität. Mit seinem Namen ist vor allem die reformatorische Erneuerung
der Kirchen Norddeutschlands und Dänemarks verknüpft.
Regelmäßig traf man sich in Luthers Haus zu gemeinsamen Mahlzeiten und anschließenden Gesprächen, die
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nach Tisch wohl in der Lutherstube stattfanden. Als einzige Frau nahm regelmäßig Katharina von Bora teil.
Seit 1526 begannen die anwesenden Studenten diese
Tischgespräche mitzuschreiben. Nach Luthers Tod erschienen sie dann mehrfach bearbeitet in gedruckter Form. Die
Tischreden stellen eine wichtige, aber kritisch zu prüfende Quelle für das Alltagsleben des Reformators dar.
Luthers reformatorische Leistungen
1526–1546
Von 1535 bis kurz vor seinem Tode legte Luther als Uni­
versitätslehrer das 1. Buch Mose aus. Die Genesisvorlesung, sein monumentales Alterswerk, erschien 1544 in
erster Auflage.
In Zusammenarbeit mit Philipp Melanchthon entstand
1528 die erste evangelische Kirchenordnung, der „Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherren im Kurfürstentum
Sachsen“. In seinem Vorwort betonte Luther, dass eine
neue Form der Kirchenleitung noch nicht gefunden sei.
Deswegen müssten die Fürsten als „Notbischöfe“ die Aufsicht über die Kirche übernehmen.
1529 gab Luther eine seiner folgenreichsten Schriften zum Druck, den „Großen Katechismus“. In prägnanter
Form von Frage und Antwort erklärt Luther hier das
Grundwissen eines Christen anhand von den Zehn Geboten, dem Glaubensbekenntnis und dem Vaterunser.
Im Vorfeld des Reichstags zu Augsburg 1530 schien
es, als ob eine Verständigung zwischen Protestanten und
Altgläubigen möglich sei. Zu diesem Zweck verfasste
Melanchthon in enger Abstimmung mit Luther das Augsburger Bekenntnis, das heute noch die Lehrgrundlage jeder
Lutherischen Kirche bildet. Luther selbst präzisierte seine
theologischen Lehren in den Schmalkaldischen Artikeln von
1538. Zur Festigung der werdenden Evangelischen Kirche
mussten die neuen Formen des Gottesdienstes bei den
Pastoren verbreitet werden. 1526 vollendete Luther seine
„Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes“, wobei er
betonte, dass es ihm um ein Beispiel und nicht um eine
durch Zwang für alle verbindliche Ordnung ging. Ähnlich
verhielt es sich mit dem Taufbüchlein und dem Traubüchlein. Mit Energie setzte Luther seine Schulreform fort,
wofür seine „Predigt, dass man Kinder zur Schule halten
soll“ steht. Auch der Ansatz der ökonomischen Reformen
findet mit „An die Pfarrherren, wider den Wucher zu predigen“ eine Fortsetzung. Allerdings wird hier deutlich, dass
Luther selbst an eine durchgreifende Abschaffung des
Wuchers nicht mehr glaubt. Deswegen weist die Schrift
die Pfarrer an, das The­ma weiter zu verfolgen, um ihrem
eigenen Gewissen zu genügen, auch wenn der Erfolg ausbleibt. Das Schicksal der Reformation in den deutschen
Territorien wurde maßgeblich von der Haltung der jeweiligen Landesherren bestimmt.
Zu den entschiedenen Förderern der Reformation zählen auch Herzog Ernst von Braunschweig-Lüneburg-Celle,
der nach 1512 drei Jahre in Wittenberg studiert hatte, und
Herzog Ernst von Braunschweig-Grubenhagen.
Luthers Tod und bleibendes
Vermächtnis
Zeitlebens fühlte sich Luther seiner Heimat, der Grafschaft Mansfeld, eng verbunden. Als die regierenden
Grafen untereinander in Streit um die Verteilung der
Bergwerkseinkünfte und die Stiftung einer neuen Schule
gerieten, ließ sich Luther im Januar 1546, obwohl er sich
körperlich nicht wohl fühlte, von ihnen bitten, den Streit
zu schlichten. So kam es, dass der Reformator am 18.
Februar 1546 sein Leben in seiner Geburtsstadt Eisleben
beschloss. Gegen den Willen der Mansfelder Grafen setzte
der sächsische Kurfürst eine Überführung der Leiche nach
Wittenberg durch.
Bei der Beerdigung in der Wittenberger Schlosskirche, die ein Holzschnitt von 1557 wiedergibt, hielt Johann
Bugenhagen die Leichenpredigt für seinen Freund, in der
die Sorge um die Zukunft der Evangelischen Kirche nach
Luthers Tod klar zum Ausdruck kommt.
Das bleibende Vermächtnis Luthers zeigt sich vor
allem in seinen hinterlassenen Schriften, die bis in die
Gegenwart nachwirken. An erster Stelle ist dabei seine
Bibelübersetzung zu nennen, die wie kein zweites Buch die
Entwicklung der deutschen Sprache prägte.
Nach der Übersetzung des Neuen Testamentes 1522
dauerte es noch zwölf Jahre, bis 1534 die erste vollständige Ausgabe der Heiligen Schrift in Luthers Übertragung
vorlag. Das Buch entwickelte sich zu dem „Bestseller“
der Reformation und wird nach verschiedenen Revisionen noch heute in den evangelischen Kirchen benutzt.
Die zweite Stelle gebührt Luthers Liedern. Im nach dem
Drucker genannten Klug‘schen Gesangbuch findet sich der
Erstabdruck von Luthers wohl berühmtestem Lied „Ein
feste Burg ist unser Gott“. Im Gegensatz zu den teuren
Bibeln waren die kleinformatigen Gesangbücher so billig,
dass auch einfache Leute es sich leisten konnten, bei Verlust oder Zerstörung ein neues zu erwerben.
Eine gemalte Zusammenfassung der Theologie Luthers
stellt das Bild Gesetz und Gnade aus den frühen 50er Jahren dar. Ob es der ältere oder der jüngere Cranach gemalt
hat, bleibt unentscheidbar. Die klare Differenzierung der
biblischen Geschichten zum Gesetz und Alten Testament
auf der linken Bildseite, von denen des Evan­geliums
auf der rechten, entspricht dem Drängen Luthers, der in
dieser Unterscheidung das Wesen seiner Theologie verstand. Die den Gemäldeteilen zugeordneten lateinischen
Bibelstellen unterstreichen die Aussage. Eine bildliche
Erzählung der biblischen Theologie kam Luthers Vorstellung entgegen, Bilder vor allem für pädagogische Zwecke
zu nutzen. Das kleine Format und die hohe Qualität der
Arbeit lassen einen privaten und reichen Auftraggeber
vermuten.
––––––––––––––––––––––––
Auszüge aus: Martin Treu: Martin Luther in Wittenberg. Ein biographischer Rundgang, Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im
Lutherhaus Wittenberg, Wittenberg 2003, Copyright by Stiftung
Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, www.martinluther.de
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fachbeitrag: die rolle luthers für die deutsche
sprachgeschichte
werner besch
1. Luther im Urteil der Zeitgenossen
und der folgende Jahrhunderte: Das
kulturelle Gedächtnis der Deutschen
Luther starb am 18. Februar 1546 auswärts in Eisleben, nicht im Kreis seiner Familie und seiner Freunde
im Wittenberg. Er war von dem Grafen von Mansfeld um
Vermittlung in einem Streitfall gebeten worden. Auf dieser
Reise begleitete ihn Justus Jonas, Mitarbeiter und Freund
Luthers, Professor zu Wittenberg, Verfasser mehrerer Kirchenordnungen, Reformator der Stadt Halle an der Saale.
Er, Justus Jonas, stand Luther in dessen Sterbestunde
bei. In seiner Leichenrede in Wittenberg am Sarg Luthers
rühmte er dann auch die Verdienste des Reformators um
die deutsche Sprache:
Er war ein trefflicher, gewaltiger Redener. Item ein
überaus gewaltiger Dolmetzscher der gantzen Bibel. Es
haben auch die Cantzleien zum teil von im gelernet recht
deudsch schreiben und reden, denn er hat die Deudsche
sprach wider recht herfür gebracht, das man nu wider
kan recht deudsch reden und schreiben und wie das viel
hoher leut mussen zeugen und bekennen (Josten, Dirk:
Sprachvorbild und Sprachnorm im Urteil des 16. und 17.
Jhs. Sprachlandschaftliche Prioritäten, Sprachautoritäten,
sprachimmanente Argumentation. Frankfurt a. M., Bern
1976, 106).
Schon 1531 zählte Fabian Franck in seiner „Orthographia“ Luthers Texte zu den emendirsten und reinisten Mustern seiner Zeit (Josten 1976, 105f.).
1578 erschien eine lateinisch geschriebene Grammatik der deutschen Sprache von Johannes Clajus, die sich
bereits ganz auf Luthers Bibeltext und seine sonstigen
Schriften gründete. Mit ihren 11 Auflagen bis 1720 ist
diese Grammatik die erfolgreichste ihrer Zeit, ihre Grundlage ist Luther.
Hier noch ein Zeugnis aus dem 17. Jahrhundert:
Lutherus ist ein rechter Teutscher Cicero gewesen. Und
wer recht gut Teutsch lernen will, der lese fleissig die Teutsche Bibel, die Tomos Lutheri, und die Reichs=Abschiede;
Ich sage, daß man auß der Bibel zierliche Teutsche Phrases sammlen könne (Josten 1976, 120).
So urteilte 1663 Johann Balthasar Schupp, ein bekannter
Pädagoge seiner Zeit. Die weitere Liste der Lobredner
ist lang. Dazu gehören Lessing, Herder, Voss, Goethe,
Heine – um nur einige zu nennen. Sie rühmen Luthers
eminente Verdienste um die deutsche Sprache und Literatur. Jacob Grimm brachte es 1822 in der Vorrede zu seiner
Deutschen Grammatik auf den Punkt:
Man darf das neuhochdeutsche in der that als den protestantischen dialekt bezeichnen, dessen freiheitathmende
natur längst schon, ihnen unbewußt, dichter und schriftsteller des katholischen glaubens überwältigte.
Luthers Sprache ist für Grimm wegen ihrer Reinheit und
ihres gewaltigen Einflusses Grundlage eben dieser neuen
Schriftsprache.
Die Urteile von katholischer Seite zeichnen natürlich
ein ganz anderes Bild: Luther ist der Irrlehrer. Hieronymus Emser, der 1527 eine katholisch-rechtgläubige Übersetzung des Neuen Testaments vorlegt, nennt ihn einen
Phrasisten, also einen, der nicht genau, sondern paraphrasierend, also phrasenhaft übersetzt. Johannes Eck, verantwortlich für die katholische deutsche Bibelübersetzung
von 1537, bezeichnet Luther als ‚Monster‘. Man hat Angst
vor der verführerischen Sprache der Irrlehrer, die mit
süßen Worten das gemeine Volk betrügen (Josten 1976,
112), mit glatten Honigworten einer güldenen Zunge.
Im 18. Jahrhundert löst sich die Lutherrezeption allerdings zunehmend von der konfessionellen Fessel. Das
betrifft vor allem die sprachliche Beurteilung. Die religiöse Stigmatisierung Luthers in der katholischen Kirche
hält noch lange an.
Allerdings wird im 18. und verstärkt im 19. Jahrhundert eine neue Deutungsdimension greifbar: Die Vereinnahmung Luthers für ein nationales Bewusstsein. Er wird
enttheologisiert. Man bezeichnet ihn als den „größten
Deutschen“, „als eine Incarnation des deutschen Volksgenius“ (Grimm, Wilibald: Die Lutherbibel und ihre Textesrevision. In: Deutsche Zeit- und Streitfragen, Flugschriften
zur Kenntnis der Gegenwart. Hrsg. v. Fr. v. Holtzendorff/W. Oncken. Jahrgang III. Berlin 1874.). Historiker
von Rang sehen in der Reformation Martin Luthers eine
nationale Bewegung, ein vaterländisches Ereignis. Er ist
Repräsentant des deutschen Wesens, entsprechend auch
„Schöpfer“ unserer Schriftsprache. Das alles sind Hypostasierungen, denen Luther von seinem Selbstverständnis
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her nie zugestimmt hätte. Aber selbst ein Thomas Mann
nimmt sie auf und formuliert zugleich seine Abneigung:
„Martin Luther, eine riesenhafte Inkarnation deutschen
Wesens [...], das Cholerisch-Grobianische, das Schimpfen, Speien, Wüten, das fürchterlich Robuste, verbunden
mit zarter Gemütstiefe und dem massivsten Aberglauben an Dämonen, Incubi (=nächtliche Dämonen) und
Kielkröpfe (=Missgeburten), erregt meine instinktive
Abneigung“ („Deutschland und die Deutschen“, 1945,
Gesammelte Werke Bd. XI, 1132f.).
Historische Gestalten sind, wie wir wissen, im kulturellen Gedächtnis einer Nation zur Verwertung freigegeben.
Luther ist ein extremer Fall in dieser Hinsicht. Wie weit
das gehen kann, zeigt die amerikanische Studie 1996 von
George B. von der Lippe mit dem Titel: The Figure of Martin Luther in the twentieth century German Literature.
Es sind ca. 130 Titel des 20. Jahrhunderts ausgewertet,
Romane, Theaterstücke, Essays – alle mit dem Thema
Luther. Das kommunistische System der ehemaligen DDR
fixierte ihn als Fürstenknecht, als Konterrevolutionär im
Bauernkrieg, als Verräter an der Sache des arbeitenden
Volkes. In den literarischen Texten des 20. Jahrhunderts
hat er die Spannweite von der ‚nordischen Führerfigur‘
über ‚ein feste Burg‘ zum ‚Martinus Luther, Doktor der
Verdammten‘ bis hin zum ‚Wahnsinnigen‘ oder dem ‚Narr‘,
den man braucht. Im Untertitel spricht der Autor von der
‚Metamorphosis of a National Symbol‘.
Wie man sieht, ist die Langzeitwirkung der Figur
Luthers ungebrochen. Deren Deutungen sagen allerdings
meist mehr über unsere Zeit aus als über den historischen
Luther.
Man muss ihn befreien von allen Fehldeutungen
und Übersteigerungen – auch hinsichtlich des Mythos
eines ‚Schöpfers‘ unserer Schriftsprache. Kein einzelner
Mensch kann eine Sprache erschaffen – auch ein Luther
nicht. Wie er dennoch wesentlich an der Herausbildung
der deutschen Sprache beteiligt war, ist im Folgenden
noch zu zeigen.
2. Bibelübersetzungen ohne
gesamtdeutsche Schriftsprache
als Problem
Es gab zu Luthers Zeit keine gesamtdeutsche Schriftsprache, nur regionale Schreibsprachen. Diese waren hinsichtlich Orthographie, Flexionsmorphologie und Wortschatz
unterschiedlich, teils so fremd, dass man Texte wechselweise in die eigene Schreibsprache übersetzen musste.
Die Reichweite aller Schreibsprachen war begrenzt
(Anlage 2, aus: Mittelhochdeutsche Grammatik, Hermann
Paul, 24. Aufl. 1998).
Ich muss meine Zuhörer von heute mental zurückholen in das 16. Jahrhundert: globale Mobilität heute ><
regionale Isolierung früher. Nationale Standardsprachen
heute >< regionale Dialekte, regionale Schreibtraditionen
früher! Denken Sie bei allem an die Mühsal des Reisens
20
vor Jahrhunderten, an Leibeigenschaften, an kleinterritoriale Barrieren. Deutschland habe so viele Dialekte,
sagt Luther in einer Tischrede (WA = D. Martin Luthers
Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883 ff. I Abteilung: Werke. II. Abr.: Tischreden. III. Abt.: Die Deutsche
Bibel. IV Abt.: Briefe. TR 5, 6143), „dass die Leute in
30 Meilen Weges einander nicht wol können verstehen.“
(Übersetzung Aurifabers; lat.: Germania tot habet dialectos,
ut in triginta miliaribus homines se mutuo non intelligant).
Auch im Geschriebenen, in den Schreibsprachen, gibt
es Verstehensbarrieren. So wird z. B. 1533 ein in Straßburg geschriebener und gedruckter Text in Münster/Westfalen nicht verstanden. Er muss für den dortigen Stadtrat
übersetzt werden. Es handelt sich um das Disputationsprotokoll Martin Bucers in der Auseinandersetzung mit
den Wiedertäufern.
Ebenso wurde Luthers Neues Testament 1523 in das
Niederdeutsche übertragen, sodann auch die Gesamtbibel von 1534. Der Bibeldruck in niederdeutscher Sprache
hielt sich etwa einhundert Jahre, dann lief er aus. Man
benötigte ihn nicht mehr, die hochdeutsche Fassung galt
nun auch in Norddeutschland.
Anders wiederum verfuhr man in Basel. Man übernahm
dort den Luthertext des Neuen Testaments 1522/23, fügte
aber ein Wortglossar hinzu (s. Anlage 1). Dessen Notwendigkeit wurde in einer Vorbemerkung begründet:
Adam Petri. 1523
Lieber Christlicher Leser/So ich gemerckt hab/das nitt
yederman verston mag ettliche wörtter im yetzt gründtlichen verteutschte(n) neuwen testament/doch die selbigen wörtter nit on schaden hetten mögen verwandlet
werde(n)/hab ich lassen die selbigen auff unser hochteutsch außlegen und ordenlich in ein klein register wie
du hie sihest/fleißlich verordnet.
(Heutiges Deutsch: Lieber christlicher Leser, da ich
bemerkt habe, dass nicht jeder gewisse Wörter im jetzt
gründlich verdeutschten Neuen Testament verstehen
kann, diese Wörter jedoch nicht ohne Schaden hätten
ausgewechselt werden können, habe ich sie auf unser
Hochdeutsch wiedergeben lassen und fleißig, wie du hier
siehst, in ein kleines Register eingefügt).
Das Titelblatt, Basel 1523, kündigt an: Die außlendigen Wörtter/auff unser teutsch angezeigt. Etwa 200 Wörter
werden erklärt. Sie waren im Oberdeutschen fremd, heute
kennen wir oft beide: darben/not leyden; fülen/empfinden;
Gefeß/geschir. Der Gesamtbestand unterschiedlicher
Wörter im Süden gegenüber dem mittleren und nördlichen Deutschland war groß – und in der Tat ein Problem
für die Spracheinigung. Es lag auf der Hand, dass in
zahlreichen oberdeutschen Städten Petris Glossar nachgedruckt und auch erweitert wurde. Nach 15 – 20 Jahren
schien das aber nicht mehr nötig zu sein. Man verstand
lutherischen Bibeltext auch ohne diese Hilfe.
Halten wir fest:
Damals, Anfang des 16. Jahrhunderts, war jedermanns
Sprache in Deutschland noch regional geprägt – auch
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die Luthers. Was hat nun ihn und seine Sprache begünstigt im Vergleich zu anderen Autoren und Regionen in
Deutschland? Das ist vor allem seine Herkunft aus der
Mitte Deutschlands! Ein Luther aus Kiel oder Konstanz
wäre mit großer Wahrscheinlichkeit sprachlich gescheitert. Die Mitte hat Brückenfunktion, sie ist Kontaktraum
zwischen Nord und Süd. Dies gilt besonders für den
ostmitteldeutschen Teil (Obersachsen, Thüringen, Schlesien). Dieser war mit Bayern in einen gewissen schreibsprachlichen Ausgleich schon vor Luther getreten. Luther
profitiert von dieser Schreiballianz. Die Bibel wird das
Transportmittel für seine Sprachwahl. Der Buchdruck
ermöglicht eine unerhörte Breitenwirkung.
3. Neues Bibelverständnis – Neues
Übersetzungsprinzip; Luthers
Sprachmächtigkeit
Hier können wenige Stichworte genügen.
Es geht um Luthers (Wieder-)Entdeckung der Kernbotschaft des Neuen Testamentes: Rechtfertigung allein
durch den Glauben. Es geht um ein personales Gottesverhältnis, um ein allgemeines Priestertum, um Ablehnung
alles priesterlichen, päpstlichen Kastenwesens und deren
Schrifttum. Es gilt allein die Schrift. Das Schriftprinzip
wird als einzige Argumentationsbasis akzeptiert. Die
Schrift ist klar und verständlich für jedermann.
Daraus erwächst das neue Übersetzungsprinzip. Luther
hat es in seinem „Sendbrief vom Dolmetschen“ (1530) und
bei anderen Anlässen formuliert. Sein Ziel ist „ein bedingungslos deutscher Text der Bibel“.
Das ist absolut neu gegenüber der bisherigen Praxis
im Mittelalter und darüber hinaus. Bibelübersetzung vor
Luther war prinzipiell der lateinischen Bibel dienstbar,
der Vulgata. Ihre Ersetzung wäre als Hybris empfunden
worden. Daher neigte man mehr dem Übersetzungsprinzip
„verbum e verbo“ (Wort für Wort) zu, nicht dem „sensum
de sensu“ (Sinn für Sinn). Entsprechend wirken solche
Übersetzungen nach heutigen Urteil unbeholfen, vielfach
primitiv. Ein bedingungsloser deutscher Text der Bibel in
Syntax, Idiomatik, Stillage – das ist das Wagnis und der
qualitative Sprung, der die lutherische Übersetzung so
konkurrenzlos über die Jahrhunderte gemacht hat.
In der Vorrede zum Alten Testament von 1523 bringt
das Luther so zum Ausdruck: Er wage zu sagen,
das disse deutsche Bibel, liechter (=heller) vnd gewisser (=zuverlässiger) ist an vielen ortten (=Stellen) denn
(=als) die latinische ... hat gewisslich hie die deutsche
sprach eyn bessere Bibel denn die latinische sprache, des
beruff ich mich auff die leser. (WA DB 8, 30/32).
dienen, so lasse er die Ebreischen wort faren und sprech
frey den sinn eraus auffs beste Deudsch, so er kan. (Summarien über die Psalmen, WA 38, S. 11).
Dieses Übersetzungsprinzip Luthers ist für mich die
Haupterklärung für seinen sprachlichen Erfolg. Es lässt
den nötigen Spielraum für die Eigenstruktur der deutschen Sprache. Allzu lange war diese nach dem Modell
der lateinischen Sprache zurechtgestutzt worden.
Luthers Sprachmächtigkeit ist viel gerühmt worden,
und dies zu Recht. Will man sie näher bestimmen, dann
lassen sich mehrere Aspekte anführen:
(1) Er gewinnt mit seinem Übersetzungsprinzip große
muttersprachliche Freiheit und nimmt diese Freiheit
konsequent wahr.
(2) Hinzu kommt ganz unbestritten seine Sprachbegabung (ingenium bonum, s. WA TR 1 Nr. 143). Luther
weiß das, ohne in humanistische Eitelkeit zu verfallen, wenn er sagt: Der teuffel achtet meinen geyst nicht
so fast (=sehr) alls meine sprache und feder ynn der
schrifft (WA 15, 43).
An anderer Stelle (WA 30/II, 576) erklärt er, er sei
durch seine Schreibfeder so weit gekommen, dass er
seine Kunst nicht gegen allen Reichtum des Türkischen Kaisers eintauschen würde, auch nicht gegen
den vervielfachten Reichtum der ganzen Welt.
(3) Zur Sprachbegabung kommt eine lebenslange
Spracharbeit. Er ist lebenslang um Verbesserung
bemüht, gerade auch des Bibeltextes (Vaterunser,
Psalmen u.a.m.). Er berät sich in und mit einem
kleinen Übersetzerkreis. Er bittet (z. B. Spalatin) um
Namen und genaue Beschreibung von Tieren, Raubvögeln, Juwelen (Apokalypse, Neues Jerusalem); er
lässt sich einen Hammel zerlegen, um Opferriten der
Juden besser beschreiben zu können; er ‚schaut dem
Volk aufs Maul‘, nicht um Slang wiederzugeben, sondern verständliches Deutsch in Wort und Satz und
Stil.
(4) Es sind Sprachneuerungen durch ihn bekannt (Beispiele in Anlage 3). Mancher ist noch unsicher, weil
die Werke der Zeitgenossen lange nicht so intensiv
untersucht sind wie die Werke Luthers.
Alle vergleichenden Textanalysen für die erste Hälfte
des 16. Jahrhunderts kann man in ihren Ergebnissen
aber so zusammenfassen: Luther ragt nicht dadurch
heraus, dass er ganz Neues schafft, sondern dass er
die sprachlichen Möglichkeiten seiner Zeit optimal
nutzt in klarer Ausrichtung auf das jeweilige Thema
und die angesprochene Zielgruppe (s. Werner Besch
in: Handbuch Sprachgeschichte, 2. Aufl. Berlin/New
York 2000, 2. Teilband S. 1718 f.).
Zudem gilt für ihn:
Wer Deutsch reden wil, der mus nicht der Ebreischen
wort weise füren, sondern mus darauff sehen, wenn er
den Ebreischen man verstehet, das er den sinn fasse und
dencke also: Lieber, wie redet der Deudsche man jnn solchem fall? Wenn er nu die Deutsche wort hat, die hiezu
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4. Die nationale Aneignung
der Luther-Bibel
5. Luthers Anteil an der Schrifteinigung
der Deutschen
Die Bibelverbreitung ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Wittenberg allein verzeichnet von 1522 – 1546
10 Auflagen der Vollbibel und rund 80 Teilausgaben,
vornehmlich des Neuen Testaments. Im gleichen Zeitraum
kommen 260 auswärtige Nachdrucke und 90 Ausgaben
in niederdeutscher Sprache hinzu. Schätzungsweise
waren damals schon eine halbe Million Luther-Bibeln im
Umlauf – ein großer Teil davon im Besitz von Laien. All
dies ist ohne das neue Medium Buchdruck undenkbar.
Eine weitere Zahl: allein die Cansteinische-Bibel-Anstalt
in Halle/Saale legt von 1712 – 1883 eine Gesamtbilanz
von 5,8 Millionen gedruckter Bibeln vor.
Das bedeutet von Anfang an eine Lese-Revolution.
Breite Volksschichten werden erstmals erreicht. Der
‚gemeine mann‘ tritt in die Geschichte ein. Die Bibel ist
lange einziges Schulbuch in den protestantischen Landen.
Mit ihr lernt man buchstabieren, lesen, schreiben, Kernstellen auswendig lernen. So kommt es zur nationalen
Aneignung der Bibel (Burdach), zur Akzeptation in Kopf
und Herz des Volkes. Langzeitwirkung im Volk haben
auch die Kirchenlieder und der Katechismus.
Ein wichtiger Erfolgsfaktor in der überregionalen
Durchsetzung des neuen Schriftdeutsch ist dann auch die
Textstabilität der Luther-Bibel. Sie währt fast 400 Jahre
und wird dogmatisch verteidigt, weniger in der Orthographie als in den als konstitutiv betrachteten Bereichen des
Wortschatzes, der Syntax und des Stils. Das garantiert
Permanenz und damit Durchsetzungsstabilität, anders
etwa als bei der Zürcher Bibel. Auf der anderen Seite
droht zunehmend das Veralten des Bibeltextes im Verlauf
der Jahrhunderte. Das betrifft vor allen den Wortschatz.
Was ist dagegen zu tun? In der Diskussion Ende des
17. und im 18. Jahrhundert scheinen drei Lösungen auf:
• Neuübersetzung
• Ersetzen der veralteten Wörter im Text
• Anhängen eines erklärenden Glossars.
Es ist hilfreich bei dieser Frage, einen Blick über die
Grenzen hinaus zu werfen, etwa nach Frankreich oder
England. Welche Autoritäten bestimmen dort die Spracheinigung, die Herausbildung einer Nationalsprache? Es
ist die Dominanz des Hofes, über Jahrhunderte gefestigt
in einer bestimmten Region, unbestrittenes Zentrum von
Politik, Wirtschaft, Kultur. Wir nennen das das monozentrische Modell. Paris und London sind Beispiele dafür. Die
Sprache eines solchen Zentrums bestimmt dann auch die
Ausrichtung der Nationalsprache.
Deutschland hatte in seiner Geschichte kein solches
Dominanz-Zentrum. Es gibt kein Queen’s oder Kaiser’s
German. Wir nennen das deutsche Modell das plurizentrische. Welche Autorität sollte da eine Spracheinigung herbeiführen? Das musste lange offen bleiben. Die Deutschen
wurden Nachzügler in der Sprachentwicklung, verglichen
mit führenden Nationen in Europa.
Bisherige Erklärungsversuche tragen nicht weit genug:
Kanzlei Karls IV. in Prag (14. Jahrhundert) als Vorbild,
oder die Kanzlei Kaiser Maximilians (um 1500), oder die
Sprache der Hanse als Einigung im Norden. Das alles
sind Teilansätze in Richtung Überregionalität, aber als
Erklärungsmodelle nicht tauglich. Es bleibt die Frage,
welches Einigungsmodell für die Deutschen gilt, gestützt
auf welche Autorität?
Meine Antwort ist: gestützt auf die Autorität der Bibel,
ausgestattet mit der Autorität des Wortes Gottes.
Sie, die Bibel, überschreitet binnendeutsche Sprachgrenzen,
sie, die Bibel, hat Langzeitwirkung,
sie, die Bibel, erreicht das breite Volk.
Kein Mensch, keine andere Macht, kein weltlicher Text
hätte dies vermocht.
Also die Bibel und letztlich nicht Luther – das ist meine
zugespitzte These!
Und Luther?
Er ist nicht einfach ersetzbar.
Er ist ein Glücksfall, auch der Sprachgeschichte.
Er kommt aus der Mitte der deutschen Sprachlandschaften.
Er ist ein religiös Ergriffener, der ergreifend formuliert.
Er ist begabt mit bewundernswertem Sprachingenium.
Er ist bemüht um lebenslange Spracharbeit.
Man entscheidet sich für das Glossar als der schonendsten
Methode. Das erste Erklärungsglossar erscheint 1691, die
letzten reichen bis in die Zeit um 1900 (Anlage 4).
Schließlich, nach langem Zuwarten, kam man um eine
kirchenamtliche Revision nicht mehr herum. Die erste
war 1892 abgeschlossen, Archaismen nur sehr behutsam
im Text beseitigend, die zweite 1912, die dritte 1984. Erst
diese machte das Glossar nun völlig überflüssig, nachdem
die neuen Wörter unmittelbar in den Bibeltext eingestellt
worden waren.
Eine weitergehende Revision in Syntax und Stil, wie
sie 1975 für das Neue Testament versucht und vorgelegt
wurde, fand keine Zustimmung. Zahlreiche Stellen aus
der Luther-Bibel sind nähmlich als Redensart in die deutsche Schrift- und Standardsprache eingegangen und heute
noch vielfach benutzt. (Büchmanns ‚Geflügelte Worte‘, 32.
Aufl. Berlin 1972, S. 1 – 106).)
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All dies hätte nicht zum Durchbruch verholfen, wenn er
nicht die Bibel übersetzt hätte.
Die Bibel ist Gottes Wort, nicht seines!
In der Kirchenpostille (WA 10/I, 1, S. 728) wünscht er:
Oh das gott wollt, meyn und aller lerer außlegung untergiengen, unnd
eyn iglicher Christenn selbs die blosse schrifft... fur sich
nehme
Er ist nur Werkzeug, aber ein begnadetes!
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Anlage 2
Anlage 1
a) maken/machen-Linie; b) dorp/dorf-Linie; c) dat/das-Linie; appel/apfel-Linie;
e) pund/fund-Linie; f) ik/ich-Linie
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Anlage 4
Anlage 3
24
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u-impulse:
luther und rap – impulse für die
arbeit mit schülern
heiko lamprecht
Die Vermittlung von Glaubensvorstellungen (religiösen
Inhalten und Systemen) findet nicht nur kognitiv, durch
Einsicht und Verstehen statt. Weit mehr als Reflexion
dürfte Prägung und unreflektierte Übernahme von Denksystemen und Verhaltensweisen wirksam sein. Das erleben wir ja oft genug bei Schülern und Schülerinnen, die
sich positionieren, aber argumentativ die vertretene Position nicht begründen können. Trotzdem ist die vertretene
Meinung offensichtlich wirksam für das „Lebensgefühl“
und für das entsprechende Weltbild.
Auch die „neue Lehre“ der Reformation ist zunächst
über populäre Kulturformen, also Lieder, Bilder, Geschichten, Anekdoten, vorbildhafte Beispiele, Kolportieren von
Ereignissen vermittelt worden. Das neue „Lebensgefühl“,
das mit dem „neuen Glauben“ korrespondierte, hat sich
zunächst über die Vermittlung alltäglicher Formen durchgesetzt. Diese „Medien“ haben die Brücke geschlagen, um
einerseits „gelehrtes Denken“ alltagstauglich zu vermitteln und andererseits Projektionsflächen zu bieten, an
denen die Einsichten wahrnehmbar und populär transportabel wurden.
Die Begegnung mit dem Liedgut der Reformation kann
für Schülerinnen und Schüler einen Zugang zu Lebensgefühl, Glauben und Denken Luthers eröffnen. Der Vergleich mit aktueller HipHop-Musik eröffnet den Blick
auf Gemeinsamkeiten und Differenzen bezüglich der zu
Grunde liegenden Fragen und Antworten. Aus diesem
Prozess könnte ein eigener authentischer HipHop-Text
entstehen.
Gerade auch für die Gestaltung des Reformationstages können Beiträge aus dem Liedschaffen Luthers
Anstoß für eine Begegnung mit dem Reformater und seinem Denken sein und zu Handlungsprodukten von Schülern und Schülerinnen in Beziehung gesetzt werden.
1. Luther als „Liedermacher“
1.1 Übersicht
Zu den Beiträgen, die Luther zur Veröffentlichung des
gelehrten Diskurses und dessen Transformation auf die
Ebene des einfachen Menschen geleistet hat, gehört sein
Liedschaffen. Hier hat er methodisch Bewährtes übernommen und bearbeitet, aber auch neue Formen entwickelt.
Erst 1523, ein knappes Jahr nach der Übersetzung des NT,
hat ein knapp vierzigjähriger Martin Luther begonnen, mit
eigenen Beiträgen zum Liedgut das neue Lebensgefühl
und die neue Sicht der Reformation zu verbreiten.
Von 45 deutschen Stücken wissen wir. Teilweise zeichnet Luther für Text und Melodie verantwortlich, teilweise
hat er ältere und/oder bekannte Weisen mit einem eigenen/neuen Text oder einer Übersetzung/Übertragung versehen. Ein Blick in das Ev. Gesangbuch zeigt, dass sich
heute noch bei 34 Liedern der Name Martin Luther als
Verfasser von Text, Melodie oder beidem findet. Darunter „Kirchenhits“ wie das Psalmlied „Ein feste Burg“ (EG
362), Weihnachtslieder „Vom Himmel hoch“ (EG 24) usw.
1.2 „Betroffenheit und Polemik“ (M1)
Es sind zwei besondere Lieder, die am Anfang seines
Liedschaffens stehen. Mit dem ersten reagiert Luther auf
ein bedrängendes Ereignis: den gewaltsamen Tod zweier
Anhänger in Brüssel. Der Hintergrund: Das Wormser
Edikt, mit dem die lutherische Ketzerei ausgerottet
werden sollte, wurde besonders in den Niederlanden
konsequent und mit aller Härte umgesetzt. So hat man
das Augustinerkloster in Antwerpen, dass als Brutstätte
lutherischer Ketzerei angesehen wurde, abgerissen. Die
Mönche wurden zum Widerruf gezwungen. Zwei von
ihnen, Johann Esch und Heinrich Voes verweigerten den
Widerruf. In Folge dessen wurden sie am 1. Juni 1523 auf
dem Marktplatz von Brüssel als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Als Luther die Botschaft von der
Ermordung seiner Anhänger erhielt, so berichtete Johann
Kessler, habe er begonnen, „innerlich zu weinen und
gesagt: Ich vermeint, ich sollte ja der erste sein, der um
dieses heiligen Evangeliums willen sollte gemartert werden; aber ich bin dessen nicht würdig gewesen.“1
Martin Luther fühlte sich herausgefordert auf diese
Ereignisse zu reagieren. Er tat dies in einem „Brief an
die Christen im Niederland“. Und er dichtete „ein hübsch
Lied von den zwei Martyrern Christi, zu Brussel von den
Sophisten zu Löwen verbrannt“.
Indem er den beiden Männern Johannes und Heinrich
musikalisch ein Denkmal setzt, deutete er die Ereignisse
und brachte ein neues Mittel in die Propagandaschlacht
um die wahre Lehre. Mit einem Märtyrerlied beschrieb er
den Leidensweg der „Jungen“ (Junge Mönche) und entlarvte die zunächst hinterhältige und dann offene Vorgehensweise der „Sophisten“(„Wortverdreher“).
25
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Schauen wir einmal, wie Luther die Ereignisse deutete
und in einem großen Kontext verortete.
Die erste Strophe zeigt, wie Luther vorgeht:
„Ein neues Lied wir heben an
– das walt Gott, unser Herre –,
zu singen, was Gott hat getan
zu seinem Lob und Ehre.
Zu Brüssel in dem Niederland
wohl durch zwei junge Knaben
hat er sein Wundermacht bekannt,
die er mit seinen Gaben
so reichlich hat gezieret.“
Von Beginn des Liedes an werden die Brüsseler Ereignisse in den Kontext des Wirken Gottes „zu seinem Lob
und Ehre“ eingeordnet. Es ist Gott, der die beiden Mönche
mit „seinen Gaben so reichlich gezieret“ und in die Welt
geschickt hat. Gott hat sie auserkoren, seine Wundermacht zu bekennen.
In gleicher Weise wird das Szenario in der zweiten
Strophe ausgestaltet. Die beiden Mönche werden als
„reich an Gottes Huld“ bzw. „rechter Christ ohn Schulden“
vorgestellt. Es entsteht ein verklärtes Bild der beiden
„Knaben“.
Der erst mit Recht Johannes heißt,
so reich an Gottes Hulden,
sein Bruder Heinrich nach dem Geist,
ein rechter Christ ohn Schulden,
von dieser Welt geschieden sind.
Sie han die Krön erworben,
recht wie die frommen Gotteskind
für sein Wort sind gestorben;
sein Märtrer sind sie worden.
Diese beiden Gottesmänner („recht wie die frommen
Gotteskind“) sind vorbildlich „für sein Wort“, als Märtyrer
gestorben. Keine Frage, damit wird ihnen die Siegeskrone
zuteil.
Das geschilderte Szenario blendet natürlich den Hintergrund des Konflikts aus bzw. präsentiert die lutherische Perspektive. Luther spitzt dies in der 7. Strophe zu
auf einen Konflikt zwischen Gotteswort und Menschenwort. Da heißt es:
„Der höchste Irrrtum dieser war:
Man muß allein Gott glauben;
der Mensch lügt und trügt immerdar,
dem darf man nichts vertrauen.
Des mußten sie verbrennen.“
Die als Häretiker verbrannten Mönche sind Zeugen des
Gotteswortes. Es ist das unbedingte Vertrauen auf Gott,
das ihnen (angeblich) zum Vorwurf gemacht wurde. Und
in dieser Hinsicht waren sie unbeirrbar. Gott muss man
gehorchen, denn Menschen sind vertrauensunwürdig, weil
26
sie lügen und betrügen. Und diese, sicher von allen als
richtig angesehene Haltung, führte dazu, dass sie als Märtyrer, als vorbildliche Glaubenszeugen, verbrannt wurden.
Einen Vers davor war schon betont werden, dass sie
letztlich Gottes Auftrag konsequent ausführten:
6. Das fügt‘ Gott durch sein Gnad also,
daß sie recht Priester worden,
sich selbst ihm mußten opfern do
und gehn im Christenorden,
Dass Luther nicht gerade ein „geistlich Lied“ verfasst hat,
auch wenn es auf das Lob Gottes zu zielen vorgibt, wird
in den Strophen immer wieder deutlich. Die Darstellung
der Ereignisse strotzt nur so vor Polemik. Da sind auf der
einen Seite die beiden „Knaben“, fromm und gottesfürchtig, treu und aufrecht, eben „rechte Priester“, und auf der
anderen Seite die „Sophisten“, die mit „des Teufels Maskenspiel“ arbeiten, mit falschen Gebärden die ganze Welt
betrügen, typische Möncherei eben.
Dieses Lied zeigt also, wie Luther mit religiöser Propaganda auf die Verfolgung seiner Anhänger reagierte. Es
dürfte seinen Anhängern durchaus leicht gefallen sein,
Gott zu loben, die Märtyrer zu ehren, sich der eigenen
Stärke und Werte zu vergewissern und den Feind zu
verachten, so wie die Knaben die „Sophisten“ verachtet
haben. Vermutlich hat dieses Lied auch Ressentiments
gegen den Klerus bedient. Wenn schon Knaben einsichtig waren, im Auftrag Gottes Verhör, Folter, Tod in Kauf
nahmen, dann konnte man angesichts eines lächerlichen
Feindes gut Folge leisten und „wie ein Maur“ stehen. In
jedem Fall gilt es, sich nicht von den „Sophisten“ einschüchtern zu lassen, sondern Gott zu gehorchen, zum
Wort Gottes zu stehen und auch Nachteile hinzunehmen.
Wie kunstvoll Luther mit Sprache umgehen konnte, zeigt
die letzte Strophe der älteren Fassung, die auf ihre Weise
die entstandene Situation deutet, drastisch und poetisch
zugleich:
Die laß man lügen immerhin;
sie haben‘s keinen Frommen.
Wir sollen danken Gott darin;
sein Wort ist wiederkommen.
Der Sommer ist hart vor der Tür,
der Winter ist vergangen,
die zarten Blumen gehn herfür.
Der das hat angefangen,
der wird es wohl vollenden.
Musikalische Trauerarbeit, die einerseits der Erinnerung an Personen, andererseits der Vergewisserung der
Sinnhaftigkeit des eigenen Weltbildes oder der eigenen
Werte dient, findet sich auch in aktuellen charttauglichen
Songs etwa von Herbert Grönemeyer oder Xavier Naidoo.
Auch wenn hier nicht die Polemik gegen Dritte zu finden
ist, wird das Gedenken an eine Person verbunden mit
der Wertschätzung bestimmter Wertvorstellungen oder
'bb' 111-1/2005
besonderer Verhaltensweisen, die die betreffende Person
„verkörperte“.
Meine Generation hat ein besonderes Verhältnis zum
„Willy“-Song von Konstantin Wecker. In den 70er/80er
Jahren gab es vermutlich kein „Wecker“-Konzert, wo nicht
als Zugabe der „Willy“ gefordert und gespielt wurde. Nur
am Rande sei auf die Form hingewiesen: Wecker hat den
Sprechgesang als Form gewählt und, zum Verstorbenen
sprechend, die Ereignisse dargestellt und das Geschehen
gleichzeitig in einen größeren Rahmen gestellt („Freiheit,
des hoaßt koa Angst habn vor neamands“; „Willy, ma
muaß weiterkämpfen, kämpfen bis zum Umfaun, a wenn
die ganze Welt an Arsch offen hat, oder grad deswegn.“2)
Nur der Refrain im Ausdruck der Klage wird gesungen.
Ein Klagelied als Mutmachlied!
1.3 „Im Gesang vollzogene Theologie“ (M2)
Nach diesem stark auf eine geschichtliche Situation
bezogenen Kampflied möchte ich Ihnen das zweite Lied
Luthers vorstellen, das ebenfalls im Jahr 1523 entstanden
ist. „Nun freut euch, liebe Christengemein und lasst uns
fröhlich springen“ findet sich im aktuellen Evangelischen
Gesangbuch unter der Nummer 341. In diesem Lied entfaltete und inszenierte Luther seine Theologie.
„Deshalb habe auch ich – mit einigen andern zusammen –, um einen guten Anfang zu machen und um denen
Anlass zu geben, die es besser vermögen, etliche geistliche Lieder gesammelt, um das heilige Evangelium, das
jetzt durch Gottes Gnade wieder aufgegangen ist, zu treiben und in Schwung zu bringen...“3 schrieb Martin Luther
in der Vorrede des Wittenberger Chorgesangbuches 1524.
Seine Arbeit zielte also darauf ab, mit dem Medium des
Liedes das „Wort Gottes“ weiterzugeben, damit es „Evangelium“, frohe Botschaft werde. Damit die frohe Botschaft
populär werde, waren ihm alle Mittel und Wege recht.
Seine Choräle waren deshalb nicht nur für den gottesdienstlichen Einsatz bestimmt, sondern konnten auch in
der Schule oder zu Haus gesungen werden. Mit seinem
Liedgut überschritt er die Grenze zwischen sakraler und
profaner Welt und trug religiöse Themen in den Alltag.
Er zielte darauf ab „dass die Jugend, die ohnehin soll und
muss in der Musik erzogen werden, etwas hätte, damit sie
die Buhllieder und fleischlichen Gesänge los würde und
statt derselben etwas Heilsames lernte und so das Gute
mit Lust, wie es den Jungen gebührt, einginge.“4
Auch in der Wahl der Liedgattung wird dieses Programm deutlich: Er wählte eben nicht einen sakralen
Gesang, sondern benutzte durchaus auch Melodien aus
ursprünglich profanem Kontext. Wie schon bei seinem
ersten Lied wählte er auch für „Nun freut euch, liebe
Christengemein und lasst uns fröhlich springen“ den
Typus des „Historischen Volksliedes“, „Zeitliedes“ oder
„Neuigkeitsliedes“5. Beim ersten Lied mag diese Form
logisch erscheinen, beim zweiten ist dies nur zu erklären
durch die konsequente Umsetzung seines „Evangeliumskonzeptes“: Die gute Nachricht soll populär und für alle
verständlich verbreitet werden.
Anhand des Liedes „Nun freut euch, liebe Christengemein und lasst uns fröhlich springen“ kann man sehen,
wie Luther das Evangelium unters Volk gebracht hat. Es
ist hilfreich, sich in diesem Zusammenhang an Luthers
Begriff des Evangeliums zu erinnern. Drei Aspekte seien
genannt:
„1. Evangelium ist keineswegs etwa beschränkt auf Wort
und Wortlaut der Bibel. Evangelium kann jedes im geistlichen Bereich durch irgendeinen Menschen ergehende
Wort sein, eine Predigt, ein seelsorgerlicher Rat, ein Lied,
soweit es bestimmte Bedingungen erfüllt.
2. Verkündigung des Evangeliums ist ein sprachlicher
Akt, in welchem Sprache, kommunikative Sprache, d.h. in
ihrer auf Hören und Verstehen angewiesene Sprache ist,
nicht etwa ein selbstwirksames lautlich-sakrales Symbol.
Diese Sprache kann daher für eine nur oder auch vorwiegend deutsch sprechende Hörerschaft allein die deutsche
Sprache sein.
3. Und entscheidend: Ein sprachlicher Akt ist dann Evangelium, wenn er im Stande ist, die Verbindung herzustellen zwischen dem geschichtlich vergangenen einmaligen
Heilswerk Christi und uns heute – und zwar in dem Sinne,
dass unüberhörbar deutlich wird, dass jenes Werk Jesu
Christi, insbesondere sein Tod und seine Auferstehung,
ein f ü r u n s, schärfer: f ü r m i c h zur Rechtfertigung,
zur Vergebung der Sünden geschehenes Werk ist.“6
Zusammenfassend: Evangelium ist ein sprachlicher Akt,
der in durchaus unterschiedlicher Form einen Zusammenhang zwischen dem Heilsgeschehen Jesu Christi und
meiner Person dahingehend begreifbar eröffnet, dass
ich aktuell in und mit meiner gegenwärtigen Existenz
reagiere.
Lassen Sie uns aus diesem Blickwinkel schauen, wie
Luther Evangelium im Lied umgesetzt hat. Ein Gang
durch die einzelnen Strophen zeigt nicht nur, wie Luther
die Rechtfertigungslehre in ausdrucksstarke Bilder
gebracht hat, sondern auch wie geschickt er im Lied
die SängerInnen das Besungene vollziehen lässt. Zwei
Aspekte müssen wir dabei besonders beobachten: die Perspektive, aus der gesungen wird, und die Entwicklung auf
der gedachten Zeitschiene.
Das Lied beginnt mit einem starken Impuls, wie wir
ihn auch aus der heutigen Popmusik kennen: Zur freudigen Ausgelassenheit wird die Gemeinde aufgefordert.
Lebensfreude ist angesagt, „Party machen“, aus gutem
Grund: Gottes Wundertat für uns soll gefeiert werden.
Die erste Strophe kann sozusagen als Refrain gesehen
werden, der das Folgende auf den Punkt bringt und seine
Bedeutung zusammenfasst. Sie ist auf der Zeitschiene
im „Jetzt“ angelegt, während die folgenden Strophen in
die Vergangenheit führen. Zunächst in die nahe Vergangenheit, in der der Sänger mit theologischen Begriffen
(Teufel, Tod, Sünde, gute Werke, freier Wille) sein Lebensgefühl der Ausweglosigkeit und des Verlorenseins beklagt
(2+3).
27
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Hierauf folgt ein Perspektivwechsel, ein himmlisches
Szenario steht nun vor Augen: Gott schaut auf den verlorenen Sünder, dessen Schicksal ihn „jammert“(4 – 5).
Schließlich werden die Stationen der Heilsgeschichte
dargestellt (6 – 9), und zwar so, dass ab der 7. Strophe
Jesus Christus selbst das Wort ergreift und einerseits
Heilsgeschichte im Präsens darstellt, andererseits aber
deren Konsequenzen für den Angesprochenen deutlich
macht.
Der Sänger des Chorals nimmt im Verlauf der Strophen
verschiedene Rollen ein:
- Als (exemplarischer) Mensch beklagt er sein
Gefühl der Verlorenheit („Ich fiel auch immer
tiefer drein, kein Guts am Leben mein“), des
Ausgeliefertseins an die Sünde, der Hoffnungslosigkeit. (Strophe 2 + 3)
- Als Erzähler berichtet er von Gottes Mitgefühl
(„Vaterherz“) und seiner Aktivität zur „Lebensrettung“. (Strophe 4 + 5 + 6)
- Schließlich verleiht er Jesus Christus die
Stimme und erzählt aus dessen Sichtweise die
Heilsgeschichte. Genauer: Jesus erklärt seinen
Lebens- und Leidensweg pro nobis. (Str. 7 – 10)
Absichtsvoll hat Luther diese Form der wechselnden
Perspektive verwendet, weil sie das gesanglich nachvollzieht, was frohe Botschaft, Evangelium ist. Mehr noch:
im bewussten aufrichtigen Gesang geschieht Evangelium,
indem nämlich die Bedeutung der geschichtlichen Ereignisse in ihrer Konsequenz für mich erfasst werden. Das
„Pro me“, die stellvertretende Handlung Jesu Christi wird
exemplarisch im Gesang nachvollzogen.
Die 7. Strophe, die den heilsgeschichtlichen Ablauf
unterbricht, ist für diesen Vorgang der Kulminationspunkt.
7. Er sprach zu mir: »Halt dich an mich,
es soll dir jetzt gelingen;
ich geb mich selber ganz für dich,
da will ich für dich ringen;
denn ich bin dein und du bist mein,
und wo ich bleib, da sollst du sein,
uns soll der Feind nicht scheiden.
Jesus Christus begegnet zum einen als Deuter der Heilsgeschichte, als Interpret seines Wirkens, aber auch als
tatkräftiger Bruder, der den „fröhlichen Wechsel“ vollzieht, stellvertretend die Last des Sünders auf sich nimmt
und ihn an der Auferstehung teilhaben lässt.
Auf einen Aspekt möchte ich bei diesem Lied noch hinweisen. Der hat mit der gedachten und gesungenen Zeitschiene zu tun. Einerseits, so war der Eindruck, ging es
vom ersten Vers, der die Gegenwart anspricht, rückwärts.
Andererseits führen der Christus der Heilsgeschichte und
der ich - Sänger in der Gegenwart ein Gespräch. Es werden also Gegenwart und Heilsgeschichte miteinander verschränkt, so, wie nach Luther Evangelium funktioniert.
28
1.4 Luther und die Psalmlieder (M3/M4/M9)
Ende 1523 unternahm Luther den Versuch Spalatin,
(Georg Burckhardt aus Spalt bei Nürnberg / ab 1518
Beichtiger des Kurfürsten Friedrichs des Weisen, ab 1522
Hofprediger) für ein ihm wichtiges Projekt zu begeistern. Schon lange schwebte ihm wohl vor, zusammen mit
anderen gleichgesinnten Intellektuellen und Dichtern
geistliches Liedgut in deutscher Sprache zu schaffen,
das sich an den Psalmen orientierte. „Neue und höfische
Ausdrücke sollten dabei vermieden werden. Es galt, die
Psalmen für das Fassungsvermögen des Volkes möglichst einfach und allgemein und doch zugleich rein und
angemessen, dazu klar, textnah, aber mit eigenen Worten zu übertragen.“7 Seinen eignen Fähigkeiten stand er
skeptisch gegenüber, und wollte nun Spalatin und andere
Freunde zur Übertragung der Psalmen in eine populäre
geistliche Dichtung motivieren. Bei aller Bescheidenheit
hatte Luther zu diesem Zeitpunkt schon zwei Psalmlieder entworfen: „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ (nach
Ps. 130) und „Es wolle Gott uns gnädig sein“ (nach Ps.
67). Obwohl Spalatin trotz aller Freundschaft und bei
aller Ermahnung (14. Januar 1524 und 23. Februar 1524)
nicht ein einziges Psalmlied beisteuerte, ist die Idee in
Oberdeutschland und auch im Calvinismus weiterverfolgt worden. Luther selbst verfasste insgesamt sieben
Psalmlieder, sechs davon in den Jahren 1523 und 1524.
Überhaupt ist in diesen Jahren die überwiegende Zahl der
Lutherlieder entstanden. Nur 12 Lieder hat Luther danach
noch geschrieben. Ein Spätwerk unter den Psalmliedern
ist der zwischen 1527 und 1529 entstandene Choral „Ein
feste Burg ist unser Gott“ (EG 362), der auch heute noch
zum aktiven Repertoire der Gemeinde gehört und seine
regelmäßige Verwendung zu besonderen Feiertagen findet. Nicht als „heldenhaftes Trutzlied“ sondern als „Trostlied“ (ältere Quellen) sollte dieses Lied gesungen werden.
Es entstand „in einer Zeit, in der Luther von vielen und
vielfältigen Sorgen geplagt war“8.
Werfen wir einen ersten vergleichenden Blick auf Choral und Psalm 46, entdecken wir, dass das bedeutsame
„Burg“-Motiv im Psalm fehlt und die letzte Strophe etwas
aus dem Rahmen fällt. In den Jahren vor dem Verfassen
des Chorals äußerte sich Luther nur einmal exegetisch
zum 46. Psalm. Diesen erschloss er nach dem Auslegungsprinzip seiner Zeit, also dem „sensus literalis propheticus. Der Psalm wurde als ein Loblied der Urkirche auf
Christus, ihren Bewahrer und Sieger über ihre jüdischen
und heidnischen Feinde“9 verstanden, also christologisch/
allegorisch gedeutet.
Eine zweite Äußerung Luthers zum Psalm gab es erst
nach Abfassung des Liedes im Jahr 1531. Sie hat offensichtlich mit den bedrückenden Erfahrungen jener Zeit
zu tun, in der er wohl auch angefochten und depressiv
auf den Augsburger Reichstag wartete und die Nachricht vom Tode seines Vaters erhielt. Hier war ihm die
Gewissheit der Nähe Gottes, wie sie der Vers 2 betont, ein
nachhaltiger Trost. Dieses machte er dann auch auf zwei
Bedeutungsebenen fest: einer vergangenen historischen
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und einer nun Gültigkeit beanspruchenden christlichen
Bedeutungsebene. „Dem Volk Israel war er ein „Danckpsalm ... für die wunderthatten Gottes, das er die Stad
Jerusalem, da seine wonung war, schützet und bewaret“.
Davon ist die neutestamentliche Sicht grundsätzlich zu
unterscheiden: „Wir aber singen jn Gott zu lobe, das er
bey uns ist und sein Wort und die Christenheit wunderbarlich erhelt wider die hellischen pforten, widder das wüten
aller Teufel, der Rottengeister, der welt, des fleisches, der
sünden, des todes“.10 Aus der christologischen Perspektive wurde nun eine geschichtstheologische. Gleichwohl
ging es Luther nicht um die weltliche Dimension sondern um eine metaphysische. Gott „streitet nicht gegen
kosmische und politische, sondern gegen diese noch weit
überbietende metapyhsische Kräfte: Teufel, Irrlehre, Welt,
Fleisch, Sünde und Tod. Seine Überlegenheit ist aber
nicht notwendig äußerlich sichtbar, sondern sie richtet
sich zu allererst auf die Erhaltung seines Wortes und auf
das Bewahren der Glaubenden nicht vor, sondern in allen
leiblichen und geistlichen Bedrohungen.“11 Dieses spiegelt
der Choral „Ein feste Burg“ wieder.
Wie setzte Luther nun den Psalm in Versform um?
Grundlage jeder Umformung, so äußerte er sich in einem
Schreiben gegenüber Spalatin, ist der sensus psalmi, also
der Sinn, der Skopus, die „geistige Mitte“ des Psalms.
Dieser sensus ist Richtschnur und Kriterium für die
Umformung des Psalms in ein Psalmlied. Eine solche
Vorgehensweise erlaubte nun eine recht freizügige Verwendung von Motiven der biblischen Vorlage, sowie das
Eintragen neuer Motive, solange diese die innere Botschaft des Psalms deutlich machten. So konnte Luther
die „feste Burg“ einbauen und musste den Choral auch
keineswegs am Psalm entlang strukturieren. Bedeutsam
war das „Bekenntnis zu Gott, dem Kämpfer und Sieger,
als der einzig hilfreichen Zufluchtsstätte ‚in den großen
Nöten‘, die er alle auf den Teufel zurückführt“.12 Auch
die letzte Strophe, die ja deutlich aus dem Rahmen einer
engen Anlehnung an den Psalm fällt, ist über dieses Versifizierungsprinzip zu erklären, denn in der besungenen
Situation äußerlicher Not und Anfechtung ist natürlich die
Frage nach Anwesenheit und Macht Gottes gestellt. Und
genau in diese Situation hinein entfaltete er die Botschaft
des Psalms in dem oben genannten Sinn. Gott bewahrt
nicht vor bedrückenden, bedrängenden Erfahrungen, aber
er steht in diesen Situationen dem Glaubenden zur Seite.
Hier zeigt er seine Stärke und Macht.
1.5 Choräle und Hymnen
Einige allgemeine Informationen zum Liedschaffen
Luthers will ich noch stichwortartig geben:
1. Nur vier Lieder Luthers entstanden ohne Rückgriff auf biblische Texte, lateinische Hymnen
oder liturgische Stücke.
2. Flankierend zu seinen Katechismen verfasste
er etliche Katechismuslieder, die sozusagen der
Vertiefung des „Grundlagenwissens“ dienten.13
3. Gerade die „Weihnachtsgeschichte“ nach Lukas
ist ihm Ausgangspunkt verschiedener Lieder
geworden, auch Kinderlieder. Das bekannteste
davon: „Vom Himmel hoch“
4. Des weiteren gibt es etliche deutschsprachige
liturgische Stücke mit einer klaren Ausrichtung
auf den gottesdienstlichen Bereich.
5. Zur Verbreitung des Liedgutes wurde schon
1524 ein Gesangbuch herausgegeben, zu dem
Luther das Vorwort schrieb. Damit war der
Startschuss gegeben für eine unüberschaubare
Zahl von religiösen Gesangbüchern bis heute.
2. Rap als lebendige Form
der Textarbeit
Luthers Lieder transportieren Lebensgefühl, Glaubensgewissheit und Weltdeutung. Sie sind populär gestaltete
Antworten auf Fragestellungen, die Luther und seine
Zeit beschäftigten („Wie bekomme ich einen gnädigen
Gott?“, Welchen Stellenwert haben geistliche und weltliche Hierarchien?). In der Auseinandersetzung mit seinem
Liedschaffen werden unsere Schülerinnen und Schüler
möglicherweise mit Befremden und distanziert reagieren.
Auch wenn Emotionalität und Bildsprache Luthers heute
noch wirksam sein können, bleibt die Differenz zwischen
dem Lebensgefühl und Weltbild Luthers und dem Denken
und Selbstverständnis in einer überwiegend säkularisierten Welt. Die Koordinaten haben sich verschoben.
Gleichwohl bleiben grundsätzliche Lebensfragen, die
heute vielleicht anders gestellt oder in einem anderen
Denksystem formuliert werden. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz, nach dem Grund für eine
Hoffnung im Blick auf die Zukunft, die Frage nach dem
eigenen Platz in dieser Welt, die Sehnsucht nach einem
erfüllten Leben verbinden Menschen aller Kontinente und
Zeiten. Wie können Luthers Antworten ihre Strahlkraft in
neuem Kontext entfalten?
Bei der Suche nach authentischen musikalischen
Zeugnissen der Jugendkultur stößt man sehr schnell auf
die HipHop-Kultur und Rap-Texte als Ausdruck jugendlichen Lebensgefühls. HipHop-Kultur zeigt sich in einer
großen Bandbreite, repräsentiert in Kleidung, Musik,
Sprachcodes, Graffiti. Selbst die Kommerzialisierung
des ursprünglich im Ghetto der Bronx entstandenen und
entwickelten Rap-Stils hat die Kreativität und subversive
Eigenständigkeit der Bewegung nicht kanalisieren können. Regionale Szenen und kulturelle Wurzeln schlagen
sich in sehr individuellen Produktionen nieder. Dies gilt
sowohl für die Entwicklung auf dem englischsprachigen Markt als auch für die deutschsprachigen Rapper.
Man gewinnt sehr schnell den Eindruck, dass Rap eine
Einladung ist, sich sprachlich auszudrücken. Anspruch
und Sprachgewalt sind unterschiedlich, bewusst werden
sprachliche Eigenarten etwa beim türkisch- deutschen Rap
benutzt um zu provozieren oder zu persiflieren.14 Monologisierende Formen stehen dem „Battlerap“ – Wettbewerb
29
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gegenüber. „Strophe – Refrain – Strophe – Refrain“ – Muster finden sich ebenso wie durchgehende Texte ohne
Wiederholung bestimmter Textstücke, wie es bei Rock,
Country, Schlagern etc. überwiegend der Fall ist.
Ohne weiter auf die Geschichte der HipHop – Kultur15
eingehen zu können, biete ich drei Textbeispiele an, die
sicher nicht repräsentativ sind, jedoch ethisch- religiöse Fragestellungen verhandeln. Auch wenn gedruckte
Raptexte die Aussagekraft, die sich erst aus dem Zusammenspiel von Rhythmus und Sprechgesang entfaltet, nur
eingeschränkt widerspiegeln, erlauben sie einen Blick auf
eine faszinierende, lebendige Bewegung und laden zur
Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Gedanken ein.
2.1 „Where is the love?“
(Black Eyed Peas16) (M5)
Ausgehend von den Entwicklungen nach dem 11. September 2001 hat die Gruppe “Black Eyed Peas” einen
kritischen und zugleich charttauglichen Song verfasst.
Dieser Song kritisiert zunächst die Scheinheiligkeit, mit
der an anderen Orten gegen das Böse und die Bösen zu
Felde gezogen wird, die Probleme vor Ort aber ausgeblendet werden. Davon ausgehend entwickelt sich eine
Generalabrechnung mit den zahlreichen Ungereimtheiten
dieser Welt und Fragwürdigkeiten der eigenen Existenz.
Kritisiert wird also nicht nur die große Politik, sondern
auch Einstellung und Umgang der Menschen untereinander: „People killin‘, people dyin‘, children hurt and you
hear them cryin‘, when you practise, what you preach,
and would you turn the other cheek?“ Angesichts der
beschriebenen Situation und der Fragen, die nach Antwort schreien, mündet der Song konsequenter Weise in
der Bitte: „Father, Father, Father, help us; Send us some
guidance from above; ‚Cause people got me, got me questionin‘: Where is the love?“.
2.2 Fast Forward „Verlorn“ (M6)
In seinem Song „Verlorn“ aus dem Jahr 1996 schildert der
Kölner Rapper Fast Forward sehr persönlich seine Situation. Vertraute Lebensmuster und Überzeugungen haben
keine Wirkung mehr, die gegenwärtigen Verhaltensweisen
helfen nicht weiter und eine Zukunftsperspektive zeichnet
sich nicht ab.
Fast Forward ist Teil der Kölner Rap-Gruppe STF (Scopemann, Tuareg und Fast Forward). Hintergrund seines
biographischen Textes ist ein schwerer Unfall, den er
einige Jahre zuvor erlit­ten hatte. Offensichtlich sind die
psychische Folgen noch nicht überwunden.
2.3 Thomas D. „Lektionen in Demut“ (M7)
Als weiteren Rap- Text möchte ich Ihnen „Lektionen in
Demut“ vorstellen. Auch wenn Thomas D., Mitglied der
erfolgreichen Stuttgarter Gruppe „Die fantastischen Vier“
nicht unbedingt repräsentativ für die deutsche Rapperszene ist, scheint mir sein Album beachtenswert und der
30
Text des Songs „Lektionen in Demut“ für den Einsatz im
Unterricht hilfreich. Zwar sind „Fanta vier“ sehr bekannt
(„Sie ist weg“, „Tag am Meer“; usw.) und kommerziell
erfolgreich, aber die Gruppe wird gerade wegen der Nähe
zur Musikindustrie von vielen Rappern abgelehnt. Die
Spaltung zwischen den in den regionalen HipHop-Szenen
integrierten Rappern und den von der Musikindustrie
gepuschten Gruppen, die sich auch in den USA ergeben
hat, ist ebenso in Deutschland wirksam.
Trotzdem ist der Text „Lektionen in Demut“ ein gutes
Beispiel für den heutigen Umgang mit religiösen Fragestellungen.
3. Einsatzmöglichkeiten im Unterricht
Rap-Texte bieten vielerlei Möglichkeiten Lebensgefühl
und Jugendkultur in den Unterricht einfließen zu lassen.
Sie können zur Positionierung von SchülerInnen einladen,
können durch Zustimmung und Distanzierung Lebensfragen und denkbare Antworten verdeutlichen helfen. So
wie sie exemplarisch Zeitgeist und Lebenswirklichkeit
transportieren, Welt deuten, klagen oder Selbstbewusstsein demonstrieren, Kritik oder Liebesschwüre in die
Welt hinausrufen, so hat zu anderer Zeit unter anderen
Bedingungen sich Luther geäußert. Natürlich gibt es nicht
nur inhaltlich Unterschiede. Auch die gattungsgemäßen
Eigenheiten müssen berücksichtigt werden. Gleichwohl
geht es bei beiden Textgruppen um Lebensgefühl, Hoffnung, Weltdeutung und Lebenssinn. So können in der
Kontrastierung Unterschiede und Gemeinsamkeiten profiliert werden, Lösungen erschlossen und bewertet werden.
Grundsätzlich bietet die Arbeit mit Formen des Rap nicht
nur im deskriptiv- analytischen Bereich Möglichkeiten,
sondern auch im kreativen. Aus dem Sprachunterricht
ist die mnemotechnische Verwendung des Raps bekannt.
Für den Religions- bzw. Konfirmandenunterricht sind vier
Einsatzmöglichkeiten zu nennen17:
1. Deskriptiv-analytisch: Allgemeine Thematisierung
der HipHop-Jugendkultur, ihrer Sprache und des
Lebensgefühls, das dargestellt wird. Hier könnte
die Geschichte, die Entwicklung des HipHop ebenso
Berücksichtigung finden, wie Stellungnahmen einzelner Künstler zur Bedeutung der HipHop-Kultur
(s. Anmerkung 16).
2. Deskriptiv-analytisch: Schwerpunktsetzung auf ethische und religiöse Fragestellungen. Hier können Rap
Texte zum Impuls und Bezugspunkt für die Diskussion und die Frage nach eigenen Wertmustern und
Glaubensvorstellungen werden. Neben der Kontrastierung, etwa auch mit dem Liedgut Luthers, bietet
sich folgender Unterrichtsverlauf an:
- Darstellung und Begründung der Nähe/ Distanz
zur wahrgenommenen Position
- Zuspitzung der entdeckten Fragestellung und
Benennung möglicher Antworten
- Frage der Bewertungskriterien
- Konkretisierung in aktueller Situation
'bb' 111-1/2005
-
Wirksamkeit der Aussage für die Zukunftsgestaltung/-fähigkeit
- Hieraus könnte als Antwort ein eigener Rap
entstehen.
3. Mnemotechnisch: Rhythmische Unterlegung von
vorgegebenen Texten nach Rap-Art (vergl. entsprechendes Vorgehen und Arbeitsmaterial im Sprachunterricht)18.
4. Kreativ: Entwicklung eines eigenen Rap-Textes als
Handlungsprodukt
Nach entsprechender Vorarbeit können die Schülerinnen und Schüler selbst einen Text entwerfen.
Ein Vorteil des Rap ist, dass nicht gesungen werden
muss und auch sprachlich eine große Bandbreite
möglich ist.
Geklärt werden muss zunächst, ob der Text an einem
Rhythmus orientiert oder der Rhythmus dem Text
angepasst werden soll. Zur kreativen Textarbeit
schreibt Michael Landgraf:
• „ Besonders eignen sich gesellschaftliche Themen, da diese auch von den Interpreten bekannter HipHop-Stücke verarbeitet werden. Beispiele
hierfür: Lebensgefühl der Gesellschaft, Gewalt,
Ausländer und wir, Umweltzerstörung, Arm und
Reich, Sucht, Krieg und Frieden.
• Als weiteres sind Erlebnisse aus dem privaten
oder schulischen Bereich geeignet. RAP bietet
die Möglichkeit, dem Unmut Ausdruck zu verleihen. Dadurch können versteckte Aggressionen offen gelegt werden. Beispiele für Themen:
Stress und Ärger in der Schule (Zensuren,
Bestrafungen), Konflikte in der Klasse, Auseinandersetzungen mit dem Elternhaus (Verbote,
Pünktlichkeit, Taschengeld), Beziehungskisten.
• Auch biographische oder erzählende Geschichten eigenen sich. Rapper erzählen Geschichten. Hier kann eine tiefe Auseinandersetzung
mit Biographien oder auch z.B. mit biblischen
Geschichten ihren Ort haben. Beispiel: Eine
Neuerzählung der Biographien von Jesus, Paulus
oder der Reformatoren, wie von beeindruckenden Gestalten aus neuerer Zeit, Neuerzählen der
Schöpfungsgeschichte.
Im Vorfeld eines RAP-Projektes sollte allerdings einiges beachtet werden:
• Jugendliche orientieren sich an ihren Idolen und
Vorbildern. Dadurch ergibt sich zwangsläufig,
dass sie überzogene Vorstellungen an Perfektion
haben. Es gilt, die Erwartungen auf dem Teppich
zu halten. Sie haben nicht die technischen Möglichkeiten wie ihre Vorbilder und brauchen sie
auch nicht.
• Die Gruppe, die einen RAP schreibt, sollte nicht
zu groß sein. Meiner Erfahrung nach eignen
sich am besten Gruppen um vier Jugendliche.
Man sollte Gruppen durch Schüler selbst bilden
lassen. Es besteht sonst die Gefahr, dass das
•
•
Projekt schon im Vorfeld abgeblockt wird. Wer
kreativ sein will, braucht die Umgebung, in der
er sich wohl fühlt.
Probleme können sich ergeben, wenn Jugendliche eine bestimmte Vorstellung von RAP schon
im Kopf haben. Ein Schüler der achten Klasse
sagte dazu: „Rappen können nur die Schwarzen. Alles andere ist Show.“ Dahinter steht die
Überzeugung, dass die Musik das Sprachrohr
der Schwarzen in den Ghettos ist. Nach solchen
Hardlinerpositionen wäre es auch undenkbar, dass Weiße einen Blues oder Soul singen
könnten. Ob man das aber problematisieren
möchte oder das Projekt trotzdem durchzieht,
hängt stark von der Stimmung ab, die dadurch
entsteht.
Problematisch kann werden, wenn die Jugendlichen „Grenzen des guten Geschmacks“ überschreiten. Die RAP-Vorbilder im Gangster-RAP
oder manche Fäkalausdrücke in bekannten
RAP-Hits geben oft ein gutes Beispiel für
Überschreitungen. So kam bei einem Lied zum
Thema „Gewalt“ der Vers: „Siehst Du einen
Nazi laufen, musst Du Dir ein Messer kaufen“.
Bei einem RAP über die Schulsituation kann es
vorkommen, dass Kollegen beleidigt werden.
Sinnvoll ist, erst einmal abzuwarten, ob der Vers
stehen bleibt. Wenn ich eingreife, lähme ich den
Schaffensprozess und mir werden Ergebnisse
nicht mehr unbefangen gezeigt. Wichtig ist, dass
im Vorfeld klargemacht wird, dass es die „Grenzen des guten Geschmacks“ gibt. Die Gesamtgruppe soll bei der Vorstellung entscheiden, wo
diese Grenzen überschritten werden. Bei offen
geführten Diskussionen gelingt es meist, dass
die Jugendlichen ihren Text überarbeiten und
entschärfen.
Zur Umsetzung empfiehlt es sich, dass die Schülergruppe
in Stichworten alles sammelt, was zu dem Thema gehört.
Dabei sollen nicht nur Inhalte, sondern auch Kommentierungen aufgeschrieben werden, da sie zur Authentizität des späteren RAP-Stückes Wesentliches beitragen.
Sinnvoll ist, zwei Notizzettel zu verwenden. Auf dem
einen werden die Stichworte gesammelt, auf dem anderen
werden Reime, Verse und fertige Ideen fixiert, die spontan kommen und sonst verloren gingen. Im Vorfeld soll
weiterhin geklärt werden, ob der RAP witzig oder ernst
sein soll, und ob der Text eine fiktive Geschichte oder
eine alltägliche Situation zum Inhalt hat. Schließlich ist
zu fragen, ob das Lied nur zum Nachdenken anregen oder
auch zum Handeln auffordern soll. Mit Hilfe des Stichwortzettels wird dann der RAP erstellt. Schwierigkeiten
bietet manchmal der Reim. Hier wird unter Umständen
der Lehrer gefordert sein, Hilfen zu geben und Reimworte
zu finden. Leitend soll sein, dass die Botschaft „rüberkommt“. Da kann man sowohl die künstlerische Freiheit
nutzen als auch Dialekt in den Reimen zulassen. Beson-
31
'bb' 111-1/2005
ders viel Zeit soll für den Refrain aufgewendet werden.
An ihm sollte deutlich werden, worum es in dem Lied geht
und was damit ausgedrückt werden soll.“19
4. Texte rhythmisch unterlegen
Zur Gestaltung einer Rhythmusgrundlage gibt es mehrere Möglichkeiten: Zum einen die „handwerkliche“, mit
Formen von Bodypercussion. Rhythmisches Klatschen
und Fußstampfen macht Schülern und Schülerinnen
immer noch Spaß20. Gleichwohl sollte es schrittweise mit
„warming up“ aufgebaut werden.21 Zum anderen verfügen
Schülerinnen und Schüler möglicherweise über weitergehende musikalische Fähigkeiten, die sie einbringen können. Inzwischen gibt es des weiteren auch Rapprogramme
für den PC, mit denen man den eigenen Sound gestalten
kann. Neben interessierten Kolleginnen und Kollegen aus
dem Fachbereich Musik haben vielleicht auch Schüler
Erfahrung oder Spaß einen eigenen Song zu entwickeln.
Manche Programme22 bieten inzwischen die Möglichkeit,
auch den gesprochenen und gesungenen Song aufzunehmen und eine eigene CD zu gestalten.
5. Ausprobieren
Im Rahmen einer Fortbildung entwickelte eine Arbeitsgruppe auf der Grundlage des 12. Psalms einen eigenen
Rap. Zeile für Zeile gingen wir den Psalm durch, suchten
nach vergleichbaren heutigen Situationen und Beispielen
und sammelten Begriffe und Stichworte und Synonyme.
Auf der Grundlage eines vorgegebenen Rhythmus entstand der vorliegende Rap (M8)23, der mit verteilten Rollen gesprochen wird.
Bemerkungen
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14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
Einsatz im Unterricht aufbereitet ist: Hannes Loh/ Sascha Verlan,
Arbeitsbuch HipHop, Verlag an der Ruhr, Mühlheim 2000. Hier
werden auch englischsprachige Texte angeboten.
Für den englischsprachigen Bereich: David Toop, Rap Attack,
Von African Jive bis Global HipHop, Hannibal 2000. Für den
deutschsprachigen Bereich: Hannes Loh/Sascha Verlan, 20
Jahre HipHop in Deutschland, Hannibal 2002
„Black Eyed Peas sind eine Multi-Kulti-HipHop Formation aus
L. A. Zunächst finden sich der Filipino „Apl De Ap“ und der
Schwarze „Will. I. Am“, die bereits 1994 unter dem Namen „Tribal Nation“ ihre erste Platte aufnehmen. Diese wird von Ruthless
Records jedoch nicht veröffentlicht. Also wechseln die beiden
zusammen mit dem Chachoney-Indianer „Taboo“ mit dem neuen
Bandnamen zu Interscope Records. Dort erwirbt sich das Trio
schnell einen guten Ruf als Live-Band. Das BEP Motto: LiveInstrumente statt Sampling. Auch wollen sie mit dem Bad Guy
Image der HipHop Community nichts zu tun haben. Ihre Lieder
handeln von wahrer Liebe, von Lebensfreude und Optimismus,
sollen tanzbar sein. 2001 erscheint „Bridging the gap“, ihr
zweites Album. Inzwischen gesellt sich die Sängerin „Fergie“ zu
ihnen, die sie bei Auftritten kennen gelernt haben. Das Quartett
verbringt zwei Jahre im Studio, um im Herbst 2003 das Album
„Elephunk“ zu präsentieren. Und ein ausgewachsener Hit ist
auch dabei: „Where is the love?“, ganz schnell die No.1 in England.“ (http://www.swr3.de/musik/poplexikon/3612.bio.html)
In Anlehnung an: Michael Landgraf, der in mehreren Artikeln
den Einsatz von Rapmusik und -texten dargestellt hat: Michael
Landgraf, Jugendkulturen, Religionspädagogische Hefte II/1997
Ausgabe A; M. L., „Hip-Hop-Hooray…“ in Religion heute, 1997,
S. 264–267.
Beispiele bei Michael Landgraf (Anm.17)
Bisher unveröffentlichtes Manuskript. Erscheint 2006 in: „Musik
in der religionspädagogischen Praxis“ Peter Bubmann (HG.) (Calwer Verlag)
Der Rhythmus des Queen-Klassikers „We will rock you“ ist ein
einfacher Anknüpfungspunkt.
Zur Arbeit mit Formen von Bodypercussion: Jürgen Zimmermann: JUBA Die Welt der Körperpercussion, Fidula-Verlag,
Boppard, 1999 (Buch/Videokassette)
Einfach zu bedienen fand ich das HipHop 4 Programm von
eJay. Auch die Firma MAGIX bietet eine HipHop Edition des
MusicMaker.
Text von Marianne Stein, Sassenburg
W 12; 74 Augenzeuge
Text und Weckers eigene Interpretation unter: http://www.martinschlu.de/kulturgeschichte/zwanzigstes/wecker/wecker201htm
Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling (Hg.), Band 5, Gesangbuchvorreden Lieder Gebete
1523–1545, S. 226
ebd.
Gerhard Hahn, Zur Dimension des Neuen an Luthers Kirchenliedern, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 1982, S. 100
ebd., S. 99
Martin Brecht, Martin Luther, Band 2, S. 132, Stuttgart 1986
Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling (Hg.), Band 5, Gesangbuchvorreden Lieder Gebete
1523–1545 Anm. 26, S. 300 (Markus Jenny)
Inge Mager, Martin Luthers Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“
und Psalm 46, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 1986,
S. 89
ebd., S. 90
ebd., S. 91
ebd., S. 92
Abgedruckt in Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling (Hg.), Band 5, Gesangbuchvorreden
Lieder Gebete 1523; Die Texte zeigen noch einmal in welcher
Weise der Katechismus verankert werden sollte.
Eine gute Auswahl deutschsprachiger Raptexte bietet: Sascha
Verlan, Rap-Texte. Arbeitstexte für den Unterricht, Reclam,
Stuttgart 2000. Hier findet sich auch eine informative Übersicht zur Geschichte des Rap. Gut gestaltet und für den direkten
32
'bb' 111-1/2005
M1
Ein Lied von den zwei Märtyrern Christi, zu Brüssel von den Sophisten von Löwen
verbannt, geschehen im Jahr 1523
1
Ein neues Lied wir heben an
– das walt Gott, unser Herre –,
zu singen, was Gott hat getan
zu seinem Lob und Ehre.
Zu Brüssel in dem Niederland
wohl durch zwei junge Knaben
hat er sein Wundermacht bekannt,
die er mit seinen Gaben
so reichlich hat gezieret.
2
Der erst mit Recht Johannes heißt, so
reich an Gottes Hulden,
sein Bruder Heinrich nach dem Geist,
ein rechter Christ ohn Schulden,
von dieser Welt geschieden sind.
Sie han die Krön erworben,
recht wie die frommen Gotteskind
für sein Wort sind gestorben;
sein Märtrer sind sie worden.
Die Stück sie zeich‘ten alle drein,
was ihr Glaub war gewesen.
Der höchste Irrrtum dieser war:
Man muß allein Gott glauben;
der Mensch lügt und trügt immerdar,
dem darf man nichts vertrauen.
Des mußten sie verbrennen.
8
Zwei große Feur sie zündten an;
die Knaben sie herbrachten.
Es nahm groß wunder jedermann, daß
sie solch Pein veracht‘en.
Mit Freuden sie sich schickten drein,
mit Gottes Lob und Singen.
Der Mut ward den Sophisten klein
vor diesen neuen Dingen,
daß sich Gott ließ so merken.
[Der jüngere Liedschluß:]
3
Der alte Feind sie fangen ließ,
erschreckt‘ sie lang mit Dräuen.
Das Wort Gotts er sie leugnen hieß,
mit List auch wollt sie ‘täuben.
Von Löwen der Sophisten viel
mit ihrer Kunst verloren
versammelt‘ er zu diesem Spiel.
Der Geist sie macht‘ zu Toren;
sie konnten nichts gewinnen.
9
Das Spiel sie nun gereuet hat,
sie wollten‘s gern schön machen.
Sie turn nicht rühmen sich der Tat;
verbergen gut die Sachen.
Die Schand im Herzen beißet sie
und klagen‘s ihm Genossen.
Doch kann der Geist nicht schweigen hie:
Des Abels Blut vergossen,
es muß den Kam melden.
4
Sie sangen süß, sie sangen säur,
versuchten manche Listen.
Die Knaben standen wie ein‘ Maur,
veracht‘en die Sophisten.
Den alten Feind das sehr verdroß,
daß er war überwunden
von solchen Jungen, er so groß.
Er ward voll Zorn; von Stund an
gedacht sie zu verbrennen.
10 Die Asche will nicht lassen ab,
sie stäubt in allen Landen.
Hie hilft kein Bach, Loch, Grub noch Grab;
sie macht den Feind Zuschanden.
Die er im Leben durch den Mord
zu schweigen hat gezwungen,
die muß er tot an allem Ort
mit aller Stimm und Zungen
gar fröhlich lassen singen.
5
Sie raubten ihn‘ das Klosterkleid,
die Weih sie ihn‘ auch nahmen.
Die Knaben waren des bereit;
sie sprachen fröhlich Amen.
Sie dankten ihrem Vater Gott,
daß sie los sollten werden
des Teufels Maskenspiel und Spott,
darin durch falsch Gebärden
die Welt er ganz betrüget.
[Der ältere Liedschluß:]
6
Das fügt‘ Gott durch sein Gnad also,
daß sie recht Priester worden,
sich selbst ihm mußten opfern do
und gehn im Christenorden,
der Welt ganz abgestorben sein,
die Heuchelei ablegen,
zum Himmel kommen frei und rein,
die Möncherei ausfegen
und Menschentand hier lassen.
7
Man schrieb ihn‘ vor ein Brieflein klein,
das hieß man sie selbst lesen.
11 Noch lassen sie ihr Lügen nicht,
den großen Mord zu schmücken:
Sie geben vor ein falsch Gedicht;
ihr Gwissen tut sie drücken.
Die Heilgen Gotts auch nach dem Tod
von ihn‘ gelästert werden.
Sie sagen, in der letzten Not
die Knaben noch auf Erden
sich sollen han bekehret.
12 Die laß man lügen immerhin;
sie haben‘s kleinen Frommen.
Wir sollen danken Gott darin;
sein Wort ist wiederkommen.
Der Sommer ist hart vor der Tür,
der Winter ist vergangen,
die zarten Blumen gehn herfür.
Der das hat angefangen,
der wird es wohl vollenden.
33
'bb' 111-1/2005
M2
EG 341
Nun freut euch, lieben Christen g‘mein
1. Nun freut euch, lieben Christen g‘mein,
und laßt uns fröhlich springen,
daß wir getrost und all in ein
mit Lust und Liebe singen,
was Gott an uns gewendet hat
und seine süße Wundertat;
gar teu‘r hat er‘s erworben.
7. Er sprach zu mir: »Halt dich an mich,
es soll dir jetzt gelingen;
ich geb mich selber ganz für dich,
da will ich für dich ringen;
denn ich bin dein und du bist mein,
und wo ich bleib, da sollst du sein,
uns soll der Feind nicht scheiden.
2. Dem Teufel ich gefangen lag,
im Tod war ich verloren,
mein Sünd mich quälte Nacht und Tag,
darin ich war geboren.
Ich fiel auch immer tiefer drein,
es war kein Guts am Leben mein,
die Sünd hatt‘ mich besessen.
8. Vergießen wird er mir mein Blut,
dazu mein Leben rauben;
das leid ich alles dir zugut,
das halt mit festem Glauben.
Den Tod verschlingt das Leben mein,
mein Unschuld trägt die Sünde dein,
da bist du selig worden.
3. Mein guten Werk, die galten nicht,
es war mit ihn‘ verdorben;
der frei Will haßte Gotts Gericht,
er war zum Gutn erstorben;
die Angst mich zu verzweifeln trieb,
daß nichts denn Sterben bei mir blieb,
zur Höllen mußt ich sinken.
9. Gen Himmel zu dem Vater mein
fahr ich von diesem Leben;
da will ich sein der Meister dein,
den Geist will ich dir geben,
der dich in Trübnis trösten soll
und lehren mich erkennen wohl
und in der Wahrheit leiten.
4. Da jammert Gott in Ewigkeit
mein Elend übermaßen;
er dacht an sein Barmherzigkeit,
er wollt mir helfen lassen;
er wandt zu mir das Vaterherz,
es war bei ihm fürwahr kein Scherz,
er ließ‘s sein Bestes kosten.
10. Was ich getan hab und gelehrt,
das sollst du tun und lehren,
damit das Reich Gotts werd gemehrt
zu Lob und seinen Ehren;
und hüt dich vor der Menschen Satz,[A]
davon verdirbt der edle Schatz:
das laß ich dir zur Letze.« [A] Satzung, Lehre
5. Er sprach zu seinem lieben Sohn:
»Die Zeit ist hier zu erbarmen;
fahr hin, meins Herzens werte Kron,
und sei das Heil dem Armen
und hilf ihm aus der Sünden Not,
erwürg für ihn den bittern Tod
und laß ihn mit dir leben.«
6. Der Sohn dem Vater g‘horsam ward,
er kam zu mir auf Erden
von einer Jungfrau rein und zart;
er sollt mein Bruder werden.
Gar heimlich führt er sein Gewalt,
er ging in meiner armen G‘stalt,
den Teufel wollt er fangen.
34
Text und Melodie: Martin Luther 1523
'bb' 111-1/2005
M3
EG 362 Ein feste Burg ist unser Gott
nach Psalm 46
1. Ein feste Burg ist unser Gott,
ein gute Wehr und Waffen.
Er hilft uns frei aus aller Not,
die uns jetzt hat betroffen.
Der alt böse Feind
mit Ernst er‘s jetzt meint;
groß Macht und viel List
sein grausam Rüstung ist,
auf Erd ist nicht seinsgleichen.
3. Und wenn die Welt voll Teufel wär
und wollt uns gar verschlingen,
so fürchten wir uns nicht so sehr,
es soll uns doch gelingen.
Der Fürst dieser Welt,
wie sau‘r er sich stellt,
tut er uns doch nicht;
das macht, er ist gericht‘:
ein Wörtlein kann ihn fällen.
2. Mit unsrer Macht ist nichts getan,
wir sind gar bald verloren;
es streit‘ für uns der rechte Mann,
den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist?
Er heißt Jesus Christ,
der Herr Zebaoth,
und ist kein andrer Gott,
das Feld muß er behalten.
4. Das Wort sie sollen lassen stahn
und kein‘ Dank dazu haben;
er ist bei uns wohl auf dem Plan
mit seinem Geist und Gaben.
Nehmen sie den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib:
laß fahren dahin,
sie haben‘s kein‘ Gewinn,
das Reich muß uns doch bleiben.
Text und Melodie: Martin Luther 1529
M4
Psalm 46
1 Ein Lied der Söhne Korach, vorzusingen, nach der Weise »Jungfrauen«.
2 Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten,
die uns getroffen haben.
3 Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge
und die Berge mitten ins Meer sänken,
4 wenngleich das Meer wütete
und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen. SELA.[A]
5 Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren [a] Brünnlein,
da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind.[A]
6 Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie festbleiben; Gott hilft ihr früh am Morgen.
7 Die Heiden müssen verzagen und die Königreiche fallen, das Erdreich muß vergehen, wenn er sich hören läßt.
8 Der HERR Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz. SELA.
9 [a] Kommt her und schauet die Werke des HERRN, der auf Erden solch ein Zerstören anrichtet,
10 der den Kriegen steuert in aller Welt, der [a] Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt.
11 Seid stille und erkennet, daß ich Gott bin! Ich will der Höchste sein unter den Heiden, der Höchste auf Erden.
12 Der HERR Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz. SELA.
35
'bb' 111-1/2005
M5
Where Is The Love? (Black Eyed Peas)
What‘s wrong with the world, mama
People livin‘ like they ain‘t got no mamas
I think the whole world addicted to the drama
Only attracted to things that‘ll bring you trauma
Overseas, yeah, we try to stop terrorism
But we still got terrorists here livin‘
In the USA, the big CIA
The Bloods and The Crips and the KKK
But if you only have love for your own race
Then you only leave space to discriminate
And to discriminate only generates hate
And when you hate then you‘re bound to get irate, yeah
Badness is what you demonstrate
And that‘s exactly how a n**** works and operates
N**, you gotta have love just to set it straight
Take control of your mind and meditate
Let your soul gravitate to the love, y‘all, y‘all
People killin‘, people dyin‘
Children hurt and you hear them cryin‘
Can you practice what you preach
And would you turn the other cheek
Father, Father, Father help us
Send us some guidance from above
‚Cause people got me, got me questionin‘
Where is the love (Love)
Where is the love (The love)
Where is the love (The love)
Where is the love
The love, the love
It just ain‘t the same, always unchanged
New days are strange, is the world insane
If love and peace is so strong
Why are there pieces of love that don‘t belong
Nations droppin‘ bombs
Chemical gasses fillin‘ lungs of little ones
With the ongoin‘ sufferin‘ as the youth die young
So ask yourself is the lovin‘ really gone
So I could ask myself really what is goin‘ wrong
In this world that we livin‘ in people keep on givin‘ in
Makin‘ wrong decisions, only visions of them dividends
Not respectin‘ each other, deny thy brother
A war is goin‘ on but the reason‘s undercover
The truth is kept secret, it‘s swept under the rug
If you never know truth then you never know love
Where‘s the love, y‘all, come on (I don‘t know)
Where‘s the truth, y‘all, come on (I don‘t know)
Where‘s the love, y‘all
People killin‘, people dyin‘
Children hurt and you hear them cryin‘
Can you practice what you preach
And would you turn the other cheek
Father, Father, Father help us
Send us some guidance from above
‚Cause people got me, got me questionin‘
Where is the love (Love)
Where is the love (The love)
Where is the love (The love)
Where is the love
The love, the love
I feel the weight of the world on my shoulder
As I‘m gettin‘ older, y‘all, people gets colder
Most of us only care about money makin‘
Selfishness got us followin‘ our own direction
Wrong information always shown by the media
Negative images is the main criteria
Infecting the young minds faster than bacteria
Kids act like what they see in the cinema
Yo‘, whatever happened to the values of humanity
Whatever happened to the fairness in equality
Instead in spreading love we spreading animosity
Lack of understanding, leading lives away from unity
That‘s the reason why sometimes I‘m feelin‘ under
That‘s the reason why sometimes I‘m feelin‘ down
There‘s no wonder why sometimes I‘m feelin‘ under
Gotta keep my faith alive to lovers bound
People killin‘, people dyin‘
Children hurt and you hear them cryin‘
Can you practice what you preach
And would you turn the other cheek
Father, Father, Father help us
Send us some guidance from above
‚Cause people got me, got me questionin‘
Where is the love (Love)
Where is the love (The love)
Where is the love (The love)
Where is the love (The love)
Elephunk Album
36
'bb' 111-1/2005
M6
Fast Forward – ‚verlorn‘ (1996)
geborn und schon verlorn ...
ich sehe uns noch damals vorn
paar jahrn, als wir noch kleine kiddies warn
ich hab mir selbst gesagt, das leben ist kein akt
hab hingehört, was mein alter mir erklärt, und befolgt
was er gewollt hat.
geduld gehabt und selbstvertraun,
hey alle herschaun,
was ich kann
und ich weiß genau irgendwann
macht sich das alles bezahlt,
wenn ich nur durchhalt.
ah mann, was hab ich mir für dann nicht ausgemalt
party ohne ende, wie ich geld verschwende, ich sende
was gäb ich nicht dafür, wenn ich das feeling
wiederfände
ich find keinen sinn mehr und weiß auch nicht wohin,
war zu klein um klar zu sehn, zu verstehn
ein ziel gesteckt, geackert und ich hätts gepackt
hätt mich nicht ein tag total aus dem takt gebracht
ich dacht, ich steck das schon so weg
mann, du ahnst wahrscheinlich gar nicht, wie oft ich
daran denk
wann das vorbei ist, wann wird es enden
versuch mein leben festzuhalten, es zerrinnt in meinen
händen
sah alles an mir vorbei ziehn, am boden auf den knien,
hab raps geschrieben und nur geschrien
jederzeit bereit, nicht weit davon aufzugeben
dabei hätt ich so viel zu geben ... was ist das für ein
leben?
scheißegal was ich anpack, ich seh kein ziel,
ich kenn zwar die Spielregeln, doch ich weiß, dies hier ist
kein spiel
Refrain:
these are feelings i‘m expressin through my rhymes
ich rack ein paar sixpacks becks direkt vom eck
und ex eins davon sofort weg,
bis ich den ekel nicht mehr schmeck,
wie oft bin ich nicht so blau gewesen?
hab alles doppelt doppelt... gesehn,
lass das karussell drehn
schön! ein paar runden ruhe gefunden für ein paar
stunden,
ich trink exzessiv und wird trotzdem depressiv,
ich hab mehr scheiße im hirn als jede kläranlage
reinigen kann,
mann, mit dreiundzwanzig jahrn, kein plan.
ich seh, wie der sand weiterrinnt durch das glas, kind,
hör‘s aus erster hand von jemand,
der die dunkle seite kennt, nichts und niemand kriegt
mich jemals klein
weiß, was ich kann, doch ich weiß, ihr gebt‘n scheiß
dafür
dann kommt‘s mir wieder hoch, egal wo ich anruf bei
mzee* oder in der Industrie, keine zeit
und keine arbeit, shit, so geht das tag für tag,
doch ich weiß es gibt da draußen jemand, der mich für
das, was ich mache, mag
denn sie wissen, ich bin gut, aber ziemlich kaputt
ich fühl mich manchmal so müde und manchmal tot
hab zu viel zeit allein verbracht, zu viel nachgedacht
komm, halt mich, ich hab zwar nur ein herz aus scheiße
aber ich will, dass du weißt, du gibst mir kraft, dass ich‘s
schaff
mein herz in deinen händen,
baby ich weiß nicht, ob du verstehn kannst, was ich hier
erzähl, hm?
manchmal nur millimeter vom nichts entfernt
ist jemand da, der mir leuchtet, wenn‘s dunkel wird, und
mich wärmt
niemals vergess ich euch, vera, rabbi und boba-fett
scope, tuareg,
ich war nur dreck, wenn ich euch nicht hätt
*
MZEE, HipHop-Plattenfirma aus Köln, die sich in besonderer Weise dem Untergrund verpflichtet fühlt, ohne dies
allerdings im täglichen Geschäft umsetzen zu können
37
'bb' 111-1/2005
M7
Thomas D
Lektionen in Demut
Die Welt ist verloren,
wenn du dich aufgibst
mit allem was du verurteilst,
verurteilst du dich selbst.
Etwas abzulehnen heißt,
einen Teil der Schöpfung zu nehmen.
Mich nennen sie den wandernden Wissenschaftler, und
meine Fähigkeiten können dir von Nutzen sein. Mit Hilfe
meines Instrumentariums gebe ich dir die Möglichkeit zu
erkennen, wer du wirklich bist, und „Reflektor“, ich rat dir:
nimm diese.
Lektionen in Demut
Schalte Deine Reflektoren ab Falke
Reflektionen sind hier fehl am Platz – ich verwalte
deine Welt für eine Weile gib dich mir ganz hin
bis ich tief in dir drin endlich allein mit dir bin
Du kannst dich deiner Lektion nicht entziehn
– egal ob du dich mir stellst
du kann von allem fliehn nur nicht vor dir selbst
du redet dich um Kopf und Kragen als ob’s um dein
Leben ging
und alles Glück dieser Welt an deinem Ego hing.
Du willst ein Held sein – dein Kartenhaus fällt ein
denn deine Welt kann nur ein Spiegel deines selbst sein
du bist allein nur ein halber Mensch und so fehlbar
und die Stimmen in dir drinnen sind unzählbar
doch vergiss nicht vor dem Sturz steht der Hochmut
und nach dem Fall folgen Lektionen in Demut
Knie nieder Nichts und danke der Welt
dass sie dir ein Zuhause gibt und dich am Leben hält
und dann erhebe dich Prinz nutze deine Macht gut
nimm die Lektionen des Lebens in Demut
Du hast die Wahl ob hier das Paradies
oder die Hölle ist
denn du bist Schöpfer deiner Welt
obwohl du Teil von ihr bist
du trägst Verantwortung für alles
was in deinem Leben geht
und auch ein Stück vom Herzen eines jeden
der dir nahe steht
und wenn du dich dennoch fühlst
wie jemand der alles verloren hat
und Gott die Schuld gibst
nur weil er dich geboren hat
denn wird es Zeit dass dich endlich
38
jemand am Kragen packt
dich schüttelt und dir sagt dass er‘s nur 1mal sagt
Du willst ein Held sein – dann tritt für die Welt ein
und lass die Liebe wieder
Spiegel deines selbst sein
es ist deines Lebens Ziel dass du es auch liebst
und du gewinnst dein Egospiel
wenn du es aufgibst
du hast dir Liebe geschworen
und hast dazu den Mut
dann wirst du neu geboren
durch Lektionen in Demut
Knie nieder und danke der Welt
dass sie dir ein Zuhause gibt und dich am Leben hält
und dann erhebe dich – nutze deine Macht gut
nimm die Lektionen des Lebens in Demut
Ich fühl mich schwach und müde –
als hätt ich Tage nicht geschlafen
als bliebe ich wach
und übte mich darin mich zu bestrafen
der der einst so groß war
endet als Hofnarr
– doch ich erhebe mich – strebe zum Licht
fühl mich wie ein neues Wesen
das zum ersten Mal spricht
ich bin bereit auf das zu hören
was mein Leben mir zu sagen hat
Erkenntnis zu erfahren die man am Ende
aller Fragen hat
den Zustand zu bewahren um alles fliessen zu lassen
um die Freiheit zu erfassen
alle Ängste überwindend hab ich mein Ziel erreicht
und spür die Kraft in meinem Innern
die dem Universum gleicht
was das Leben jedem Wesen mitgegeben hat
fliesst durch jede meiner Venen wie Starkstrom
Und ich werde der Held meiner Welt sein
im großen Kampf um eure Seelen
seit ihr nicht mehr allein
es fallen endlich alle Regeln und Barrieren ab
und ich seh was ich noch zu
regeln und zu klären hab
Ich bete ein „Ich verzeih dir“
und ein „Es tut mir Leid“
zur Klärung der Vergangenheit
(aus der CD: Thomas D – Lektionen in Demut, Four music,
2001; gesperrt gedruckt: Textzugabe im Booklet der CD)
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M8
Psalm 12
1 Ein Psalm Davids, vorzusingen, auf acht Saiten.
2 Hilf, HERR! Die Heiligen haben abgenommen, und gläubig sind wenige unter den Menschenkindern.
3 Einer redet mit dem andern Lug und Trug, sie heucheln und reden aus zwiespältigem Herzen.
4 Der HERR wolle ausrotten alle Heuchelei und die Zunge, die hoffärtig redet,
5 die da sagen: [a] »Durch unsere Zunge sind wir mächtig, uns gebührt zu reden! [b] Wer ist unser Herr?«
6 »Weil die Elenden Gewalt leiden und die Armen seufzen, will ich jetzt aufstehen«, spricht der HERR, »ich
will Hilfe schaffen dem, der sich danach sehnt.«
7 Die Worte des HERRN sind lauter wie Silber, im Tiegel geschmolzen, geläutert siebenmal.
8 Du, HERR, wollest sie bewahren und uns behüten vor diesem Geschlecht ewiglich!
9 Denn Gottlose gehen allenthalben einher, weil Gemeinheit herrscht unter den Menschenkindern.
Psalm 12 Rap
Ich ruf dich an, denn ich kanns nicht verdaun,
den anderen, denen fehlts doch an Göttvertraun.
Sie haben leider keine Tugenden und Werte,
Vorbilder sind nicht da, weshalb ich mich beschwere.
Die werte Wahrheit fehlt, sie lügen und bescheißen.
Sie tun so als ob, doch sie wollen die Welt einreißen,
heißen sie jetzt Schleimer oder einfach falsche
Schlange.
Sie sind total kaputt und das weiß ich doch
schon lange.
Refrain
Ich, euer Chef, ich räume endlich auf.
Ihr lautes Schrein, das nehme ich in Kauf.
„Lauf“, rufen alle, wenn sie mich erspähn.
Denn für euch kleine Leute, will ich jetzt aufstehn.
Refrain
Ich, euer Chef, ich räume endlich auf.
Ihr lautes Schrein, das nehme ich in Kauf.
„Lauf“, rufen alle, wenn sie mich erspähn.
Denn für euch kleine Leute, will ich jetzt aufstehn.
Ich steh euch bei, weil ihr euch so klein fühlt.
Durch euren Ruf bin ich ganz aufgewühlt.
Ich helfe dem, der es will, fühlt ihr das denn nicht?
Power und Gewalt, damit geh‘ ich ins Gericht.
Nicht allein und verlassen und alles für die Katz.
Denn das Wort des Herrn ist wie ein Silberschatz.
Egoismus regiert die Welt, jeder denkt nur an sich,
Herr, halte dein Versprechen und beschütze mich.
Opportunistisch und selbstgerecht sind sie,
arrogant dazu, doch so erreichen sie dich nie.
Wie eingebildet sie auch wieder tun,
Chef, mach sie klein, dann kann ich sicher ruhn.
Nun, sie geben an und fühlen sich wirklich prächtig.
Mit ihrem großen Maul scheinen sie nur mächtig.
Ich weiß genau, die Wortführer sind still,
wenn du nur sagst: „Ihr Großmäuler, ich will!“
39
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M9
DER 12. PSALM: SALVUM ME FAC, DOMINE
Ach Gott, vom Himmel sieh darein
und laß dich das erbarmen,
wie wenig sind der Heiligen dein;
verlassen sind wir Armen.
Dein „Wort man läßt nicht haben wahr;
der Glaub ist auch erloschen gar
bei allen Menschenkindern.
Sie lehren eitel falsche List,
was eigner Geist erfindet.
Ihr Herz nicht eines Sinnes ist
in Gottes Wort gegründet.
Der wählet dies, der andre das;
sie trennen uns ohn alle Maß
und gleißen schön von außen.
Gott woll ausrotten alle Lahr‘,
die falschen Schein uns lehren.
Dazu ihr Zung stolz offenbar
spricht: »Trotz, wer wills uns wehren?
Wir haben Recht und Macht allein;
was wir setzen, gilt allgemein.
Wer ist, der uns darf meistern?«
Darum spricht Gott: »Ich muß auf sein;
die Armen sind verstöret.
Ihr Seufzen dringt zu mir herein;
ich hab ihr Klag erhöret.
Mein heilsam Wort soll auf den Plan,
getrost und frisch sie greifen an
und sein die Kraft der Armen.«
Das Silber, durchs Feur siebenmal
bewährt, wird lauter funden.
Am Gotteswort man warten soll
desgleichen alle Stunden.
Es will durchs Kreuz bewähret sein;
da wird sein Kraft erkannt und Schein
und leucht‘ stark in die Lande.
Das wollst du, Gott, bewahren rein
vor diesem argen Gschlechte,
und laß uns dir befohlen sein;
daß sich‘s in uns nicht flechte.
Der gottlos Hauf sich umher findt,
wo diese losen Leute sind
in deinem Volk erhaben.
M10
„Großer Gott, ich lobe mich
Und ich preise meine Stärke.
Meine Hoffnung richtet sich
Auf die Wirkung meiner Werke,
denn nur so bin ich bereit
für dich und die Ewigkeit.“
Ein aktuelles Beispiel für die Verbindung einer bekannten Melodie mit einem neuen Text. Gleichzeitig könnte dieser Text als
Zeitkommentar in Gegenüberstellung zum bekannten Choral „Großer Gott, wir loben dich“ (EG 331) benutzt werden. Er wurde von
Frank Nitsche, Braunschweig, erstellt.
40
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M11
Reimtechniken
Je nach Fertigkeit und Ziel eines Liedes benutzt ein Rapper verschiedene Reimtechniken um seinen Text zu formulieren.
- Standardreim: Ein Reim gilt als Standardreim, wenn das Reimen zweier Wörter unmittelbar ersichtlich und
leicht zu erkennen ist. Sehr niedriges Niveau.
Haus – Applaus – Maus
Mund – rund
- Zweckreim: Ein reimendes Wort, das anscheinend nur an seiner Stelle im Text auftaucht um seine Funktion
als Reim auszuführen, aber vom Sinn her nicht richtig in den Text passen will. Niedriges Niveau.
- Double: Immer das letzte Wort einer Zeile reimt sich auf das letzte Wort der folgenden Zeile, wobei immer 2
Zeilen ein Reimpaar bilden. Gilt in vielen Kreisen als primitiv.
Ich bin im Rappen der größte auf der Welt
Die Frauen lieben mich und mein Geld.
- Mehrsilbiger Reim: Die letzten Silben einer Zeile reimen sich auf die letzten Silben der folgenden Zeile. Je
mehr silben sich reimen als umso fortgeschrittener gilt diese Technik.
Für ihn lief es leider dumm
Sein Haus kam zur Versteigerung
- Durchgezogener Reim: Ein einfacher oder Mehrsilbiger Reim auf die selbe(n) Endungen, läuft durch 4, 6, 8
usw aufeinanderfolgende Zeilen. Gerade in Verbindung mit rekursiven Reimen sehr fortgeschrittene Technik.
- Rekursiver Reim: Steht nach einem Double am Anfang der nächsten Zeile und reimt sich noch einmal auf
die Silbe(n) des Doubles. Gibt einen angenehmen Effekt beim Hören und gilt als niveauvoll.
Ich bin im Rappen der größte auf der Welt
Die Frauen lieben mich und mein Geld.
Held, sagen alle die mich sehen.
- False Way: Eine Zeile und der Anfang der folgenden werden so gebaut, dass vom Reim und Sinn der Eindruck entsteht in der zweiten Zeile müsse am Ende ein Standardreim stehen. Stattdessen benutzt der Rapper
aber ein ganz anderes Wort, dass vom Sinn her auch richtig ist aber sich nicht reimt. Eher in scherzhaft
gemeinten Texten vorzufinden.
Von Politik hab ich keine Peilung
dafür lese ich zu wenig Videotext (erwartet wird Zeitung)
- Wortwiederholung: Das letzte Wort (oder mehrere Wörter) von zwei Zeilen sind gleich. Dabei können die
Wörter auch eine andere Bedeutungen haben.
fangt endlich an zu überlegen
ich bin euch allen überlegen
Flowtechniken
-
-
-
-
Normal: Der Rapper spricht schlicht im Takt. Eine einfache und häufig gefundene Variante.
Doubletime: Der Rapper „flowt“ doppelt so schnell, wie man die normale Geschwindigkeit ansetzen würde.
Diese Technik erfordert etwas Übung, damit man weder den Takt verfehlt noch akustisch unverständlich
wird. Diese Technik wird gut von Eminem als US-Rapper, Curse als deutschen Rapper und Kespa als Untergrund-Rapper beherrscht.
Tripletime: Die Königsdisziplin im Schnell-Rappen. Der Rapper „flowt“ dreimal so schnell, wie man die
normale Geschwindigkeit ansetzen würde. Wird nur von ganz wenigen Rapper beherrscht. Beispiele: Twista
(Amerika), Chablife als deutsche Rapper und Pitvalid und Stiefvater im Untergrund.
Gesang: Der Rapper flowt (teilweise auch schnell) seinen Text, wobei er mit seiner Stimmlage eine Melodie
abläuft. Unterscheidet sich zum normalen Singen dadurch, dass der Gesang beim „flown“ meistens schneller
ist, dafür die Melodie wenig kompliziert ist. Findet sich oft in Refrains.
Aus: Wikipedia, der freien Enzyklopädie
41
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u-einheit:
der menschliche wille –
frei oder unfrei?
die auseinandersetzung zwischen erasmus
und luther als kursthema
hans-georg babke
1. Argumente für das Kursthema
a. Der Streit zwischen Erasmus und Luther, ob der
Mensch über einen freien Willen verfügt oder nicht, ist
hochaktuell. In der Gegenwart wurde er ausgelöst durch
Deutungen promi­nenter Hirnforscher, wie Wolfgang Singer (Frankfurt) oder Gerhard Roth (Bremen). „Wir sind
determiniert. Die Hirnforschung befreit von Illusionen.“
(Roth)1 „Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden.“ (Singer)2 Gegenüber der vom
Idealis­mus beeinflussten Auffassung von der Autonomie
des Willens, die sich dem Geist verdankt und über die
Materie herrscht (u. a. John C. Eccles3) (M4), und gegenüber der Emergenztheorie, nach der sich der freie Wille
zusammen mit dem Bewusstsein in einer Art evolutionären Sprungs aus der komplexer gewordenen Materie als
etwas qualitativ Anderes herausentwickelt hat (u. a. Karl
Popper4), vertreten Roth und Singer eine materialistische
bzw. naturalistische Auffassung, nach der alle Entscheidungen im Wesentlichen das Ergebnis festgelegter neuro­
naler und damit materieller Prozesse seien. Hierbei wird
auch Bezug genommen auf die Expe­rimente des Neurophysiologen Benjamin Libet, nach denen Hirnaktivitäten
den bewussten Handlungsentschei­dungen vorausgehen,
so dass sie unsere Entscheidungen determinie­ren. In kritischer Absicht beurteilt Christian Geyer diese Position
mit den Worten: „Das Mentale ist bloß ein Epiphänomen
des Neuronalen…“5 Einschlägige Texte findet man in
dem von Geyer herausgegebenen Sammelband oder als
Abstracts unter http://www.sprache-wer­ner.info/gehirn.de.
Auffällig ist hier, dass es Geisteswissenschaftler sind, die
die Willensfrei­heit behaupten, und Naturwissenschaftler,
die sie bestreiten. Sehr wahrscheinlich würde die heutige
Theologie die geisteswissenschaftliche Position vertreten. Ganz im Gegensatz zu Lu­ther, der – freilich unter
anderen Voraussetzungen und mit anderen Argumenten –
die Wil­lensfreiheit zumindest in Heilsangelegenheiten
bestreitet. Anders als die Hirnphysiologie spricht er aber
doch von der Sonderstellung des mit Bewusstsein ausgestatteten Menschen und von einer relativen Wahlfreiheit
in Bezug auf die dem Menschen zur Verfügung stehen­den
Dinge der Welt.6
42
b. Das Kursthema eignet sich besonders für das Schwerpunktthema „Anthropologie“, das für das Zentralabitur
2006 und 2007 in Niedersachsen festgelegt wurde. Mit
dieser Thematik kann eine Verbindung geschaffen werden
zwischen den Subthemen „Rechtfertigung“ (Thematischer Schwerpunkt 1: Elementare Aspekte 4.4, aber auch
4.2–4.3) und „Bioethik“, indem nämlich nach den Bedingungen der Möglichkeit ethischen Handelns über­haupt
gefragt wird. Die Kursthematik trägt ebenfalls der Forderung Rechnung, dass die Schwerpunktthemen des Abiturs
keine Semesterthemen sein sollen.
c. Mit der leicht erschließbaren und kurzen Schrift „Vom
freien Willen“7 von Erasmus (kurz: Diatribe) kann im
Unterricht eine Ganzschrift statt der sonst üblichen Textfragmente behan­delt werden. Den wichtigen Textstellen
können signifikante Ausschnitte aus Luthers Gegen­schrift
„Vom unfreien Willen“8 gegenüber gestellt werden. Auf
diese Weise bekommen die Schüler zwei vollständige
Positionen mit den entsprechenden Argumenten geboten,
was ihnen das Verständnis im Gegensatz zu den sonstigen Textfragmenten erleichtert. Hierfür ist es vorteilhaft,
dass sich einerseits Luther methodisch an der Disposition der Diatribe des Eras­mus orientiert und dass andererseits im Anhang der Erasmus-Schrift eine Tabelle der
Ver­gleichsstellen beigefügt ist. Das erleichtert die Suche
nach den Kontrasttexten Luthers unge­mein. Ein weiterer
Vorteil besteht darin, dass die Schüler der Kursstufe auf
erhöhtem Anfor­derungsniveau mit den Grundlagen des
Protestantismus vertraut gemacht werden.
2. Sachanalyse
Erasmus von Rotterdam (1466/9-1536), prominenter
Humanist, veröffentlichte 1524 seine Schrift „De libero
arbitrio diatribae sive collatio“9, kurz Diatribe. Er setzt
sich hier ausdrück­lich mit Luthers Position auseinander,
die dieser sowohl 1518 in der Heidelberger Disputation
(13. These) und verschärft 1520 nach der Verbrennung
der Bannandrohungsbulle veröffent­licht hatte. Hatte
Luther zunächst behauptet, dass der freie Wille nach
dem Sündenfall „nur dem Namen nach eine Sache“ sei,
d.h. dass der Begriff sich semantisch nicht auf einen
Ge­genstand bezieht, präzisiert er das später mit der For-
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mulierung, dass der freie Wille „ein Name ohne Sache“
sei. Denn es stehe in niemandes Vermögen, „etwas Böses
oder Gutes zu ersinnen“, vielmehr geschehe alles „durch
eine absolute Notwendigkeit“.10
Die Ablehnung der Willensfreiheit bei Luther ist ein
unmittelbarer Ausfluss aus seiner Recht­fertigungslehre,
nach der das Heil des Menschen ohne jegliches Zutun
des Menschen, also rein passiv, zustande kommt. Nicht
einmal die Entscheidung für oder gegen die Annahme der
externen Rechtfertigung ist Sache des Menschen. Jegliche
Mitwirkung des Menschen dabei wäre ein Einfallstor für
die von Luther bekämpfte aktive Leistungsgerechtigkeit.
So ist nicht nur der Zuspruch unverdienter Gnade etwas
von außen Kommendes, sondern auch der Glaube als
Heilsgewissheit. Das legt Luther ausführlich in seiner
polemischen Schrift „Vom unfreien Willen“ aus dem Jahre
1525 dar.
Erasmus dagegen hatte trotz seiner Zustimmung
zur überwiegenden Externität der Gnade wenigstens
die Zustimmung oder Ablehnung des Menschen dessen
freier Willensentschei­dung zugestanden. Am Ende des
1. Kapitels, das zwei Vorreden enthält, in denen er u.a.
Me­thodenfragen klärt und seine skeptische Haltung
gegenüber assertorischen Wahrheitsansprü­chen kundtut,
definiert Erasmus den freien Willen so: „Unter freiem Willen verstehen wir in diesem Zusammenhang das Vermögen des menschlichen Willens, mit dem der Mensch sich
dem, was zur ewigen Seligkeit führt, zuwenden oder von
ihm abwenden kann.“11
Im 2. Kapitel werden dann Beweise aus dem AT und
NT für die Willensfreiheit angeführt. Aus den Forderungen der Bibel, dass der Mensch Gutes tun soll, wird
geschlossen, dass er auch Gutes tun kann, weil ansonsten die Forderungen sinnlos wären. Das „Du sollst“ wird
theoretisch fundiert in einem vorgängigen „Du kannst“.
Das erinnert unmittelbar an die spä­tere Auffassung
Kants, der die Autonomie der Sittlichkeit und das Apriori
des Kategorischen Imperativs ebenfalls so begründete.
Am Beispiel eines ethischen Konflikts sagt Kant über den
Akteur: „Er urteilet also, dass er etwas kann, darum weil
er sich bewusst ist, dass er es soll, und erkennt in sich die
Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblie­ben wäre.“12 Das Tun-Können ist hier wie bei
Erasmus eine notwendige Implikation des Tun-Sollens.
Eine Funktion des moralischen Gesetzes ist damit die
Erkenntnis der Freiheit des Willens, dementsprechend zu
handeln. Das ist die wesentliche Argumentationsstruktur
bei Erasmus. Und wie an Kant gesehen, hat in der Wirkungsgeschichte Erasmus in dieser Frage den Sieg über
Luther davongetragen.
Im 3. Kapitel werden Gegenbeweise der Bibel und solche Luthers als bloß scheinbare Gegen­beweise entlarvt.
Im 4. Kapitel wird dann eine Zusammenfassung der
Befunde geboten. Besonders hervorzuhe­ben sind hier
die Konsequenzen, die Erasmus für das Theodizeeproblem zieht, wenn es keinen freien Willen gäbe. Dann wäre
nämlich Gott der Verursacher aller Übel, nicht nur der
meta­physischen, wie des Todes und angeborener Behinde-
rungen, sondern auch der vermeidbaren moralischen Übel,
die von Menschen verursacht werden. Menschliche Sünde
könnte dem Menschen nicht mehr zugerechnet werden.
Auch hier gibt es wieder Verbindungen zu der Auffassung
heutiger Hirnforscher, die Konsequenzen für die Schuldfähigkeit und das Straf­recht aus der Determinertheit der
Handlungen ziehen
Erasmus gesteht zwar – wie gesagt – zu, dass der
Mensch überwiegend von der Gnade Gottes lebt: von der
natürlichen Schöpfungsgnade, die jedem Menschen zuteil
wird und die trotz des Sündenfalls wirksam ist, von der
anregenden Gnade, die den Menschen zur Reue führt,
von der mitwirkenden Gnade, die den menschlichen Willen zur Heilsentscheidung fördert, und von der Gnade, die
schließlich zum Ziel führt. Dem Menschen und seinem
freien Willen wird jedoch jenes Maß an aktiver Mitwirkung eingeräumt, dass er strebend sich bemühen kann,
ohne dass freilich dieses Bemühen und das Ergebnis
der Bemühung der eigenen Kraft zuge­schrieben werden
könnten.13
Von der Definition des freien Willens als Vermögen,
sich dem zuzuwenden oder von dem abzuwenden, „was
zur ewigen Seligkeit führt“, steht der Mensch bei Erasmus tendenziell als neutraler Beobachter den unterschiedlichen Möglichkeiten des Selbst- und Weltverständnis­ses,
die gleichsam in einiger Entfernung vor ihm liegen und
ihm zur beliebigen Verfügung stehen, gegenüber, so dass
er frei zwischen ihnen wählen kann.
Luthers Ablehnung der Willensfreiheit geht dagegen
von einem ganz anderen Weltverständ­nis und Menschenbild aus. Der Mensch ist das ganz und gar nicht autonome
und neutrale In­dividuum. Vielmehr sind die Welt und in
ihr die Menschen der Kampfplatz zweier überindi­vidueller
Mächte: Der Kampfplatz von Gott und Satan. Durch den
Sündenfall Adams steht der Mensch mit der ihm angeborenen Eigenmächtigkeit und dem Willen, sein eigener
Gott zu sein, schon immer unter der Herrschaft Satans.
Nicht nur das Tun des Bösen ist Sünde, son­dern vor allem
auch das eigenmächtige, zweckorientierte Tun des Guten,
mit dem das eigene Daseinsrecht legitimiert werden soll.
Durch den Sündenfall hat sich die Welt ontologisch ver­
ändert. Der Mensch findet sich schon immer in der Sünde
der Eigenmächtigkeit vor (Erb­sünde). „Da eben die Auflehnung gegen Gott die Natur des Teufels kennzeichnet,
sind alle Menschen im Tun der Sünde dem Teufel gehorsam und gehören, sobald sie die Grundsünde der superbia
bejahen, zum unsichtbaren Reich des Teufels.“14 Oder mit
den Worten Luthers: „So ist der menschliche Wille in die
Mitte gestellt (zwischen Gott und Satan) wie ein Zugtier.
Wenn Gott sich darauf gesetzt hat, will er und geht, wohin
Gott will… Wenn Satan sich dar­auf gesetzt hat, will er
und geht, wohin Satan will. Und es steht nicht in seiner
freien Ent­scheidung, zu einem von beiden Reitern zu
laufen und ihn sich zu verschaffen zu suchen, sondern die
Reiter selber kämpfen miteinander, ihn zu erlangen oder
zu besitzen.“15 Die Men­schen sind bloß passive Objekte
des einen oder anderen Herrn, Marionetten in einem kos­
misch-apokalyptischen Entscheidungskampf. Zwar ist
43
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Gott allmächtig und herrscht auch über das Böse, gleichwohl hat das Böse aber noch Macht über die Menschen.
Der Wille des Men­schen ist dermaßen durch die Eigenmächtigkeit verderbt, dass er sogar blind ist gegenüber
der eigenen Sündhaftigkeit. Auch an dieser Stelle gibt es
eine Strukturähnlichkeit zur gegenwärti­gen Diskussion:
Die Deterministen empfinden es als eine List der Natur,
dass der in seinen Entscheidungen festgelegte Mensch
sich als frei Handelnder wähnt.
Gegen Erasmus betont Luther bei der Erörterung des
Theodizeeproblems16, dass Gott zugleich allmächtig,
allgütig und allwissend sei. Zur Allmacht Gottes gehöre
es, dass er die Menschen bewege und diese nicht untätig seien. Dadurch würden die Menschen angetrieben, in
ihren selbstmächtigen Verhalten fortzufahren. Gott ist
gut und nicht böse, er treibt jedoch die Bösen an, ihre
Bosheit fortzusetzen. „Die Allmacht Gottes bewirkt,
dass der Gottlose dem Antrieb und dem Handeln Gottes
nicht entrinnen kann, sondern ihm zwangsnotwendig
unter­worfen gehorcht. Die Verderbtheit bzw. die Abkehr
seiner selbst von Gott bewirkt, dass er nicht in Richtung
auf das Gute bewegt und fortgerissen werden kann. Gott
kann seine All­macht nicht hintansetzen um der Abkehr
jenes willen, der Gottlose aber kann seine Abkehr
nicht ändern. So geschieht es, dass er fortwährend und
zwangsnotwendig sündigen muß, bis er durch den Geist
Gottes auf den rechten Weg geführt wird.“ Gott verursacht nicht das Böse, dafür ist allein der selbstmächtige
Mensch unter dem satanischen Reiter verantwortlich.
Aber er be­nutzt die Bösen. Die sich aufdrängende Frage,
warum der gütige und allmächtige Gott die bösen Willen
nicht auf einmal verändert, beantwortet Luther mit der
Unbegreiflichkeit Gottes. „Das gehört zu den Geheimnissen der göttlichen Majestät, in der seine Entscheidun­gen
unbe­greiflich sind.“17
Die Plausibilität dieser Lösung des Theodizeeproblems
im Vergleich zu der von Erasmus kann ein wesentlicher
Inhalt des Unterrichts sein.
Luthers methodischer Ansatz ist der, dass er seine
Argumente vor allem aus der Bibel bezieht und aus der
Bibelinterpretation Augustins, während Erasmus grundsätzlich – wenn auch we­niger in der Diatribe – ebenso
geeignete Interpretationen der scholastischen Theologie
zulässt.
Aufgrund des Paradigmas von der ausschließlich externen passiven Rechtfertigung des Men­schen weist Luther
den Forderungen der Bibel, d.h. dem Gesetz – anders als
Erasmus – keine das menschliche Vermögen („Du kannst,
denn du sollst.“), sondern nur eine das menschliche
Unvermögen erschließende Funktion zu. Da der Mensch
von sich aus die Forderungen Gottes nicht erfüllen kann,
ist er ganz auf die göttliche Gnade sowohl zu seiner
Rechtfertigung als auch zum Tun des Guten angewiesen.
Allein der Glaube ist eine hinreichende Bedingung ethischen Verhaltens. Dementsprechend deutet Luther Verheißungen, die an die Bedingung eines bestimmten Tuns
geknüpft sind, logisch lediglich als Wenn-dann-Beziehungen, ohne dass damit schon ein Urteil über die Fähigkeit
44
des Menschen zur Erfüllung dieser Bedingung gefällt
worden ist. Beispiel: „Willst du vollkommen sein, so geh
hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst
du einen Schatz im Himmel haben…!“ (Mt. 19,21) Liegt
es nach Erasmus in der Logik der Aufforderung, dass sie
auch erfüllbar sein muss, sagt Luther, dass der Schatz im
Himmel zwar die Konsequenz des Loslassens von irdischen Gütern ist, dass aber damit die Frage, ob jemand
die Bedingung des Loslassens von sich aus erfüllen kann,
noch gar nicht beantwortet ist. Und eben diese positive
Bedingung als Vermögen des Menschen wird von Luther
verneint. Das Gesetz führt nur bis zur Erkenntnis der
Erlösungs­bedürftigkeit des Menschen, nicht aber zur
Erkenntnis seiner Freiheit.
Gerade in methodischer und logischer Hinsicht, wo
man die Stärken des Humanisten Erasmus wähnt, trägt
Luther des öfteren den Punktsieg davon. Hier setzt er
auch das Stilmittel der Iro­nie ein. Ein Beispiel dafür ist
die Personifizierung der Schrift des Erasmus, der Diatribe: „Soweit die Diatribe. Meinst du [Erasmus], dass die
Diatribe ausreichend nüchtern oder bei gesundem Menschenverstand gewesen ist, als sie dies schrieb? ... Aber
wenn es jener Genuß gewährt hat, in einer so wichtigen
Sache Unsinn zu reden, so soll es auch uns Genuß gewäh­
ren, ihre freiwilligen Unsinnigkeiten öffentlich dem Spott
preiszugeben.“18
In der Wirkungsgeschichte hat sich Erasmus durchgesetzt und nicht Luther. In der Aufklärung und im
deutschen Idealismus wird das zur Sittlichkeit fähige,
autonome Individuum unter­stellt, während Luthers apokalyptisches Weltbild vom Kampf kosmischer Mächte
eher noch dem Mittelalter verhaftet ist.
Man hat auch den Eindruck, auch wenn beiden Kontrahenten das nicht bewusst ist und sie beide bibeltheologisch argumentieren, dass sie von unterschiedlichen
Perspektiven aus reden. Heute würde man die Positionen
vermutlich der Außen- und der Binnenperspektive zuordnen. Während Erasmus eher von der Außenperspektive
her argumentiert, aus der die Wahl einer bestimmten weltanschaulich-religiösen Auffassung der relativen Freiheit
des Individuums unterliegt (relativ ist die Freiheit, weil
keiner die Prägungen der Interpretationsgemeinschaft, in
der er aufgewachsen ist, hintergehen kann), argumentiert
Luther aus der Binnenper­spektive des paulinisch-augustinischen Christentums.19 Von der Außenperspektive her
er­scheint der Mensch als einer, der zwischen verschiedenen Optionen auswählt. Behauptungen, die von einem
Standpunkt aufgestellt werden, haben aus dieser Perspektive lediglich den Cha­rakter möglicher, aber nicht
endgültig einlösbarer Wahrheitsansprüche. Zu dieser Perspektive passt sehr gut die skeptische Haltung des Erasmus gegenüber assertorischen Wahrheitsbe­hauptun­gen.
Von der Binnenperspektive eines Standpunktes dagegen
müssen die eigenen Behauptun­gen als wahr unterstellt
werden. Da man binnenperspektivisch daran glauben
muss, dass das, was man glaubt und tut, wahr und richtig
ist, muss alles, was sich außerhalb des Standpunktes
befindet, auch außerhalb der Wahrheit sein. Und genauso
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argumentiert Luther gegenüber Erasmus. Was zur Reformationszeit nicht bewusst war, dürfte heute zumindest in
der protes­tantischen Theologie Allgemeingut sein: Beide
Perspektiven haben ihr Recht. Keine kann auf die jeweils
andere zurückgeführt werden. So auch der Streitpunkt
zwischen Erasmus und Lu­ther: Was binnenperspektivisch
als Selbstmächtigkeit und damit als Sünde gedeutet wird,
kann außenperspektivisch als Wahlfreiheit interpretiert
werden.
Andererseits wird diese schiedlich-friedliche Trennung
der beiden Positionen nicht erst durch die aktuelle, von
der Hirnforschung ausgelöste Debatte über die Determiniertheit des Willens wieder in Frage gestellt. Bereits
aufgrund der moralischen Katastrophen und ideologischen Verblendungen des 20. Jahrhunderts drängt sich
verstärkt die Frage auf, ob der Mensch nicht doch eher
überindividuellen verderblichen Mächten ausgeliefert
ist, als es in Folge der Auf­klärung unterstellt wurde.
Wie konnte es geschehen, dass eine ganze Generation in
Deutsch­land – abgesehen von der vergleichsweise geringen Zahl von Menschen, die Widerstand leis­teten – der
NS-Ideologie folgte? Könnte es nicht doch sein, dass
auch von der Außenperspek­tive her zugestanden werden
müsste, dass der Mensch zuweilen nicht der Herr seines
Willens ist, sondern von anderen Geistern besessen und
geritten wird?
3. Methodisch-didaktische Anregungen
zur Strukturierung des Kursthemas
Die Attraktivität des Kursthemas liegt in der direkten
Kontroverse und der ironischen Pole­mik, die beide Schriften auszeichnet. Dementsprechend legt es sich nahe, die
Differenz und den Kontrast der Positionen zum Strukturprinzip des Kurs­themas zu machen. Konfrontiert werden
dabei nicht nur die unterschiedlichen inhaltlichen Auffassungen, sondern auch die unterschiedlichen Haltungen,
Perspektiven und Tempera­mente, die in den Stilmitteln
der Po­lemik zum Ausdruck kommen. Es ist durchaus
lohnens­wert, diese Stilmittel exemplarisch zu analysieren.
Ausgegangen wird von der Diatribe des Erasmus.
Diese Schrift ist mit ihren ca. 100 Seiten und wegen der
Klarheit ihrer Argumentation sowie des leichten Zugriffs
auf sie gut zu be­wältigen. Die Schrift Luthers dagegen
ist nur in Werkausgaben enthalten und hat einen größe­
ren Umfang als die Diatribe. Zur Konfrontation bestimmter Aspekte genügen Ausschnitte, die den Schülern als
Kopien zur Verfügung gestellt werden müssen. Wie bereits
gesagt, lassen sich die entsprechenden Gegentexte durch
die Synopse am Ende der Erasmus-Ausgabe leicht auffinden. Der Materialanhang enthält eine Reihe von Textausschnitten zu den unten ge­nannten Vergleichsaspekten.
Die wichtigsten Partien bei Erasmus sind die beiden
Vorreden, der erste Teil der biblischen Belegstellen sowie
die Zusammenstellung des Sachverhalts am Schluss des
Buches. Von den alt- und neutestamentlichen Belegen
reicht die Behandlung exemplarischer Beispiele hin.
Wichtige thematische Aspekte können sein:
1. Grundsätzliches und Methodisches (Vorrede 1.a.)
2. Wahrheitskrite­rien, freier Wille und die Logik ethischer Forderungen (Vorrede 1.b.; 2.a.1.-2.a.16)
3. Theodizeeproblem
4. Aktuelle Diskus­sion über die Willensfreiheit
(siehe Tabelle)
Bevor die einzelnen Aspekte im Detail behandelt werden,
sollten die Schüler die Schrift des Erasmus zunächst im
Zusammenhang lesen, damit sie einen Überblick über das
verhandelte Thema und seine Komplexität bekommen.
Erst bei der vertieften Behandlung der Einzelaspekte
sollte dann die Konfrontation mit dem entsprechenden
Luthertext erfolgen. Die gegensätzlichen Thesen mit
den entsprechenden Ar­gumenten sollten in einer Synopse festgehalten werden. Das erleichtert nicht nur das
Verste­hen, sondern auch die spätere Vorbereitung auf
das Abitur. Zumindest bei der Behandlung des 2. und 3.
Aspekts drängt sich als Methode auf, die Kontroverse
zwischen Erasmus und Luther im Unterricht als Streitge­
spräch zu rekonstruieren. Mit verteilten Rollen vertritt
eine Schüler­gruppe die Auffassung des Erasmus, die
andere die Luthers. Die gerade unbeteiligten Schüler sind
die Schiedsrichter hinsichtlich der Richtigkeit der jeweils
geäußerten Argumente. Solche Streitgespräche können
auch zur Leistungsüberprüfung genutzt werden.
Eine weitere Möglichkeit ist die Anfertigung einer
Präsentation, mit der die Schüler die gegensätzlichen Auffassungen visualisieren. Damit können die neuen Möglichkeiten der mündlichen Abiturprüfung eingeübt werden.
Bemerkungen
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10 11 12 13 14 15
16
17
18
19
Titel eines Beitrags in: Christian Geyer (Hg.), Hirnforschung und
Willensfreiheit, Suhrkamp: Frankfurt/M. 2004, 218 ff.
Titel eines Beitrags, ebd. 30 ff.
Karl R. Popper/John C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, Piper:
München 19899
ebd.
Christian Geyer, Vorwort zu: ders. (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, aaO, 14
Martin Luther, Vom unfreien Willen, in: Luther Deutsch, Die
Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, hrsg.
von Kurt Aland, Bd. 3, Klotz: Stuttgart/Vandenhoeck & Ruprecht:
Göttingen 19613, 151-334, hier: 197 f., 200
Erasmus von Rotterdam, Vom freien Willen, Vandenhoeck &
Ruprecht: Göttingen 19987
Siehe Fußnote 6
Vorwort von Gunther Wenz, aaO, 6
Ebd., 5
Erasmus, aaO, 29
Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (§ 6), Reclam:
Stuttgart 1978, 53
Erasmus, aaO, 40
Alfred Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 2, Mohn:
Gütersloh 1968, 287
Martin Luther, Vom unfreien Willen, aaO, 196
Ebd., 277 ff.
Ebd., 280
Ebd., 299
Zur Unterscheidung der Perspektiven vgl. Ingolf U. Dalferth,
Kombinatorische Theologie – Probleme theologischer Rationalität, Herder: Freiburg u.a 1991, 92 f.
45
'bb' 111-1/2005
1. Aspekt: Grundsätzliches und
Methodisches
(Vorrede 1.a.)
Erarbeitung
• des Adressaten,
• der Haltung des Erasmus grundsätzlich und zur Thematik,
• des hermeneutischen Schriftverständnisses,
• der gewählten Methode
Dagegen wird Luthers Einleitung gestellt (M1).
Aufgaben zu Text 1:
• Bewertung der Diatribe durch Luther
• Gründe für die verzögerte Antwort
• Motiv für Luthers Gegenschrift
Aufgabe zu Text 2:
• Urteil über den Charakter des Erasmus
Aufgaben zu Text 3:
• Der Stellenwert der Thematik in den Augen Luthers und Begründung
• Kritik Luthers an der Diatribe
Aufgaben zu Text 4:
• Der Stellenwert kirchlicher Autoritäten und des Wortes Gottes
• Vergleich mit Erasmus
Aufgaben zu Text 5:
• Worin besteht das eigentliche Menschsein?
• Was kann der Mensch zu seinem Heil unternehmen?
2. Aspekt: Wahrheitskrite­rien,
freier Wille und die Logik ethischer Forderungen
(Vorrede 1.b.; 2.a.1.-2.a.16)
Erarbeitung
• der von Erasmus anerkannten Autoritäten,
• der Definition des freien Willens,
• des Verhältnisses von Gnade und freiem Willen,
• der Logik von sittlichen Forderungen und sittlichem Vermögen,
• des Gesetzes in seiner Funk­tion als Erkenntnis der Freiheit.
Dagegen Luther: Die Schrift als alleinige Autorität, die Auseinandersetzung mit Erasmus’
Definition und der Selbstwidersprüchlichkeit des Erasmus, der geknechtete Wille, das
Gesetz in seiner Funktion als Erkenntnis des Unvermö­gens (M2).
Aufgaben zu Text 1:
• Das Welt- und Menschenbild Luthers
• Vergleich mit Erasmus
• Konsequenzen aus dem Weltbild Luthers für den freien Willen
• Kritik Luthers an Erasmus
Aufgabe zu Text 2:
• Nochmals: Das Welt- und Menschenbild Luthers
Aufgabe zu Text 3:
• Kritik Luthers an Erasmus
Aufgabe zu Text 4:
• Die Kritikpunkte Luthers an der Definition des Erasmus
Aufgaben zu Text 5:
• Worin besteht die Selbstwidersprüchlichkeit, die Luther Erasmus vor­wirft?
• Ist der Vorwurf gerechtfertigt?
• Stilmittel der Ironie
Aufgabe zu Text 6:
• Die unterschiedlichen logischen Implikationen der Gesetzesforderun­gen
3. Aspekt: Theodizeeproblem
Die Aporie der Auffassung Luthers: Unzurechnungsfähigkeit des Menschen und Grausamkeit Gottes
Dagegen Luther: Erbsünde als menschliche Schuld, die nicht von ihm beseitigt werden
kann (M3).
4. Aspekt: Aktuelle Diskus­sion
über die Willensfreiheit
46
Erarbeitung der aktuellen Argumente für und gegen den Determinismus, Ver­gleich der
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum historischen Streit. (M4/M5).
'bb' 111-1/2005
M1
Zu 1.a.1-3
1.
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5
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35
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45
Dem ehrwürdigen Herrn Erasmus von Rotterdam Martinus Luther Gnade und Friede in Christus
Daß ich recht spät, ehrwürdiger Erasmus, auf deine Untersuchung über den freien Willen antworte, geschieht gegen
aller Erwartung und auch gegen meine Gewohnheit, der ich bisher derartige Gelegenheiten zum Schreiben nicht
nur gern zu ergreifen sondern darüber hinaus noch gesucht haben schien. Es wird sich vielleicht mancher wundern über diese neue und ungewohnte – sei es Geduld sei es Angst – Luthers, den auch so viele prahlerische Stimmen und Briefe der Gegner nicht auf den Plan gerufen haben, welche Erasmus zu seinem Sieg be­glückwünschen
und ein Triumphlied anstimmen: Sieh an! Hat dieser berüchtigte Makkabäus und starrköpfige Behaupter seiner
Ansichten endlich einen würdigen Gegner gefunden, gegen den er nicht den Mund aufzutun wagt? Doch ich klage
diese nicht nur an, sondern reiche dir sogar selbst die Palme, die ich keinem vorher gereicht habe – nicht nur weil
du an Beredsam­keit und Geist mich weit überragst, was wir alle Dir mit Recht zugestehen (um so mehr als ich
immer „wie ein Barbar in Barbarei“ gelebt habe), sondern auch, weil du meinen Geist und meine Angriffskraft
gehemmt und mich bereits vor Beginn des Kampfes müde gemacht hast.
Und das aus zwei Gründen: Zunächst durch die Kunst, mit welcher bewundernswerten und anhaltenden Mäßigung Du diese Sache behandelst, in welcher du mir entgegengetreten bist, auf daß ich ja nicht gegen dich aufgebracht werden könnte. Sodann dadurch, daß du von Ungefähr oder aus Zufall oder Missgeschick in einer so wichtigen Sache nichts sagst, was nicht schon früher gesagt ist. Und du sagst soviel weniger und gestehst dem freien
Willen soviel mehr zu, als es bisher die sophistischen mittelalterlichen Theologen taten (…), daß es sogar überflüssig scheint, diesen Deinen Argumenten entgegenzutreten. Von mir sind sie frü­her schon oftmals widerlegt worden, vollends zertreten und geradezu zerstampft sind sie durch das unüberwindliche Buch Philipp Melanchthons,
die Loci theologici, welches nach meiner Meinung nicht allein der Unsterblichkeit, sondern auch kirchlich kanonischen Anse­hens würdig ist. Wenn ich deine Schrift damit verglich, wurde sie mir so verächtlich und gering, daß
ich Dich heftig bemitleidete, der Du Deine treffliche und kunstvolle Schreibweise mit solchem Schmutz befleckst,
und mich über den ganz unwürdigen Gegenstand entrüstete, welcher mit so kostbarem Schmuck der Beredsamkeit vorgeführt wurde, so als ob man Kehricht und Kot in goldenen oder silbernen Schüsseln auftrüge.
Du scheinst das selbst auch empfunden zu haben, der Du Dich so widerstrebend der Aufgabe dieser Schrift unterzogen hast. Offenbar mahnte dich dein Gewissen, daß mir kein blauer Dunst vorgemacht werden könnte, wenn
Du das Unternehmen auch mit noch so viel Kraft der Beredsamkeit versuchtest, so daß ich den eigentlichen Unrat
wahrnehmen würde, wenn ich die verführerischen Worte entfernte. Wenn ich auch in der Redekunst unerfahren
bin, so bin ich doch durch die Gnade Gottes in der Erkenntnis der Dinge nicht unerfahren. So wage ich mit Paulus
(2.Kor.11,6) mir die Erkenntnis zuzusprechen und sie dir zuversichtlich abzusprechen, ungeachtet dessen, daß ich
die Beredsamkeit und die Begabung freiwillig und pflichtschuldigst Dir zuspreche und mir abspreche.
Deshalb habe ich folgendermaßen überlegt: Wenn es Leute gibt, die unsere durch so viele Schriften verteidigte
Lehre nicht tiefer erfasst haben und nicht kräftiger festhalten, als daß sie durch diese leichtwiegenden und nichts
bedeutenden Argumente des Erasmus bewegt werden, mögen diese auch kunstvoll verbrämt sein, so sind sie es
nicht wert, daß ich ihnen mit meiner Antwort zu Hilfe komme. […]
Daher hatte ich mich schon entschlossen, jene unbeachtet zu lassen, welche an Deinem Buch Anstoß nehmen,
zusammen mit denen, die prahlen und Dir den Sieg zuerkennen. So hat weder die Menge der Geschäfte, noch
die Schwierigkeit der Sache, noch die Größe Deiner Beredsamkeit, noch die Furcht vor Dir, sondern allein der
Überdruß, der Unwille und die Geringschätzung, d.h. (damit ichs ausspreche) eben mein Urteil über Deine Diatribe den Drang zu einer Entgegnung gehemmt. Schweigen will ich einstweilen davon, daß Du – Dir darin immer
ähnlich – hartnäckig darauf achtest, nur ja nirgendwo nicht aalglatt und zweideutig zu sein, und vorsichtiger als
Odysseus zwischen Scylla und Charybdis zu segeln scheinst. Während du nichts sicher behaupten willst, willst du
dennoch als jemand erscheinen, der solche sicheren Behauptungen aufstellt. […]
Daß ich Dir jetzt antworte, ist durchaus nicht ohne Grund: die gläubigen Brüder in Christo drängen und halten
mir vor, daß alle (auf meine Antwort) warten, weil die Autorität des Erasmus nicht geringzuschätzen sei, und daß
die Wahrheit der christlichen Lehre in den Herzen vieler in Gefahr sei.
M. Luther, Vom unfreien Willen (1925), in: Kurt Aland (Hg.), Luther Deutsch, Bd. 3, Klotz: Stuttgart/
Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 19613, 151-334, hier: 151-154
47
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Zu 1.a.4.
2.
1
5
In Summa, diese Deine Worte klingen so, als ob Dir nichts daran liege, was von wem auch immer wo nur immer
geglaubt werde, wenn nur der Friede in der Welt erhalten bleibe, und als ob es erlaubt sei, um der Gefahr für Leben,
Ruf, Besitz und Ansehen willen jenen nachzuahmen, der da sagte: Sagt man ja, sage ich auch ja, sagt man nein, sage
ich auch nein. Das klingt so, als ob Du die christlichen Lehren nicht für besser hältst als die Anschauungen der
Philosophen und anderen menschlichen Meinungen, um die es mehr als töricht ist sich zu streiten, zu kämpfen, sie
fest zu behaupten, weil von ihnen nichts als Streit und Zerstörung des äußeren Friedens kommen: Was über uns
ist, das geht uns nichts an. Um unsere Streitigkeit zu schlichten, verhältst Du Dich neutral, damit Du beide Seiten
im Gleichgewicht halten und überzeugen kannst, daß wir uns um törichte und unnötige Dinge streiten.
Ebd., 159-160
Zu 1.a.8-9.
3.
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Deshalb ist es nicht unfromm, neugierig oder überflüssig, sondern ganz besonders heilsam und notwendig für den
Christen zu wissen, ob der eigene Wille etwas oder nichts in den Dingen tun kann, die zum Heil gehören. Ja das ist,
damit Du im Bilde bist, sogar der Angelpunkt unserer Disputation, hier liegt der Kern dieser Sache. Denn darauf
sind wir aus, daß wir untersuchen, was der freie Wille vermag, was er zulässt, wie er sich zur Gnade Gottes verhält.
Wenn wir das nicht wissen, wissen wir rein gar nichts von den Angelegenheiten der Christen und werden schlimmer sein als alle Heiden. Wer das nicht empfindet, gesteht damit ein, daß er kein Christ sei, wer aber das tadelt
und verachtet, möge wissen, daß er der größte Feind der Christen ist. Denn wenn ich nicht weiß, was, wieweit und
wie viel ich in bezug auf Gott kann und zu tun vermag, so wird es mir ebenso ungewiß und unbekannt sein, was
wieweit und wie viel Gott in bezug auf mich vermag, da Gott doch alles in allem wirkt (1.Kor.12,6). Wenn ich aber
die Werke und die Wirkungsmacht Gottes nicht kenne, so kenne ich Gott selbst nicht. Kenne ich Gott nicht, so
kann ich ihn auch nicht verehren, preisen, ihm Dank sagen und ihm dienen, da ich ja nicht weiß, wie viel ich mir
zuschreiben kann und wie viel ich Gott schulde.
Man muß also den genauesten Unterschied machen zwischen der Kraft Gottes und unserer, zwischen dem Werk
Gottes und dem unseren, wenn wir fromm leben wollen. So siehst Du, daß diese Aufgabe das eine Teil der ganzen
Summe christlichen Wesens darstellt, von welcher die Kenntnis unserer selbst, die Erkenntnis und die Ehre Gottes
abhängt und auf dem Spiel steht. Darum kann es an Dir nicht gelitten werden, lieber Erasmus, daß Du dieses Wissen unfromm, neugierig und nichtig nennst. Viel sind wir Dir schuldig, aber dem Glauben sind wir alles schuldig.
Ja, Du selbst merkst, daß wir all unser Gutes Gott zuschreiben müssen und versicherst das in Deiner Darstellung
des Christentums. Wenn Du aber dies behauptest, so versicherst Du ohne Zweifel auch zugleich, daß die Barmherzigkeit Gottes allein alles tue und daß unser Wille nichts tue, sondern vielmehr nur passiv sei, sonst würde Gott
nicht alles zugeschrieben. Und dennoch bestreitest du kurz danach, das zu versichern oder zu wissen sei gottesfürchtig, fromm und heilsam. So zu reden wird jedoch ein Geist gezwungen, der in sich selbst nicht beständig und
in den Sachen des Glaubens unsicher und unerfahren ist. […]
Nicht anders machst Du es auch, der Du über den freien Willen schreiben willst und als erstes die ganze Substanz und alle Teile des Kunstwerks abtrennst und wegwirfst, über welches Du schreiben willst. Denn Du kannst
unmöglich wissen, was der freie Wille ist, wenn Du nicht weißt, was der menschliche Wille vermag, was Gott tun
kann, ob er es mit Notwendigkeit vorherweiß. Lehren Dich Deine Rhetoren nicht, daß, wenn man über irgendeinen Gegenstand reden will, sagen muß: zunächst, ob es ihn gibt, dann, was er sei, welches seine Teile, was ihm
entgegengesetzt, verwandt, ähnlich usw. ist? Du aber beraubst den an sich schon elenden Gegenstand des freien
Willens all dieser Dinge, und grenzest keine ihn betreffende Frage ab, außer jener einzigen, ob es ihn gebe, und das
mit solchen Argumenten, wie wir sehen werden, daß ich kein schwächeres Buch (abgesehen von der Eleganz der
Redeweise) über den freien Willen bisher gesehen habe. Die Sophisten disputieren hier wenigstens wirklich besser,
wenn sie auch von der Rhetorik nichts verstehen, und grenzen, wenn sie sich an den freien Willen machen, alle ihn
betreffenden Fragen ab: ob es ihn gebe, was er sei, was er wirke, wie es sich mit ihm verhalte usw., mögen sie auch
nicht bewerkstelligen, was sie versuchen.
Ich will deshalb mit diesem Buch Dir und allen Sophisten hart zusetzen, bis ihr mir die Kräfte und die Werke des
freien Willens definiert. Und ich werde Dir so zusetzen, wenn Christus mir gnädig ist, daß ich hoffe, Dich dahin zu
bringen, die Herausgabe Deiner Diatribe zu bereuen.
Es ist also auch dies vor allen Dingen notwendig und heilsam für den Christen zu wissen, daß Gott nichts zufällig
vorherweiß, sondern daß er alles mit unwandelbarem, ewigem und unfehlbarem Willen sowohl vorhersieht, sich
vornimmt und ausführt. Durch diesen Donnerschlag wird der freie Wille zu Boden gestreckt und ganz und gar
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'bb' 111-1/2005
zermalmt. Deshalb müssen die, welche den freien Willen behauptet haben wollen, diese schlagende Erkenntnis
entweder verneinen oder verleugnen oder auf irgendeine andere Weise von sich schaffen.
Ebd., 169-171
4.
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15
Um dieselbe Weisheit handelt es sich, wenn du sodann den Rat gibst, man dürfe es nicht öffentlich bekannt machen,
wenn auf den Konzilien etwas irrtümlich beschlossen worden sei, damit nicht Veranlassung gegeben würde, das
Ansehen der Väter herabzusetzen. Das gerade hat der Papst durch Dich sagen lassen wollen und das hört er lieber
als das Evangelium. Es wäre sehr undankbar von ihm, wenn er Dich nicht durch einen Kardinalshut mit den entsprechenden Einkünften ehrte. Doch, Erasmus, was sollen derweil die Gewissen tun, welche durch jenen unrechten Beschluß gebunden und getötet sind? Interessiert Dich das nicht? Du bist zwar fortwährend der Ansicht oder
gibst vor, es zu sein,daß menschliche Satzungen ohne Gefahr neben dem lauteren Wort Gottes beobachtet werden
können. Wenn sie das könnten, würde ich mich leicht dieser Deiner Meinung anschließen können. Wenn Du es
also nicht weißt (wie den durch den unrechten Beschluß in ihren Gewissen gebundenen Menschen geholfen werden soll), sage ichs noch einmal: menschliche Satzungen können nicht zusammen mit dem Wort Gottes eingehalten werden. Denn jene binden die Gewissen, dieses macht sie frei, und sie kämpfen gegeneinander wie Wasser und
Feuer, falls die menschlichen Satzungen nicht freiwillig, das heißt als nicht bindend eingehalten werden. Das ist es,
was der Papst nicht will noch wollen kann, wenn er nicht will, daß seine Herrschaft verloren und zu Ende sei, die
nur durch die Bande und Fesseln um die Gewissen besteht, welche das Evangelium für frei erklärt. Darum ist die
Autorität der Väter für nichts zu achten und sind die irrtümlich beschlossenen Entscheidungen, wie es ja alle ohne
und außerhalb des Wortes Gottes gefällten sind, zu zerreißen und zu verwerfen. Denn Christus gilt mehr als die
Autorität der Väter. In Summa: Wenn Du über das Wort Gottes so urteilst, so urteilst Du gottlos; wenn Du aber
über anderes ein Urteil abgibst, so geht uns die wortreiche Disputation Deines Ratschlages nichts an. Wir reden
vom Worte Gottes.
Ebd., 188-189
Zu 1.a.10.
5.
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Gott verheißt den Demütigen, das heißt denen, die an sich verzweifelt sind und sich aufgegeben haben, mit
Bestimmtheit seine Gnade. Ganz und gar aber kann sich kein Mensch eher demütigen, bis daß er weiß, daß seine
Seligkeit vollständig außerhalb seiner Kräfte, Absichten, Bemühungen seines Willens und seiner Werke gänzlich
von dem Belieben, Beschluß, Willen und der Tat eines anderen, nämlich Gottes allein, abhängt. Wenn er nämlich im Vertrauen auf sich selbst bleibt – und das tut er so lange wie er sich einbildet, er vermöge auch noch so
wenig für seine Seligkeit zu tun – und nicht von Grund auf an sich verzweifelt, so demütigt er sich deswegen nicht
vor Gott, sondern vermutet oder hofft oder wünscht wenigstens Gelegenheit, Zeit oder irgendein gutes Werk,
dadurch er dennoch zur Seligkeit gelange. Wer aber wirklich nicht daran zweifelt, daß alles vom Willen Gottes
abhängt, der verzweifelt völlig an sich selbst, wählt nichts eigenes, sondern erwartet den alles wirkenden Gott. Der
ist am nächsten der Gnade und der Seligkeit. Deshalb werden um der Auserwählten willen diese Lehren gepredigt,
damit sie – auf diese Weise gedemütigt und zunichte geworden – selig werden. Die übrigen widerstehen dieser
Demütigung, ja sie verurteilen sogar diese Verkündigung der Verzweiflung an sich selbst, sie wollen, daß ihnen
wenigstens ein ganz klein wenig übriggelassen werde, das sie selbst vollbringen können. […]
Die andere angebliche Widersinnigkeit: Was von uns getan wird, geschieht nicht aus freiem Willen, sondern aus
reiner Notwendigkeit, wollen wir kurz betrachten, damit wir es nicht hingehen lassen, daß sie als sehr gefährlich
bezeichnet wird. Hier sage ich so: Sobald das bewiesen ist, daß unsere Seligkeit außerhalb unserer Kräfte und
Beschlüsse vom Wirken des alleinigen Gottes abhängt […], folgt dann nicht klar, daß alles böse ist, was wir tun,
wenn Gott mit seinem Wirken in uns nicht zugegen ist, und daß wir notwendig so zu handeln pflegen, daß es
nichts für die Seligkeit wert ist? Wenn nämlich nicht wir, sondern Gott die Seligkeit in uns wirkt, so ist nichts heilsam, was wir vor seinem Wirken tun, ob wir wollen oder nicht.
Ebd., 193-195
49
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M2
Zur Definition (1.b.) und zum Hauptthema:
1.
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So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt (zwischen Gott und Satan) wie ein Zugtier. Wenn Gott sich darauf gesetzt hat, will er und geht, wohin Gott will, wie der Psalm (73,22 f.) sagt: „Ich bin wie ein Tier geworden, und
ich bin immer bei dir.“ Wenn Satan sich dar­auf gesetzt hat, will er und geht, wohin Satan will. Und es steht nicht in
seiner freien Ent­scheidung, zu einem von beiden Reitern zu laufen und ihn sich zu verschaffen zu suchen, sondern
die Reiter selber kämpfen miteinander, ihn zu erlangen oder zu besitzen.
Was nun, wenn ich aus Deinen eigenen Worten, mit welchen Du den freien Willen behauptest, beweisen werde,
daß es keinen freien Willen gibt? Wie, wenn ich unwiderleglich dartun werde, daß Du, ohne es zu wissen, verneinst, was Du mit so großer Klugheit behaupten willst? Fürwahr, wenn ich das nicht tun werde, schwöre ich, daß
alles widerrufen sein soll, was ich gegen Dich in diesem Buch schreibe, und bestätigt, was Deine Diatribe gegen
mich sowohl behauptet wie zu erlangen sucht.
Du veranschlagst die Kraft des freien Willens als sehr klein und so beschaffen, daß sie ohne die Gnade Gottes geradezu unwirksam ist. Gibst du das nicht zu? Ich frage Dich nunmehr und bitte um Antwort: wenn die Gnade Gottes
fehlt oder von jener so kleinen Kraft getrennt wird, was kann sie (die Kraft des freien Willens) selbst tun? Unwirksam (sagst Du) ist sie und wirkt nichts Gutes. Also wird der freie Wille nichts tun, was Gott oder seine Gnade will,
weil wir angenommen haben, daß die Gnade Gottes von ihm getrennt ist. Was aber die Gnade Gottes nicht tut, ist
nicht gut. Daraus folgt, daß der freie Wille ohne die Gnade Gottes wahrlich nicht frei, sondern unwandelbar ein
Gefangener und Sklave des Bösen ist, daß er sich nicht von allein zum Guten hinwenden kann.
Wenn dies feststeht, gestatte ich dir, daß Du die Kraft des freien Willens nicht nur für sehr klein hältst, mache
sie meinetwegen engelgleich, mache sie, wenn Du kannst, vollkommen göttlich, wenn Du nur diesen traurigen
Anhang hinzufügst, daß Du sie, ohne die Gnade Gottes, als unwirksam bezeichnest. Dann hast Du ihr sogleich alle
Kraft genommen. Denn was ist eine unwirksame Kraft, wenn nicht über­haupt keine Kraft? Zu sagen, es gebe einen
freien Willen und er besitze eine bestimmte, aber unwirksame Kraft, bedeutet daher das, was die Sophisten einen
Widerspruch in sich selbst (oppositum in adiecto) nen­nen, gleich als wenn Du sagtest: der freie Wille ist etwas, was
nicht frei ist, ebenso wenn Du das Feuer als kalt und die Erde als heiß bezeichnetest. Möge das Feuer durchaus die
Kraft der Hitze, selbst der hölli­schen Hitze besitzen, wenn es nicht brennt und nicht versengt, sondern vielmehr
kalt ist und kalt macht, soll es für mich nicht einmal Feuer und noch weniger heiß genannt werden, es sei denn,
daß man etwas Gemaltes oder Eingebildetes auch für Feuer halten will.
Jedoch, wenn wir das als Kraft des freien Willens bezeichnen sollen, wodurch der Mensch befähigt wird, vom
Geist Gottes ergriffen und mit seiner Gnade erfüllt zu werden, als der zum ewigen Leben oder Tod erschaffen ist,
so wäre das richtig gesagt. Diese Kraft nämlich, das heißt Fähigkeit, bekennen auch wir. Daß sie nicht den Bäumen
und auch nicht den Tieren beigelegt ist, wer weiß das nicht? Denn Gott hat nicht, wie man zu sagen pflegt, für die
Gänse den Himmel gemacht.
Fest steht also, auch durch dein eigenes Zeugnis, daß wir alles aus Notwendigkeit tun und nichts aus freiem Willen,
da die Kraft des freien Willens nichts ist und nichts wirkt und nichts Gutes vermag, wenn die Gnade fehlt. […]
Wenn wir nun überhaupt dieses Wort (freier Wille) nicht aufgeben wollen, was am sichersten und am frömmsten
wäre, sollten wir lehren, es doch bis dahin gewissenhaft zu gebrauchen: daß dem Menschen ein freier Wille nicht
in bezug auf die Dinge eingeräumt sei, die höher sind als er, sondern nur in bezug auf das, was so viel niedriger ist
als er, d.h. daß er weiß, er habe in bezug auf seine zeitlichen Geldmittel und Besitztümer das Recht, etwas nach
freiem Ermessen zu gebrauchen, zu tun, zu lassen (obwohl auch dies durch den freien Willen Gottes allein gelenkt
wird, wohin immer es ihm gefällt). Im übrigen hat er gegenüber Gott oder in den Dingen, welche Seligkeit oder
Verdammnis angehen, keinen freien Willen, sondern ist gefangen, unterworfen, verknechtet – entweder dem Willen Gottes oder dem Willen des Sa­tans.
M. Luther, Vom unfreien Willen (1925), in: Kurt Aland (Hg.), Luther Deutsch, Bd. 3, Klotz: Stuttgart/
Vandenhoeck & Rup­recht: Göttingen 19613, 151-334, hier: 196-198; 200
2.
1
5
Du, der Du vorgibst, der menschliche Wille sei ein in der freien Mitte gelegenes Ding und sich selbst überlassen,
gibst leicht gleichzeitig vor, es gebe ein Streben des Willens nach beiden Seiten, weil Du meinst, sowohl Gott wie
der Teufel seien weit entfernt gleichsam lediglich als Zuschauer jenes wandelba­ren und freien Willens. Daß sie
aber Antreiber und Anpeitscher jenes Willens sind, sich gegenseitig heftig bekriegend, glaubst Du nicht. Sobald
man aber nur dies glaubt, steht unsere Ansicht fest genug, und der freie Wille liegt da zu Boden gestreckt, wie wir
bereits oben gelehrt haben. Entweder nämlich wird die Herrschaft des Satans über die Menschen nichtig sein,
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'bb' 111-1/2005
und Christus wird dadurch zum Lügner, oder aber, wenn die Herrschaft jenes so beschaffen ist, wie Christus sie
beschreibt (Luk.11,18), wird der freie Wille nur ein gefangengehaltenes Lasttier des Satans sein, das nicht befreit
werden kann, wenn nicht zuvor durch den Finger Gottes der Teufel fortgetrieben wird (Luk.11,20).
Ebd., 294 f.
3.
1
5
Höre doch deine Ableitungen! Die Schrift preist die Gnade Gottes, also anerkennt sie den freien Willen. Sie preist
die Hilfe der Gnade Gottes, also bestätigt sie den freien Willen. Aus welcher Dialektik hast Du diese Schlussfolgerungen gelernt? Warum folgerst Du nicht umgekehrt: Die Gnade wird gepredigt, also wird der freie Wille aufgehoben; die Hilfe der Gnade wird gepriesen, also wird der freie Wille vernichtet? Denn wozu wird die Gnade verliehen? Etwa dazu, daß der Hochmut des freien Willens, der an sich schon stark genug ist, mit der Gnade wie mit
einem überflüssigen Schmuck ausgestattet in den Fastnachtstagen Fratzen schneide und Possen treibe?
Ebd., 300
4.
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Zuerst wollen wir, wie es richtig ist, bei der Definition selbst beginnen, mit welcher du den freien Willen folgendermaßen definierst: „Weiter verstehen wir hier unter dem freien Willen das Vermögen des menschlichen
Willens, durch das der Mensch sich dem anpassen oder von dem abwenden kann, was zum ewigen Heil führt.“
Weise, wahrlich, wird von Dir die Definition ohne Zusatz hingestellt und keiner ihrer Teile erklärt (wie es doch die
Gepflogenheit anderer ist), denn Du hast vielleicht nicht bloß einen Schiff­bruch gefürchtet.
Daher sehe ich mich genötigt, auf die einzelnen Teile einzugehen. Sicher besagt der von Dir definierte Gegenstand
bei genauer Prüfung mehr als die Definition. Die Sophisten würden eine solche Definition fehlerhaft nennen, sooft
die Definition das Definierte nicht voll umfaßt. Denn wir haben oben nachgewie­sen, daß der freie Wille niemandem zukommt als Gott allein. Ein gewisses Maß freier Entscheidung kannst du wohl dem Menschen mit Recht
zubilligen, aber ihm in göttlichen Dingen einen freien Willen zuzubilligen, das geht zu weit. Denn mit dem Wort
„freier Wille“ wird nach dem Urteil aller, die das hö­ren, etwas bezeichnet, was Gott gegenüber vermag und tut,
was ihm gefällt, ohne durch irgendein Gesetz oder Gebot behindert zu werden. Denn Du würdest ja auch einen
Sklaven nicht als frei bezeichnen, der unter dem Gebot seines Herrn handelt; wie viel weniger nennen wir einen
Menschen oder einen Engel mit Recht frei, die unter Gottes Allgewalt – von Sünde und Tod ganz zu schweigen –
so dahinleben, daß sie keinen Augenblick aus eigener Kraft bestehen können. So steht sich hier von vornherein die
den Namen und die die Sache betreffende Definition gegenüber, weil das Wort etwas anderes bedeutet, als man
mit der Sache meint. Genauer sollte daher „wandelbarer“ oder „veränderlicher“ Wille gesagt werden. Denn so
setzen Augustin und nach ihm die Sophisten den Glanz und die Kraft des Wortes „frei“ herab, indem sie es eben
abschwächen und von der Wandelbarkeit des freien Willens sprechen. So sollten auch wir spre­chen, um nicht
die Herzen der Menschen mit aufgeblasenen, prunkvollen, dabei innerlich hohlen Worten zu täuschen, wie auch
Augustin meint: Wir müßten uns nach einer bestimmten Regel mit nüchternen und passenden Worten ausdrücken. Denn beim Lehren soll man sich einfacher und nüchterner Ausdrücke bedienen, nicht aber hochtrabender
Reden und rhetorischer Wortgebilde, als wollte man damit überzeu­gen. Aber um nicht in den Verdacht zu geraten,
daß wir an einem Wortstreit Gefallen fänden, wollen wir es vorläufig nur als irrigen Sprachgebrauch – der aber
groß und sehr gefährlich ist – hingehen lassen, daß „freier Wille“ und „wandelbarer Wille“ gleichgesetzt werden.
Auch das wollen wir dem Erasmus durch­gehen lassen, daß er den freien Willen zu einer Kraft des menschlichen
Willens macht, als ob es bei den Engeln keinen freien Willen gäbe. Denn er hat sich einmal vorgenommen, in
diesem Buch nur vom freien Willen des Menschen zu sprechen; sonst wäre auch in diesem Punkte die Definition
enger als der defi­nierte Begriff.
Kommen wir jetzt zu den Teilen, die den Angelpunkt der ganzen Frage ausmachen. Einige dieser Teile sind ohne
weiteres klar, andere aber scheuen das Licht, als wenn sie alles zu fürchten hätten. Nichts aber muß klarer und
sicherer sein als eine Definition; unklar definieren ist genau so viel wie überhaupt nicht definieren. Deutlich ist folgendes: „die Kraft des menschlichen Willens“, ebenso „durch die der Mensch sich…kann“, und auch „zum ewigen
Heil“. Blinden Kämpfern vergleichbar sind jene Ausdrücke: „sich anpassen“, ferner: „an das, was dahin führt“ endlich „abwenden“. Was sollen wir unter jenen „sich anpas­sen“ verstehen, ebenfalls unter dem „abwenden“ ebenso
was ist es, das zum ewigen Heil „führt“? Worauf läuft dies alles hinaus? Wie ich sehe, habe ich es mit einem echten Skotus oder einem Heraklit zu schaf­fen und muß mich mit doppelter Arbeit abmühen: zuerst muß ich den
Gegner in finstern Höhlen (was ein waghalsiges und gefährliches Unterfangen ist) überall herumtastend ausfindig
machen, muß, wenn ich ihn nicht finde, nutzlos mit Schemen kämpfen und in der Finsternis Lufthiebe austeilen;
dann, wenn ich ihn ans Licht gezogen habe und vom Suchen schon ermattet bin, dann erst kann ich unter gleichen
Bedingun­gen den Kampf mit ihm aufnehmen. Ich glaube also, daß unter „Kraft des menschlichen Willens“ das
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Vermögen oder die Fähigkeit oder Geschicklichkeit oder Eignung zu wollen und nicht zu wollen und zu verschmähen, zuzustimmen oder zurückzuweisen und was es sonst noch für Betätigungen des Willens gibt, zu verstehen ist.
Aber was das bedeutet, daß dieselbe Kraft sich anpaßt und abwendet, das sehe ich nicht, sondern nur das Wollen
und Nichtwollen, das Wählen, Verschmähen, Zustimmen und das Zurück­weisen, was ja eben Handlungen des
Willens selbst sind. Stellen wir uns also vor, jene Kraft sei gewis­sermaßen ein Mittelding zwischen dem Willen
selbst und seiner Betätigung, wie ja der Wille die Tätigkeit des Wollens und Nichtwollens selbst hervorbringt und
auch die Tätigkeit des Wollens und Nichtwollens selbst hervorgerufen wird. Etwas anderes kann man sich hierbei
weder vorstellen noch denken. Wenn ich mich irre, liegt die Schuld beim Verfasser, der die Definition gegeben
hat, nicht bei mir, der ich sie unter­suche. Mit Recht sagen die Juristen: wenn jemand – obwohl er es hätte deutlicher sagen können – sich unklar ausdrückt, so können seine Worte gegen ihn ausgelegt werden. Auch will ich
hier meine Modernen mit ihren Spitzfindigkeiten vorläufig beiseite lassen: grob muß man reden, wenn man lehren und verstan­den werden will. Das aber, was zum ewigen Heil führt, das sind nach meiner Meinung die Worte
und Werke Gottes, die dem menschlichen Willen angeboten werden, damit er sich zu ihnen hinwenden oder von
ihnen abwenden kann. Gottes Worte aber nenne ich das Gesetz und das Evangelium: das Gesetz schreibt uns vor,
was wir zu tun haben, das Evangelium fordert den Glauben. Denn etwas anderes gibt es nicht, um uns zur Gnade
Gottes und zum ewigen Heil zu führen, als das Wort und Werk Gottes, da ja die Gnade und der Geist das Leben
selbst bedeuten, zu dem wir durch Gottes Wort und Werk geführt werden. […]
Der freie Wille ist nach der Darstellung des Erasmus eine Kraft des Willens, aus sich heraus Wort und Werk Gottes
zu wollen und nicht zu wollen. […] Was aber bleibt hier für die Gnade und den heiligen Geist zu tun? Das heißt
ja geradezu, dem freien Willen göttliche Eigenschaften beilegen, denn das Gesetz und das Evangelium wollen, die
Sünde nicht wollen und den Tod wollen, das liegt nur in Gottes Macht, wie Paulus an mehr als einer Stelle sagt
(1.Kor.2,14; 2.Kor.3,5). […]
Bei Erasmus aber bewegt sich der freie Wille nicht nur aus eigener Kraft, sondern paßt sich auch noch dem an, was
ewig, d.h. ihm unfaßbar ist; Neuschöpfer einer nie gehörtem Definition des freien Willens, der die Philosophen,
die Pelagianer, die Sophisten und alle anderen weit hinter sich läßt! Und damit nicht genug; er verschont nicht
einmal sich selbst und ist mit sich selbst mehr uneins und im Streit als mit allen andern. Vorher hatte er nämlich gesagt, der menschliche Wille sei ganz und gar unwirksam ohne Gnade (wenn das nicht etwa nur ein Scherz
war); hier aber, wo er ernsthaft den Begriff definiert, sagt er, der menschliche Wille habe die Kraft, sich dem zuzuwenden, was zum ewigen Heil gehört, was also unver­gleichlich hoch über jener Kraft liegt. … Siehst Du, lieber
Erasmus, daß Du Dich durch diese Definition (höchst unklug, wie ich glaube), selbst verrätst, daß Du von diesen
Dingen überhaupt nichts verstehst oder ganz gedankenlos und unbedacht darüber schreibst, ohne zu wissen, was
Du redest oder behauptest? Und wie ich oben ausgeführt habe, Du behauptest weniger und schreibst dem freien
Willen mehr zu als alle anderen, da Du nicht den ganzen freien Willen beschreibst, ihm aber alles zuschreibst.
Weit erträgli­cher lehren die Sophisten oder wenigstens ihr geistiger Vater Petrus Lombardus, wenn sie dem freien
Willen die Fähigkeit zu unterscheiden zuerkennen, dann aber auch zu wählen, und zwar das Gute, wenn die Gnade
dabei ist, das Böse aber, wenn die Gnade fehlt. In völliger Übereinstimmung mit Augustin meint er, daß der freie
Wille - aus eigener Kraft - nur zu Fall kommen kann und zu nichts führt als zur Sünde. Daher nennt auch Augustin
den Willen eher unfrei als frei, und zwar im 2. Buch gegen Julian. Du aber setzt auf beiden Seiten die gleiche Kraft
des freien Willens voraus, da er sich ohne die Gnade aus eigener Kraft sowohl zum Guten hinwenden als auch vom
Guten abwenden kann. Du überlegst gar nicht, wie viel Du ihm mit diesem Wörtchen „selbst“ oder „sich selbst“
beilegst, wenn Du sagst: er kann sich hinwenden, denn damit schließt Du ja ganz und gar den heiligen Geist mit
all seiner Kraft aus, als wäre er überflüssig und gar nicht notwendig. Selbst Sophisten müssen Deine Definition
verurteilen und würden auch, wenn sie nicht in blindem Haß gegen mich so rasten, vielmehr gegen Dein Buch
wüten. Nun aber, da Du den Luther angreifst, sagst Du, obwohl sich Deine Ausführungen gegen Dich selbst und
auch ge­gen jene richten, nichts als Heiliges und Rechtgläubiges, so weit geht die Nachsicht dieser Männer.
Ebd., 226-229; 230-232
5.
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Doch wir wollen Dich unterweisen und Dir die Schläfrigkeit bzw. Stumpfheit Deines Urteils zeigen. Ich frage Dich,
wie paßt die oben von Dir gegebene Definition des freien Willens zu dieser ersten Dir recht annehmbar scheinenden Meinung? Du hast nämlich gesagt, der freie Wille sei das Vermögen des menschlichen Willens, durch das sich
der Mensch zum Guten hinwenden kann. Hier aber behauptest Du und billigst die Behauptung, daß der Mensch
ohne die Gnade nicht das Gute wollen kann. Die Definition bejaht, was ihre zweite Formulierung verneint, und
man findet in Deinem freien Willen zugleich Ja und Nein, so daß Du uns zugleich sowohl zustimmst wie verdammst, wie Du auch Dich selbst verdammst und billigst in ein und demselben Lehrsatz und Artikel…Denn die
Gnade ist überhaupt nicht nötig, wenn so viel Gutes im freien Willen wäre, daß er dadurch sich selbst zum Guten
wenden könnte. Darum ist etwas anderes der freie Wille, den Du definierst, und etwas anderes der freie Wille, den
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Du verteidigst. Und es hat nun Erasmus zwei freie Willen, die vor den übrigen und einander selbst geradezu entgegengesetzt sind.
Doch wir wollen das fallenlassen, was die Definition ersonnen hat, und das betrachten, was an Gegentei­ligem die
Meinung selbst vorträgt. Du gibst zu, daß der Mensch ohne besondere Gnade nicht das Gute wollen kann (denn
wir erörtern jetzt nicht, was die Gnade Gottes vermag, sondern was der Mensch ohne die Gnade vermag). Du
gibst also zu, daß der freie Wille nicht das Gute wollen kann; das bedeutet nichts anderes, als daß er sich nicht zu
dem hinwenden kann, was zum ewigen Heil gehört, wie Deine Definition lautete. Kurz vorher sagst Du sogar, der
menschliche Wille sei nach dem Sündenfall so verderbt, daß er, nachdem er die Freiheit verloren habe, gezwungen werde, der Sünde zu dienen, und sich nicht zu einer Besserung seiner selbst zurückwenden könne. … O du
ungewöhnlich freier Wille, den Erasmus selbst nach Verlust seiner Freiheit als der Sünde verknechtet bezeichnet!
Wenn Luther dies sagen würde, so hätte man nichts Törichteres gehört, so könnte nichts Unnützeres als dieser
Widersinn verbreitet werden, so daß man sogar Diatriben gegen ihn schreiben müßte.
Ebd., 234 f.
6.
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„Wenn du dich zu mir hältst, will ich mich zu dir halten“, und „Kehrt euch zu mir, so will ich mich zu euch kehren.“
Folgt daraus etwa: Kehrt euch zu mir, also könnt ihr es? Oder: „Liebe Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen“,
also kannst du ihn von ganzem Herzen lieben? Was also beweisen solche Schlußfolgerungen anderes als etwa dies,
daß der freie Wille der Gnade Gottes nicht bedarf, sondern alles aus eigener Kraft leisten kann? Wäre es nicht viel
richtiger, die Worte so aufzufassen, wie sie da stehen? Wenn du dich bekehrt hast, so werde ich mich zu dir kehren, d.h. wenn du aufhörst zu sündigen, werde auch ich aufhören zu strafen, und wenn du als Bekehrter in rechter
Weise lebst, werde auch ich dir Gutes tun, Gefangenschaft und Elend von dir abwenden. Aber daraus folgt doch
nicht, daß der Mensch sich aus eigener Kraft bekehrt! Und das besagen ja die Worte auch gar nicht, sondern sie
sagen ganz schlicht: wenn du dich bekehrst, wodurch der Mensch ermahnt wird zu dem, was er soll. Wenn er
aber erkannt und eingesehen hat, was er nicht leisten kann, dann soll er fragen, woher ihm die Kraft dazu kommt.
(Das wäre so), wenn nicht der Leviathan der Diatribe (d. h. deren Erweiterung und Folgerungen) dazwischenträte
und sagte: „Kehrt euch zu mir“, das würde sonst vergeblich gesagt, wenn sich der Mensch nicht aus eigener Kraft
bekehren könnte. Was es damit auf sich hat und wohin es führt, haben wir genügend dargelegt.
Eine ähnliche Stumpfheit und geistige Trägheit ist es, wenn man meint, die Kraft des freien Willens werde durch
solche Worte wie: „Kehrt euch zu mir“, „wenn du dich zu mir kehrst“ und ähnliche bestätigt, und dabei nicht
beachtet, daß man mit demselben Recht die Bestätigung in folgendem Bibelwort finden könnte: „Liebe Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen.“ Denn an beiden Stellen ist die Bezeichnung des Befehlenden und Fordernden
die gleiche. Ebenso eindringlich wird die Liebe zu Gott gefordert wie die Umkehr und die Befolgung aller Gebote.
Und dennoch schließt niemand aus jenem Gebot der Liebe auf den freien Willen. Aber aus jenen Worten: „Wenn
du willst“, „wenn du hörst“, „kehre dich zu mir“ und ähnlichen wollen alle darauf schließen…. Was auch immer auf
jenes Wort „Liebe Gott“ geantwortet werden mag, so läßt es doch nicht auf den freien Willen schließen. Und dasselbe gilt auch für alle anderen Ausdrücke des Befehlens oder Forderns, nämlich daß man von daher nicht auf den
freien Willen schließen darf. Denn durch das Wort „lieben“ in der Form einer Gesetzesvorschrift wird uns gezeigt,
was wir sollen, keineswegs aber die Kraft des Willens oder was wir können, vielmehr nicht können. So wird dasselbe durch all die andern Ausdrücke des Forderns dargelegt.
Ebd., 240 f.
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Zum Theodizeeproblem (4.12-13)
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Sintemal demnach Gott alles in allen wirkt und schafft, wirkt und schafft er notwendig auch im Satan und im Gottlosen. Er wirkt aber in ihnen so, wie sie sind und wie er sie findet, das heißt, da sie ver­kehrt und böse sind und von
jener Wirksamkeit der göttlichen Allmacht fortgerissen werden, so tun sie nur Verkehrtes und Böses. Gleichwie
wenn ein Reiter ein Pferd mit drei oder zwei Füßen reitet, so reitet er es doch so, wie das Pferd ist, das heißt, das
Pferd hat einen schlechten Gang. Aber was soll der Reiter tun? Er reitet ein solches Pferd zugleich mit den gesunden Pferden, jenes schlecht, dieses gut; er kann nicht anders, es sei denn, daß das Pferd gesund werde.
Hier siehst du, daß, wenn Gott in Bösen und durch Böses wirkt, zwar Böses geschieht. Gott kann je­doch nicht böse
handeln, mag er auch Böses durch Böse verrichten, weil er selbst gut ist und nicht böse handeln kann. Er benutzt
jedoch die Bösen als Werkzeuge, die dem Zugriff und der bewegenden Kraft seiner Macht nicht entgehen können.
Die Schuld liegt also bei den Werkzeugen, denen Gott müßig zu sein nicht erlaubt, so daß Böses geschieht. Gott
selbst wirkt dabei als bewegende Kraft nicht anders, als wenn ein Zimmermann mit einem schlechten und schartigen Beil schlechte Hiebe tut. Da­her kommt es, daß der Gottlose nicht anders kann als immer irren und sündigen,
weil ihm, fortgerissen von dem Antrieb der göttlichen Allmacht, müßig zu sein nicht gestattet wird, sondern er
wollen, wün­schen und handeln muß, ganz so wie er beschaffen ist.
Das ist bestimmt und sicher, wenn wir glauben, daß Gott allmächtig ist, ferner, daß der Gottlose ein Geschöpf
Gottes ist, das aber von ihm abgewandt und sich selbst überlassen ohne den Geist Gottes Gutes nicht wollen oder
tun kann. Die Allmacht Gottes bewirkt, daß der Gottlose dem Antrieb und dem Handeln Gottes nicht entrinnen
kann, sondern ihm zwangsnotwendig unterworfen gehorcht. Die Verderbtheit aber bzw. die Abkehr seiner selbst
von Gott bewirkt, daß er nicht in Richtung auf das Gute bewegt und fortgerissen werden kann. Gott kann seine
Allmacht nicht hintansetzen um der Ab­kehr jenes willen, der Gottlose aber kann seine Abkehr nicht ändern. So
geschieht es, daß er fortwäh­rend und zwangsläufig sündigen und irren muß, bis er durch den Geist Gottes auf den
rechten Weg geführt wird. Während all diesem aber herrscht der Satan bis zur Stunde in Frieden und besitzt unge­
stört seinen Palast (Luk.11,22) während dieses Wirkens der Allmacht Gottes. […]
Deswegen soll nicht irgend jemand denken: Gott, wenn es von ihm heißt, er verstocke und wirke Bö­ses in uns
(denn verstocken heißt Böses tun), handle so, als schaffe er von neuem Böses in uns, so wie du dir einen bösartigen
Schankwirt vorstellst, der selbst böse in ein nicht böses Faß Gift hineingießt oder mischt, wobei das Faß nichts tut,
als daß es die Bösartigkeit dessen hinnimmt oder duldet, der es so zurichtet. Denn man scheint sich einzubilden,
daß der an sich gute oder wenigstens nicht böse Mensch von Gott die böse Handlung duldet, wenn man hört, daß
wir sagen, Gott wirke in uns Gutes und Böses und wir seien in reiner passiver Notwendigkeit dem wirkenden Gott
unterworfen. Sie be­denken nicht genügend, wie unaufhörlich bewegend Gott in allen seinen Geschöpfen wirkt
und keines untätig sein lässt. Sondern so muß der es betrachten, wer überhaupt derartiges verstehen will: daß Gott
in uns, das heißt durch uns, das Böse wirkt, nicht durch Verschulden Gottes, sondern in Folge unseres Mangels,
die wir von Natur böse sind. Gott ist aber wahrlich gut, der uns mit seinem Wirken entspre­chend der Natur seiner
Allmacht fortreißt und nicht anders handeln kann, als daß er, der selbst gut ist, mit den schlechten Werkzeugen
Böses tut, wenngleich er auch dies Böse seiner Weisheit entsprechend zu seiner Ehre und unserem Heil wohl
anwendet. So findet er den Willen des Satans böse, den er aber nicht schafft, sondern der, als Gott ihn verließ und
der Satan in Sünden fiel, böse wurde, packt ihn mit seinem Wirken an und führt in, wohin er will, mit eben dieser
göttlichen Wirkung, wenn auch jener Wille nicht aufhört, böse zu sein.
Es bleibt also übrig, daß jemand fragt, warum Gott nicht von der allmächtigen Wirkung ablässt, durch welche
der Wille der Gottlosen bewirkt wird, böse zu sein und noch böser zu werden? Darauf ist zu antworten: das heißt
wünschen, daß Gott um der Gottlosen willen davon ablasse, Gott zu sein. Denn wenn du wünschst, daß seine Kraft
und Wirkung aufhöre, so bedeutet das, daß er aufhören soll, gut zu sein, damit jene nicht böser werden. Doch
warum ändert er nicht auf einmal die bösen Willen, die er bewegt? Das gehört zu den Geheimnissen der göttlichen
Majestät, in der seine Entscheidungen unbe­greiflich sind. Und es ist nicht unsere Aufgabe, das wissen zu wollen,
sondern vielmehr, diese Ge­heimnisse anzubeten. Wenn Fleisch und Blut hier Anstoß nimmt und murrt, so mag es
ruhig murren, es wird jedoch nichts ausrichten. Gott wird sich deswegen nicht wandeln. Und auch wenn noch so
viel Gottlose Ärgernis nehmen und sich abwenden, die Auserwählten werden doch bleiben. Dasselbe wird jenen
gesagt werden, die fragen: Warum hat er es zugelassen, daß Adam fiel, und warum schafft er uns alle mit derselben Sünde befleckt, während er doch jenen hätte bewahren und uns anderswoher oder nachdem erst der Same
gereinigt war, hätte erschaffen können? Er ist Gott, und für seinen Willen gibt es keine Ursache noch Grund, die
ihm als Richtschnur und Maß vorgeschrieben werden könnten, da es nichts gibt, was ihm gleich oder über ihm ist.
Sondern sein Wille ist Richtschnur für alle Dinge.
M. Luther, Vom unfreien Willen (1925), in: Kurt Aland (Hg.), Luther Deutsch, Bd. 3, Klotz: Stuttgart/Vandenhoeck &
Rup­recht: Göttingen 19613, 151-334, hier: 277-280
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Keiner kann anders, als er ist Verschaltungen legen uns fest:
Wir sollten aufhören, von Freiheit zu reden
Wolf Singer
Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt, macht Mut zu einem neuen
Naturalismus. Er verabschiedet den Ballast von Scheinproblemen, den die Geisteswissenschaften durch die
Geschichte schleppen. Gegenüber der weit verbreiteten Illusion von Freiheit und Verantwortung hält Singer
fest: All unser Denken und Tun ist mit dem Ablauf neuronaler Prozesse zu erklären, die sich nach dem Muster einer ausgeglichenen Haushaltsbilanz selbst organisieren. Mit Singers Beitrag setzen wir unsere Reihe zur
Hirnforschung fort, in der sich bislang Klaus Lüderssen (4. November), Hans-Ludwig Kröber (11. November),
Eberhard Schockenhoff (17. November), Gerhard Roth (1. Dezember), Reinhard Olivier (13. Dezember) und
Herbert Helmrich (30. Dezember) äußerten. Weitere Informationen zu Singers Thesen können unter www.faz.
net/singer abgerufen werden.
Alles Wissen, über das ein Gehirn verfügt, residiert in seiner funktionellen Architektur, in der spezifischen Verschaltung
der vielen Milliarden Nervenzellen. Auf Grund evolutionärer Anpassung sind Gehirne daraufhin ausgelegt, fortwährend nach den je optimalen Verhaltensoptionen zu suchen. Sie wenden dabei Verarbeitungsstrategien an, die in ihrer
Architektur durch genetische Vorgaben eingeschrieben und/oder durch Erfahrung eingeprägt wurden. Um zu entscheiden, stützen sie sich auf eine ungemein große Zahl von Variablen: auf die aktuell verfügbaren Signale aus der
Umwelt und dem Körper sowie auf das gesamte gespeicherte Wissen, zu dem auch emotionale und motivationale
Bewertungen zählen. In Dutzenden räumlich getrennten, aber eng miteinander vernetzten Hirnarealen werden Erregungsmuster miteinander verglichen, auf Kompatibilität geprüft und, falls sie sich widersprechen, einem kompetitiven
Prozess ausgesetzt, in dem es einen Sieger geben wird. Das Erregungsmuster setzt sich durch, das den verschiedenen
Attraktoren am besten entspricht.
Dieser distributiv angelegte Wettbewerbsprozess kommt ohne übergeordneten Schiedsrichter aus. Er organisiert
sich selbst und dauert so lange an, bis sich ein stabiler Zustand ergibt, der dann für den Beobachter erkennbar als
Handlungsintention oder Handlung in Erscheinung tritt. Welches der vielen möglichen Erregungsmuster als nächstes
die Oberhand gewinnt, ist demnach festgelegt durch die spezifische Verschaltung und den unmittelbar vorausgehenden dynamischen Gesamtzustand des Gehirns. Falls diese Bedingungen Übergänge in mehrere gleich wahrscheinliche
Folgezustände erlauben, können auch zufällige Schwankungen in der Signalübertragung zum Tragen kommen und
dem einen oder anderen Zustand zum Sieg verhelfen.
Dieses Szenario erscheint uns plausibel für Entscheidungen, die wir unwillkürlich treffen - für die vielen unbewussten Entscheidungen, die uns sicher durch den Alltag bringen. Aber für Entscheidungen, die auf der bewussten
Abwägung von Variablen beruhen und die wir als gewollt empfinden, fordert unsere Intuition anderes. Wir neigen
dazu, eine von neuronalen Prozessen unabhängige Instanz anzunehmen, die neuronalen Abläufen vorgängig ist. Dies
wird in zwei Positionen artikuliert: Eine, die dualistische, postuliert für die wollende Ich-Instanz einen immateriellen
Dirigenten, der das neuronale Substrat nur nutzt, um sich zu informieren und seine Entscheidung in Handlungen zu
verwandeln. Diese Position ist mit dem Verursachungsproblem konfrontiert und mit bekannten Naturgesetzen unvereinbar. Sie hat den Status unwiderlegbarer Überzeugungen.
Die andere geht zwar davon aus, dass auch die so genannten „freien Entscheidungen“ vom Gehirn selbst getroffen
werden, dass die zugrunde liegenden Prozesse sich aber aus nicht näher spezifizierten Gründen über den neuronalen
Determinismus erheben können. Aus neurobiologischer Sicht ist auch diese Lesart unbefriedigend. Wenn eingeräumt
wird, dass das bewusste Verhandeln von Argumenten auf neuronalen Prozessen beruht, dann muss es neuronalem
Determinismus in gleicher Weise unterliegen wie das unbewusste Entscheiden, für das wir dies zugestehen. Dies folgt
aus der zwingenden Erkenntnis, dass neuronale Vorgänge in der Großhirnrinde nach immer gleichen Prinzipien ablaufen und dass sowohl bewusste als auch unbewusste Entscheidungen auf Prozessen in dieser Struktur beruhen. Wenn
dem aber so ist, warum räumen wir den bewussten Entscheidungen einen anderen Status ein als den unwillkürlichen,
warum wähnen wir erstere unserer Intention und Wertung unterworfen und sind bereit, für sie besondere Verantwortung zu übernehmen?
Neuronale Vorgänge lassen sich klassifizieren in solche, die grundsätzlich keinen Zugang zum Bewusstsein haben,
solche, die wahlweise ins Bewusstsein gelangen können, und solche, die grundsätzlich bewusst sind. Zu den vom
Bewusstwerden ausgeschlossenen Vorgängen zählen viele der so genannten autonomen Funktionen, welche für ordnungsgemäßes Funktionieren aller Organe, einschließlich des Gehirns, sorgen. Von den anderen, potentiell bewusstseinsfähigen Vorgängen können jeweils immer nur wenige gleichzeitig ins Bewusstsein gelangen und im Kurzzeitspeicher gehalten werden. Generell gilt, dass nur die Sinnessignale bewusst werden, die mit Aufmerksamkeit belegt
werden, und dass vorwiegend nur die Speicherinhalte ins Bewusstsein gehoben werden können, die während des
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Speichervorgangs bewusst erfahren wurden. Die Zuteilung von Aufmerksamkeit unterliegt dabei wiederum einem
distributiv organisierten Wettbewerb, der sich in einem weit verzweigten Netzwerk selbst strukturiert und nicht von
einem zentralistischen Dirigenten verwaltet wird. Ein starker oder unerwarteter Reiz zieht Aufmerksamkeit automatisch auf sich, aber das Gehirn setzt Prioritäten auch selbst, und das oft unbewusst. Man sucht einen Namen, findet
ihn nicht, die Aufmerksamkeit wandert zum nächsten Problem, und plötzlich taucht der gesuchte Name im Bewusstsein auf.
Ein Beispiel von vielen, das illustriert, dass unser Gehirn, nachdem sich ein Bedürfnis eingestellt hat, offenbar ganz
ohne unser „bewusstes“ Zutun Speicher durchsuchen, die Stimmigkeit des Gefundenen mit dem Gesuchten überprüfen und das Resultat ins Bewusstsein bringen kann. Und dann gibt es die obligat bewussten Prozesse, zu denen alle
sprachlich gefassten Vorgänge gehören. Bewusste Vorgänge unterscheiden sich von unbewussten also vornehmlich
dadurch, dass sie mit Aufmerksamkeit belegt, im Kurzzeitspeicher festgehalten, im deklarativen Gedächtnis abgelegt
und sprachlich gefasst werden können.
Entsprechend unterscheiden sich die Inhalte, die bewussten Entscheidungen zugrunde liegen, mitunter von denen,
die bei unwillkürlichen Entscheidungen zum Tragen kommen. Bewusste Entscheidungen basieren per definitionem
auf Inhalten bewusster Wahrnehmungen und auf Erinnerungen, die im deklarativen Gedächtnis als explizites Wissen
abgelegt wurden. Bei den Variablen bewusster Entscheidungen handelt es sich also vornehmlich um spät Erlerntes:
um ausformuliertes Kulturwissen, ethische Setzungen, Gesetze, Diskursregeln und verabredete Verhaltensnormen.
Abwägungsstrategien, Bewertungen und implizite Wissensinhalte, die über genetische Vorgaben, frühkindliche Prägung oder unbewusste Lernvorgänge ins Gehirn gelangten und sich deshalb der Bewusstmachung entziehen, stehen
somit nicht als Variablen für bewusste Entscheidungen zur Verfügung. Gleichwohl aber wirken sie verhaltenssteuernd
und beeinflussen bewusste Entscheidungsprozesse. Sie lenken den Auswahlprozess, der festlegt, welche von den
bewusstseinsfähigen Variablen jeweils ins Bewusstsein rücken, sie geben die Regeln vor, nach denen diese Variablen
verhandelt werden, und sie sind maßgeblich an der emotionalen Bewertung dieser Variablen beteiligt.
Hier also könnte der Schlüssel liegen zur Frage, warum wir eine Art von Entscheidung als bedingt und die andere
als frei beurteilen, obgleich beide auf gleichermaßen deterministischen neuronalen Prozessen beruhen. Offenbar sind
es die Natur der Variablen und die Art ihrer Verhandlung. Wir beurteilen Entscheidungen als frei, die auf der bewussten Abwägung von Variablen gründen, also auf der rationalen Verhandlung von bewusstseinsfähigen Inhalten. Entscheidungen, die sich auf diese Weise vollziehen, werden uns voll zugerechnet. Geprüft wird allenfalls, ob die Person
zum Zeitpunkt der Abwägung in der Lage war, sich die relevanten Variablen bewusst zu machen und diese bei ungetrübtem Bewusstsein zu verhandeln. Diese Position schreibt dem Bewusstsein eine letztinstanzliche Funktion zu, oder
anders, sie setzt die verantwortliche Person mit ihrem Bewusstsein gleich. Sie definiert jenen Anteil am Entscheidungsprozeß als „frei“, dessen sich die Person bewusst ist.
Diese Interpretation ist nachvollziehbar, denn die Selbst- und Fremdwahrnehmung suggeriert genau dies. Alles,
was wir von anderen als Handlungsbegründung erfahren können, ist, was ihnen davon bewusst wird und mitgeteilt werden kann. Dem handelnden Subjekt geht es nicht anders. Auch dieses wird sich nur der bewussten Motive
gewahr, und da sie die seinen sind, empfindet es sich als für sie verantwortlich. Das Subjekt erfährt sich zu Recht als
Urheber der Entscheidung, die es getroffen hat. Wer sonst käme in Frage?
Die bewussten Motive müssen jedoch keineswegs die entscheidenden gewesen sein, auch wenn es dem inneren
Auge, das nur Bewusstes zu sehen vermag, so scheint, als seien die jeweils bewussten Argumente hinreichende und
vollständige Begründungen. Zweifel kommen nur selten auf, da in der Regel im Wettbewerb der Entscheidungsprozesse jener Zustand gewinnt, der durch maximale Kohärenz aller Variablen ausgezeichnet ist, der unbewussten wie
der bewussten. Es kann aber passieren, dass die auf bewusster Verhandlung von Argumenten aufbauenden und in
sich konsistenten Lösungen mit den unbewusst ablaufenden Abwägungsprozessen in Konflikt geraten und unterliegen.
Dann heißt es: „Ich habe es getan, obgleich ich es nicht wirklich wollte oder obgleich ich ein ungutes Gefühl dabei
hatte.“ Das bewusste Ich gesteht ein, anderen Kräften unterlegen zu sein. Gelegentlich erfindet es sogar Argumente,
um im nachhinein Entscheidungen zu begründen, deren Motive ihm nicht zugänglich waren. Es ist möglich, einer Person Handlungsanweisungen aufzugeben, ohne dass sie sich dieser bewusst wird. Führt die Person die Handlung aus
und soll sich dann zu der Aktion erklären, so gibt sie zumeist eine plausible Antwort im intentionalen Format: „weil
ich dies oder jenes wollte“.
Die angeführten Gründe sind in solchen Fällen naturgemäß unzutreffend und konnten erst nach der Handlung
erfunden werden. Es scheint, als sei das Gehirn darauf angelegt, Kongruenz zwischen den im Bewusstsein vorhandenen Argumenten und den aktuellen Handlungen beziehungsweise Entscheidungen herzustellen. Gelingt das nicht,
weil im Bewusstsein gerade nicht die passenden Argumente aufscheinen, dann werden sie um der Kohärenz willen
ad hoc erfunden. Und niemand weiß anzugeben, wie hoch bei den alltäglichen, selbst „verantworteten“ Entscheidungen dieser fiktive Anteil ist.
Die in der lebensweltlichen Praxis gängige Unterscheidung von gänzlich unfreien, etwas freieren und ganz freien
Entscheidungen erscheint in Kenntnis der zugrunde liegenden neuronalen Prozesse problematisch. Unterschiedlich
sind lediglich die Herkunft der Variablen und die Art ihrer Verhandlung: Genetische Faktoren, frühe Prägungen, sozi-
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Das demokratische Gehirn
Wolf Singer und Rüdiger Safranski reden über Willensfreiheit
Claudia Schülke
Gibt es unter den Kulturwissenschaftlern eine „Demutsstarre“ angesichts der modernen Hirnforschung? Der Berliner
Schriftsteller und Philosoph Rüdiger Safranski ist jedenfalls dieser Ansicht. „Die Geisteswissenschaftler trauen sich ja
gar nicht mehr, sich als solche zu bezeichnen, und viele sind schon in Ihrem Lager drüben“, bedauerte er jetzt in
einem Gespräch mit Wolf Singer. Der Hirnforscher hatte andere Sorgen: „Wenn die Welt eine in sich geschlossene ist,
müssen wir Ernst machen mit dem Unterfangen, die Beschreibungssysteme zusammenzuführen. Wir als Naturwissenschaftler fühlen uns zu sehr allein gelassen mit diesem Problem.“
Schon der Dichter und Arzt Friedrich Schiller litt an der Diskrepanz zwischen der Annahme eines autonomen Geistes und dessen neuronaler Grundlage und fühlte sich als kreativer Mensch bedroht vom Substratdenken der französischen Materialisten – bis er bei Kant Beistand fand. Als der Frankfurter Theaterkritiker Peter Iden die neue Schillerbiographie von Safranski las, fiel ihm sofort Wolf Singer ein. Jetzt moderierte Iden eine Diskussion zwischen den beiden
Kontrahenten über die Willensfreiheit, die die interinstitutionelle Aktion „Alles Schiller, oder was?“ zum 200. Todestag
des Dichters im Frankfurter Schauspiel eröffnete.
Die Frankfurter ließen sich nicht zweimal bitten: Das Große Haus war bis auf den letzten Platz ausverkauft, und
auch im Zwischendeck drängten sich etwa 200 Besucher, um die Übertragung der Diskussion zu verfolgen. „Sind wir
freie Entscheidungsträger, Souveräne?“ fragte sich Intendantin Elisabeth Schweeger, bevor sie ihre Gäste begrüßte und
Iden das Wort überließ. Der Theaterkritiker empfahl sich sogleich als hervorragender Kenner der neurobiologischen
Forschung und fasste die Thesen des jüngsten Manifests über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung so klar und
präzise zusammen, dass Singer dem nichts mehr hinzuzufügen hatte.
„Keiner kann anders, als er kann?“ So jedenfalls zweifelte das Leitwort der Diskussion an den sich selbst organisierenden neuronalen Prozessen, die laut Hirnforschung jedem vermeintlich freien Willensakt vorausgehen. Safranski
plädierte für den Willen als Organ der Freiheit und führte dabei den kränkelnden Schiller als seinen Gewährsmann ins
Feld: „Idealismus ist, wenn man mit der Kraft der Begeisterung länger lebt, als es der Körper erlaubt.“ Auch in seinen
Dramen habe Schiller Konflikte frei entscheidender Personen geschildert. Ohne alternative Möglichkeiten gebe es kein
Drama. „Was soll dann noch das Theater, wenn keiner anders kann, als er ist?“ fragte der Philosoph mit Bezug auf das
Manifest. „Das Theater ist der Ort des freien Willens.“
Auch im Menschenbild der Hirnforschung sei der Konflikt als solcher vorgegeben, weil die Bedürfnisse im Wettbewerb um rationale und emotionale Kriterien miteinander stünden, entgegnete Singer. Der Verantwortungsbegriff
müsse nicht aufgegeben, der Schuldbegriff allerdings neu gefasst werden, und die Rechtsprechung müsse sich ändern.
Fürs erste drang der Hirnforscher jedoch auf eine genaue Definition des freien Willens. Dafür brachte Safranski den
Begriff der Aufmerksamkeit ins Gespräch. „Die Aufmerksamkeit ist es, durch die wir wollen“, heiße es bei Schiller, der
keineswegs Idealist gewesen sei, sondern der Freiheit nur eine Gasse habe bahnen wollen.
„Schillers Pathos“, fuhr Safranski fort, „verdankt sich unterschwellig dem Willen des Dichters, den eigenen geistigen
Produkten Konsistenz zu geben im Kampf mit dem Gehirndeterminismus.“ Mit der Kantschen Wende sei das Subjekt
auf die eigene Erzeugerleistung aufmerksam geworden. Übrigens sei der Materialismus selbst ein Konzept des Geistes, der damit nur eine seiner Optionen realisiere, fuhr der Philosoph fort: „Der Geist kann sich selbst und seine Freiheit wegerklären. Der Materialismus ist ein Albtraum des Geistes.“ Schiller sei nach seiner Kant-Lektüre kein Dualist
mehr gewesen, eher ein Pragmatiker und Konstruktivist. Schon er habe wie später Erich Fromm auch die Furcht vor
der Freiheit gekannt.
Ob die Hirnforschung als kulturelle Institution nicht auch das Bedürfnis, diese Last der Freiheit loszuwerden,
bediene, fragte sich Safranski, und das Publikum amüsierte sich ob des mephistophelischen Winkelzugs. Zudem
wunderte sich der Philosoph, dass ausgerechnet im Zeitalter der Demokratie der Polyzentrismus im Gehirn entdeckt
werde, während die Forscher der zentralistisch regierten Epoche ein zentral gesteuertes Gehirn angenommen hätten.
Singer gab zu, dass sich auch Wissenschaftler an gängigen Vorstellungen orientierten, war sich aber dennoch sicher,
auf dem richtigen Weg zu sein. Etwa mit der Forderung mildernder Umstände für einen Straftäter mit entsprechend
fehlangelegten neuronalen Verbindungen.
Aber „die Strafe ist ein Kompliment an seine Freiheit“, argumentierte Safranski mit Hegel. Man würde dem Straftäter die menschliche Würde absprechen, wenn man sein Handeln als ein Naturgeschehen ausgäbe. „Freiheit kann man
nicht begreifen, nur leben“, fuhr er dann mit Kant fort. Man müsse die Menschen so behandeln, als ob es die Freiheit
gäbe, auch wenn sie nicht fassbar sei. In der naturwissenschaftlichen Welt sei sie wegerklärbar, aber in der Lebenswelt
müsse man doch stets selbst entscheiden. So ein Doppelleben sei „zwar nicht bedrohlich, aber komisch ist es doch“.
Das konnte Singer gut nachvollziehen. Auch wenn der Hirnforscher weiß, dass wir mit dergleichen Dissoziationen
leben gelernt haben, sucht er unermüdlich das Gespräch mit den Philosophen.
Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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ale Lernvorgänge und aktuelle Auslöser, zu denen auch Befehle, Wünsche und Argumente anderer zählen, wirken
stets untrennbar zusammen und legen das Ergebnis fest, gleich, ob sich Entscheidungen mehr unbewussten oder
bewussten Motiven verdanken. Sie bestimmen gemeinsam die dynamischen Zustände der „entscheidenden“ Nervennetze.
Diese Sicht hat Konsequenzen für die Beurteilung von Fehlverhalten. Ein Beispiel: Eine Person begeht eine Tat,
offenbar bei klarem Bewusstsein, und wird für voll verantwortlich erklärt. Zufällig entdeckt man aber einen Tumor in
Strukturen des Frontalhirns, die benötigt werden, um erlernte soziale Regeln abzurufen und für Entscheidungsprozesse
verfügbar zu machen. Der Person würde Nachsicht zuteil. Der gleiche „Defekt“ kann aber auch unsichtbare neuronale Ursachen haben. Genetische Dispositionen können Verschaltungen hervorgebracht haben, die das Speichern
oder Abrufen sozialer Regeln erschweren, oder die sozialen Regeln wurden nicht rechtzeitig und tief genug eingeprägt, oder es wurden von der Norm abweichende Regeln erlernt, oder die Fähigkeit zur rationalen Abwägung wurde
wegen fehlgeleiteter Prägung ungenügend ausdifferenziert. Diese Liste ließe sich nahezu beliebig verlängern. Keiner
kann anders, als er ist.
Diese Einsicht könnte zu einer humaneren, weniger diskriminierenden Beurteilung von Mitmenschen führen, die
das Pech hatten, mit einem Organ volljährig geworden zu sein, dessen funktionelle Architektur ihnen kein angepasstes Verhalten erlaubt. Menschen mit problematischen Verhaltensdispositionen als schlecht oder böse abzuurteilen
bedeutet nichts anderes, als das Ergebnis einer schicksalhaften Entwicklung des Organs, das unser Wesen ausmacht,
zu bewerten. Überschreitet das Fehlverhalten eine Toleranzgrenze, drohen wir mit Sanktionen. Interessanterweise
fallen diese Maßnahmen um so drastischer aus, je mehr wir davon ausgehen können, dass dem Delinquenten die
Variablen, auf denen die Entscheidung basierte, bewusst sein müssten. Offenbar ahnden wir Verstöße dann besonders
streng, wenn sie gegen explizit Gewusstes begangen werden, gegen Wertordnungen also, die über Erziehungsprozesse im deklarativen Gedächtnis verankert wurden. Wir begründen dies, indem wir bewussten Entscheidungen ein
besonderes Maß an Freiheit zuschreiben und daraus besondere Schuldfähigkeit, Verantwortlichkeit und Sanktionsnotwendigkeit ableiten.
An dieser Praxis würde die differenziertere Sicht der Entscheidungsprozesse, zu der neurobiologische Erkenntnisse zwingen, wenig ändern. Die Gesellschaft darf nicht davon ablassen, Verhalten zu bewerten. Sie muss natürlich
weiterhin versuchen, durch Erziehung, Belohnung und Sanktionen Entscheidungsprozesse so zu beeinflussen, dass
unerwünschte Entscheidungen unwahrscheinlicher werden, sie muss Delinquenten die Chance einräumen, durch
Lernen zu angepassteren Entscheidungen zu finden, und – wenn all dies erfolglos bleibt – sich durch Freiheitsentzug
schützen. Nur die Argumentationslinie wäre eine andere. Sie trüge den hirnphysiologischen Erkenntnissen Rechnung,
ersetzte die konfliktträchtige Zuschreibung graduierter „Freiheit“ und Verantwortlichkeit durch bewusste und unbewusste Prozesse und eröffnete damit einen vorurteilsloseren Raum zur Beurteilung und Bewertung von „normalem“
und „abweichendem“ Verhalten.
Die schwer nachvollziehbare Dichotomie einer Person in freie und unfreie Komponenten wäre damit überwunden. Die Person als ganze würde nach wie vor für all das zur Rechenschaft gezogen, was sie fühlt, denkt und tut, und
diese Beurteilung umfasste unbewusste und bewusste Faktoren gleichermaßen. Diese Sichtweise trüge der trivialen
Erkenntnis Rechnung, dass eine Person tat, was sie tat, weil sie im fraglichen Augenblick nicht anders konnte - denn
sonst hätte sie anders gehandelt. Da im Einzelfall nie ein vollständiger Überblick über die Determinanten einer Entscheidung zu gewinnen ist, wird sich die Rechtsprechung nach wie vor an pragmatischen Regelwerken orientieren.
Es könnte sich aber lohnen, die geltende Praxis im Lichte der Erkenntnisse der Hirnforschung einer Überprüfung auf
Kohärenz zu unterziehen.
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'bb' 111-1/2005
pressespiegel:„heinrich heine –
der fromme ketzer“
ernst-diedrich habel
GOSLAR. Eine bislang kaum beachtete Seite des Dichters und Schriftstellers Heinrich Heine (1797 –
1856) war Thema des Vortrags „Heinrich Heine – der fromme Ketzer“, den die Historikerin und Religionswissenschaftlerin Ruth Lapide am Dienstag den 8. März 2004 im Amsdorfhaus hielt. Die Marktgemeinde
hatte zusammen mit dem „Arbeitsbereich Religionspädagogik“ der Braunschweigischen Landeskirche zu
einem „Amsdorfabend“ eingeladen, bei dem die religiösen Ansichten des weltbekannten Dichters im Mittelpunkt standen. Zahlreiche Besucherinnen und Besucher kamen zu dem Vortrag.
Lapide erklärte, dass Heine als Jude geboren, evangelisch getauft und katholisch getraut worden
sei. Wirklich zugehörig habe er sich zu keiner dieser Religionen gefühlt, da er „unentwegt nach Gott
gejagt“ und „Jegliches Kultwesen“ abgelehnt habe. „Katholischen Paffen“ und Rabbinern warf er
„Scheinheiligkeit, Heuchelei“ und „gleißende Frömmelei“ vor. Die evangelische Religion sei ihm „zu
vernünftig“ gewesen. Nach Heine sei der Glaube „edel und hehr“, die Religionsstifter seien „erhaben“ und die Institutionen „herzlich schlecht“. Mit seinen ständigen und scharfen Kritiken habe sich
Heine „zwischen alle Stühle gesetzt“. „Er war unbeliebt, wie alle Mahner es sind.“ erklärte Lapide.
Die Dozentin aus Nürnberg hob hervor: „Wer über Heine spricht, kann von seinem unabwaschbaren
Judesein nicht absehen. Es manifestiert sich vielfaltig und widersprüchlich.“ Kurz vor seinem Tod
habe sich Heine schließlich zu seinen religiösen Ahnen bekannt. „Wer seinen Gott verloren hat,
kann ihn in einem Buch wieder finden – der Bibel“, zitierte Lapide den Schriftsteller. Er habe „den
Weg zu Gott selber genommen“ und zwar ohne Rabbiner, Pfarrer oder andere Geistliche. Zeitweise
habe Heine Gott in seinen Schriften kritisiert, „mit ihm gerungen wie Jakob am Jabbok“ und dann
wieder Frieden geschlossen. Es gehöre auch zum Judentum, erklärte Lapide, „mit Gott zu hadern,
wenn man an ihn glaubt“. Immer habe sich der Dichter mit Gott beschäftigt und sei so in Verbindung mit ihm geblieben.
1825 sei Heine zum protestantischen Christentum übergetreten, um überhaupt die Chance auf eine
Beamtenstelle im preußischen Staatsdienst zu erhalten und am europäischen Kulturleben teilnehmen zu können. Später nannte er diesen Wechsel etwas spöttisch das „Entreebillet zur europäischen Kultur“. Für Juden sei es damals praktisch unmöglich gewesen, in Europa am Kulturleben
teilzunehmen. Er habe auch ande­re gesellschaftliche und staatliche Zwänge kennen gelernt. „Voller
Wut“ habe sich der Dichter gegen alle Institutionen gewandt, die Beschränkungen der Freiheit mit
sich brachten. Und darunter fielen neben kirchlichen auch staatliche Einrichtungen. Politisch habe
er sich zum Beispiel 1844 für die schlesischen Weber, später für die Schwarzen in den USA oder für
die Unterdrückten aller Völker eingesetzt.
Auf Heines Grab in Paris sei kein Hinweis auf eine Religionszugehörigkeit zu finden. Heine sei
eben „zu Gott heimgekehrt, der über allen Religionen thront.“, beendete Lapide ihren Vortrag. Im
Anschluss diskutierten die zahlreichen Besucher noch lange mit der Religionswissenschaftlerin.
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medientipps
Neue DVD‘s im Verleih der Medienzentrale
Jump
Kurzfilm von Sven J. Matten, BRD 2004, 20 Min., Farbe
FSK: Ab 12 Jahren
Stichworte: Rassismus
Auf einem Seminar zum Anti-Rassismus-Training erarbeiteten
TeilnehmerInnen Handlungsentwürfe zu einem Spielfilm, die
dann von einer Autorin zum Drehbuch für einen Kurzspielfilm
umgewandelt wurden.
Basti steht vor der Entscheidung, macht er in der Nazi-Clique
seines Bruders weiter als Mitläufer mit oder hält er zu seinem
türkischen Freund Tekin und dessen Kumpels.
Der Film arbeitet bewusst mit harten Klischees, um die
Thematik „Mitläufertum und sinnlose Gewalt“ deutlich zu
machen. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach Gruppendruck
und Milieu, Gewaltbereitschaft und Drahtziehern. Der Film
wendet sich v.a. an ein junges Publikum und will Jugendliche
zu selbständigem Nachdenken über Vorurteile, Ängste und
Feindbilder anregen. In Diskussionen können eigene Lösungen
gefunden werden. Die Akzeptanz des „Anders-Seins“ soll
ebenso selbstverständlich werden, wie Zivilcourage und die
gewaltfreie Verständigung mit dem „Fremden“.
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Bonhoeffer
Dokumentarfilm von Martin Doblmeier
USA 2003, 90 Min., Farbe
Lehrfilm
Stichworte: Bonhoeffer / Biografie / Widerstand
Das Leben des evangelischen Theologen und Pazifisten,
Dietrich Bonhoeffer, erzählt dieser dramatische
Dokumentarfilm in chronologischer Abfolge mit teils
bekanntem, teils weniger bekanntem Archivmaterial,
Zeitzeugen- und internationalen Experten-Interviews.
Zitate Bonhoeffers aus Briefen und wissenschaftlichen
Arbeiten liest der österreichische Schauspieler Klaus Maria
Brandauer. 1906 in Breslau geboren, in Berlin aufgewachsen,
schreibt Bonhoeffer einundzwanzigjährig seine Doktorarbeit
`Sanctorum Communio`, eine dogmatische Untersuchung
zur Soziologie der Kirche`. Nach Auslandsaufenthalten
in Barcelona und New York arbeitet er als Privatdozent,
Studentenpfarrer und Jugendseelsorger in Berlin, ist aktiv
im Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen und wird
Jugendsekretär des ökumenischen Rates für Praktisches
Christentum (Vorgänger des Ökumenischen Rates der
Kirchen). Mit Beginn der NS-Zeit 1933 erweist sich
Bonhoeffer als entschiedener und unerschrockener Gegner des
Unrechtssystems. Früher als die meisten seiner Zeitgenossen
erkennt er die Tragweite der staatlichen Unrechtshandlungen.
Für selbstverständlich hält er `die unbedingte
Verpflichtung` der Kirche gegenüber `den Opfern jeder
Gesellschaftsordnung`, auch wenn diese nicht der christlichen
Kirche zugehörig sind. Schon damals hält Bonhoeffer es für
möglich, dass es einmal der Kirche geboten sein könne, nicht
nur `die Opfer unter dem Rad zu verbinden`, sondern auch
`dem Rad in die Speichen zu fallen`. Vom bekennenden
Christen und Menschenrechtler wird er zum tätigen
Verschwörer. Ohne Rücksicht auf das eigene Leben beteiligt
er sich an den konspirativen Vorbereitungen eines Umsturzes.
Die Verschwörer werden enttarnt. Nach fast zweijähriger Haft
bezahlt er für seine Zivilcourage mit dem Leben.
'bb' 111-1/2005
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gesetz und gnade – eine theologische bildergeschichte von lucas cranach
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„martin luther: leben – werk – wirkung“8
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luther und rap – impulse für die arbeit mit schülern25
heiko lamprecht
der menschliche wille – frei oder unfrei? die auseinandersetzung zwischen erasmus
und luther als kursthema
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„heinrich heine – der fromme ketzer“
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hans-georg babke
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ernst-diedrich habel
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