(Hrsg.): The Shtetl 2008-1-114 Katz, Steven T. (Hrsg - H-Soz-Kult

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(Hrsg.): The Shtetl 2008-1-114 Katz, Steven T. (Hrsg - H-Soz-Kult
S. Katz (Hrsg.): The Shtetl
Katz, Steven T. (Hrsg.): The Shtetl. New Evaluations. New York: New York University Press 2007.
ISBN: 978-0-8147-4801-5; 328 S.
Rezensiert von: Tobias Brinkmann, Center for
European Studies, Harvard University
Der Ort des Shtetl ist seltsam unbestimmt. Das
Narrativ der Zerstörung hat sich quasi über die
Geschichte jüdischer Lebenswelten im ländlichen
Osteuropa gelegt und formt die Wahrnehmung in
der Gegenwart. So evoziert der Begriff Shtetl Bilder einer intakten Welt, die mit dem Holocaust unvermittelt und unwiderruflich zerstört wurde. Prägend für die Vorstellung vom Shtetl sind etwa
Arbeiten von Marc Chagall, Photos unter anderem von Roman Vishniac, und vor allem die Geschichten jiddischer Autoren wie Sholom Aleichem, Mendele Moyker Sforim, und Sholem Asch.
Doch was steckt eigentlich hinter den immer wieder reproduzierten Bildern vom Shtetl? Einige seiner wichtigsten Autoren kannten das Shtetl selbst
nur noch aus der Distanz. Chagall etwa wuchs in
einfachen, fast bourgeoisen Verhältnissen in der
trotz eines hohen jüdischen Bevölkerungsanteils
russisch geprägten Stadt Vitebsk auf und kannte
den Heimatort seiner Großeltern nur von gelegentlichen Besuchen. Ist das Shtetl eine rückwärtsgewandte Projektion einer heilen Welt, die zumindest
partiell nostalgisch aufgeladen ist und eher wenig
mit der konkreten Lebenswelt von Juden zu tun
hat?1
Wer nach Publikationen zur Sozialgeschichte
des jüdischen Shtetl in Osteuropa sucht, stößt
schnell auf eine Forschungslücke. Die meisten Autoren von Überblicksstudien rekurrieren auf Bilder
und literarische Konstruktionen des Shtetl. Neuere Spezialstudien fehlen weitgehend bzw. sind
der internationalen Forschung noch nicht zugänglich. Ein Grund ist die gewaltsame Zerstörung.
Elie Wiesel betont im vorliegenden Band, dass es
den Nazis tatsächlich gelungen sei, das Shtetl fast
vollständig und „für immer“ auszulöschen. Nach
1 Harshav,
Benjamin, Marc Chagall and His Times, A Documentary Narrative, Stanford 2003; siehe zum Hintergrund
auch: Hoffman, Eva, Shtetl: The Life and Death of a Small
Town and the World of Polish Jews, New York 1998; Eliach,
Yaffa, There Once Was a World: A Nine-Hundred-Year
Chronicle of the Shtetl of Eishyshok, New York 1999; Zipperstein, Steven J., Imagining Russian Jewry: Memory, History, Identity, Seattle 1999; Estraikh, Gennady, Krutikov,
Mikhail (Hrsg.), The Shtetl: Image and Reality: Papers on
the Second Mendel Friedman International Conference on
Yiddish, Oxford 2000.
2008-1-114
1944/45 blockierten die kommunistischen Regime
in Osteuropa die Erforschung der lokalen jüdischen Geschichte und verhinderten eine Erinnerung an die jüdischen Opfer. Die baltischen Staaten oder die Ukraine knüpfen auf unterschiedliche
Weise an diese Politik des Vergessens an. Zeugnisse, welche die deutsche Besatzung irgendwie überdauert hatten, gingen in den folgenden fünfzig Jahren verloren oder wurden (und werden) vorsätzlich
beseitigt.2
Bilder vom Shtetl repräsentieren auch eine
wichtige Facette der „virtuellen jüdischen Kultur“
(Ruth Ellen Gruber). Ein eher groteskes Beispiel
ist ein geplanter Shtetl-’Theme Park’ außerhalb
von Tel Aviv. Die Besucher sollen ein nachgebildetes litauisches Shtetl ’erleben’ und einen Einblick
in die Lebenswelt der osteuropäischen Juden erhalten. Die Geschichte des Holocaust soll hier ausdrücklich in den Hintergrund treten, denn im Mittelpunkt steht jüdisches „Leben“. Der harte, von
zahlreichen Entbehrungen, auch durch Gewalt geprägte Alltag im Shtetl und der soziale Kontext
dürften – legt man jedenfalls die Texte auf den
Web-Seiten des Projekts zugrunde – nicht im Zentrum der Präsentation stehen.3
Der Sammelband „The Shtetl“ bietet im Gegensatz dazu eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte und der Imagination des
Shtetl. Der Band ist etwas konziser gestaltet als
die unlängst erschienene Shtetl-Themenausgabe
der Zeitschrift Polin, aber die Beiträge ergänzen
sich.4 Die Autoren sind ausgewiesene Historiker
und Literaturwissenschaftler aus den USA, Israel
und Polen, die sich von der Warte ihrer jeweiligen Forschung eingehender und durchaus kritisch
mit dem Phänomen des Shtetl auseinandersetzen.
Dieser Sammelband bildet den Auftakt einer neuen Publikationsreihe des Elie Wiesel Center an
der Boston University. Der Namensgeber, selbst
noch im Shtetl aufgewachsen, hat einen bewegenden und einfühlsamen Essay beigetragen. Im ersten Teil des Bandes sind Beiträge von Historikern
versammelt, unter anderem von Immanuel Etkes
2 Bartov,
Omer, Erased: Vanishing Traces of Jewish Galicia
in Present-Day Ukraine, Princeton 2007; siehe auch Mendelsohn, Daniel, The Lost: A Search for Six of Six Million,
New York 2006.
3 Siehe meine Besprechung von Gruber: <http://hsozkult.
geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-1-050>;
zum Projekt des Shtetl Museums in Israel:
http://shtetlfoundation.org/ (10. Dezember 2007); zum
Hintergrund: Jerusalem Post, 18.2.2000.
4 Polonsky, Antony (Hrsg.), The Shtetl: Myth and Reality (Polin. Studies in Polish Jewry 17), Oxford 2004.
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und Gershon David Hundert. Im zweiten Teil werden unterschiedliche literarische Repräsentationen
des Shtetl näher beleuchtet. Hervorzuheben ist insbesondere der Aufsatz von Katarzyna Wieclawska
über das Bild des Shtetl in der polnischen Gegenwartsliteratur. Den Abschluss bildet eine detaillierte Analyse des Holocaust-Historikers Yehuda Bauer, der die Ermordung der jüdischen Bevölkerung
in zwei Orten in Wolhynien auf einer breiten Quellengrundlage rekonstruiert.
Samuel Kassof gibt in einem einleitenden Aufsatz einen ausgewogenen Überblick der Geschichte des Shtetls. Er wägt verschiedene Definitionen
ab und plädiert für die folgende: Im Gegensatz zu
Dörfern war ein Shtetl groß genug, um die wichtigsten Gemeinschaftseinrichtungen zu beherbergen (Synagoge, Friedhof, Mikveh usw.). Aber anders als eine Stadt war das Shtetl eine „face-toface community“ (6–7). Die Geschichte des Shtetl in der zweiten Polnischen Republik ist Thema eines weiteren Aufsatzes von Kassof. Hier unterstreicht er, dass trotz Urbanisierung selbst Ende
der 1930er-Jahre immer noch relativ viele Juden
im Shtetl lebten, wo sie engeren Kontakt mit ihren christlichen Nachbarn hatten als in den Großstädten. Selbst die massive Verschärfung der antijüdischen Politik nach dem Tod von Józef Pilsudski 1935 hatte je nach der lokalen Konstellation unterschiedliche Auswirkungen. Kassof warnt
ausdrücklich vor einer holzschnittartigen Darstellung dieser Geschichte und verweist auf das Nebeneinander von Kontrasten auf engstem Raum,
etwa antisemitische Gewaltakte von einigen Polen oder Ukrainern und gleichzeitig persönliche
Freundschaften zwischen Juden und anderen Polen. Als Ergänzung zu Kassofs Aufsatz lässt sich
die 2004 publizierte ethnographisch-historische
„Biographie von Nirgendwo“ der amerikanischen
Historikerin Kate Brown lesen. Sie spricht sich
am Beispiel der frühen Sowjetunion ebenfalls für
eine Kontextualisierung der jüdischen Erfahrung
aus. Auf der Basis von zahlreichen Quellen zeigt
sie eindrucksvoll, wie sich christliche und jüdische
Landbewohner in der (vor 1939) westlichen ukrainischen Grenzregion mit den neuen Verhältnissen
arrangieren konnten. Eine Stärke ihrer Studie ist
der gleichzeitige Focus auf verschiedene Gruppen
und Akteure.5
Diesen letzten Aspekt berührt auch der Historiker Israel Bartal in seinem Beitrag über „Imagined
Geography: The Shtetl, Myth and Reality“. Er belegt an einigen Beispielen die Distanz vieler jiddischer Schriftsteller zur unmittelbaren Lebenswelt
des Shtetl. Daraus resultiert eine selektive Konstruktion des Shtetl-Bildes. Im literarischen Shtetl
wird vor allem die polnische Ursprungsgeschichte ausgeblendet und wichtiger noch, die komplexen Beziehungen und die enge Nachbarschaft zwischen Juden und Christen rücken an den Rand.
Für Bartal ist das Shtetl jiddischer Autoren wie
Aleichem oder Peretz der Gegenentwurf zur rapide wachsenden Großstadt. Damit streift Bartal
ein wichtiges Thema, das weder im vorliegenden
Band noch im Polin-Themenheft ausdrücklich behandelt wird, die jüdische Migration in die urbanen Zentren im Westen der Imperien und insbesondere nach Amerika. Die Geschichte der Beziehungen zwischen den Migranten in Amerika (oder
Südafrika und anderen Destinationen) und ihren
Verwandten und Bekannten im Shtetl ist immer
noch ein unterbelichtetes Feld der Forschung. Der
Kontext der Abwanderung ist auf der Mikroebene des Shtetl so gut wie gar nicht erforscht. Doch
das bleibt Detailkritik. Dieser Band gibt der sozialund kulturgeschichtlichen Erforschung des Shtetl
einen wichtigen Impuls. Einzelne Beiträge, aber
auch der Sammelband eignen sich hervorragend
als Einführungstext(e) für Lehrveranstaltungen.
HistLit 2008-1-114 / Tobias Brinkmann über Katz,
Steven T. (Hrsg.): The Shtetl. New Evaluations.
New York 2007. In: H-Soz-u-Kult 11.02.2008.
5 Brown,
Kate, A Biography of No Place: From Ethnic Borderland to Soviet Heartland, Cambridge, Mass. 2004.
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