Kunsttechnologische Analyse des Göttinger
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Kunsttechnologische Analyse des Göttinger
Kunsttechnologische Analyse des Göttinger Barfüßerretabels von 1424 im Kontext zeitgenössischer norddeutscher Altarwerke Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines doctor philosophiae im Lehrgebiet Kunsttechnologie, Konservierung und Restaurierung von Kunst- und Kulturgut an der Hochschule für Bildende Künste Dresden, vorgelegt am 19. Mai 2010 von Babette Hartwieg aus Wolfenbüttel Tag des Rigorosum und der Verteidigung: 5. November 2010 Betreuer und Erstgutachter: Prof. Dr. Dipl. Rest. Ulrich Schießl (†) Zweitgutachter: Prof. Dipl. Rest. Volker Schaible Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext Inhaltsverzeichnis -2- Inhaltsverzeichnis Vorwort 6 1. Einführung 7 1.1 Fragestellungen 7 1.2 Forschungsansatz 9 1.3 Eingrenzung: Zeit und Raum 13 1.4 Zum Forschungsstand - Das Göttinger Barfüßerretabel in der kunsthistorischen Forschung - Niedersächsische Altarwerke um 1400 in der kunsthistorischen Literatur - Kunsttechnologischer Forschungsstand zu niedersächsischen Altarretabel des frühen 15. Jahrhunderts - Kunsttechnologische Literatur zu Altarretabeln im weiteren Umfeld - Kunsttechnologische Literatur zu Einzelthemen 15 1.5 Gegenstände des Vergleichs 31 1.6 Zu Verfahrensweise und Rahmenbedingungen bei den kunsttechnologischen Untersuchungen - Datenorganisation und Kartierung von Befunden am Barfüßerretabel - Angewandte Untersuchungsverfahren 33 2. Das Göttinger Barfüßer-Retabel von 1424 2.1 Beschreibung 44 2.2 Geschichte - Entstehungsgeschichte - Weitere Nutzungsgeschichte und Schicksal - Restaurierungsgeschichte (anhand von Archivalien und Querschliffuntersuchungen) 51 2.3 Schäden und Veränderuungen - Veränderungen der Retabelkonstruktion und statische Mängel - Großflächige Verluste - Lockerungen der Bildschichten - Durch Restaurierungen verursachte Schäden und Veränderungen - Veränderungen von Farben und Blattmetallen 71 2.4 Konservierung und Restaurierung 1999-2005 85 2.5 Technischer Aufbau 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - Maße - Verwendetes Holz - Konstruktion - Rahmen - Holzschwund und Ausbesserungen – Befunde und Bewertung - Schmiedearbeiten und Aufbau - Predella – Befunde und Rekonstruktion 90 Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext Inhaltsverzeichnis -3- 2.5.2 Bildvorbereitung: - Wergabklebung - Leinwandkaschierung - Grundierung - Unterzeichnung – Grenzen der Untersuchung - Erste Unterzeichnung: Konstruktionslinien zur Bildfeldorganisation - Zweite Unterzeichnung: Figurenanlage - Korrekturen in der Unterzeichnung - Verwendung von Schablonen - Imprimitur 106 2.5.3 Blattmetallauflage und ihre Oberflächengestaltung: - Vorritzung - Anlegemittel - Verwendete Blattmetalle und ihre Qualitäten - Polituren - Punzierungen und Trassierungen - Gestaltung der Silberpartien - Darstellung von Brokatstoffen 124 2.5.4 Herstellung der Malerei - Verwendete Pigmente - Verwendete Bindemittel - Beobachtungen zum Farbauftrag - Pentimenti - Plastische Effekte in der Malerei 142 2.5.5 Verzierungstechniken auf Malerei und Fassung - Schablonierte farbige Muster - Blattmetalldekorationen auf der Malerei - Zierleisten 149 2.5.6 Überzüge 155 2.6 156 Zusammenfassung und Auswertung - Technologische Charakteristika - Aufgabenteilung und Werkstattstruktur beim Göttinger Auftrag 3. Ausgewählte technische Befunde im zeitgenössischen Kontext 3.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - Holzauswahl und Tafelfügung - Retabelformen und -konstruktionen - Predellenformen 164 3.2 Bildvorbereitung - Leinwandkaschierungen - Schwarz pigmentierte Grundierungen - Weiße Imprimiturenoder Untermalungen - Orangefarbene Imprimituren und Mischformen - Unterzeichnung - Verwendung von Schablonen 182 Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext Inhaltsverzeichnis -4- 3.3 Metallauflagen und Punzierungen - Blattmetalle: Farben und Qualitäten - Punzierwerkzeuge - Werkzeuggebrauch - Gestaltung der Nimben - Pointillierte Figuren und Modellierungen auf Blattmetallauflagen 199 3.4 Brokatimitationen - Textilstrukturimitationen - Motivschatz 210 3.5 Bildfeldteilende Zierbänder - Gemalte Architekturrahmen - Aufgemaltes und/oder schabloniertes Musterband - Erhabenes Musterband in Pastiglia-Technik - Erhabenes Musterband aus in Modeln geprägten, applizierten Elementen - Musterband aus Metallapplikationen - Auswertung - Metallapplikationen aus anderem Zusammenhang 218 4. Werke und Werkstatt des Barfüßermeisters: 233 4.1 Magdalenenaltar aus Hildesheim - Beschreibung und Rekonstruktion des Retabels - Entstehungsgeschichte und kunstgeschichtliche Einordnung - Weiteres Schicksal und Restaurierungsgeschichte - Bildträger und Bildvorbereitung - Metallauflagen und Malschicht 234 4.2 Drei-Königs-Altar in Offensen - Beschreibung - Entstehungsgeschichte und kunstgeschichtliche Einordnung - Restaurierungsgeschichte - Bildträger und Bildvorbereitung - Malschicht und Fassung - Veränderungen 244 4.3 Gedächtnistafel für Heinrich den Löwen und Otto IV. und ihre Gemahlinnen: Neuzuschreibung - Beschreibung - Bildträger und Bildvorbereitung - Malschicht - Veränderungen 257 4.4 Reliquienbüste um 1420 - Beschreibung - Holzkern und Fassungsvorbereitung - Fassung - Veränderungen 263 Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext Inhaltsverzeichnis -5- 4.5 Vergleich und Revision der Zuschreibungen - Werke des Barfüßer-Meisters im technologischen Vergleich - Bildwerke aus der Barfüßer-Werkstatt? - Weitere Zuschreibungen an den Barfüßer-Meister 267 4.6 Zum Werkstattstandort oder: War der Barfüßer-Meister ein welfischer Hofmaler? 276 4.7 Resumee und Ausblick für die weitere Forschung 280 5. Zusammenfassung 284 6. Literatur 294 7. Anhang: Materialien zum Göttinger Barfüßerretabel 7.1 Datenorganisation: Aufteilung in Bildfelder und Nummerierung 311 7.2 Katalog der am Barfüßerretabel vorkommenden Brokatmuster 314 8. Abbildungen 8.1 Göttinger Barfüßerretabel 8.2 Werke aus der Werkstatt des Barfüßer-Meisters 8.3 Vergleichsabbildungen 8.4 Abbildungsverzeichnis 9. Lebenslauf 344 400 427 450 452 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext -6- Vorwort Das Niedersächsische Landesmuseum Hannover bewahrt eine herausragende Sammlung spätmittelalterlicher Altarkunst. Aus meiner Tätigkeit als Leitende Restauratorin dieser Sammlung heraus entstand die vorliegende Arbeit. Seit meinem Wechsel in gleicher Funktion an die Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin im Jahr 2005 wurde sie dort neben meinem Hauptberuf fortgeführt und vollendet. Die ehemalige Direktorin des Landesmuseums Frau Dr. Heide Grape-Albers ermöglichte die Untersuchung der Werke im Besitz des Niedersächsischen Landesmuseums Hannover. Mehr noch gebührt Herrn Prof. Dr. Bernd W. Lindemann als Direktor der Gemäldegalerie in Berlin mein aufrichtiger Dank für die Unterstützung, die er dem Promotionsvorhaben in verschiedenster Weise zuteil werden ließ. Prof. Dipl. Restaurator Dr. Ulrich Schießl spornte zur Anmeldung dieser Arbeit an und übernahm die Betreuung. Seine Anregungen und Wünsche für die Überarbeitung der Dissertation zur Veröffentlichung habe ich noch alle aufgreifen und umsetzen können. Es ist schwer zu begreifen, dass man ihn jetzt nicht mehr fragen kann. Seine Tipps und Verbindungen kamen auch dem von der Autorin von 1999 bis 2005 im Niedersächischen Landesmuseum geleiteten Restaurierungsprojekt zum Göttinger Barfüßeraltar zugute. Ich gedenke seiner mit Dankbarkeit. Prof. Dipl. Rest. Volker Schaible danke ich sehr, dass er trotz seiner vielen anderen Verpflichtungen freundlicherweise die Aufgabe des Zweitgutachters übernahm. Für fachliche Hinweise danke ich Dr. Cornelia Aman, Dr. Bernd Bünsche, Dr. Maria Deiters, Prof. Dr. Christoph Herm, Dipl. Rest. Kirsten Hinderer, Dr. Charlotte Klack-Eitzen, Dr. Stephan Kemperdick, Dipl. Rest. Andreas Mieth, Christine Rödling M.A., Dr. Christine Wulf, Adelheid Wiesmann-Emmerling und weiteren hier Ungenannten. Dr. Dietmar Lüdke sei für den angenehmen interdisziplinären Austausch und seine kritischen Anmerkungen zum Manuskript herzlich gedankt. Viele Freunde und die Familie haben das langwährende Projekt geduldig, zuhörend und diskutierend, tatkräftig, korrekturlesend und ermutigend unterstützt. Namentlich erwähnen möchte ich Dr. Nicola Bothe, Prof. Dr. Achim Raschke, Dr. Marlene Müller-Rytlewski und Barbara Hartwieg. Ich widme die Arbeit im Andenken Cord und Jürgen Hartwieg. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. 1. Einführung -7- Einführung Die vorliegende Arbeit widmet sich dem Göttinger Barfüßerretabel von 1424, einem komplett bemalten, riesigen Altarwerk niedersächsischer Herkunft. Sie folgt einem kunsttechnologischen Forschungsansatz, der aus der wissenschaftlichen Arbeit der Restauratoren entwickelt wurde. Die Arbeit bestimmt und rekonstruiert die besonderen maltechnischen Qualitäten des Retabels und bewertet diese im Kontext zeitgenössischer Altarwerke. Sie gelangt auf diese Weise zu neuen Erkenntnissen, die das Bild vom Göttinger Altar und von der mit diesem Auftrag betrauten Werkstatt in der Kunstgeschichtsforschung erweitern und zugleich neue Aspekte zur Technikgeschichte der Malerei hinzufügen. 1.1 Fragestellungen Folgende drei übergreifende Fragestellungen leiteten diese Arbeit: (1) Das Göttinger Barfüßerretabel ist in der kunsthistorischen Forschung über Jahrzehnte wenig beachtet und gegenüber den anderen großen Altären der Zeit als künstlerisch weniger bedeutungsvoll eingeschätzt worden.1 Sein schlechter Erhaltungszustand trug zu dieser Einschätzung sicher nicht unwesentlich bei. Diese Vernachlässigung des Retabels wie auch seines nahen Umfeldes bildete den Anlass, den Wandelaltar in den Mittelpunkt der kunsttechnologischen Untersuchungen zu stellen und damit der Auseinandersetzung von Seiten der Kunsthistoriker neue Impulse zu geben. Als erste Fragestellung ergibt sich hieraus für diese Arbeit: Wie lässt sich das Bild vom Göttinger Barfüßerretabel in der Forschung mit Hilfe des – im Folgenden aufgeschlüsselten – kunsttechnologischen Ansatzes erweitern und neu begründen? (2) Darüber hinaus begleitet die Arbeit die Frage nach dem Verhältnis der – begrenzten – kunsttechnologischen Analyse und einer – breit zu fundierenden – Technikgeschichte der Künste. Es ist eine Frage, die Straub ähnlich erstmals vor bald 40 Jahren anlässlich der Untersuchung des Tiefenbronner Magdalenenaltars von 1432 stellte.2 Die Geschichtsschreibung dieses Kapitels der Kunstgeschichte bezieht grundlegendes Material aus dem vom „philologischen Zweig der Kunsttechnologie“3 inzwischen erschlossenen, großen 1 Siehe Kap. 1.4 Zum Forschungsstand, S. 15 f. STRAUB/RICHTER/HÄRLIN/BRANDT 1974, S. 11. 3 Ebenda. 2 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung -8- Konvolut an historischen Quellenschriften.4 Die Kunstwerke selbst bilden als Quellenmaterial die zweite Säule dieses Forschungsfeldes. In der vorliegenden Arbeit wird die These verfolgt, dass nur die systematische kunsttechnologische Analyse einzelner Kunstwerke einen eigenständigen Beitrag zu einer Technikgeschichte der Künste liefern kann und hierfür, im Sinne eines Mosaiksteins, die notwendige Voraussetzung darstellt. Sie soll vom heutigen Standpunkt aus ergänzt und aktualisiert werden mit der Frage nach der dafür nötigen Tiefe der Untersuchungen und nach den Kriterien der Systematik. (3) Die Arbeit stellt zugleich anhand dieser Fallstudie die Frage sowohl nach der Notwendigkeit wie auch nach der Tragfähigkeit des integrierten kunsttechnologischen Ansatzes im Rahmen der werkbezogenen Forschung. Diese bedarf heutzutage im Kern dreier zusammenwirkender Disziplinen, die durch Kunsthistoriker, Naturwissenschaftler und Restauratoren vertreten werden. Unbestritten ist, dass die Fortentwicklung und Erweiterung des methodischen Repertoires der Kunstgeschichtsdisziplin5 seitens der Restauratoren neue Erkenntnisse zur Analyse einzelner Werke oder Werkkomplexe beisteuern konnte und auch in Zukunft zugewinnen wird. Zu fragen ist aber, in welchem Bereich werkbezogener Forschung die spezifische Arbeit von Restauratoren wichtige neue bzw. notwendige kritische wissenschaftliche Beiträge liefert und damit eine Voraussetzung für weitere kunst- und naturwissenschaftliche Auswertungen darstellt. Abzustecken wäre zum Beispiel, wie sehr die (exemplarische) Auswertung technischer Aufnahmen mit den Mitteln der Kunstgeschichte zum einen, die Materialbestimmungen mit dem naturwissenschaftlichen Instrumentarium zum anderen der kunsttechnologischen Analyse durch den Restaurator bedürfen. Andererseits muss die Tragfähigkeit des integrierten kunsttechnologischen Ansatzes kritisch geprüft und die Frage gestellt werden, wie belastbar die Kriterien kunsttechnologischer Analyse für die weitere Auswertung in Fragen zum Beispiel der Zuschreibung an eine mittelalterliche Maleroder Bildhauerwerkstatt sind. 4 Bibliographie siehe Ulrich Schießl, Die deutschsprachige Literatur zu Werkstoffen und Techniken der Malerei von den Anfängen bis ca. 1950, Worms 1989. 5 Das methodische Repertoire der Kunstgeschichtsschreibung wie es z.B. in BELTING ET. AL. 1988 aufgeschlüsselt wird. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung -9- 1.2 Forschungsansatz Der hier vertretene kunsttechnologische Ansatz6 besteht aus vier verschiedenen Dimensionen oder Herangehensweisen: (1) Systematische Befundanalyse: Im Zentrum dieser Arbeit steht die systematische technologische Analyse eines großen Retabels aus der ausklingenden Stilepoche der „Internationalen Gotik“ in Norddeutschland. Das Augenmerk richtet sich dabei auf den Original- oder Erstzustand7 des Göttinger Barfüßerretabels, auf die besonderen technischen Eigenarten der ausführenden Schreiner- und Malerwerkstatt und auf den in dieser Werkstatt gebrauchten Musterkanon. Die Systematik der Herangehensweise ist eine wesentliche Grundbedingung, um möglichst viele Erkenntnisse und reiches Datenmaterial zu gewinnen. Die Kriterien einer systematischen Befunderhebung werden allerdings innerhalb der Disziplin der Restauratoren stetig weiter entwickelt und verfeinert.8 So wird hier eine Maßzahl zur Bestimmung der Dichte von Punzen eingeführt, die den Vergleich objektiviert.9 Der unter dem Schlagwort „Befundanalyse“ gefasste Ansatz klärt den Originalbestand und erweitert das Wissen über die Herstellung des Retabels. Damit wird zugleich Material zu den Maltechniken im Anfang des 15. Jahrhunderts im genannten geografischen Raum erschlossen. 6 Die Verwendung des Begriffs „Ansatz“ („Approach“) orientiert sich in Abgrenzung von dem manchmal synonym gebrauchten „Theorie“ und „Methode“ an den innerhalb anderer geisteswissenschaftlicher Disziplinen gegebenen Definitionen: „Im Vergleich zu einer vollständig ausformulierten Theorie hat ein Ansatz weniger Informationsgehalt in dem Sinne, daß weniger Fragen schon vorab entschieden werden und mehr Fragen empirisch beantwortet werden müssen. (Anm.: In diesem informationstheoretischen Sinne ist der Unterschied zwischen einem Ansatz und einer Theorie gradueller Natur.) […] Darüber hinaus sollte uns ein Ansatz ein Ordnungssystem an die Hand geben, mit dessen Hilfe wir die Vielzahl von Partialtheorien oder begrenzteren „Kausalmechanismen“ ordnen können.“ Fritz W. Scharpf, Interaktionsformen, Wiesbaden 2000, S. 64f.. Zum Begriff „Methodik“: „Für die Praxis kann der Approach eine eigenständige Methodik entwickeln. Methodik bezeichnet hier die Strukturierung des strategischen Denkens und Handelns durch eine spezifische Art und Weise des Vorgehens und die Festlegung relevanter Referenzen.“ Joachim Raschke, Ralf Tils, Politische Strategie. Eine Grundlegung. Wiesbaden 2007, S. 15. Hier wäre „die Strukturierung des strategischen Denkens und Handelns“ zu ersetzen durch „die Strukturierung des kunsttechnologischen Untersuchungskonzeptes“. 7 Schießl propagiert die Verwendung des präziseren Begriffs „Erstzustand“ für den allgemein üblichen Begriff des „Originalzustands“ in BELTING ET. AL. 1988, S. 58. 8 Schaible und Lipinski haben z.B. zur genauen Befunderhebung an Bildträgergeweben das neue Instrument der „Gewebestrukturanalyse“ entwickelt. Wolff H. Lipinski, Möglichkeiten der schriftlichen, grafischen und fotografischen Dokumentation von Gewebestrukturen im Gemäldebereich, Seminararbeit Akademie der Bildenden Künste Stuttgart 2006, Veröffentlichung in Vorbereitung. 9 Vergleiche Kap. 3.3, S. 203f.. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 10 - Die Befundanalyse geht hier aber über die Erfassung des Erstzustands noch hinaus und bezieht nachfolgende historische Schichten und Überzüge in gleicher Weise ein. Sie führt damit zu (2): (2) Kontextorientierte Schichtenanalyse. In der parallelen Auswertung von historischen Quellen zur Geschichte des Retabels und Analysen von Schichten wird der Versuch unternommen, zusätzliches Material und neue Erkenntnisse zu Geschichte und Rezeptionsgeschichte des Retabels wie auch zur Restaurierungs- und Rezeptionsgeschichte im 19. Jahrhundert überhaupt zu gewinnen. Damit wird die allein auf den Originalbestand bezogene Herangehensweise, „in der Kopplung von Quellschriftum und Anamnese in situ eine präzisere Technikgeschichte der bildenden Künste zu schreiben“,10 zu anderem Forschungszweck abgewandelt und fortgeführt. Während bei der Untersuchung von Skulpturen- oder Architekturfassungen spätere Überfassungen, häufig von ebenso hohem künstlerischen und historischen Rang, meist wertneutral in gleicher Weise wie die Schichten der Erstfassung aufgenommen und in „Stratigrafien“ dokumentiert werden, konzentrieren sich gemäldetechnologische Untersuchungen bis heute in der Regel auf die Auswertung originaler Bildschichten.11 Aus mehreren Gründen bleiben weitere historische Schichten hier meist unberücksichtigt: Retuschen und Übermalungen auf Gemälden haben aus heutiger Sicht ihre Daseinsberechtigung meist verloren, sobald sie originale Malschichten allzu sehr überdecken. Ursprüngliche Firnisse sind auf Gemälden vor 1900 kaum mehr, allenfalls in Resten anzutreffen. Spätere Firnisschichten werden dagegen wegen ihrer störenden Vergilbungseigenschaften und der Schwierigkeit, die einzelnen Schichten voneinander optisch und physisch zu trennen, nicht wie Fassungsschichten bewertet und respektiert.12 Überzüge sind nicht nur schwer darzustellen und zu analysieren, ihre Erforschung interessiert meist lediglich im Vorfeld einer geplanten Restaurierung hinsichtlich ihrer Löslichkeitseigenschaften. Selten werden sie als historisches Quellenmaterial zur Bestimmung von „Zeitschichten“ herangezogen, um die archivalisch belegten 10 Schießl begründet hierin die eigenständige Leistung der materiellen Befundsicherung. Ulrich Schießl, Materielle Befundsicherung an Skulpturen und Malerei, in: BELTING ET. AL. 1988, S. 59. 11 Der Begriff „Bildschichten“ soll den oft übergreifend benutzten Begriff der „Malschichten“, einem Vorschlag Prof. Jirina Lehmanns folgend, präzisieren und alle auf einem Bildträger aufliegenden, nicht nur aufgemalten Schichten, von der Grundierung über Farbschichten, Metallauflagen, Überzügen erfassen. 12 Hierzu ausführlicher: Hartwieg 2010. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 11 - historischen Daten zu ergänzen. Gerade aber, wenn im Rahmen der Restaurierung eines Gemäldes, Schichten – seien es Retuschen, Übermalungen, Ergänzungen oder Überzüge – unwiederbringlich entfernt werden, muss es die Aufgabe der Restauratoren sei, diese genau zu analysieren und zu dokumentieren. Auch im Rahmen der Restaurierung des Göttinger Barfüßeraltars wurden mehrere Überzüge und Übermalungsschichten entfernt, jedoch nicht ohne dass die Schichtenabfolge analysiert und in den Zusammenhang mit überlieferten historischen Daten gestellt worden wäre. Hier liegt der Vergleich mit den Methoden der Archäologen nahe, die häufig Dokumentationen historischer Schichten nicht zum Zweck der materiellen Erhaltung des Originals betreiben, sondern zur Sicherung von Informationen. Nach der Dokumentation verliert für viele Archäologen das konkrete Monument, also das Quellenmaterial, an Interesse und kann verschüttet oder für eine neuere Nutzung aufgegeben werden.13 Die „kontextorientierte Schichtenanalyse“ wird hier als Dimension des kunsttechnologischen Ansatzes erprobt, um zusätzliches Datenmaterial zur Rekonstruktion der Restaurierungs- und Rezeptionsgeschichte zu generieren. (3) Restaurierung als Dimension kunsttechnologischer Analyse. Die Restaurierung als erstrebenswerten oder gar notwendigen Bestandteil kunsttechnologischer Analyse anzusehen, widerspricht dem Bewahrungsauftrag, der Prämisse jeder restauratorischen Tätigkeit ist. Jedoch eröffnet die Restaurierung Untersuchungsmöglichkeiten und Erkenntnisgewinn, die dem kunsttechnologischen Ansatz eine zusätzliche Dimension hinzufügen. Nur während der aufdeckenden Arbeit der Restauratoren sind – ähnlich dem Grabungsvorgang bei archäologischen Projekten – Erkenntnisse zum materiellen Bestand und zum Herstellungsprozess des Altarwerks zu gewinnen, die nach Abschluss einer Restaurierung wieder verborgen sind. Dazu gehören zum Beispiel: Aufdecken verdeckter oder dünnster Schichten, die in den Querschliffen auch mit naturwissenschaftlichen Untersuchungsverfahren nicht analysierbar sind, Freilegen ursprünglicher und gealterter Farberscheinungen, Testen von Löslichkeitseigenschaften. Die Mittel der Herangehensweise in der Restaurierung sind meist empirischer Natur, wobei 13 Im Rahmen der Digitalisierung von Archivmaterial und Bibliotheken wird die Frage derzeit heftig diskutiert, ob man Foto- und Archivmaterial nach ihrer Digitalisierung vernichten darf. Vgl. Florence Declaration – Empfehlungen zum Erhalt analoger Fotoarchive. 30. Oktober 2009, http://www.khi.fi.it/pdf/florence_declaration_de.pdf vom 20.01.2010. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 12 - sich die Restaurierung damit in den etablierten Kreis empirischer Wissenschaften einfügt.14 Die Trennung von technologischen Untersuchungen und restauratorischer Arbeit, die sich auch in der Entwicklung des Fachs „Technical art history“ abzeichnet, bedeutet einen Informations- und Qualitätsverlust auf beiden Seiten, der letztendlich zu Lasten des Kunstwerks geht. Eine unabhängig von einer Restaurierung durchgeführte kunsttechnologische Untersuchung wird mit Hilfe zerstörungsfreier Verfahren schnell an ihre Grenzen stoßen und versucht sein, Probeentnahmen hinzuzuziehen, die es so weit als möglich zu vermeiden gilt. Diese liefern zudem lediglich punktuelle Zusatzinformationen und machen nur in einem gesamtheitlichen Untersuchungskonzept Sinn. Jede restauratorische Bearbeitung bedingt ihrerseits eine gründliche Voruntersuchung durch den Bearbeiter selbst und wird weitere Erkenntnisse, wie oben beschrieben, im Verlauf der Arbeit erzielen. Die Chance, die eine Restaurierung also für die kunsttechnologische Analyse bietet, sollte nicht nur gelegentlich und unter ausgewählten Fragestellungen, sondern grundsätzlich und mit abgestimmter Systematik für die Forschung genutzt werden – aus methodischen Gründen und auch, um Ressourcen zu bündeln. Die Gelegenheit, technologische Untersuchung und konservatorisch-restauratorische Maßnahmen als ebenso wichtige Bestandteile der Forschung zu verstehen und auszuführen, bot das unter der Leitung der Autorin von 1999 bis 2005 im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover durchgeführte „Projekt zur Konservierung, Restaurierung und Erforschung des Göttinger Barfüßeraltars von 1424“. Zuvor hatten einige in der Verantwortung der zuständigen Denkmalpflegeinstitute realisierte große Restaurierungsprojekte eindrucksvoll beweisen können, welchen Gewinn die Restaurierung für die Forschung bedeutet. Genannt seien beispielhaft: Bernt Notkes Triumphkreuzgruppe im Dom zu Lübeck, der Pacher-Altar in St. Wolfgang, der Englische Gruß des Veit Stoß in St. Lorenz in Nürnberg sowie dessen Schwabacher Hochaltar.15 In allen diesen Fällen 14 Nach der Wissenschaftstheorie eines Karl Popper wird das Fach „Konservierung, Restaurierung und Kunsttechnologie“ immer zu den „empirischen Wissenschaften“ gehören. Dazu René Larsen in: „The Science of Conservation and Restoration as a Discipline,“ Vortrag gehalten am 6. Sept. 2008 beim Oranienbaum Colloquium, Dessau 4.-7.09.2008, Veranstalter: Universiteit van Amsterdam, Hochschule für Bildenden Künste Dresden, ENCoRE, Kulturstiftung Dessau-Wörlitz. 15 Karlheinz Stoll, Ewald M. Vetter et. al., Triumphkreuz im Dom zu Lübeck. Ein Meisterwerk Bernt Notkes. Wiesbaden 1977; Manfred Koller / Norbert Wibiral, Der Pacher-Altar in St. Wolfgang, Untersuchung, Konservierung und Restaurierung 1969-1976 (Studien zu Denkmalschutz und Denkmalpflege XI), Wien 1981; Der Englische Gruß des Veit Stoß zu St. Lorenz in Nürnberg (Bayerisches Landesamt Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 13 - bezieht die kunsttechnologische Forschung einen nicht zu unterschätzenden Vorteil und Gewinn daraus, dass technologische Untersuchung und restauratorische Bearbeitung hier ineinander griffen. (4) Vergleichende Methode. Die vergleichende oder komparative Methode gehört seit ihrer Einführung in der Paläontologie um 1800 zum allgemeinen, etablierten Methodenschatz der Wissenschaften.16 In der Kunstgeschichtsdisziplin führten um 1900 Giovanni Morelli Formalkriterien als Basis für einen vergleichenden Ansatz17 sowie Heinrich Wölfflin das „vergleichende Sehen“ als Methode und Hilfsmittel der Zuschreibung ein.18 Sie wird hier bis heute viel praktiziert. Im Rahmen des kunsttechnologischen Ansatzes steht die vergleichende Herangehensweise dem methodischen Vorgehen in den Naturwissenschaften näher. Grundlegend wichtig ist, dass Größen und Kriterien, die den Vergleich und eine Klassifikation ermöglichen, schon, wie oben angesprochen, bei der systematischen Befundanalyse festgelegt werden. Am Göttinger Barfüßerretabel haben sich aus der Befundanalyse einige besondere künstlerisch-technische Merkmale herauskristallisiert. Erst aus dem Vergleich dieser Phänomene mit Befunden von zeitgenössischen Werken und aus ihrer Kontextualisierung wird die Eigenständigkeit der technischen Erfindung und die Qualität der Ausarbeitung bewertbar. 1.3 Eingrenzung: Zeit und Raum Bevor der Forschungsstand zum Thema dieser Arbeit referiert wird, ist der zeitliche und geografische Raum zu umreißen, der hier in die Betrachtung einbezogen werden soll. für Denkmalpflege Arbeitsheft 16), München 1983; Der Schwabacher Hochaltar (Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege Arbeitsheft 11), München 1982. 16 Georges Cuvier (1769-1832) entwickelte die „Vergleichende Anatomie“ in der Paläontologie und gilt als Begründer dieser Methode (Georges Cuvier, Leçons d'anatomie comparée, Tome 1er, 2. Aufl. Paris 1835). Allerdings gingen ihm, zum Beispiel mit dem Dänen N. Steno, im selben Forschungsgebiet der Paläontologie bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Vorläufer voraus (Karl-Heinz Schlote: Chronologie der Naturwissenschaften: Der Weg der Mathematik und der Naturwissenschaften von den Anfängen in das 21. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2002, S. 210.) Die vergleichende Methode wurde im 19. Jahrhundert in zahlreichen anderen Disziplinen viel diskutiert und hat sich in der Literaturwissenschaft als Komparatistik besonders etabliert. (Erich Rothacker, Die vergleichende Methode in den Geisteswissenschaften. In: ZS für vergleichende Rechtswissenschaft 60/1957, S. 13-33.) 17 Giovanni Morelli, Kunstkritische Studien über italienische Malerei, 3 Bände, Leipzig 1890-1893. 18 Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München 1915. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 14 - Ausgehend vom Göttinger Barfüßerretabel interessieren Altarwerke, die im Zeitraum von etwa 1370 bis 1440 entstanden sind, also Werke der Vorläufer und älteren wie jüngeren Zeitgenossen oder unmittelbaren Nachfolger. Hier belegen die erhaltenen Altarwerke – welchen Bruchteil des ursprünglichen Bestandes sie auch ausmachen19 – eine Blüte in Kunstproduktion und Stil, der als „internationale Gotik“ in die Kunstgeschichtsschreibung eingegangen ist. Räumlich soll sich das Augenmerk zunächst auf „niedersächsische“ Kunst richten, wobei zu definieren ist, was hierunter in der Zeit um 1400 zu verstehen ist. Aus mehreren Gründen soll hiermit ein Gebiet umschrieben werden, das die Städte Göttingen einschließlich Oberwesergebiet, Hildesheim, Hannover, Lüneburg, Braunschweig, Wolfenbüttel markieren. Zum einen entspricht dies einer Region, für die die Kunstgeschichtsschreibung übereinstimmende Stilmerkmale traditionell als „niedersächsisch“ bezeichnet und zum Beispiel von der hamburgischen Kunst um Meister Bertram absetzt.20 Zum anderen sind für die Arbeiten aus der Werkstatt des Barfüßer-Meisters, wie noch zu zeigen sein wird, die dynastischen Verbindungen des welfischen Herzoghauses Braunschweig-Lüneburg einschließlich des Teilfürstentums Göttingen von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus belegt der seit 1384 bestehende, hansische „Sächsische Städtebund“ enge Handelsbeziehungen unter den Städten zwischen Weser und Elbe. Seine größte Ausdehnung erreichte dieser Handelsbund, als sich die Städte Braunschweig, Goslar, Hildesheim, Bockenem, Alfeld, Gronau, Northeim, Göttingen, Einbeck, Hameln, Hannover, Helmstedt, Magdeburg, Halle, Halberstadt, Quedlinburg, Aschersleben, Osterode, Merseburg und Naumburg mit zwischen 1426 bis 1432 geschlossenen Verträgen verbündeten.21 Entsprechend bezieht Deiters die östliche 19 Die Verlustrate wird je nach den Zerstörungen durch Bildersturm und Kriegsschäden regional unterschiedlich sein. Die Schätzungen zum Anteil des heute Erhaltenen schwanken in der kunstgeschichtlichen Diskussion z.B: für die reich überlieferte Altkölner Malerei zwischen ca. 3% (Gert von der Osten, Vermutungen über die Anzahl der Altkölner Tafel- und Leinwandbilder, in: AUSST. KAT. KÖLN 1974, S. 26-29) und ca. 50 bis sogar 60% (Frank Günter Zehnder). Kemperdick und Chapuis diskutieren diese Vorschläge aktuell noch einmal und halten aus plausiblen Gründen einen Anteil von 10% erhaltener Denkmäler von der ursprünglichen Produktion für wahrscheinlich (Stephan Kemperdick, Julien Chapuis, Kölner Tafelmalerei, in: Ausst. Kat. „Kölns Glanz und Größe“, Museum Schnütgen Köln 2011; für die freundliche Überlassung seines Manuskriptes danke ich Dr. Stephan Kemperdick). 20 Die Ausstellung „Goldgrund und Himmelslicht“ hat 1999/2000 die durch die Zeitläufte sehr reduzierten Bestände mittelalterlicher Kunst aus Hamburg zusammengetragen und daraus das Bild der spezifisch hamburgischen Kunst zu veranschaulichen. Der als „Handbuch für die Hamburger Kunst des Mittelalters“ angekündigte Katalogband verzichtet auf jeden kunsttechnologischen Forschungsansatz, sogar fast vollständig auf technische Angaben. AUSST.KAT. HAMBURG 1999. 21 Ausst. Katalog: „Hanse - Städte - Bünde. Die sächsischen Städte zwischen Elbe und Weser um 1500“, hg. v. Matthias Puhle, 2 Bd., Magdeburg 1996. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 15 - Region bis zur Elbe mit ein und nennt das Gebiet, wie im 12./13. Jahrhundert historisch eingeführt, „Sachsen“.22 Beim Vergleich künstlerisch-technischer Einzelbefunde wird der Blick indes noch über die „(nieder-)sächsische“ Region hinaus auf norddeutsche Altarwerke gerichtet, was die Einordnung und Bewertung erst möglich macht. 1.4 Forschungsstand Das Göttinger Barfüßerretabel in der kunsthistorischen Forschung Die kunsthistorische Forschung hat dem Göttinger Barfüßerretabel seit dem Beginn der Kunstgeschichtsschreibung wenig Beachtung geschenkt. Die Forschungsliteratur bot eine Vielzahl von Zuschreibungen und sah bei ihrer stilkritischen Betrachtung divergierende Abhängigkeiten. Die Bewertung der künstlerischen Qualität ähnelt sich aber in dem, was Stange 1938 auf der Basis der ihm vorliegenden Doktorarbeit von Behrens wie folgt beschreibt: „Raumlos und flächig sind auch die Bilder dieses Altars komponiert. Dicht gedrängt sind die Köpfe der Figuren in der Kreuzigung übereinandergestaffelt. Landschaftliche und architektonische Motive werden nur soweit gegeben, als sie für den Bildinhalt bedeutsam sind. Raumschaffend sind sie nicht, […] Und unplastisch, körperlos sind folgerichtig dann auch die Figuren. Schlaff und schlauchartig, linienhaft sind die Falten – mehr gezeichnet als modelliert. […] Ausdruckslos, maskenhaft sind die Gesichter seiner Figuren. Er war kein großer Maler und Künstler.“23 An einem Alleinstellungsmerkmal kam die Kunstgeschichtsschreibung jedoch nicht vorbei: Das Retabel überragt andere Wandelaltäre mit seiner schieren Größe. Mit einer Höhe von über 3 m ohne Predella und von ca. 5 m in der Aufstellung im Kirchenraum sowie einer Breite von fast 8 m in geöffnetem Zustand und einer bemalten und gefassten Fläche von rund 60 qm ist der Göttinger Barfüßeraltar nicht nur das größte nur mit Malereien versehene Flügelretabel Norddeutschlands, sondern auch – nach Kenntnis des Niedersächsischen Landesmuseums – das größte museal präsentierte mittelalterliche 22 Maria Deiters, „Das Barfüßerretabel und Mitteldeutschland – Überlegungen zum kunsthistorischen Beziehungsgefüge im spätmittelalterlichen „Niedersachsen“, Vortrag gehalten am 30.09.2006. Das in Vorbereitung befindliche Manuskript für den Kolloquiumsband konnte die Autorin dankenswerter Weise einsehen. 23 STANGE 1938, Bd. 3, S. 188-189. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 16 - Retabel in Nordeuropa. Die Ausmaße übertreffen die des etwa 20 Jahre älteren Wildunger Altars von Conrad von Soest24 mit nur einem Flügelpaar um Einiges und selbst die des doppelt wandelbaren Isenheimer Altars von Grünewald (um 1512-1516) in Colmar25. Das um 1430 datierte ehemalige Hochaltarretabel aus St. Georgen in Wismar mit zwei Flügelpaaren, die im inneren Zustand im Schrein und an den Innenflügeln allerdings Skulpturen zeigen, ist das einzige erhaltene Beispiel eines Flügelretabels mit noch größeren Ausmaßen in Norddeutschland. Es erreicht bei geöffneten Flügeln eine Spannweite von 9,50 m und eine Gesamthöhe von 4,52 m.26 Eine zweite Sonderstellung bezieht das Retabel aus der Beschränkung auf Malerei bei Verzicht auf jegliches Schnitzwerk, selbst in der inneren, hochrangigsten Ansichtsseite des doppelflügeligen Altarretabels. Während der rein gemalte Flügelaltar mit nur einem Flügelpaar respektive zwei Schauseiten seit der Mitte des 14. Jahrhunderts in allen Regionen Deutschlands, nach den heute erhaltenen Denkmalen zu urteilen, offensichtlich ein häufiger Typus gewesen ist, listet das Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte nur drei doppelt wandelbare Flügelretabel mit Malerei: neben dem Göttinger Barfüßerretabel den fast gleichzeitig entstandenen Thomas- oder Englandfahrer-Altar von Meister Francke, am 4. Dezember 1424 für St. Johannis in Hamburg in Auftrag gegeben, heute in der Hamburger Kunsthalle, und das Graudenzer Altarretabel von ca. 1390, heute im Nationalmuseum Warschau.27 24 Conrad von Soest, Wildunger Altar (1403) im geöffneten Zustand ca. H. 188,2 cm, B. 609,6 cm. Vermaßung durch Landesamt für Denkmalpflege Hessen. In: Arthur Engelbert, Conrad von Soest, ein Dortmunder Maler um 1400, Dortmund/Köln 1995. 25 Grünewald, Isenheimer Altar (um 1512-1516) im geöffneten Zustand bei rekonstruierten Rahmenschenkeln H. ca. 310 cm, B. über 7 m (Maße einer Flügeltafel ohne Rahmen, Verkündigung: H. 292 cm, B. 167 cm; Breite von vier Flügeln ohne Rahmen: 666 cm), Predella: H. 84 cm, B. 366 cm; AUSST.KAT. COLMAR 2007, S. 68. 26 Hochaltarretabel St. Georgen, derzeit noch in St. Nikolai Wismar. Die Maße wurden bei der ohne gründliche kunsttechnologische Befundanalysen durchgeführten Restaurierung 2003-2007 durch A. Mieth neu ermittelt: Flügel H. 315 cm, B. 237 cm; Mitteltafel H. 315 cm, B. 473 cm; Blattkamm H. 58 cm ; Predella: H. 79 cm, B. 480 cm. Für die Auskünfte zu technologischen Beobachtungen und Maßen ist Herrn Andreas Mieth sehr zu danken. 27 BACHMANN/JÁSZAI 2003, Sp. 1480-1483 und 1497. Zum Thomasaltar vgl. AUSST.KAT. HAMBURG 1999, S. 141f.; zum Graudenzer Altar ausführlicher: Władysław ŁoĞ, Forschungsprobleme des Graudenzer Altars, in: KROHM/ALBRECHT/WENIGER 2004, S. 89-95, Maße Flügel H. 290 cm bei 466 cm im geöffneten Zustand, nach HAMBURG DENKMALSCHUTZAMT 2001, S. 40, Anm. 21. In Norddeutschland sind einfach wandelbare Flügelretabel nur mit Malerei erst seit Ende des 14. Jahrhunderts erhalten, am nächsten stehend das Retabel aus Göttingen-Nikolausberg von um 1410, das Suckale dem Maler der Innenseiten der Außenflügel vom Göttinger Jacobikirchenaltar zuweist; Robert Suckale, Das Hochaltarretabel als Geschichtsdokument, in: CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005, S. 91, Taf. 22-25. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 17 - Die erste ausführlichere Würdigung erfuhr der Göttinger Barfüßeraltar mit Reinhold Behrens' 1939 veröffentlichter Dissertation.28 Zuvor wurde der Traditionszusammenhang der Malereien zuerst als kölnisch geprägt, dann als westfälisch und schließlich als niedersächsisch gesehen.29 Als Maßstab galt einerseits die Kunst Meister Bertrams von Minden (um 1340 – nach 1414) mit den hamburgischen Altarretabeln, andererseits die westfälische Tafelmalerei des beginnenden 15. Jahrhunderts, die vor allem mit dem Namen des Conrad von Soest (um 1360 oder 1370 in Dortmund bis nach 1422 ebenda) in Verbindung gebracht wird. Unverkennbar steht die Kreuzigung des Göttinger Retabels, insbesondere die Figuren Christi und der Schächer sowie die Gruppe um den guten Hauptmann, in Abhängigkeit zum Mittelbild des Wildunger Altars (um 1403). Behrens hat die Bezüge zu der Kunst Conrad von Soests im Einzelnen analysiert und überhaupt erstmals eine differenziertere stilkritische Bewertung der Malereien der drei Schauseiten des Barfüßeraltars geliefert. Behrens erkennt den Wildunger Altar für Kreuzigungsbild, Passionsszenen und Marienzyklus als „entscheidende Grundlage“ und verbindet damit einen „starke[n] Vorstoß der Kunst des Konrad von Soest nach Niedersachsen“.30 Die Passionsszenen seien „ohne den Wildunger Altar nicht zu denken“, ihnen fehle aber „abgesehen von inhaltlich unerläßlichen Requisiten [...] jede Andeutung eines 'Raumes'“.31 Gemessen an der künstlerischen Leistung des Conrad von Soest resümiert Behrens, der Göttinger Meister gehe „in seiner Formgebung nicht auf die modernen Bestrebungen Konrads ein, sondern ist einer älteren Auffassung verpflichtet.“32 Für den mittleren Zustand mit der Darstellung der Apostel hingegen weist Behrens den engen Bezug einerseits zu den norddeutschen Schnitzaltären um 1400, andererseits zu böhmischen Vorbildern nach. Ohne dass ihm die historischen Zusammenhänge und der politische Wettbewerb in der Stadt Göttingen bewusst sind, sieht er in der paarweisen Anordnung der Figuren eine unmittelbare Reflektion auf den inneren, geschnitzten 28 BEHRENS 1939 „Kölnisch“ nach Franz Kugler, Handbuch der Geschichte der Malerei, Leipzig 21866, „westfälisch“ nach Ernst Franz August Münzenberger, Zur Kenntniß und Würdigung der mittelalterlichen Altäre Deutschlands, Bd.1, Berlin 1885, „niedersächsisch“ nach Hermann Schmitz, Die deutsche Malerei vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance, Bd. II, 2, Berlin 1922 und Carl Georg Heise, Norddeutsche Malerei, Leipzig 1918. Nach Carsten-Peter Warncke's Beitrag zum Kolloquium „Frömmigkeit und Propaganda“ am 28.09.2006 mit dem Titel „Die Teile und das Ganze. Der Göttinger Barfüßeraltar und sein Bild in der Forschung“, dessen Schriftfassung für den Kolloquiumsband der Autorin vorlag. 30 BEHRENS 1939, S. 54. 31 Ebenda S. 51. 32 Ebenda S. 55. 29 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 18 - Zustand des Göttinger Jacobikirchenaltars von 1402. Deren schon im Größenmaßstab dominante, filigran geschnitzte Baldachinzone ist hingegen unvergleichlich reicher gestaltet als die gemalten Baldachine auf dem Barfüßerretabel. Hier könnten eher das Flügelretabel aus dem Trinitatis-Hospital (ca. 1420) in Hildesheim und jenes aus der Minoritenkirche St. Marien in Hannover (nach 1404) Vorbild gewesen sein.33 Für Behrens sind die Malereien der beiden Altäre in St. Jacobi und der Barfüßerkirche im übrigen durch die „starke Betonung der Figur bei völliger Negierung des Raumes verknüpft“.34 Stange vermutet die künstlerische Herkunft des Barfüßermeisters deshalb in der in Göttingen lokalisierten, älteren Werkstatt des Meisters des Jacobikirchenaltars und attestiert dem Barfüßermeister: „Unschöpferisch lebte und zehrte er von überliefertem Gut, vor allem von dem, was ihm seine heimatliche Werkstatt und Lehre gegeben hatte.“35 Bei ihrer Bearbeitung des Peter- und Paul-Altars aus St. Lamberti in Hildesheim gelangt Gabriele Neitzert zu einer wieder anderen Einschätzung der Wege künstlerischer Einflussnahme, wenn sie anhand des Vergleichs der Frauengruppen unter dem Kreuz auf beiden Mitteltafeln zu der Auffassung findet, „dass der Göttinger BarfüßerMeister, dessen um 1416 datierter Magdalenen-Altar in Hildesheim stand, die Frauengruppe vom Hildesheimer Maler übernahm, nachdem dieser das Motiv aus Lübeck mitgebracht hatte“.36 Da ein Einvernehmen hinsichtlich der Lokalisierung der Werkstatt nicht gelingt, schlägt Stange vor: „Vielleicht handelte es sich auch um einen Wandermeister, der mit einigen Gehilfen zwischen den Städten dieses Gebietes, Aufträgen nachgehend, wanderte.“37 33 Das Retabel aus dem Trinitatis-Hospital befindet sich heute in der St. Bernward-Kirche in Hildesheim, der Minoritenaltar im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover. JAHNS/KÜHN 2002, BEST.KAT. HANNOVER 1992, S. 149, Kat. Nr. 50 34 BEHRENS 1939, S.75 35 STANGE 1938, Bd. 3, S. 189. 36 Neitzert 1967, S. 150. Gemeint ist das heute voneinander getrennte Bruchstück eines Altarflügels mit einer Kreuzigung und dem Hl. Nikolaus auf Vorder- und Rückseite im Lübecker St.-Annen-Museum, aus der dortigen Marienkirche, um 1410-1420. Es wird einem Conrad von Soest-Nachahmer zugeschrieben, weil es die Mittelszene des Wildunger Retabels von 1403 unverkennbar zitiert. ALBRECHT/ROSENFELD/SAUMWEBER 2005, Kat. Nr. 28, S. 130-133. Hier wird die Zugehörigkeit zu einer Mitteltafel angenommen, die dann von beiden Seiten einsehbar gewesen sein muss, was auch statisch sehr ungewöhnlich wäre. Man vermutet ihre Aufstellung in der Kapelle der Bergenfahrer. 37 STANGE 1938, Bd. 3, S. 189. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 19 - Im Bestandskatalog des Niedersächsischen Landesmuseums von 1992 liefert Wolfson sparsame, korrekturbedürftige Angaben zur Technik und Restauriergeschichte und betont wiederum den Bezug zur westfälischen Kunst um Conrad von Soest.38 Erst das nach Abschluss der Restaurierung im September 2006 im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover veranstaltete Kolloquium „Frömmigkeit und Propaganda. Forschungen zu Funktion, Technologie und Stil des Göttinger Barfüßeraltares von 1424“39 veranlasste die neuerliche Beschäftigung mit dem Retabel von kunsthistorischer Seite. Carsten-Peter Warncke fasste in seinem Beitrag die widersprüchlichen Meinungen hinsichtlich der stilkritischen Einordnung und die überwiegend gering schätzenden Bewertungen hinsichtlich seiner künstlerischen Qualitäten zusammen.40 Die Schwierigkeiten, die die Forschung mit der Bewertung des Barfüßerretabels hatte, erklären sich nach Warncke jedoch aus der Entwicklung der Kunstgeschichte als Disziplin, seiner Methoden und Fragestellungen. Erst Martin Schawe hat die überwiegend stilkritischen Bewertungen hinter sich gelassen und mit seinem ikonografischen Ansatz 1988 zeigen können, wie einzigartig und komplex das Programm der Außenseite des Retabels angelegt ist.41 Deiters lenkte in ihrem Kolloquiumsbeitrag neue Aufmerksamkeit auf die stilistischen Bezüge des Barfüßer-Retabels zur „sächsischen“ bzw. „mitteldeutschen“ wie auch zur böhmischen Kunst, ohne sich „in die Tradition problematischer Kunstlandschaftskonstruktionen stellen zu wollen“.42 Die weiteren Kolloquiumsbeiträge eröffneten die kunsthistorische Diskussion neu, fanden aber zu keinem Konsens hinsichtlich der zu proklamierenden stilistischen Herkunft des Künstlers.43 Durch die vom Göttinger Barfüßeraltar ausgehenden, späteren Arbeiten von Behrens lassen sich zwei weitere Altarretabel dem „Göttinger Barfüßer-Meister“ oder – treffender und nach heutigem Wissen mittelalterlicher Werkstattstrukturen auch nicht herabwürdigend – der „Werkstatt des Barfüßer-Meisters“ zuschreiben.44 Die voneinander 38 BEST.KAT. HANNOVER 1992, S. 102-112. Inhaltlich und organisatorisch vorbereitet von Babette Hartwieg und Cornelia Aman. 40 Carsten-Peter Warncke, „Die Teile und das Ganze. Der Göttinger Barfüßeraltar und sein Bild in der Forschung“, Vortrag gehalten am 28.09.2006, Publikation in Vorbereitung. 41 SCHAWE 1988 und 1989 sowie in seinem Kolloquiumsbeitrag 2006 neu überdacht (Publikation in Vorbereitung). 42 Maria Deiters, wie Anm. 22. 43 Götz J. Pfeiffer arbeitete in seinem Vortrag („Im Blick gen Westen – Die Stellung des Barfüßer-Meisters zur Malerei in Köln und Westfalen um 1400“) die Nähe nach Köln und Westfalen heraus; Martina Sitt („Die Hamburger Tafel des Barfüßer-Meisters“) stellte eine Herkunft des dem BarfüßerMeister zugeschriebenen Magdalenenaltars aus Halberstadt zur Diskussion. 44 BEHRENS 1961 und 1965. 39 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 20 - getrennten Teile eines einfach wandelbaren Magdalenenretabels – heute in den Museen in Stuttgart, Münster und Hamburg sowie in Privatbesitz – zeigten im ursprünglichen Zustand in zwei Registern außen die Anbetung der Könige sowie insgesamt neun stehende Heilige, deren Reihe Maria Magdalena als einzige weibliche Heilige anführt. Auf den Flügelinnenseiten sind vier Szenen aus dem Leben der Hl. Magdalena zu Seiten einer verlorenen Mitte dargestellt.45 Behrens begründete die vermutete Herkunft des Magdalenenaltars aus dem Hildesheimer Reuerinnenkloster mit der Darstellung der Hildesheimer „Lokalheiligen“ Godehard und Bernward auf dem rechten Außenflügel und schlug im Zusammenhang mit einer Umbaumaßnahme der Klosterkirche das Jahr 1416 als mögliches Fertigstellungsdatum vor. Als zweites Werk identifizierte er mit den Mitteln der Stilanalyse das heute in der evangelischen Kirche in Offensen westlich von Göttingen befindliche kleine Altarretabel mit der Anbetung der Könige im geschnitzten Mittelschrein und den gemalten Szenen der Verkündigung an Maria und der Geburt Christi auf den Flügelinnenseiten als Produkt desselben Meisters.46 Behrens hält eine Entstehung des kleinen Retabels zwischen den beiden größeren zwischen 1418 und 1422 für wahrscheinlich, da hier nun der Einfluss Konrad von Soests neu hinzukäme, der dem Magdalenenaltar noch fehle.47 In der älteren Forschungsliteratur hat man versucht, dem Meister des Barfüßeraltars einen Namen zu geben und sah in Heinrich von Duderstadt, dem unter dem Kreuz des Kalvarienberges im Inneren des Göttinger Barfüßeraltars rechts neben Luthelmus, dem Guardian des Barfüßerklosters, dargestellten Franziskaner, die für dieses Altarwerk verantwortliche Künstlerpersönlichkeit.48 Auch wenn die Rolle, die dem dargestellten Franziskaner bei der Entstehung des Barfüßeraltars zukam, bislang nicht geklärt werden konnte, besteht Einvernehmen darüber, dass es sich nicht um den Künstler handeln kann. Für das Barfüßerkloster ist aufgrund der Ausgrabungen eine Buchbinderwerkstatt und möglicherweise ein Skriptorium belegt, nicht jedoch eine Malerwerkstatt. Die durch das Kolloquium initiierte neue Auseinandersetzung mit dem Göttinger Barfüßerretabel und seinem Umkreis brachte Deiters zu dem plausibel begründeten stil45 Genauer siehe Kap. 4.1, S. 233 ff. Genauer siehe Kap. 4.2, S. 244 ff. 47 BEHRENS 1965, S. 97. 48 Stichwort „Heinrich von Duderstadt“ in: Thieme-Becker, Bd. 16, S. 302, Leipzig 1923 mit Verweis auf ältere Literatur. 46 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 21 - kritischen Befund, dass trotz der offensichtlichen Verwandtschaft keinesfalls nur von einem Meister auszugehen ist, sondern dass die gedrungeneren Figuren auf dem Magdalenenaltar und die auf den Passionsszenen und der Vision des Hl. Franziskus des Göttinger Barfüßeraltars die Handschrift eines anderen Malers tragen als dem der schmalen, fast überlängten Gestalten mit den spitzen Mündern, die man auf dem Barfüßeraltar zum Beispiel in den Szenen aus dem Marienleben auf den Innenflügeln und im Mittelbild mit der Kreuzigung findet.49 Überdies kommt Marx über ihre historische Argumentation zur Geschichte des Hildesheimer Magdalenenkonvents zu der Auffassung, dass eine Entstehung des Magdalenenretabels für dieses „Reuerinnenkloster“ in Hildesheim sehr wahrscheinlich, seine Datierung aber um 1424 sinnfälliger wäre.50 Somit ist die Diskussion um Ort und Struktur der „Barfüßer-Werkstatt“ neu eröffnet. Laut der kunsthistorischen Stilanalyse von Behrens und Stange lassen sich noch weitere Werke mehr oder weniger eng an die Werkstatt oder in die Nachfolge des Göttinger Barfüßer-Meisters anschließen. Sie werden weiter unten aufgeführt.51 Niedersächsische Altarwerke um 1400 in der kunsthistorischen Literatur Die hier am Beispiel des Göttinger Barfüßeraltars aufgezeigte jahrzehntelange Vernachlässigung der Forschung scheint der niedersächsischen Kunst im Gegensatz zur westfälischen, kölnischen und zumal der altniederländischen Kunst der Zeit überhaupt widerfahren zu sein. In dem anlässlich der Neuaufstellung des Bielefelder Marienaltars von Meister Berswordt ausgerichteten Kolloquium "Hohe Kunst im Zeitalter des Schönen Stils. Das Bielefelder Retabel im Kontext spätmittelalterlicher Geschichte, Frömmigkeit und Kunst" im Jahr 2000 blieben die niedersächsischen Altarretabel ganz unberücksichtigt.52 Im Kolloquiumsband „Malerei und Skulptur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit in Norddeutschland“ in Hildesheim 1996 widmet sich nur ein Beitrag dem Flügelretabel in der Braunschweiger Brüdernkirche; ausgehend vom Erfurter Einhornretabel, um 1420, gibt Kammel hier aber der niedersächsischen Malerei in der 49 Deiters wie Anm. 22. Petra Marx, Das Magdalenenretabel aus dem Hildesheimer Reuerinnenkloster. Überlegungen zu seiner Herkungt anhand von Bildprogramm, Entstehungskontext und Sammlungsgeschichte. Veröffentlichung in Vorbereitung im Rahmen des Kolloquiumsbandes zum Göttinger Barfüßerretabel. Für die Einsichtnahme in das Manuskript vor seiner Veröffentlichung sei der Autorin herzlich gedankt. 51 Siehe Kap. 4.5, S. 274 ff. 52 Tagung im Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung, 22.-24. Juni 2000, Bericht siehe Kunstchronik 54 (2001), S. 105-109. Ein Kolloquiumsband erschien nicht. 50 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 22 - ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Vergleich mit der thüringischen erstmals größere stilistische Eigenständigkeit als dies von der Kunstgeschichtsschreibung zuvor gesehen wurde.53 Aus Anlass der 600-jährigen Wiederkehr der Aufstellung des Jacobikirchenaltars im Jahr 1402 zeichnete Carqué einen ähnlichen Forschungsverlauf zu diesem Altarwerk und die Forschungslücken zur niedersächsischen Kunst im Allgemeinen auf.54 Er konstatiert, dass die in Folge von französischer Revolution, napoleonischen Beutezügen und Säkularisation erfolgte Musealisierung vielfach dazu beigetragen habe, „die betreffenden Werke dort überhaupt erst ins Blickfeld und Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit“ zu rücken. Die Museen mit bedeutenden mittelalterlichen Sammlungen seien seit dem 19. Jahrhundert bis zum zweiten Weltkrieg die „Gravitationszentren der Bewahrung und wissenschaftlichen Erschließung mittelalterlicher Kunst“ gewesen.55 Was für die Bewahrung vieler mittelalterlicher Altarwerke aus Niedersachsen einschließlich des Barfüßeraltars durch Ankauf für das Welfenmuseum in Hannover sicher zutrifft, ist im Bereich der Forschung zum Barfüßeraltar jedoch nicht eingetreten, vielleicht weil er der Nachbarschaft der sogenannten „Goldenen Tafel“ und des Passionsretabels von Meister Bertram in der Mittelalter-Sammlung des Niedersächsischen Landesmuseums unter den Gesichtspunkten von Stilanalyse und Stilkritik nicht standhalten konnte. Nur die Goldene Tafel aus der Benediktinerabteikirche St. Michaelis in Lüneburg war Thema kunstwissenschaftlicher Forschungsarbeit vor allem Anfang des 20. Jahrhunderts.56 Der schlechte Zustand des Barfüßerretabels – Verschmutzungen, verfärbte Retuschen und die mangelhafte Statik, der zufolge die sogenannten Werktags- und Sonntagsseiten dem Publikum seit den 1980er Jahren vorenthalten blieben – hat sicher sein Übriges zum Verlust an Attraktivität in der musealen Präsentation im Niedersächsischen Landesmuseum beigetragen und eine intensivere Beschäftigung verhindert. 53 Holger Quandt, Das Flügelretabel der Braunschweiger Brüdernkirche, sowie Frank Matthias Kammel, Niedersachsen in Thüringen. Das Erfurter Einhornretabel und die thüringische Tafelmalerei der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. In: KROHM/ALBRECHT/WENIGER 2004, S. 105-114 sowie 153-158. 54 Bernd Carqué, Wege und Irrwege der Forschung, in: CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005, S. 11ff. 55 Carqué, wie Anm. 56, S. 17, 18. 56 Zusammenfassung der Forschungsliteratur bei BLASCHKE 1978, BEST.KAT. HANNOVER 1992, S. 117-129, und PATRIMONIA 2007. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 23 - Kunsttechnologischer Forschungsstand zu niedersächsischen Altarretabeln des frühen 15. Jahrhunders Dass die Kunstwissenschaft kunsttechnologische Untersuchungen und ihre Ergebnisse einbezieht, ist eine Entwicklung, die sich – durch die Arbeit namhafter Restauratoren wie Johannes Taubert, Ernst Willemsen, Rolf E. Straub, Konrad Riemann und in der Folge Eike Oellermann, Hans Westhoff, Karl Werner Bachmann, Johannes Voss und anderen in Deutschland begründet – erst Ende des 20. Jahrhunderts stärker etabliert. Mit den kunsttechnologischen Untersuchungen des Tiefenbronner Altars von Lucas Moser von 1432 lieferten Straub, Richter, Härlin und Brandt bereits 1970 ein maßgebendes Beispiel nicht nur für ein Altarwerk aus dem hier relevanten Zeitraum sondern auch für eine systematische kunsttechnologische Herangehensweise, auf der die vorliegende Arbeit aufbauen kann.57 Vor dem Beginn des von 1999 bis 2005 durchgeführten Projektes zur „Erforschung, Konservierung und Restaurierung des Göttinger Barfüßeraltars von 1424“ hat es zu den Altarrretabeln vom Beginn des 15. Jahrhunderts in dem hier interessierenden geografischen Raum keinerlei kunsttechnologische Untersuchungen gegeben. Lediglich die wenigen 1978 veröffentlichten Infrarot-Detailaufnahmen zu den Malereien der sogenannten Goldenen Tafel von um 1400, die die Basis für eine anhand der aufgedeckten Unterzeichnungen versuchte Händescheidung bildeten, wiesen viel versprechende Perspektiven technologischer Forschung auch für die Kunstgeschichtsschreibung.58 In Nachfolge des „Barfüßer-Projektes“ war geplant, auch die Goldene Tafel gründlich technologisch zu untersuchen und in einem interdisziplinär angelegten Projekt auszuwerten, was aber bisher nicht realisiert werden konnte.59 In Zusammenhang des Projektes regte die Autorin eine technologische Untersuchung des dem Meister des Barfüßer-Altars zugeschriebenen Kindheit-Jesu-Altars in Offensen 57 STRAUB 1970, STRAUB/RICHTER/HÄRLIN/BRANDT 1974. BLASCHKE 1978. 59 Projektskizze siehe HARTWIEG/HERPERS/HINDERER 2007; siehe auch: Heide Grape-Albers, Bernd W. Lindemann, Projektantrag „Kunsthistorische, historische sowie konservierungs- und restaurierungswissenschaftliche Bearbeitung der Goldenen Tafel von um 1400 aus der Benediktinerabteikirche St. Michaelis in Lüneburg“, bearbeitet von Babette Hartwieg und Hartmut Krohm, unveröff. Ms., Hannover/Berlin 2008. 58 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 24 - im Rahmen einer Diplomarbeit an.60 Das Kolloquium zum Barfüßeraltar war Anlass für die technologische Untersuchung der im Westfälischen Landesmuseum Münster bewahrten Tafel mit der Erhebung der Hl. Magdalena vom Magdalenenaltar des Barfüßer-Meisters.61 Eine weitere Diplomarbeit behandelt die technologische Untersuchung des Retabels aus dem ehemaligen Trinitatis-Hospital zu Hildesheim, um 1420.62 Die Mitteltafel des in dieselbe Zeit zu datierenden Peter- und Paul-Altar aus der St. Lamberti-Kirche in Hildesheim war Gegenstand einer technologischen Untersuchung und Zustandserfassung im Rahmen einer im Jahr 2000 abgeschlossenen Diplomarbeit.63 Die Ergebnisse der Untersuchung der dazugehörigen Flügeltafeln konnten nur ausschnittweise in eine Publikation der Autorin einfließen.64 Die anlässlich der 600-jährigen Wiederkehr der Vollendung des Jacobikirchenretabels in Göttingen im Jahr 1402 entstandene Publikation war ein mit großem Anspruch versehenes Unternehmen, das allerdings der restauratorischen Befundnahme entbehrte.65 Neben einer dendrochronologischen Untersuchung einzelner Skulpturen und Bohlen, den Versuchen von Uwe Albrecht, die Schreinkonstruktion zu typologisieren, und denen von Ulrike Nürnberger, anhand weniger, exemplarischer IR-Reflektografien Aussagen zur Unterzeichnung zu treffen, fehlen die systematischen kunsttechnologischen Daten, auf denen die kunsthistorische Interpretation sicher aufbauen könnte.66 Es liegt lediglich ein Restaurierungsbericht von 1992 vor, der aber keine Untersuchungsergebnisse enthält.67 Kunsttechnologische Literatur zu Altarretabeln im weiteren Umfeld Im Blick auf den Denkmälerbestand der Zeit von etwa 1370 bis 1440 im weiteren norddeutschen Umfeld sind technologische oder interdisziplinäre Bearbeitungen von Altarretabeln noch selten. „Norddeutsch“ sei hier im modernen Sinn etwa als das Gebiet der 60 Katharina-Luise Saalbach, Diplomarbeit FH Hildesheim, Studiengang Restaurierung. SAALBACH 2003, siehe auch Kap. 4.2, S. 244ff. 61 Iris Herpers, Die Magdalenentafel des Barfüßer-Meisters – technologische Befunde im Vergleich, Vortrag gehalten am 29.09.2006 in Hannover, zur Publikation vorgesehen im Kolloquiumsband. 62 Katja Jahns, Tilman Kühn, Diplomarbeit FH Hildesheim, Studiengang Restaurierung, von der Autorin als Zweitgutachterin betreut, JAHNS/KÜHN 2002. 63 HAMM 2000. 64 HARTWIEG 2005. 65 CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005. 66 ALBRECHT 2005, NÜRNBERGER 2005, beide in: CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005. 67 DIEDERICHS 1992, GADESMANN 2002. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 25 - norddeutschen Bundesländer Niedersachsen, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern verstanden, zu denen man Westfalen und Brandenburg zum Teil noch hinzuziehen kann.68 In Schleswig-Holstein widmet man sich derzeit systematisch und interdisziplinär der Erfassung der mittelalterlichen Holzskulptur und Tafelmalerei. Der erste Corpusband zu den Werken im St. Annenmuseum in Lübeck liefert technologische Daten mit besonderem Augenmerk auf Holz, Schnitztechnik und Retabelkonstruktion.69 Die werk- und maltechnischen Untersuchungen zum Landkirchener Retabel aus dem SchleswigHolsteinischen Landesmuseum Schloss Gottorf waren Ausgangspunkt zu weiteren kunsthistorischen Betrachtungen zur Retabelkunst um 1400 in Norddeutschland, insbesondere zu Werken von Meister Bertram wie auch solchen aus Bad Doberan und Westfalen.70 Dem vorausgegangen waren die gründlichen technologischen Analysen zum Hochaltarretabel des ehemaligen Benediktiner Klosters in Cismar, das bereits auf 1310/1320, also außerhalb des hier interessierenden Zeitraums, zu datieren ist. Anläßlich seiner Restaurierung erfuhr er eine umfassende kunsttechnologische Untersuchung, die jedoch nur wenig für die kunsthistorische Auswertung genutzt wurde.71 Aus Mecklenburg haben vor allem die früheren Altarwerke aus Kloster Doberan (Hochaltarretabel um 1300, Kelchschrank um 1310, Kreuzaltar um 1360/70 u.a.) Aufmerksamkeit in der kunsttechnologischen Forschung gefunden.72 Die von 2004 bis 2007 durchgeführte Restaurierung des Hochaltarretabels aus St. Georgen in Wismar (um 1430) wurde leider nicht zum Anlass gründlicher kunsttechnologischer Untersuchungen genommen.73 Beispielhaft wertete dagegen Werner Ziems die während der Restaurie68 Umgangssprachlich gilt „Norddeutschland“, mindestens aus süddeutscher Perspektive, als das Gebiet nördlich des Mains. In ihrem Lexikon-Eintrag im RDK zu „Flügelretabel“ beziehen Bachmann und Jaszai „norddeutsch“ auf die Städte an Nord- und Ostsee und setzen Niedersachsen davon ab, BACHMANN/JÁSZAI 2003. Sprachwissenschaftlich lässt sich „norddeutsch“ relativ klar definieren als das Gebiet nördlich der „Uerdinger Linie“, die zwischen niederdeutschem und oberdeutschem Sprachraum trennt – eine Linie, die etwa von Krefeld über Wuppertal, Kassel, Spreewald bis nach Polen verläuft., Westfalen also als „norddeutsch“ einbezieht. 69 ALBRECHT/ROSENFELD/SAUMWEBER 2005. 70 ALBRECHT/BÜNSCHE 2008. 71 LÖFFLER-DREYER 1987, FREITAG/KOLLER/BAUMER 1995. 72 Johannes Voss, Anmerkungen zur Geschichte des Kreuzaltares und seines Retabels im Doberaner Münster. Konzeption und Ergebnisse der Restaurierung 1975–1984, in: ALBRECHT/V. BONSDORFF 1994 sowie VOSS 2004. 73 Andreas Mieth sei für die Bereitstellung seiner zusammenfassenden Restaurierungsdokumentation, unveröffentlichtes Ms. 2009, herzlich gedankt. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 26 - rung des ehemaligen Hochaltarretables aus der St. Nikolaikirche zu Jüterbog von ca. 1400 erhobenen Befunde aus.74 Im Blick nach Westen waren die Werke westfälischer Meister, insbesondere des Conrad von Soest, stärker als die norddeutschen Altarretabel Gegenstand kunsthistorischer Bearbeitung, jedoch wurde auch in diesem Zusammenhang kaum kunsttechnologische Untersuchungen durchgeführt, mit wenigen Ausnahmen: Die 1993 bis 1998 durchgeführte Konservierung und Restaurierung des Wildunger Altarretabels von Conrad von Soest war Anlass für technologische Untersuchungen, die jedoch mit einem Kurzbericht nur unzureichend zugänglich gemacht sind.75 Umfangreicheres Abbildungsmaterial liegt indes zu den Unterzeichnungen dieses Meisters auf der Basis der reihenweisen infrarotreflektografischen Erfassung durch Sandner vor.76 Zum Berswordt-Meister lieferten Iris Herpers die technologische Erhebung zu den restaurierten Tafeln des Bielefelder Marienretabels sowie wiederum Sandner das mit Hilfe der IR-Reflektografie gewonnene Material zu seinen Unterzeichnungen.77 Da die Forschung zu Unterzeichnungen eine von der umfassenden kunsttechnologischen Befundsicherung losgelöste Tradition hat, wird darauf separat verwiesen. Über Conrad von Soest führt der Blick auf die franco-flämische Hofkunst, auf Köln und in die Niederlande. In beispielhafter Weise wurde die Ausstellung “Vor Stefan Lochner – Die Kölner Maler von 1300 – 1400“ (Köln 1974) für interdisziplinäre Studien genutzt, die – um den kunsttechnologischen Part hier herauszuheben – Einblicke in die Maltechniken und erhabenen Verzierungstechniken in der Altkölner Malerei geben.78 An dieses Konzept knüpft der Ausstellungskatalog „Stefan Lochner, Meister zu Köln“ direkt an. Er enthält neben vielen anderen Aspekten Forschungen zu einzelnen maltechnischen Phänomenen wie Punzierungen, Brokatimitationen, Unterzeichnungen.79 Gründliche und wertvolle technologische Bestandsaufnahmen wurden im Rahmen restauratorischer Diplomarbeiten über den aus Mainz stammenden Ortenberger Altar im Hessischen 74 ZIEMS 1997 und Werner Ziems, Kunsttechnologische Beobachtungen am Jüterboger Retabel in: BADSTÜBNER ET. AL. 2008. 75 REINHOLD 1998. 76 SANDNER 2010, Sandner in: BUBERL 2004. IR-Foto zum Fröndenberger Flügelaltar, Frühwerk Conrads von Soest, in: REISSNER 2004. 77 HERPERS 2001, SANDNER 2002. 78 FRINTA 1977 und KÜHN 1977, beide in: BOTT 1977. 79 AUSST.KAT. KÖLN 1993, darin u.a.: FARIES 1993, KÜHN 1993, LEVINE 1993, WILLBERG 1993 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 27 - Landesmuseum Darmstadt, ca. 1420, über den von Uwe Gast inzwischen bereits in die Zeit um 1370 datierten Großen Friedberger Altar ebendort, sowie über das Retabel der Felsenkirche in Oberstein von um 1420 erstellt.80 Einige Bestandskataloge zur altdeutschen Malerei in deutschen Museen verfolgen in jüngerer Zeit das Konzept interdisziplinärer Zusammenarbeit von Kunsthistorikern und Restauratoren. Den Zustandsberichten und gemäldetechnologischen Befunden, die in knapper Form Eingang in die Katalognummern gefunden haben, liegen immer häufiger ausführlichere technologische Untersuchungen zugrunde.81 Noch sind dies Einzelfälle. In den meisten Bestandskatalogen gibt die kunsthistorische Fragestellung Auswahl und Auswertung der technologischen Untersuchungen vor, die deshalb unsystematisch bleiben. Technologische Ergebnisse zur altniederländischen Malereien liegen dagegen in größerem Umfang vor.82 Welchen Standard die Forschungen hier erreicht haben, beweist beispielhaft der Katalog zu „Pre-Eyckian Panel Painting in the Low Countries“.83 Eine beispielhafte, umfassende kunsttechnologische Erhebung zu mittelalterlichen Retabeln und Altarschreinen in Schweden liefern die Arbeiten von Peter Tångeberg, auf die hier hingewiesen werden muss, da norddeutsche Altarretabel per Export den Weg nach Schweden gefunden haben und durch den Handel starke Einflußnahmen norddeutscher, vor allem lübischer Kunst in Schweden festzustellen sind.84 Darüber hinaus bieten diese Arbeiten ein Kompendium zu mittelalterlichen Handwerkstechniken bei der Herstellung von Skulpturen und Altarschreinen, das aus einer Vielzahl technologischer Befunde schöpft. Einen ähnlich enzyklopädischen Ansatz versuchen Fischer und Meyer- 80 KÜHNEN 1997 (ergänzend GAST 1998 und VETTER 2000 zum Ortenberger Altar), SCHOENBERG 1999, SCHWAERZEL 2000. 81 z. B. BEST.KAT. KÖLN 1990, BEST.KAT. KASSEL 1997, BEST .KAT. FRANKFURT 2002, ALBRECHT/ROSENFELD/SAUMWEBER 2005. Als herausragendes Beispiel interdisziplinärer Forschung und klarer Struktur muss, wenn auch aus ganz anderem kunstgeschichtlichen Zusammenhang, auf den Bestandskatalog der Kunstsammlungen der Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten zur Französischen Malerei verwiesen werden: Christoph Martin Vogtherr, Französische Gemäde I, Watteau, Pater, Lancret, Lanjoüs, Berlin 2011. 82 Zum Beispiel: CAMPBELL/FOISTER/ROY 1997 und Molly Faries, Ron Spronk (Hg.), Recent Developments in the Technical Examinations of Early Netherlandish Painting: Methodology, Limitations & Perspectives, Harvard University Art Museums Cambirdge & Brepols Turnhout/Belgien, darin ausführliche weitere Bibliographie. 83 STROO 2009. 84 TÅNGEBERG 1986 und 2005 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 28 - Cantinho in ihrer Diplomarbeit, allerdings mit dem Schwerpunkt auf der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.85 Kunsttechnologische Literatur zu Einzelthemen Einzelne kunsttechnologische Phänomene haben schon früh ein eigenes Forschungsinteresse erweckt. Infolgedessen gibt es Sachthemen mit längerer Forschungstradition. Dies betrifft insbesondere folgende Themen: verwendetes Holz (Untersuchungen mit Hilfe der Dendrochronologie), Unterzeichnungen (mit Hilfe von Infrarotuntersuchungen), Verzierungen auf Goldhintergründen, Darstellung kostbarer Stoffe. Durch die hauptsächliche Verwendung von Eichenholz für Bildtafeln und Retabelkonstruktionen im norddeutschen und niederländischen Raum konnten die dendrochronologischen Studien hier besondere Erfolge verbuchen. Peter Klein, Universität Hamburg, hat dendrochronologische Untersuchungen für den hier interessierenden Zeitraum aus seinem umfangreichen Datenbestand anlässlich von Ausstellungen und Bestandskatalogen übergreifend für den westdeutschen Raum ausgewertet.86 Seit Asperen de Boers' Entwicklung der IR-Reflektographie für gemäldetechnologische Untersuchungen von Unterzeichnungen in den 1970er Jahren87 hat dieser Forschungszweig, meist losgelöst von anderen kunsttechnologischen Untersuchungen, enorm reiches graphisches Material generiert, das von der Kunstgeschichtswissenschaft dankbar aufgenommen wurde. Man fand hier zusätzliche Quellen, die die Bildgenese und die Künstlerhandschrift ähnlich einer Handzeichnung offenbaren. Die seit 1975 alle zwei Jahre stattfindenden Kolloquien „Le dessin sous-jacent dans la peinture“ mit fortlaufender Berichterstattung unter demselbem Titel88 wie auch die Arbeiten von Molly Faries haben diese Forschungsrichtung in das Repertoire kunsthistorischer Methoden aufgenommen und fortentwickelt.89 Siejek und Kirsch geben in ihrer Diplomarbeit eine 85 FISCHER/MEYER-CANTINHO 1990. Weitere an der Hochschule der Bildenden Künste in Dresden erstellte Seminararbeiten ergeben aus heutiger Sicht darüber hinaus keine neuen Erkenntnisse (Christine Promnitz, Materialsammlung zur Verwendung von Fremdmaterialien in der Fassmalerei bis 1530, Dresden 1986 und Annette Bulla, Applikationen der Spätgotik, Dresden 1983/84). 86 Peter Klein, Dendrochronologische Untersuchungen von Stefan Lochner und Nachfolge, in: AUSST.KAT. KÖLN 1993; ders, Dendrochronologische Untersuchungen von Bildtafeln, in: BEST.KAT. FRANKFURT 2002, S. 432-434. 87 ASPEREN DE BOER 1970 und 1979. 88 Roger van Schoute und Hélène Verougstraete-Marcq (Hg.), Le dessin sous-jacent dans la peinture, Kolloquiumsbände seit 1979. 89 FARIES 1993 wie auch Festschrift Für Faries: CHAPUIS 2008. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 29 - umfangreiche Bibliographie.90 Betrachtet man aber das vorliegende Vergleichsmaterial und die Untersuchungen zu Unterzeichnungen an Werken aus der Zeit um 1400, so sind diese weit spärlicher als aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vorhanden. Die vorliegenden Beiträge zu Conrad von Soest, dem Berswordt-Meister, zum Jacobikirchenaltar in Göttingen wurden oben in anderem Zusammenhang bereits aufgeführt.91 Verzierungen auf Goldhintergründen sind in der italienischen Malerei des 14. und 15. Jahrhunderts von einem solchen Musterreichtum, dass sie das Hauptforschungsinteresse auf sich gezogen haben und die ganz anders gearteten Gestaltungsformen in der nordeuropäischen Malerei in den Schatten stellten. Erling Skaug stellt mit seinen Veröffentlichungen zu Punzierungen Fachtermini grundlegend klar und eine allgemeine Bibliographie zu „Issues of gold tooling and punch work“ sowie einen umfassenden Katalog von Punzierungsmustern in der toskanischen Malerei von 1330 bis 1430 zur Verfügung.92 Dieser stellt zugleich ein Instrument für die Zuschreibung an bestimmte Künstlerpersönlichkeiten und -werkstätten dar. Für Nordeuropa liegen vor allem Studien zu Punzierungen in der Altkölner Malerei vor. Willberg liefert mit ihrer Dissertationsschrift einen für Vergleiche nützlichen Katalog von Punzierungen in der Kölner Tafelmalerei des 14. und 15. Jahrhunderts mit vielen Umzeichnungen.93 Dem gehen die Studien Frintas voraus, der sich auch Punzierungen in der böhmischen Tafelmalerei und der Miniaturmalerei widmeten.94 Anlässlich des Kolloquiums zum Göttinger Barfüßerretabel hat Skaug eine Einordnung der hier vorkommenden Punzierungen versucht.95 Der Analyse von Brokatdarstellungen auf Tafelbildern nähert sich die Forschung sowohl von technologischer wie auch von texilhistorischer Seite. Für norddeutsche Gemälde von Meister Francke und Conrad von Soest legte Heinrich J. Schmidt bereits 1938 und 1952 erste Studien vor.96 Vor allem aber begründete Brigitte Klesse die textilhistorische Forschung mit ihren Untersuchungen zu den Seidenstoffen in der Altkölner 90 SIEJEK/KIRSCH 2004. Siehe oben Anm. 63, 68, 78. 92 SKAUG 1994 sowie http://punchmarks.net/bibliography.html vom 23.01.2010 93 WILLBERG 1997 und vorab zu Stefan Lochner: WILLBERG 1993 94 FRINTA 1977 zum Kölner Klarenaltar sowie FRINTA 1972 und 1998. 95 Erling S. Skaug, Gold tooling and pictorial representation in context, Vortrag gehalten am 29.09.2006 beim Kolloquium „Frömmigkeit und Propaganda. Forschungen zu Funktion, Technologie und Stil des Göttinger Barfüßeraltars von 1424“. Die unter dem Titel „Stippled angels and lost haloes“ gestellte Schriftfassung für den Kolloquiumsband lag der Autorin vor. 96 SCHMIDT 1938 und 1952. 91 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 30 - Malerei wie in der italienischen Malerei des 14. und 15. Jahrhunderts.97 Ihr folgten Koch, Levine und Scherer ebenfalls anhand der Werke Stefan Lochners und der Kölner Malerei nach, letztere mit einer genauen Aufnahme und Analyse der Muster.98 Die jüngst erschienenen Arbeiten von Monnas und Duits stellen in verwandter Weise Textilien und deren Darstellungen auf Gemälden als Ausdruck der materiellen Kultur der Renaissance am Beispiel vor allem niederländischer und italienischer Werke gegenüber, ohne einen technologischen Ansatz zu verfolgen. Sie richten ihr Augenmerk für den nordeuropäischen Raum aber vornehmlich auf die südlichen Niederlande, beginnend mit den Werken van Eycks. Für den uns interessierenden Kreis von Werken liefern sie keine neuen Erkenntnisse.99 Beide vertreten und belegen genauso wie Michael Peter die Forschungsmeinung, dass die dargestellten Stoffe nicht „1:1“ als realienkundliche Belege für nicht mehr erhaltene, kostbare, meist orientalische Seidenstoffe herangezogen werden können – wovon man seit Otto von Falkes Katalog der Seidenweberei ausging100 –, sondern dass sie viel mehr daran inspirierte, jedoch durchaus freie künstlerische Erfindungen von bildimmanenter Bedeutung sind.101 Von technologischer Seite galt das Interesse zunächst der Analyse der Herstellungstechniken von Pressbrokaten im Abgleich mit der Auswertung von Quellenschriften, wie des Tegernseer Manuskripts.102 Das Aufkommen von Preßbrokaten ab – nach heutigem Kenntnisstand – etwa 1420 galt als unmittelbarer Ausdruck eines gesteigerten Realismus.103 Ausgehend von der Erkenntnis, dass Model, Muster und Punzierwerkzeuge als Markenzeichen einer Werkstatt zu verstehen sind, die in der Regel nicht weitergegeben wurden, kam die katalogmäßige Erfassung von Mustern in den Blick.104 Neuere Studien 97 KLESSE 1960, 1964 und 1967. KOCH 1993 UND 1995, LEVINE 1993, SCHERER 1998 99 MONNAS 2008 (mit schönem Abbildungsmaterial versehenes Buch), DUITS 2008 (liefert reiches Quellenmaterial, spannt den Bogen von Giotto bis Domenichino bzw. van Dyck im 17. Jh., wenig auskunftsfähiges Abb.material überwiegend in Schwarz-Weiss). Siehe auch MONNAS 1991. 100 Otto von Falke, Kunstgeschichte der Seidenweberei, 2 Bände, Berlin 1913. 101 Dr. Michael Peter, Brokatstoffe im Gemälde und in der Wirklichkeit - Textildarstellungen auf Werken Rogier van der Weydens und der van Eycks. Vortrag gehalten am 16.04.2009 anlässlich der Ausstellung „Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden“, Gemäldegalerie Berlin. 102 Anna Bartl / Christoph Krekel / Manfred Lautenschlager u.a.: Der "Liber illuministarum" aus Kloster Tegernsee. Edition, Übersetzung und Kommentar der kunsttechnologischen Rezepte, Stuttgart 2005. 103 OELLERMANN 1966, VOSS 1996, außerdem Brigitte Hecht, Betrachtungen über Preßbrokate, in: Maltechnik 1/1980, S.22. Vergleiche auch Kap. 3.5. 104 WESTHOFF 1996. 98 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 31 - befassen sich mit der Weiterentwicklung reliefartiger Brokatstoffdarstellungen mit den Mitteln der Malerei auf altniederländischen Gemälden seit van Eyck.105 1.5 Gegenstände des Vergleichs Die vergleichende Betrachtung folgt zwei verschiedenen Fragestellungen: Zum einen ist die Position zu klären, die das Göttinger Barfüßerretabel aus technologischer Sicht im Vergleich mit den zeitgenössischen niedersächsischen Altarretabeln der Zeit von etwa 1370 bis 1440 einnimmt. Zum anderen werden die besonderen künstlerisch-technischen Merkmale, die das Barfüßerretabel zeigt, zum Ausgangspunkt für Vergleiche mit Vorläufern und zeitgenössischen Befunden genommen, wobei ein größerer geografischer und zeitlicher Raum in die Betrachtung einbezogen werden muss. (1) Der Göttinger Barfüßeraltar ist Teil der herausragenden Sammlung mittelalterlicher Kunstwerke aus dem frühen 15. Jahrhundert im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover. Die drei großen Retabel – das Passions-Retabel des Meisters Bertram zu Minden (um 1400), die sogenannte Goldene Tafel aus der Benediktinerabtei St. Michaelis in Lüneburg von um 1400 und das Barfüßerretabel von 1424 – begründen den Weltruhm der Sammlung mittelalterlichen Kunst in der Niedersächsischen Landesgalerie. Darüber hinaus gelang im Jahr 2000 die Zusammenführung der Fragmente des Peter- und Paul-Altars, um 1420, aus St. Lamberti in Hildesheim für das Landesmuseum Hannover anlässlich der Neuerwerbung von drei zugehörigen Bildtafeln. Mit Ausnahme der Mitteltafel, die als Leihgabe des Römer-Pelizäus-Museums Hildesheim zur liturgischen Nutzung als Hauptaltar in der Lambertikirche verblieb, konnten alle vierzehn noch erhaltenen Bildtafeln von den Altarflügeln dank einer beispielhaften Zusammenarbeit von sechs deutschen Museen seit 1828 erstmals wieder zusammen präsentiert werden. Der Neupräsentation ging eine von der Autorin gemeinsam mit Dipl. Restauratorin Gitta Hamm durchgeführte technologische Untersuchung voraus, die jedoch ohne Probenentnahmen, Röntgenfotos und weitergehende Analysen auskommen musste.106 Während das „hamburgische“ Retabel Meister Bertrams hier unberücksichtigt bleibt, bilden die drei genannten großen Flügelretabel den unmittelbar vor Ort verfügbaren Kern des Vergleichs. 105 DEVOLDER 2009. HARTWIEG 2005, S. 281-287, B. Hartwieg / G. Hamm, Unveröffentlichte Untersuchungsberichte im Archiv des Niedersächsischen Landesmuseums Hannover, Gemälderestaurierung. 106 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 32 - Zur Sammlung des niedersächsischen Landesmuseums gehören darüber hinaus zwei Retabelfragmente, um 1400/1410, aus St. Marien in Göttingen vom Meister des Göttinger Jakobikirchenaltars sowie die demselben Meister oder seiner Werkstatt zugeschriebene sogenannte Zehngebotetafel von ca. 1410.107 Sie gehen dem Göttinger BarfüßerAltar zeitlich unmittelbar voraus und konnten von den Malern des Göttinger Barfüßerretabels wahrscheinlich unmittelbar vor Ort studiert werden. Die anderen von Behrens und von der Osten dem „Barfüßer-Meister“ zugeschriebenen Werke sind Gegenstand des kritischen Vergleichs. Dazu gehören die sieben erhaltenen Tafeln des Magdalenenaltars – heute in den Museen in Stuttgart, Hamburg, Münster und in Privatbesitz auf Schloss Wocklum – sowie der kleine Drei-Königs-Altar aus Offensen. Von der Osten schlägt darüber hinaus vor, dass die weibliche Reliquienbüste von um 1420 im Niedersächischen Landesmuseum Hannover aus der Barfüßer-Werkstatt stammen könnte.108 Alle nur dem Schulzusammenhang des Barfüßer-Meisters gegebenen Werke liegen nach ihrem Erscheinungsbild so weit vom Barfüßerretabel entfernt, dass sie keinen genaueren technologischen Untersuchungen unterzogen wurden. Erst auf der Basis der gründlichen Befundanalyse des Barfüßerretabels und der durchgeführten vergleichenden Untersuchungen gelang der Autorin, die „Gedächtnistafel für Heinrich den Löwen und Mathilde, Otto IV. und Beatrix“ im Besitz des Herzog Anton Ulrich-Museums Braunschweig als Neuzuschreibung an den Barfüßer-Meister in die Forschungen mit einzubeziehen. (2) Zur Klärung von Fragen nach der Einordnung und Rekonstruktion einzelner, isoliert betrachteter Elemente und technischer Merkmale des Barfüßerretabels musste in einem viel größeren Umkreis nach Vergleichsbeispielen gesucht werden. Den kunsthistorisch und von ihrer Provenienz her näher liegenden Werken kam in der vergleichenden Diskussion natürlich immer ein stärkeres Argument zu. Um zum Beispiel die Rekonstruktion der Predella hinsichtlich seiner Gestalt und Ausmaße auf sichere Füße zu stellen, waren Vergleiche mit den Retabeln aus St. Nicolai in Osterwieck, St. Georgen 107 Retabelfragmente aus der St. Marienkirche, ab 1863 Welfenmuseum. WM XXVII, 11/12; Zehngebotetafel ab 1805 in der Akademischen Gemäldesammlung in Göttingen, ab 1863 Welfenmuseum, WM XXVII, 2; siehe BEST.KAT. HANNOVER 1992, S. 112 ff., Kat. Nr. 37 und 38. 108 Niedersächsisch, um 1420, WM XXIII, 7, BEST.KAT. HANNOVER 1957, S. 84. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 33 - in Wismar, Kloster Ahnaberg bei Kassel und anderen wichtig. Die Gegenstände des Vergleichs werden unten im Einzelnen diskutiert. Bei der Suche nach Vergleichsbeispielen für gemalte und applizierte, insbesondere metallene Zierbänder spielte schließlich der Raum nur mehr eine untergeordnete Rolle, da die erhaltenen Beispiele so gering sind, dass der Blickwinkel den geografischen Raum sowie den Typus Altarretabel ganz verlassen musste. Dieser Bereich der vergleichenden Analyse ist im Wesentlichen auf publizierte Untersuchungen angewiesen. Tiefer gehende, auch naturwissenschaftliche Analysen wären in der Zukunft wünschenswert. 1.6 Zu Verfahrensweise und Rahmenbedingungen bei den technologischen Untersuchungen Basis der hier vorgelegten Untersuchungen sind zunächst die Beobachtungen vom oberflächlichen Erscheinungsbild der genannten Werke. Während es im Rahmen des von 1999 bis 2005 durchgeführten Projektes zur Konservierung, Restaurierung und Erforschung des Göttinger Barfüßeraltars möglich war, Werktechnik und Fassung systematisch kunsttechnologisch zu untersuchen und zur weiteren Untermauerung naturwissenschaftliche Analysen in Auftrag zu geben, mussten bei den zum Vergleich herangezogenen Werken einfachere Mittel der Untersuchung genügen. Die Tafeln des Magdalenenaltars vom Barfüßer-Meister in Stuttgart, Hamburg und Schloss Wocklum wurden von der Autorin jeweils einen Tag lang in Augenschein genommen, wobei einfache optische Hilfsmittel wie Streiflicht, Stirnlupe und Fadenzähler ausreichen mussten. Die angegebene Zeit verdeutlicht die Untersuchungstiefe, die dabei möglich war. Ähnlich waren die Rahmenbedingungen bei der Untersuchung der dem Meister hier neu zugeschriebenen Gedächtnistafel für Heinrich den Löwen und Otto IV. und ihre Gemahlinnen in Braunschweig.109 An der Goldenen Tafel konnte die Autorin lediglich im Rahmen einer ersten Schadensaufnahme für den Projektantrag im Sommer 2008 zwei Wochen lang vom Gerüst aus technologische Beobachtungen sammeln.110 Durch sie angeregt, entstand die technologische Diplomarbeit von Katarina-Luise Saalbach zum 109 Die Autorin untersuchte die Gedächtnistafel im November 2009 im Ausstellungsraum des Herzog Anton Ulrich-Museums in der Burg Dankwarderode, ohne dass das Entrahmen dabei ermöglicht werden konnte. Chefrestauratorin Hildegard Kaul sei für die nötige Organisation gedankt. 110 HARTWIEG/HERPERS/HINDERER 2007 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 34 - kleinen Offenser Retabel.111 Abgesehen von der eigenen In-Augenscheinnahme basieren die Vergleiche hier auf dem durch die Diplomarbeit gelieferten, aber nicht schlüssig ausgewerteten Datenmaterial. Das Kolloquium zum Göttinger Barfüßeraltar 2006 gab den Anstoß zu genaueren Untersuchungen der im Landesmuseum in Münster befindlichen Tafel mit der Auffahrt der Hl. Magdalena vom in Hildesheim zu lokalisierenden Magdalenenaltar dieses Meisters, auf die hier auch zurückgegriffen werden kann.112 Aber selbst am Göttinger Barfüßerretabel legten die finanziellen Mittel und die Größe des Retabels den kunsttechnologischen Untersuchungen Beschränkungen auf. Zu Projektbeginn mussten die Untersuchungen vorgezogen werden, die für die Entwicklung des Behandlungskonzepts zwingend erforderlich waren. Die ursprünglich geplanten Röntgen- und IR-Untersuchungen sowie umfassenderen naturwissenschaftlichen Analysen konnten erst bei Bewilligung zusätzlicher Forschungsmittel vom Land Niedersachsen 2002 erneut ins Programm genommen werden, wenn auch ausgewählt nach bestimmten Fragen und Prioritäten. Folgende Fragestellungen leiteten das Untersuchungskonzept im Rahmen des Projektes: • Wie geartet sind Aufbau und Löslichkeit der Überzüge? • Wie ist die Konstruktion des Altarretabels beschaffen und welche Mängel weist die Statik auf? • Wie wurde der Malgrund vorbereitet? • Welche Charakteristik zeigen die Unterzeichnungen? • Welche Blattmetallauflagen und massiven Metallapplikationen wurden verwendet? • Welches Erscheinungsbild zeigten die Brokatimitationen ursprünglich? • Wie sind die verschiedenen, die Farbgebung dominierenden Rottöne zusammengesetzt? Erkenntnisse, z.B. zu anderen Pigmenten und zu den verwendeten Bindemitteln, fielen dabei gewissermaßen als Nebenprodukt an. 111 SAALBACH 2003 Untersuchungen von Dipl. Rest. Iris Herpers und Prof. Dr. Elisabeth Jägers, vorgestellt auf dem Kolloquium „Frömmigkeit und Propaganda“ am 29.09.2006. Manuskript, IR-Fotos und Bericht zu den naturwissenschaftlichen Untersuchungen an Materialproben von Prof. Dr. Elisabeth Jägers vom 28.08.1006 stellte Iris Herpers der Autorin freundlicherweise zur Verfügung. 112 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 35 - Weiteren Fragestellungen, die sich aus der vertiefenden Bearbeitung im Rahmen der Dissertation ergaben, konnte die Autorin durch Untersuchungen vom Hubwagen aus auch nach Projektende nachgehen.113 Sie betrafen insbesondere: • die erste Phase der Unterzeichnung zur Bildorganisation auf dem Malgrund, • die Verwendung von Konturschablonen, • den Vergleich und die Katalogisierung der Brokatmuster. Die naturwissenschaftlichen Analysen übernahmen Prof. Dr. Hendrik Schulz und Martina Schulz, naturwissenschaftliches Labor der HAWK Hildesheim (insbesondere Analyse der Überzüge), Prof. Dr. Ernst-Ludwig Richter und Heide Härlin, Archäometrielabor der Hochschule der Bildenden Künste Stuttgart (insbesondere Metallanalysen), Prof. Dr. Christoph Herm, Archäometrie und naturwissenschaftliche Forschung an der Hochschule für Bildende Künste Dresden (Füllstoff-, Pigment-, Metall- und Bindemittelbestimmungen mit PLM, FT-IR, SEM-EDX, OES sowie zerstörungsfrei mit der µRF-Analyse in Zusammenarbeit mit Dr. Armin Gross, Fa. Bruker AXS Berlin114), die Holzanalysen Prof. Dr. Peter Klein, Universität Hamburg, und Romy König, HAWK Hildesheim. Datenorganisation und Kartierung von Befunden am Barfüßerretabel Das Göttinger Barfüßerretabel stellte mit seiner Breite von fast 8 m in geöffnetem Zustand und der Höhe von über 3 m ohne Predella allein wegen des zu bewältigenden Umfangs auch für die Planung der Bestandserfassung und der Untersuchungsdokumentation eine besondere Herausforderung dar. Die Fragen, wie man technische Befunde und Schäden auf der bemalten bzw. gefassten Fläche von rund 60 qm systematisch, vollständig, dabei aber auch effektiv erfasst und dokumentiert, führte zu einer stringenten Datenorganisation und zur Entwicklung eines eigenen Kartierungsverfahrens. Die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel steckten dabei einen engen Rahmen und ließen die Anwendung z.B. des vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege für Wandmalereiprojekte entwickelten CAD-Programms nicht zu.115 113 Für die technische Unterstützung seien Claus Müller und Dipl. Rest. Kirsten Hinderer, beide Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, herzlich gedankt. 114 Erklärung der Untersuchungsverfahren s. u. S. 37. 115 Vgl. Rolf-Jürgen Grote, EDV-gestützte Hilfen für die Bestandserfassung und Zustandsanalyse bei Schäden an Kulturdenkmalen, und Elke Behrens, Die Kartierung als Mittel der Bestandsaufnahme, in: Forschungsprojekt Wandmalerei-Schäden – Schlußbericht zu den interdisziplinären Befunden (Arbeits- Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 36 - Ausgehend von der Bildfeldaufteilung auf der Festtagsseite wurden Mitteltafel, Flügel und Predellenfragmente in insgesamt 69 Bildfelder („BF“) mit einer Fläche von jeweils unter 1 m2 aufgeteilt. Die Nummerierungen orientierten sich allerdings an der ikonografischen Abfolge der Darstellungen, so dass einschließlich der Predellentafeln 29 Bildfeldnummern vergeben wurden (Anhang S. 311-314, Grafik 1-4). Die Aufteilung wurde auf den Rahmen im selben Maßstab fortgeführt, wobei „-A“ einen vertikalen und „-B“ einen horizontalen Rahmenabschnitt bezeichnen. Die große Untergliederung gaben die drei Zustände vor, der geschlossene, mittlere und geöffnete Zustand. Wissend um die inhaltliche Problematik des Wortgebrauchs werden die Begriffe „Werktagsseite“, „Sonntagsseite“ und „Festtagsseite“ als am wenigsten missverständlich auch hier angewendet. Das Ordnungssystem war für alle Formen der Dokumentation anwendbar: für die Bezeichnung von Dateien, Kartierungen, Fotos, entnommenen Proben, Analysen wie z.B. Mikro-Röntgenfluoreszenz-Analysen (µRFA). Es bewährte sich hervorragend und vereinfachte sogar die interne Kommunikation. Bei der Entwicklung des Kartierungsverfahrens auf der Basis kommerzieller Bildbearbeitungsprogramme gab ein Multimediaspezialist, der hinsichtlich der Entwicklung eines multimedialen Informationsangebotes für Museumsbesucher von Anfang an hinzugezogen war, Hilfestellung.116 Die für spätere Multimediaanwendungen nötige gute Fotoqualität gab den Standard vor, der auch für die restauratorische Fotodokumentation bindend war.117 Strichzeichnungen auf der Basis der best möglich bildparallel und damit verzerrungsfrei erstellten Vorzustandsaufnahmen lieferten die Matrix für alle Kartierungen, weil sich abstrahierte SW-Fotos als zu unklar erwiesen. Die Kartierungsthemen wurden im Team vor dem Objekt diskutiert und festgelegt: 6 Themen zum technologischen Befund, 12 verschiedene Schadensphänomene zum Bildträger, 17 zum Erhaltungszustand der Bildschichten im Vorzustand und eine zur Darhefte zur Denkmalpflege in Niedersachsen 11), Hannover 1994, S. 37-44. Das CAD-Programm hat den großen Vorzug, dass sich kartierte Bereiche nach ihrer flächenmäßigen Ausdehnung berechnen lassen. 116 Prof. Ulrich Plank, Hochschule der Bildenden Künste Braunschweig, Institut für Medienforschung 117 Tests mit digitalen Kameras und Scans von analogem, mit einer Plattenkamera erzeugten Bildmaterial ergaben, dass letztere zum Zeitpunkt des Projektbeginns die höhere Auflösung lieferten, die für die in der Multimediaanwendung geplante Zoomfunktion benötigt wurde. Für die spätere Remontage einzelner Teilaufnahmen und -kartierungen am PC war die absolut verzerrungsfreie Aufnahme aller Ansichten des Retabels Bedingung. Zur bildparallelen Ausrichtung der Filmebene der Plattenkamera diente ein LaserNivelliergerät. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 37 - stellung der gefährdetsten Fassungspartien bei Abschluss des Projektes als Hilfsmittel für die zukünftige Pflege und Wartung.118 Die im Maßstab 1:3 für jedes Bildfeld erstellten Strichzeichnungen bildeten, auf DIN A3-Bretter fixiert, die Grundlage für die systematische Schadenskartierung vom Gerüst aus. Auf für jedes Kartierungsthema jeweils neuen Polyesterfolien wurden die betroffenen Bereiche nur konturiert. Eine charakteristische farbige Schraffur erhielten sie erst nach dem Scannen der Folien am PC mit Hilfe des vektorbasierten Bildbearbeitungsprogramms Adobe Illustrator.119 Die Schraffuren waren so gewählt, dass sie sich bei Überlagerung mehrerer Ebenen gegenseitig nicht verdeckten. Unterschiedliche technologische Befunde und Schadensphänomene ließen sich somit wahlweise kombinieren. Erst die Auswertung des umfangreichen Kartierungsmaterials auf diesem Wege verdeutlichte das Zusammenwirken von Phänomenen und brachte die Analyse von Schadensursachen entscheidend voran. Angewandte Untersuchungsverfahren Optische Hilfsmittel zur Untersuchungen der Oberflächen Bei Werken, die außerhalb des Niedersächsischen Landesmuseums in Augenschein genommen wurden, mussten flexible vergrößernde Sehhilfen wie Stirnlupe und Fadenzähler mit zusammen maximal 20facher Vergrößerung ausreichen. Im Landesmuseum standen wahlweise folgende Stereomikroskope für die mikroskopische OberflächenUntersuchung zur Verfügung: Wild M5 Tischmikroskop mit 6- bis 50-facher Vergrößerung, zur Untersuchung der Mitteltafel des Barfüßerretabels an den Hubwagen montiert und in die Waagerechte gerichtet; Zeiss Stereomikroskop OPMI 9 mit 15-, 25- und 40facher Vergrößerung (Objektiv: f = 100, Okular: 20-fach) an einem Bodenstativ; Möller-Wedel Technoskop mit 3,5- bis 32-facher Vergrößerung ebenfalls an einem Bodenstativ zur Untersuchung der abgenommenen Flügel, elektrisch höhenverstellbar von ca. 50 cm bis 170 cm, zur Untersuchung der Mitteltafel auch in den Hubwagen gestellt. Mikrofotos konnten an letzterem über einen Fototubus analog mit der KBKamera oder über die Mitbeobachtereinrichtung, d.h. über eine CCD-Überwachungskamera und Camcorder aufgenommen werden. 118 Ausführlicher mit Tabelle aller Kartierungsthemen in Hartwieg/Friedmann/Leopold, Die Schäden und ihre Kartierung, Kolloquiumsband zum Göttinger Barfüßeraltar, In Vorbereitung. 119 Dies hat gegenüber anderen pixel-basierten Bildbearbeitungsprogrammen, wie z.B. Adobe Photoshop, den Vorzug, dass Strichstärken jederzeit verändert werden können. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 38 - Als Lichtquellen für diese Oberflächenuntersuchungen im Makro- und Mikrobereich dienten Handlampen (Aspherilux midi LED) oder Kaltlichtlampen mit ein oder zwei Lichtleitern (Schott/Leica KL 1500 und Heine). Diese ermöglichten zugleich die Streiflichtuntersuchung, die mit im flachen Winkel über die Bildoberfläche gerichteter Lichtquelle Bearbeitungsspuren, Schichtenfolgen und Kompositionsveränderungen sichtbar machte. Für Streiflichtaufnahmen wurden Fotolampen im Winkel von ca. 10-15° vor der Bildoberfäche ausgerichtet, wobei eine Schablone mit Winkelmesser und Faden sowie ein Streiflichtkegel halfen, die Aufnahmesituation zu reproduzieren. Da die Mitteltafel nicht demontiert werden sollte, war ihre Rückseite für eine Auflichtuntersuchung kaum zugänglich. Informationen zu Werktechnik und Zustand wurden einerseits mit an längeren Stangen montierten Spiegeln, andererseits mit Hilfe eines Endoskops der Fa. Olympus mit eingebauter Lichtquelle (150 W Tungsten Halogen) gewonnen. Dies überträgt Bilder über eine Linse von 8 mm Durchmesser mit einem Weitwinkel von 55° über einen 55 cm langen Stab um 90° seitlich.120 UV-Untersuchungen Zur ganzflächigen fotografischen Dokumentation der UV-Fluoreszenz der Flügel und Mitteltafel standen UV-Leuchten (Grigull Fotoleuchten, Jüglingen) mit Quecksilberhochdrucklampen (Bezeichnung HPW 125 TS) zur Verfügung.121 Wegen der Oberlichtsituation im Mittelaltersaal und in der provisorischen Werkstatt mussten diese Aufnahmen meistens bei Dunkelheit gemacht werden.122 UV-Untersuchungen kleinerer Details wurden auch mit der UV-Handlampe durchgeführt. Probenentnahme und Querschliff-Untersuchungen Auf der Basis der hauptsächlich mit Stirnlupen und Stereomikroskop durchgeführten Befundsicherung erfolgte die Auswahl von Proben und ihre Entnahme. Insgesamt wurden 120 kleinste Farbproben von Malerei und Rahmenfassung entnommen. Dies 120 Die Klosterkammer Hannover stellte dieses Endoskop der Marke Boroscope G080-055-090-55 OES (Olympus Endoscopy System) freundlicherweise zur Verfügung. 121 Diskussion dieser Lampen bei Hans Peter Autenrieth / Alfredo Aldrovandi / Peter Turek, Die Praxis der UV-Fluoreszenzfotografie, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 4/1990, Heft 2, S. 216. 122 Fotograf Clemens Kappen, HAWK Hochschule für angewandte Kunst und Wissenschaft in Hildesheim, ist für die Überlassung der Lampen und die Unterstützung bei den nächtlichen UV-Aufnahmen sehr zu danken. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 39 - entspricht bei einer durchschnittlichen Größe von 0,5 mm² in etwa dem Verlust einer Fläche von 0,6 cm². Vom größeren Teil dieser Proben wurden Querschliffe zur Analyse des schichtenweisen Aufbaus erstellt, d.h. die Proben in Technovit 2000LC eingebettet, nach UV-Härtung trocken geschliffen und von den im Projekt mitarbeitenden Restauratoren am Untersuchungsmikroskop Leitz Laborlux K der Klosterkammer Hannover im Auflicht bei bis zu 320-facher Vergrößerung sowie im UV-Licht im Wellenlängenbereich von 355 bis 425 nm bei bis zu 200-facher Vergrößerung selbst ausgewertet.123 Die fotografische Dokumentation der Querschliffe erfolgte über die Fotoeinheit analog auf hochempfindliches Diafilmmaterial. Methoden der Element- und Pigmentbestimmung an entnommenen Proben Die lichtmikroskopische Bestimmung von Pigmenten und Füllstoffen in Grundierungsund Farbschichten übernahm Prof. Dr. Christoph Herm, HfBK Dresden, an losen Proben im Polarisationsmikroskop. Eine Reihe von Pigmenten und Füllstoffen ließ sich hier mit Hilfe der Fourier-Transform-Infrarotspektroskopie (FT-IR) identifizieren. Daneben kam die Optische Emissions-Spektralanalyse (OES) zur Bestimmung chemischer Elemente an losen Proben zum Einsatz, aus denen sich auf die vorliegenden anorganischen Pigmente schließen ließ. Querschliffe wurden mit energiedispersiver Röntgenfluoreszenz im Rasterelektronenmikroskop (SEM-EDX) hinsichtlich ihrer Elementzusammensetzung weiter ausgewertet. Mit Silber bedampfte Querschliffe wurden durch Dr. Sylvia Hoblyn am Philipps XL-30 mit EDAX-EDEX im Untersuchungslabor der HfBK Dresden untersucht, unbedampfte Proben am Philipps XL-30 ESEM in Zusammenarbeit von Prof. Herm mit Prof. Dr. Michael Schiekel am Institut für Baustoffe, TU Dresden, teilweise mit Elementmapping mit Hilfe des Rückstreuelektronen-Detektors (BSE – Back scattered electrons).124 Zur Analyse der Metalle nutzte Prof. Dr. Ernst-Ludwig Richter am Institut für Technologie der Malerei der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart die LASER-Mikrospektralanalyse (LMSA) für qualitative Übersichtsaufnahmen und die AtomabsorptionsSpektralanalyse (AAS) zur quantitativen Bestimmung von Kupfer- und Zinkgehalten. 123 UV-Untersuchung mit Auflicht-Fluoreszenzeinrichtung bestehend aus Hg-Höchstdrucklampe 50 W in Kombination mit den Bandpassfiltern A (340-380 nm) und D (355-425 nm), wobei die fotografische Dokumentation fast ausschließlich mit Filter D erfolgte. 124 Christoph Herm, Untersuchungsbericht Nr. 09/03-3E vom 15.09.2006, S. 2. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 40 - Zerstörungsfreie Elementbestimmung mit der Mikro-Röntgenfluoreszenz-Analyse Die Mikro-Röntgenfluoreszenz-Analyse (abgekürzt: µRFA, englisch: micro-XRF) mit dem mobilen „ArtTAX®“-Spektrometer arbeitet zerstörungsfrei in situ.125 Sie erlaubt die Identifizierung chemischer Elemente anhand ihrer charakteristischen Röntgenstrahlung sowie eine „halbquantitative“ Abschätzung der Konzentration. In Zusammenarbeit mit Prof. Christoph Herm von der Hochschule der Bildenden Künste Dresden und Herrn Dr. Armin Gross von der Fa. Bruker AXS (damals Röntec GmbH Berlin) konnten zwei Messkampagnen in den Jahren 2003 und 2004 durchgeführt werden. Dabei wurden zwei unterschiedliche gerätetechnische Konfigurationen getestet: Bei der ersten MessSerie war die Röntgenröhre des Spektrometers mit einem Molybdän-Target und einer Polikapillarlinse ausgestattet, die Messpunkte mit einem Durchmesser unter 100µm erfasste. In der zweiten Messkampagne bestand der Messkopf aus einem WolframTarget mit Nickel Filter und einem Kollimator mit 650 µm Messpunkt an Stelle der Polykapillarlinse.126 Die hiermit generierten Röntgenfluoreszenzspektren hatten eine etwa 10-fach höhere Intensität. Dies war insofern von Vorteil, da eine der Hauptfragestellungen die Qualität der verwendeten, sehr dünnen Blattmetallauflagen betraf. Weil hierzu keinerlei vergleichbare Messergebnisse vorlagen, begannen die Messreihen jeweils mit der Datenaufnahme an Referenzproben, verschiedenen losen und auf grundierte Probetafeln über Poliment aufgelegten Blattmetallauflagen.127 Da die Maße des Barfüßeraltars die Reichweite des serienmäßigen Stativs weit überschritten, kam stattdessen vor dem Retabel das große, für ein Wandmalerei-Projekt entwickelte Fotostativ zum Einsatz, das für die IR-reflektografischen Untersuchungen benutzt wurde. 128 Messpunkte konnten damit auch in großer Höhe angefahren werden (Abb. 22 c). 125 Zu Methode und Gerät siehe: Katja Matauschek, Zerstörungsfreie In-situ-Untersuchungen an einem Gemälde. Möglichkeiten und Grenzen der Malschichtanalyse mit einem mobilen Mikro-RFA-Spektrometer. In: Restauro 5/2003, S. 348-352; Armin Gross, Ulrich Waldschläger, ArtTAX ® 2nd generation: Advances in non-destructive µXRF Technologies, art’05 Lecce contribution No. 80. 126 Die Parameter der ersten Messungen mit Mo-Target waren: 30W, 50kV, 600µA bei einer Messzeit von 50-200 Sek., die der zweiten Messserie mit W-Target: 30W, 50kV, 800µA bei Messzeiten von 200-500 Sek. Die Möglichkeiten und Grenzen beider Messwege werden ausführlicher diskutiert bei HARTWIEG / HERM 2005. 127 Die Auswertung der Spektren übernahm Prof. Dr. Christoph Herm in zwei Berichten Nr. 03/NLMH_XE vom 25.09.2006 und Nr. 04/NLMH_X1E vom 24.09.2006. 128 Für die Vermittlung sei Dr. Detlev Gadesmann, Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege, für die Leihe dem Fotografen Tobias Trapp, Oldenburg, gedankt. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 41 - Bindemittel-Bestimmungen Erste Bindemittel-Untersuchungen hinsichtlich der Material- und Lösungseigenschaften späterer Überzüge wurden mit Hilfe der Fourier-Transform Infrarot-Spektrometrie (FTIR) nach Extraktion von Wattebäuschen und an Schabeproben durchgeführt. Die FT-IRSpektroskopie lieferte auch Hinweise auf Bindemittelgruppen an losen Proben von der originalen Malschicht. Darüber hinaus wurden mikroanalytische Gruppentests sowie histochemische Anfärbungen an Querschliffen durchgeführt, aus denen sich ebenfalls Hinweise auf Gruppen organischer Bindemittel (z.B. Proteine, trocknende Öle) gewinnen lassen.129 Holzanalysen Während das überwiegend verwendete Eichenholz makroskopisch bestimmt werden konnte, wurden an den Außenflügeln und an den Predellenfragmenten Holzproben entnommen, Dünnschnitte hergestellt und in Glyzeringelatine präpariert. Die Bestimmung der Zellstruktur erfolgte im polarisierten Durchlicht am Untersuchungsmikroskop durch Prof. Dr. Peter Klein, Universität Hamburg, bzw. durch Romy König, Studentin an der HAWK Hildesheim. Röntgenuntersuchung Die Flächenuntersuchung mit Röntgenstrahlen war am Barfüßeraltar aus finanziellen und technischen Gründen nur an exemplarisch ausgewählten, max. 35x80 cm großen Flächen möglich. Im Vordergrund stand die Analyse der Rahmen-Eckverbindungen und ihrer statischen Funktionstüchtigkeit. Wegen der beidseitigen Bemalung der Flügel und der dicken Balken auf der Rückseite der Mitteltafel war die Auswertung der Röntgenfotos hinsichtlich der Verwendung schwermetallhaltiger Farben, der Art des Farbauftrags und eventueller Kompositionsänderungen erwartungsgemäß schwierig und wurde nur beispielhaft am linken Innenflügel ausgeführt. Die Bestrahlung erfolgte mit Hilfe einer mobilen Röntgenröhre, ERESCO 200 MF der Fa. Seifert, die vor dem Retabel auf dem Gerüst positioniert wurde, während die Filme 129 „Stoffgruppenspezifische Tests“ auf stickstoffhaltige Substanzen, Proteine und trocknende Öle,siehe: Hans-Peter Schramm / Bernd Hering, Historische Malmaterialien und ihre Identifizierung, Berlin (DDR), 1988. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 42 - hinter die Mitteltafel bzw. Flügel zu schieben waren.130 Die Filme wurden maschinell entwickelt. Infrarotfotografie und IR-Reflektografie Für die Untersuchung der Unterzeichnungen kam im Niedersächsischen Landesmuseum die Infrarotreflektografie mit der Präzisions-Videokamera C2400-03 mit InfrarotVidikon N2606-6 der Firma Hamamatsu zum Einsatz.131 Die Kamera konnte aus Projektmitteln erworben werden und musste 1999 als die IR-Kamera gelten, die die qualitätvollsten Ergebnisse zu liefern im Stande war. Dieses Gerät arbeitet in einem Wellenlängenbereich von ca. 1000 bis 2000 nm. Der vor das hochwertige Objektiv gesetzte Sperrfilter HAMA IR 1000 hielt Wellenlängen <1000 nm zurück. Für eine in immer gleichem Abstand mitwandernde Licht- bzw. Wärmequelle sorgte ein mit Glühlampen besetzter Ring um die Kamera.132 Zur Bewältigung der großen Dimensionen des Altarwerks mussten technische Adaptionen und Vereinfachungen für die Arbeit von Leiter oder Gerüst aus vorgenommen werden. Das auch bei der µRF-Analyse benutzte große Fotostativ mit ca. 150 cm langem, leicht laufenden Querarm erleichterte die Reihenaufnahme an den großen Altarflügeln enorm. Anstelle einer Direktübertragung der IR-Reflektogramme auf einen Computer wurden diese mit einem handlichen, auf Leiter und Gerüst flexibler einsetzbaren Digital Video Camera Recorder (Sony DCR-TRV 900 E) aufgenommen. Ein SW-Bildschirm diente parallel nur zur Kontrolle. Die aufgenommenen Bilder wurden am Computer-Arbeitsplatz vom Videoband des Camcorders ausgelesen, auf verschiedene Ebenen im Bildbearbeitungsprogramm Adobe Photoshop geladen, dort manuell zusammengefügt und im Grauwert angeglichen. Die Anschaffung der für IRR-Montagen speziell entwickelten Montierungssoftware war im Rahmen des Projektes nicht darstellbar. 130 Durchführung der Röntgenaufnahmen durch Christoph Heidger, Fa. art-ray, München am 26.07.2004. Die verwendeten Parameter lagen bei 24-38 kV, 8 mA und einer Belichtungszeit von 1,5 min (Predellenfragment) bis 8,4 min (doppelseitig bemalter Innenflügel aus Eichenholz). 131 Vergleiche der Ergebnisse mit demselben Kameratyp haben gezeigt, dass die IR-Röhren nie eine völlig identische „Performance“ haben. Für die methodischen Diskussionen danke ich Christoph Schmidt, Gemäldegalerie Berlin. 132 Stephan Knobloch und Christiane Häseler sowie Dr. Bodo Brinkmann vom Städel Frankfurt danke ich für Anregungen und Diskussion. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 1. Einführung - 43 - Die Verwendung des Camcorders war mit dem Nachteil verbunden, dass die Bildauflösung damit auf geringe 72 dpi je Einzelbild festgelegt war. Angesichts der großen Flächen wurden die Einzelbilder darüber hinaus postkartengroß und damit größer als üblich gewählt, um die zeilenweisen Aufnahme und spätere Fotomontage schneller bewältigen zu können. Für ein Bildfeld der Festtagsseite waren damit immer noch mindestens 80 Einzelbilder zusammenzusetzen. Diese beiden technischen Aspekte mindern nun Brillianz und Aussagefähigkeit der Fotomontagen zu einem gewissen Grade. Bei der ersten Sichtung der Befunde mit der IR-Kamera ohne digitale Dokumentation stellte sich heraus, dass sich an großen Teilen des Retabels keine oder nur sehr wenige Unterzeichnungslinien sichtbar machen ließen. Dies hat vor allem maltechnische Gründe. Durch die Verwendung roter Farbe auch ohne Beimischung von Schwarz als Unterzeichnungsmittel liegt der bei Infrarotuntersuchungen gefürchtete Fall vor, dass die hellroten Linien von der infraroten Strahlung durchdrungen und damit nicht sichtbar werden. Allerdings ließ der zur Verfügung stehende zeitliche Rahmen auch kein weiteres Experimentieren mit den Parametern wie Blende, Belichtungszeit, Empfindlichkeit und Filter zu, mit dem möglicherweise weitere Unterzeichnungsbefunde hätten gewonnen werden können.133 Hier wurden mit dem beschriebenen Verfahren nur die Bildfelder oder Bildpartien mit den aussagekräftigsten IRR-Bildern aufgenommen und montiert. Die Auswertung der IRR-Bildmontagen hinsichtlich der Unterzeichnung verlangt eine genaue Überprüfung mit dem Original, weil die auf der Malerei aufliegenden schwarzen Konturen dieselbe Strichcharakteristik wie die Pinselunterzeichnungen haben. Zur stichprobenartigen Sichtung von Unterzeichnungen an Werken außerhalb des Museums kam fallweise auch die Digitalkamera Sony Cybershot 5.0 mit Nightshot Funktion und Filter Heliopan ES52 IR830 zum Einsatz, mit der Wellenlängen in einem Bereich von etwa 750-900 nm erfasst werden. Die Ergebnisse dienten vor allem als Arbeitsmaterial. Bei vergleichend hinzugezogenen IR-Aufnahmen werden die Aufnahmeparameter, so weit bekannt, im einzelnen aufgeführt. 133 Die neu auf dem Markt verfügbaren digitalen IR-Kameras wie OSIRIS und Xeva Large (Fa. Lot Oriel) jeweils mit dem INGAAS Bildwandler (ca. 1700 nm) bringen auch dank der geringen Störung durch die Kanten des Mosaiks eine bessere Auswertbarkeit. 2.1 Beschreibung - 44 - Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2. Das Göttinger Barfüßer-Retabel von 1424 Doppelflügeliger Wandelaltar aus der Franziskaner- oder Barfüßerkirche in Göttingen, heute: Niedersächsiches Landesmuseum Hannover (NLMH) Inventar-Nummern: Retabel WM XXVII, 3-8; Predellenfragmente PAM 712/713 Maße und Gewichte134 Mitteltafel H. 304 cm Außenflügel T. 5,3 cm B. 385 cm T. 17,4 – 18,0 cm rechter Außenflügel 103 kg H. 306 cm B. 192 cm (oben), 193 cm (unten) linker Außenflügel 106 kg H. 305,7 cm B. 193,5 cm T. 17,5 cm Innenflügel rechter Innenflügel 292 kg H. 305 cm B. 192,5 cm (oben), 191,7 cm (u.) linker Innenflügel 272 kg H. 304,5 cm B. 193,5 cm T. 0,6 – 0,8 cm / mit Parkett 2,7 cm Predellenfragmente linkes Fragment 2,3 kg H. 41 cm rechtes Fragment 2,3 kg H. 41,2 cm (links), 41,8 cm (rechts) B. 54,4 cm Geöffneter Zustand, ganze Breite B. 788 cm Geschlossener Zustand T. 43 cm B. 54,5 cm (oben), 55 cm (unten) 2.1 Beschreibung des Altarretabels Das am 20. Mai 1424 auf dem Hochaltar der Göttinger Barfüßerkirche geweihte Retabel ist von schlichter Form und beeindruckender Größe. Es zeigt ein ungewöhnliches, theologisch anspruchsvolles ikonografisches Programm mit einem enormen Reichtum an erzählerischen Details und aufwendigen Verzierungstechniken. Maße gemittelt bzw. gerundet, vergleiche Bemaßung auf den Zeichnungen; Gewichte bei Flügelabbau am 05.11.1997 mit Hilfe eines Gabelhubwagens mit Waage ermittelt. 134 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.1 Beschreibung - 45 - Das Retabel ist ein Pentaptychon, es besteht aus einer fest stehenden Mitteltafel und zu beiden Seiten je zwei beidseitig bemalten, klappbaren Flügeln. Durch das Bewegen der Flügel wurden, liturgischen Regeln folgend, drei unterschiedliche „Wandlungen“ oder „Zustände“ hergestellt. Sie sind am Barfüßerretabel von sehr unterschiedlichem Charakter. Der geschlossene Zustand, der die längste Zeit des Kirchenjahres zu sehen war, zeigt vier außergewöhnlich eigenständige, große Bilder, deren Themen – theologisch höchst komplex – das Heilswirken der Kirche versinnbildlichen (Abb. 1). Ihrer Interpretation widmete sich Schawe in seiner 1989 veröffentlichten kunsthistorischen Dissertation und mit erneutem Blick 2006 aus Anlass des Kolloquiums zum Abschluss des Restaurierungsprojektes.135 Der gelehrte Charakter des Bildprogramms wird auch an der Vielzahl von Schriftbändern und Zitaten offenbar, die Werner Arnhold im einzelnen transskribierte.136 Auf dem linken Flügel beginnt das Programm unten mit der Darstellung der Hostienmühle, in der die Menschwerdung Christi aus dem Wort (Inschrift: et verbum carnefactum est) und das Wunder der Eucharistie versinnbildlicht werden (Abb. 5). Die Evangelisten in Form der geflügelten Symbole füllen die Mühle mit dem Wort Gottes in Form von Spruchbändern. Die zwölf Apostel stehen an den langen Kurbeln, die vier lateinischen Kirchenväter nehmen das Christuskind im eucharistischen Kelch in Empfang. Sie werden begleitet von zwei für den Franziskanerorden wichtigen Heiligen: den Hl. Franziskus links und den Hl. Ludwig von Toulouse rechts. Schawe nimmt an, dass den 25 erhaltenen, ähnlich gestalteten Mühlenbildern ein heute verlorener Prototyp zugrunde liegt.137 Über der Hostienmühle ist als geläufigeres Bildthema der zwölfjährige Christus im Tempel unter den Schriftgelehrten dargestellt (Abb. 5). Die Schriftgelehrten teilen sich in eine nachdenkliche Gruppe links und eine aufgebrachte rechts, in der sich die Männer das Gewand aufreißen, eine Seite aus dem Buch herausreißen, die Zunge herausstrecken 135 SCHAWE 1989 und Schawe, Der geschlossene Zustand, Vortrag gehalten am 28.09.2006, Kolloquiumsband in Vorbereitung. 136 ARNHOLD 1980, S. 69-77. 137 Schawe, Vortrag wie Anm. 135. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.1 Beschreibung - 46 - und zum Werfen ansetzen. In ihren Büchern ließen sich im Rahmen des Projektes hebräische Schriften entziffern und als Zitate aus dem 5. Buch Mose, dem Deuteronomium, Kap. 13, identifizieren.138 Sie enthalten in beiden Gruppen gleichermaßen polemische, gegen die Juden gerichtete Inhalte. 139 Das ruhige Verhalten der linken Gruppe betont also nur die Milde der Eltern, Maria am linken Bildrand und Joseph zu Füßen Jesu, fast versteckt links des Thrones, die allerdings das Auftreten des Sohnes genauso wenig wie die jüdischen Gelehrten verstehen. Auf dem rechten Flügel unten findet sich die in der Kunstgeschichte einzigartige Darstellung der trauernden Maria mit dem Leichnam Christi im Sarkophag auf ihrem Schoß und den kleinen Figuren des Gekreuzigten und des Auferstandenen in der rechten bzw. linken Hand vorweisend (Abb. 6). Maria ist in ihrer demonstrativen Haltung als Ecclesia zu verstehen. Sie wird links von Papst und Kardinal, rechts von Kaiser und König angebetet, die in kleinerem Größenmaßstab dargestellt werden. Mit den drei Gestalten Christi in den Händen und auf dem Schoß der Maria liegt die Assoziation von Skulpturen, die als Requisiten in Osterspielen benutzt wurden, nahe, 140 zumal auf den Schriftbändern Verse zitiert werden, die der Liturgie zur Osterprozession entstammen.141 Das sogenannte Pestbild rechts oben zeigt Christus als richtenden Gott mit Pfeilen in der Hand (Abb. 6). Die Pfeile fallen hinab auf eine Gruppe von 17 am Boden liegende Personen, dabei fünf Kinder, drei Männer bis auf die Unterhosen entkleidet, die übrigen in weiße Tücher gehüllt mit Ausnahme einer Frau in der Mitte im roten Kleid. Vom Hl. Franziskus rechts mit einem Salua illos ihesu criste p(ro) quibus virgo m(ate)r te orat142 akklamiert, fängt Maria links strafende Pfeile auf. Die bislang unbekannten weiblichen Heiligen hinter ihr meint Tripps als die Hl. Ursula und die hl. Pinnosa identifizieren zu können.143 Der Hl. Franziskus wird vom Hl. Antonius von Padua und von der Hl. Klara 138 Prof. Dr. Michael Brocke, Spezialist für hebräische Epigraphik am Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte, gelang die Auflösung auf der Basis von Fotos und einer genauen Kartierung der jüngeren Ergänzungen. Für die Vermittlung danke ich Frau Dr. Christine Wulf, Inschriftenkommission Göttingen, und Frau Dr. Christine Magin, Historisches Institut der Ernst-MoritzArndt-Universität Greifswald. 139 BROCKE 2003. 140 HARTWIEG 1988 141 ARNHOLD 1980, S. 75, Anm. 18. 142 „Errette jene, Jesus Christus, für die die Jungfrau als Mutter dich bittet“, nach ARNHOLD 1980, S. 73. 143 Johannes Tripps, Zur franziskanischen Bildprogrammatik, Vortrag gehalten am 30.09.2006 beim Barfüßer-Kolloquium, Veröffentlichung in Vorbereitung. Für die Bereitstellung des Manuskripts sei ihm herzlich gedankt. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.1 Beschreibung - 47 - begleitet. Die Bezeichnung für die Darstellung ergibt sich daraus, dass die Pfeile auf pestrelevante Körperstellen zeigen. Schawe zieht in Erwägung, dass die rot gekleidete Frau stellvertretend die Summe aller menschlichen Sünden verbildlichen soll und das Bild übergreifend die „alttestamentarische Strafentrias 'Pest, Hunger und Krieg'“ meint.144 Die vier Szenen sind auch mariologisch und als Szenen aus dem Leben Jesu lesbar, begegnen uns doch in den beiden oberen Ecken des Mühlenbildes der Engel und Maria der Verkündigung, am linken Rand der Tempelszene mit dem 12-jährigen Jesus unter den Schriftgelehrten die Mutter Jesu, rechts unten die trauernde Muttergottes und im Pestbild die fürbittende Maria des Weltgerichts (Abb. 1). Der „Alltäglichkeit“ dieses Zustands entspricht der beinahe vollständige Verzicht auf kostbare Materialien (z.B. Gold) und seine zurückgenommene Farbigkeit. Farblich dominieren die mit gelben Sternen flächig besetzten dunkelroten Hintergründe, die auf der von einer schwarzen Kehle abgesetzten roten Rahmenfassung ihre Fortsetzung finden, hier allerdings ursprünglich wohl dicht besetzt mit schablonierten mehrblättrigen Blüten in Blattsilber- und Zwischgoldauflage im Wechsel. In merkwürdigem Gegensatz dazu steht die Farbfassung der ursprünglich gleichzeitig darunter sichtbaren Vorderfront der Predella. Wie zu zeigen sein wird, sind Malerei und Goldgründe, die die Heiligenfiguren hinterfangen, in ihrem Verzierungsaufwand eindeutig dem geöffneten, dritten Zustand zugeordnet. Lediglich das rote rahmende Band mit den Vierpaßmotiven wiederum im Wechsel von Blattsilber- und Zwischgoldauflage nimmt die Farbfassung der Rahmung auf. Zwischen den Szenen verkündet die Inschrift den Fertigstellungstermin: „Anno domini millesi(mo) quadringentesimo (vicesi)mo quarto sabao ante d(omi)nicam quartam post pascha/ ista tabula conpleta est sub fratre luthelmo pro tunc gardiano conuentus istius orate pro eo“ (Abb. 1). Öffnet man die äußeren Flügel, so entfaltet die streng gegliederte sogenannte „Sonntagsseite“ noch heute seine monumentale Wirkung (Abb. 2). Zwölf beinahe lebensgroße Apostel verkünden hier das Glaubensbekenntnis. Sie stehen auf gefliesten Sockeln unter Baldachinen, aus deren Fenstern biblische Gestalten auf dekorativ entrollten Schriftbän144 Schawe, wie Anm. 135, Manuskript S. 14-15. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.1 Beschreibung - 48 - dern Zitate aus dem alten und neuen Testament präsentieren. Von links nach rechts sind auf den vier Flügeln dargestellt: Die Heiligen Petrus, Johannes und Jakobus d.Ä. (Abb. 7), Andreas, Thomas und Bartholomäus (Abb. 8), Philippus, Matthäus und Jacobus d.J. (Abb.9), Simon, Thaddäus und Matthias (Abb. 10). Paarweise wenden sie sich einander zu, so wie es auch für die ehemals wohl zwölf halbfigurigen weiblichen Heiligen in der Predellenzone anzunehmen ist. Die Apostel tragen silber und gold schillernde Untergewänder mit Brokatmustern und darüber teilweise über den Kopf gezogene, weit und fließend fallende, farbige Stoffüberwürfe. In einer Rasenzone unterhalb der Sockel sind zwölf Wappen von Adelsgeschlechtern, die den Altar dem Bettelorden stifteten, zu sehen. Die großflächige Buntfarbigkeit der Apostelgewänder vor goldenem Grund steht im Kontrast nicht nur zum gedämpfteren Farbklang der Außenseite, sondern auch zu den überwiegend goldenen Gewandfassungen der zeitgenössischen Schnitzaltäre mit Reihen männlicher und weiblicher Heiligenfiguren, deren Komposition hier zweifellos reflektiert wird. In den Gewändern der Apostel und der 24 männlichen Halbfiguren in der Baldachinzone wechseln sich hauptsächlich Rot- und Grüntöne miteinander ab. Nur auf den mittleren beiden Flügeln wird dem Bartholomäus, der in seinem Buchtext von der Auferstehung „spricht“, ein weißes Gewand und dem Matthäus, der die Ankündigung des Jüngsten Gerichtes vertritt, ein gelbes Gewand zugeordnet (Abb. 2). Die „Sonntagsseite“ war nicht nur an Sonntagen zu sehen, sondern auch an niedrigen Feiertagen, die im Mittelalter zahlreich und in jedem Orden oder sogar jedem Kloster verschieden gewesen sein können. Bei vollständiger Öffnung auch des inneren Flügelpaars wird – nun in kleinteiligem Maßstab und vielfigurig – das Leben Marias und die Passion Christi erzählt (Abb. 3). Die auf- und absteigende Szenenfolge beginnt auf dem linken Flügel links unten mit der Verkündigung der Geburt Marias an Joachim, gefolgt von der Begegnung von Joachim und Anna an der Goldenen Pforte, der Geburt Marias, ihrem Tempelgang und der Vermählung mit Joseph sowie der Verkündigung an Maria (Abb. 11). Auf dem rechten Flügel wird die Lebensgeschichte Marias links unten fortgesetzt mit der Heimsuchung, der Geburt Christi, der Anbetung der Könige und der Darbringung im Tempel, und endet mit dem Tod Marias und der Marienkrönung rechts unten (Abb. 13). Die große, Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.1 Beschreibung - 49 - vielfigurige Kreuzigung wird auf der Mitteltafel von vier Passionsszenen begleitet: links aufsteigend mit dem Gebet Christi am Ölberg und der Vorführung vor Herodes, rechts absteigend mit der Dornenkrönung und Christus vor Pilatus (Abb. 12). Thomas Noll, der die Ikonographie der sogenannten „Festtagsseite“ ausführlich ableitete, wies darauf hin, dass Christus abweichend von der Textüberlieferung immer in demselben roten Gewand dargestellt ist und nicht etwa vor Herodes das weiße Spottgewand trägt.145 Die beiden Szenen oben rechts und links der Kreuzigung mit der Stigmatisation des Hl. Franziskus und dem Hl. Georg fallen aus dem Zyklus ganz heraus. In ihnen zeigen der Franziskanerorden einerseits, die stiftenden Adelsfamilien andererseits ihre Präsenz, galt doch der Ritterheilige Georg als Schutzpatron von Adelsgesellschaften.146 So geläufig die dargestellten Szenen sind, so ungewöhnlich erscheinen die in kleinerem Bedeutungsmaßstab eingefügten Nebenszenen – Pflanzen, Tiere und Requisiten, teilweise mit erstaunlichem Realitätsgehalt. Abgesehen von einigen Phantasiegewächsen lassen sich Erdbeeren, Löwenzahn, Akelei, Osterglocken und Wegerich bestimmen.147 Überall kehrt die grüne Wiese wieder, selbst auf Szenen wie der Verkündigung an Maria, der Darbringung im Tempel und Christus vor Pilatus. Während die Amme, die die Babynahrung erwärmt und das Trinkhorn mit Schnuller parat hält, der Geburtsszene einen sprechenden Kommentar aus dem Alltagsleben hinzufügt (Abb. 102), ließ sich die Gruppe der drei Männer mit Jagdhunden in der rechten unteren Ecke des Kreuzigungsbildes bisher nicht erklären (Abb. 12). Unter dem Kreuz sind ebenfalls in kleinem Maßstab Frater Luthelmus, der Guardian des Franziskanerklosters, und in derselben franziskanischen Kluft Heinrich von Duderstadt mit Spruchbändern dargestellt und durch Bezeichnung gekennzeichnet. In ihnen beiden sieht Behrens die Schöpfer des theologischen Programms, im älteren Heinrich möglicherweise den höherrangigen „Custos“. 148 Die Goldhintergründe sind nicht nur mit einem gleichmäßigen Streumuster und punzierten Umrahmungen, die das Wellenmuster der gemalten Wolken fortführen, gestaltet, sondern auch mit zart gepunzten Engeln. Im Kreuzigungsbild fangen drei solcher, Thoma Noll, Die „Festtagsseite“ des Göttinger Barfüßer-Retabels. Vortrag gehalten am 29.09.2006 beim Barfüßer-Kolloquium, Kolloquiumsband in Vorbereitung. 146 Tripps wie Anm. 143. 147 Ulrich Willerding, Zur Darstellung der Flora auf dem Göttinger Barfüßer-Retabel. Vortrag gehalten am 29.09.2006 beim Barfüßer-Kolloquium, Kolloquiumsband in Vorbereitung. 148 BEHRENS 1939, S. 33. 145 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.1 Beschreibung - 50 - ursprünglich im Kerzenlicht wohl hell reflektierender Engel das aus den Wundmalen Christi tropfende Blut in Kelchen auf und erinnern damit noch einmal – wie auf dem Mühlenbild der Außenseite – an die Transsubstantiation auf dem Altar in der Feier der Eucharistie. Auch in der Wiedergabe kostbarster Textilien, insbesondere im materiellen Aufwand und Musterreichtum der Brokatgewänder, übertrumpft der innere Zustand die Gestaltung der sogenannten Sonntagsseite. Die einzelnen Bildfelder wurden ursprünglich von vergoldeten, vielleicht auch farblich abgesetzten, plastischen Zierbändern voneinander getrennt, die heute verloren sind. Die Streifen sind heute zum größten Teil grün überstrichen. Die beiden noch erhaltenen Predellenfragmente zeigen Maria Magadalena und die Hl. Elisabeth von Thüringen, gekennzeichnet durch ihre Attribute, sowie die Hl. Elisabeth, Mutter Johannes des Täufers und die Hl. Anna mit Maria und dem Christuskind. Ihre Position an den äußeren Enden einer geschweiften Predella ist wahrscheinlich. Die Art der Brokatimitationen und Punzierungen führt das auf der Festtagsseite eingeführte Schema fort. Diese sogenannte Festtagsseite war am seltensten zu sehen, nämlich nur an den kirchlichen Hochfesten und an hohen Feiertagen, die im Mittelalter allerdings zahlreicher waren als heute. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 51 - 2.2 Geschichte Trotz der schlechten Quellenlage ergeben die Kenntnisse zur Göttinger Stadt- und Kirchengeschichte und die neueren Forschungen zum frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergrund, ergänzt um die Erkenntnisse aus den technologischen Untersuchungen, heute ein recht umfassendes Bild von den Entstehungsbedingungen des Göttinger Barfüßerretabels wie auch von seinem weiteren Schicksal im Verlauf der Jahrhunderte. Entstehungsgeschichte Die prominent über die Mitte des geschlossenen Altarretabels gesetzte Inschrift informiert im Vergleich mit zeitgleichen Altarwerken ungewöhnlich präzise über Auftraggeber und Zeitpunkt der Aufstellung: „Am Samstag vor dem vierten Sonntag nach Ostern (20. Mai 1424, Sonntag Cantate) ist die Tafel vollendet worden unter Bruder Luthelmus, der damals Guardian des Konventes war, betet für ihn“.149 Bruder Luthelmus ist außerdem in schwarzer Franziskanerkluft als Orant unter der Kreuzigung dargestellt. Demnach ist in ihm, dem Vorsteher des Franziskanerkonvents, die Persönlichkeit zu sehen, die entscheidend zur Entstehung des Retabels und vermutlich auch zur inhaltlichen Konzeption des anspruchsvollen Bildprogramms beigetragen hat. Der nach der Gründung des Franziskanerklosters 1268150 bereits im Jahr 1306 fertiggestellte, in typischer Bettelordensarchitektur erbaute, schmale hochaufragende Kirchenbau erhielt damit hinter dem Lettner ein neues monumentales Altarwerk. 151 Das Göttinger Barfüßerretabel imponiert noch heute mit seinem dargestellten Prunk und dem tatsächlich betriebenen materiellen Aufwand. So war es von seinen Stiftern intendiert. Zwölf Stifterfamilien aus der Göttinger Umgebung sind auf dem mittleren Zustand durch ihre Wappen repräsentiert (Abb. 7-10). In strenger Rangfolge und in Zuordnung jeweils zu einem Apostel werden in der Sockelzone von links nach rechts vorgestellt: der Herzog von Braunschweig-Lüneburg quasi als „Hauptsponsor“, gefolgt von den Adelsfamilien von Plesse, von Kerstlingerode, sodann die Herren von Hardenberg, von Adelebsen und von Uslar, die Herren von Roringen, von Stockhausen und von ARNHOLD 1980, S. 72. So die Überlieferung durch Lubecus (1573, 1595). 151 Zur Rekonstruktion der 1820 abgerissenen Barfüßerkirche s. Wolfgang Beckermann, Doris Köther, Eva Schlotheuber, Ein Rundgang durch das Göttinger Franziskanerkloster, in: AUSST.KAT. GÖTTINGEN 1994, S. 26ff. sowie Urs Boeck, Die Barfüßerkirche in Göttingen. Vortrag gehalten am 30.09.2006 beim Barfüßer-Kolloquium, Kolloquiumsband in Vorbereitung. 149 150 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 52 - Gladebeck sowie die von Rusteberg, von Westernhagen (?) und von Grone. Das Wappen derer von Kerstlingerode findet sich als Untermalung auf dem linken Innenflügel unter dem Hl. Thomas. Es wurde dort mit dem Wappen der Familie von Adelebsen übermalt (Abb. 105) und rückte in der Hierarchie vom fünften auf den dritten Platz unter dem Jacobus Major auf.152 Die Familie von Kerstlingerode hatte ihre Grablege in der Barfüßer-Kirche.153 Auch Angehörige des Herzogshauses und weitere der genannten Adelsfamilien genossen das Vorrecht, dort eine Ruhestätte in Anspruch nehmen zu dürfen. Zwei Stränge kamen zusammen und haben allem Anschein nach die Entstehung des Retabels in seiner überlieferten Gestalt veranlasst. Arent Mindermann hat 2005 in seiner historischen Darstellung der politischen Verhältnisse in Göttingen im Verlauf des 14. Jahrhunderts die geschichtlichen Hintergründe und politischen Umstände, die zu diesem Auftrag führten, in erhellender Weise dargestellt.154 Johannes Tripps‘ neueste Forschungen erklären darüber hinaus die aus dem Franziskanerorden erwachsenen Interessen. 155 Die Entstehung des Göttinger Barfüßerretabels war danach eine unmittelbare machtpolitische Antwort des welfischen Landesherrn auf die Errichtung des prunkvollen Hochaltarretabels in der Göttinger St. Jakobikirche im Jahr 1402.156 Sie stand allerdings am Ende eines lange schwelenden Machtkampfes zwischen dem erstarkenden Bürgertum und dem Rat der Stadt Göttingen einerseits und dem Herzoghaus andererseits. Nachdem die Bemühungen der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg um eine Machterweiterung gegenüber dem Göttinger Rat gründlich fehlgeschlagen waren, schlimmer, die herzogliche Burg Bolruz 1387 zerstört und damit die Jakobikirche als vormalige Burgkirche verlorengegangen war, hatten Stadt und St. Jakobi-Kirchengemeinde die Fertigstellung ihres neuen gotischen Kirchenbaus ab 1372 und die Errichtung des doppelflügeligen Wandelaltars bis zu seiner Aufstellung im Jahr 1402 selbst in die Hand genommen. Auf diese Machtdemonstration reagierte das Herzoghaus und die elf Adelsfamilien als 152 An dieser Stelle ist keine Korrektur, also kein Tausch, zu erkennen. Entweder waren die Wappen auf dem ersten Flügel noch nicht fertig aufgemalt oder es handelt sich bei der Übermalung auf dem zweiten Flügel wirklich nur um einen Fehler. 153 ARNHOLD 1980, S. 74. 154 MINDERMANN 2005 155 Johannes Tripps, wie Kap. 2.1, Anm. 143. 156 Vergleiche Abbildungen in CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005, Tafel 1-4. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 53 - Financiers mit der Beauftragung des Altarretabels für die Franziskanerkirche mit seiner überragenden Größe. Ob dabei dem das Teilfürstentum Göttingen von 1394 bis 1435 regierenden Landesherrn Herzog Otto IV., genannt »cocles« (der »Einäugige«), wie bisher angenommen, die Rolle des „spiritus rector“ auf der weltlichen Seite zukam oder viel mehr seinen Vettern, den welfischen Herzögen von Braunschweig-Lüneburg mit Sitz in Wolfenbüttel, ist noch zu klären.157 Vor diesem historischen Hintergrund jedoch liegt es auf der Hand, die Gestaltung des Barfüßerretabels in den unmittelbaren Vergleich zu seinem Vorgängerwerk in nächster Nachbarschaft zu stellen. Als Bettelorden durften die Franziskaner gemäß ihrer Ordensregel Mittel des Klosters nicht für Kunstgegenstände zur Ausschmückung ihrer Klostergebäude verwenden, jedoch Geschenke „erdulden“. Die repräsentative Gestalt des Barfüßerretabels zeigt, wie weit sich der Orden 1424 von den 1292 verschärften und auch auf Altarbilder ausgedehnten Bestimmungen des Generalkapitels von Paris entfernt hatte. Nach der Bestandsaufnahme Zahltens über die mittelalterlichen Bauten der Franziskaner und ihre Ausstattung in Niedersachsen wird deutlich, wie groß die Zahl der Altäre in den Kirchen ursprünglich gewesen sein muss.158 Im Langhaus der Göttinger Barfüßerkirche bilden die eingezogenen Wandpfeiler je sieben altarnischenähnliche Räume an beiden Seiten.159 Hier sind bis zu 13 Seitenältare möglich, mindestens sechs Altäre mit heute nicht mehr erhaltenen Retabeln sind aufgrund der Zahl der im Jahr 1530 inventarisierten Kelche sicher ergänzt zu denken.160 Das Göttinger Barfüßerkloster muss überhaupt, ähnlich wie der Hildesheimer Sitz der Franziskaner, als besonders kunstsinnig gelten. Nachweisbar ist eine große Bibliothek und ein eigenes Skriptorium.161 MINDERMANN 2005, S. 139. Vgl. auch Kap. 4.6, S. 278. Für die Franziskanerkirchen in Niedersachsen sind folgende Altäre überliefert, für die Zahlten auch jeweils ein Retabel annimmt: 5 Altäre für St. Marien in Lüneburg, 6 Altäre und 1 Triumphkreuz für St. Laurentius in Goslar, 3 Altäre für St. Marien in Hannover, 6 Altäre für die Brüdernkirche in Braunschweig und sogar 12 Nebenältäre und 1 Hochaltar für das Dominikanerkloster ebendort. Johannes Zahlten, Die mittelalterlichen Bauten der Dominikaner und Franziskaner in Niedersachsen und ihre Ausstattung. Ein Überblick. In: AUSST.KAT. BRAUNSCHWEIG 1985, Bd. 4 S. 371ff. 159 Grundrissplan siehe MITTLER 1994, S. 27. 160 In der mittleren Nische der südlichen Langhausseite befand sich der Durchgang zum Kreuzgang. 7 Messbücher und 6 Kelche mit Patenen fanden sich bei der Auflösung des Klosters. Hieraus ergibt sich die Zahl der Altäre, falls sich die Franziskaner an die strengen Ordensregeln der Observanten gehalten haben, „da ein Konvent nicht mehr Kelche besitzen sollte, als Altäre in der Kirche waren.“ Eva Schlotheuber, Die Auflösung der Bettelordenskirchen in der Reformation, in: AUSST.KAT. GÖTTINGEN 1994, S. 36. 161 SCHLOTHEUBER 1996. 157 158 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 54 - Als Erklärung für das besondere Interesse der Franziskaner an der Entstehung des Barfüßerretabels und für bestimmte Bedingungen seiner Gestaltung hat Tripps den Zusammenhang mit zwei für den Orden bedeutenden Ereignissen hergestellt: 1424 jährte sich zum 200sten Mal das Wunder der Stigmatisation des heiligen Franz von Assisi. Hierin liegt – so Tripps – „mit größter Sicherheit... auch der Grund für seine monumentalen Ausmaße“.162 1423 erlitt der Franziskanerorden einen schweren Schlag, als im Krieg zwischen Alfons V. von Aragon mit Ludwig III. von Anjou der Leib des Heiligen Ludwig von Toulouse aus der Franziskanerkirche in Marseille geraubt, nach Valencia gebracht und der Heilige dort zum Patron gewählt wurde. Die prominente Darstellung des hl. Ludwig von Toulouse im „Mühlenbild“ auf der Außenseite des Retabels (Abb. 5) lässt sich somit auch als ostentatives Bekenntnis des Ordens zu seinem ihm entführten Patron lesen. Tripps sieht das Jahr 1423 deshalb als Jahr der Auftragvergabe so wie auch der Auftrag für die Skulptur des Hl. Ludwig von Toulouse für Orsanmichele in Florenz an Donatello just in dieses Jahr fiel.163 Er wies auch daraufhin, dass 1423 im Bistum Köln, zu dem der Göttinger Franziskanerkonvent gehörte, das Fest der Compassio Mariae eingeführt wurde, das zudem genau auf den Freitag vor dem Einweihungstermin des Göttinger Retabels fiel. Es mag die singuläre Darstellung der trauernden Maria auf der Außenseite veranlasst haben.164 Abgesehen von der nötigen Zeit für die Konzeption des anspruchsvollen Bildprogramms ist auch von der technologischen Seite eine derartig schnelle Planung und Ausführung des riesigen Altarwerkes kaum denkbar. Die Spuren zeigen, dass allein zwischen Fertigstellung der Schreinerarbeiten und Beginn der Fassung des Altarwerks mindestens ein paar Monate vergangen sein müssen.165 Allenfalls wäre denkbar, dass die Bemalung der Außenseiten der äußeren Flügel erst im letzten Jahr vor der Fertigstellung ausgeführt wurde, so dass hier noch auf neuere Wünsche des Franziskanerkonventes eingegangen werden konnte. Wie weit die Geldgeber, also die oben genannten auftraggebenden Familien, allen voran Herzog Otto Cocles und/oder weitere Vertreter des Herzoghauses Braunschweig-Lüne162 Tripps, wie Anm. 143, Manuskript S. 3. Ebenda, Manuskript S. 5. 164 Ebenda, Manuskript S. 7. 165 Siehe Kap. 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion, S. 98f. 163 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 55 - burg, bei der Konzeption des Bildprogramms Wünsche anmelden konnten, kann nur vermutet werden. Abgesehen von der oben bereits erwähnten Darstellung des Hl. Georg auf der Mitteltafel ist die Einflussnahme am ehesten bei der Auswahl und Anordnung der Apostel auf der zweiten Schauseite und der Heiligen auf der Predella wahrscheinlich. Die Wiedergabe sowohl der Hl. Elisabeth von Thüringen wie auch der Hl. Elisabeth, der Mutter des Täufers, könnte als Referenz an die früh verstorbene älteste Tochter Elisabeth von Herzog Otto Cocles zu verstehen sein. Im übrigen fiel die Grundsteinlegung der von ihm gestifteten Fürstenkapelle in Uslar bei Göttingen sicher nicht von ungefähr auf den 20. Mai 1428, also exakt 4 Jahre nach der Weihe des Göttinger Barfüßeraltars.166 Weitere Nutzungsgeschichte und Schicksal Nur etwa einhundert Jahre erfüllte das Retabel seine liturgische Funktion als Hochaltaraufsatz der Franziskaner-Klosterkirche. Dann, knapp drei Jahre nach Einführung der Reformation in Göttingen167, wurde der Konvent am 23. Juli 1533 aufgelöst.168 Veranlasst durch den Rat der Stadt wurde ein Verkaufsinventar über die Einrichtung und das bewegliche Gut des Klosters erstellt. Der Altar ist wohl noch eine Weile in der Kirche stehen geblieben, jedenfalls wird in einer Beschreibung der Kirche 1538 erwähnt, dass er dort noch zu besichtigen sei.169 Im Kloster wurde 1593 eine Mädchenschule eingerichtet. Nach der Eroberung Göttingens während des Dreißigjährigen Krieges durch die Truppen der katholischen Liga unter ihrem Feldherrn Tilly kam es 1628 zu einer kurzfristigen Wiederbelebung des Franziskanerklosters, 1632 mussten die Franziskaner aber nach der Rückeroberung Göttingens endgültig fliehen. Das Kirchengebäude wurde sicher schon im 17. Jahrhundert als Zeughaus benutzt.170 Pläne aus den 1730er Jahren sind uns überliefert, in denen die Einfügung von zwei Zwischendecken vorgesehen ist.171 Der Altar stand seit Mitte des 17. Jahrhunderts zur Disposition und er166 Das Datum ist durch den im gotischen Chor der St. Johanniskirche erhaltenen Grundstein inschriftlich belegt, vergleiche Kap. 4.6, S. 278. 167 Der 29. August 1529 gilt mit dem Einbruch der Lutheraner in die Bartholomäusprozession als Beginn der Göttinger Reformation. Hinweis Dr. Cornelia Aman nach Bernd Möller, Die Reformation, in: Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt. 168 siehe ausführlicher Eva Schlotheuber, Die Auflösung der Bettelordensklöster in der Reformation. In: AUSST.KAT. GÖTTINGEN 1994, S. 35-39. 169 BEHRENS 1939, S. 28. 170 1734/36 heißt es, dass die Kirche „seit langer Zeit“ als Zeughaus benutzt wurde. Nach BEHRENS 1939, S. 28. 171 Die im Hauptstaatsarchiv in Hannover bewahrten Pläne bildeten die Grundlage für die virtuelle Rekonstruktion des Kirchenbaus im Rahmen des am Learning Lab Lower Saxony (L3S) von 2001-2003 durch- Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 56 - lebte von hier ab eine wahre Odyssee mit häufigen Standortveränderungen innerhalb der Stadt Göttingen. Ein Bittgesuch des Kapitels zu Nörten an den Bürgermeister des Rates der Stadt Göttingen aus dem Jahr 1652 ist sicher auf den Hochaltar der Barfüßerkirche zu beziehen.172 Nach einem Brand des Nörtener Stiftes und den schweren Zerstörungen im 30-jährigen Krieg wurde der Turm der Stiftskirche bis 1651, das Langhaus bis 1668 wiederhergestellt. Der Bitte, das Barfüßerretabel als Ausstattungsstück „entweder umbe Gottes Willen oder gegen billiches pretium“ nach Nörten zu geben, wurde offensichtlich nicht stattgegeben. Wann der Hochaltar in der Barfüßerkirche abgebaut wurde, bleibt unklar. Man nimmt an, dass die Mitteltafel damals zum Transport zersägt wurde (Abb. 25), was sich jedoch nicht beweisen lässt. Das Retabel gelangte zuerst in die Nicolaikirche, wo es wohl nach der Umgestaltung der Kirche nach schweren, im Dreißigjährigen Krieg erlittenen Schäden den Platz des Hochaltars erhielt. Auf der Festtagsseite wurden dabei die Szenen aus dem Marienleben und der Passion mit neuen, großen Leinwandbildern mit der Gefangennahme, der Kreuzigung und der Grablegung Christi von Justus Münch 1678 gemalte Kopien nach „Joseph Heinze“ überdeckt, wie uns Fiorillo 1803 berichtet.173 Die Leinwandbilder waren auf Flügel und Mitteltafel aufgenagelt. Dichte Nagelreihen an den oberen und den Seitenkanten wurden bei der Restaurierung 1999-2005 wieder aufgedeckt, während die Leinwände am unteren Rand mit weniger Nägeln nur fixiert oder durch eine Leiste gespannt waren (Abb. 24).174 Diese offensichtlich protestantisch geführten Projektes „Digitales Kulturerbe“ mit dem Ziel der Entwicklung einer Multimedia-Präsentation als Besucherinformation im Museum. 172 "Bittgesuch des Kapitels zu Nörthen um Überlassung einer Altartafel der Barfüßerkirche in Göttingen, mitgeteilt von Ferd. Wagner: Euer Edlen Ehrenwohlfürsichtige unde Hochweise ist leider ohne Unsere Erinnerungh gnugsamb bekand, welcher gestalt unser Flecken Nörthen bey vergangenem Kriege heimgesucht worden, also daß neben unseren Wohnungen daß Gotteshaus im Fewer ufgegange; wullen wir aber im angehenden Frieden dasselbe, so viel unß immer möglich gewesen ein wenigh wiederaufgerüstet unht auch ichteß waß von zieradt darinnen gern sehen mögten, so haben an Euern Edlen Ehrenw. fürsich. unde hochweise wir ein Versuch zu thuen unß bekühnet unde demütigst zu bitten; ob es nicht seyn köndte, daß Eure Edlen Ehrenwerth. fürsichtige unde Hochweise unser armes Stifft mit der gemalten Tafel so in ihrer Stadt der Barfüßer Kirchen vorhanden entweder umbe Gottes Willen oder gegen billiches pretium großgünstig an die Handt gehen mögten, … Nörthen den 1 Decembris 1652 / Euer Ehrenw. fürsicht unde hochweise dienstgeflißenen senior unde sämbtlichen Capitularen daselbst.“ Zitiert in: "Protokolle über die Sitzungen des Vereins für die Geschichte Göttingens im ersten Vereinsjahre 1902-03 geführt von Aug. Tecklenburg, Schriftführer.“ 3. Band, 1. Heft, Göttingen 1903, 91. Sitzung (20. März 1902), Stadtarchiv Göttingen, StadtA Gö, AA (Altes Aktenarchiv) Nr. 5581. Katharina-Luise Saalbach, die diese Quelle auf den Offenser Altar des Barfüßer-Meisters beziehen wollte, danke ich für Hinweis und Abschrift. 173 FIORILLO 1803, Bd. I, S. 356, gemeint ist Jacob Heintz d. Ä. (1564 Basel -1609 Prag). 174 Die im Zusammenhang mit den Leinwandbildern aufgebrachte Nagelung zeigt keine besonderen Fixierungen entlang der Sägeschnitte, vor allen Dingen nicht an den vier Ecken des Kreuzigungsbildes, jedoch 7 anscheinend nicht originale Nägel und Nagellöcher nur am linken Rand der Kreuzigungsszene, siehe Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 57 - motivierte Maßnahme ist wegen ihrer denkmalpflegerischen Behutsamkeit bemerkenswert.175 Es bleibt allerdings unklar, wie das Barfüßerretabel in der Nikolaikirche aufgestellt war. Der Chorraum ist mit seinen ca. 7 m zu schmal, um den Altar in voller Breite (7,88 m) aufzunehmen. Möglicherweise waren Mitteltafel und Flügel getrennt aufgestellt, vielleicht die Flügel an den Seitenwänden. Ein von Freigang auf 1753 datierter Grundrißplan zeigt die großen Tafeln nicht, stattdessen ist ein Kanzelaltar am Eingang zum Chor zu erkennen. Es deuten jedoch keinerlei Spuren daraufhin, dass die Teile des Barfüßerretabels in eine solche Altarwand integriert gewesen sein könnten.176 1802 wurde St. Nikolai profanisiert und vom Militär der Göttinger Garnison während der Franzosenzeit als Magazin genutzt. Aufgrund der genauen Auswertung der Quellen in Abgleich mit den technischen Befunden zur Restaurierungsgeschichte lässt sich der weitere Weg jetzt genauer bestimmen. Die Göttinger Universität erwarb Kirche und Inventar von St. Nikolai 1820 zur Nutzung als Universitätskirche und weihte sie 1822 neu ein. Durch den Umbau der Paulinerkirche zur Universitätsbibliothek stand die ursprüngliche Universitätskirche nicht mehr zur Verfügung. Hier wurde 1812 eine Zwischendecke eingezogen und der obere Saal als Bibliothekssaal genutzt. Das Barfüßerretabel muss im unteren Saal nicht nur abgestellt, sondern – das ergibt sich aus der Bestandsaufnahme – nach Abnahme der Leinwandbilder vermutlich 1820 mit nicht geringem Aufwand restauriert und zusammen mit „mehreren Altargemälden aus den Kirchen“177 ausgestellt worden sein. Die Abnahme der Leinwandbilder ist zwischen den Erwähnungen des barocken Zustands durch Fiorillo 1803 und der Beschreibung des inneren Zustands nach Abnahme der Leinwandbilder von Kugler 1847 zu datieren.178 Schon 1845 aber nahm die Bibliothek nach geKartierung der späteren Nagelungen, Dokumentation zum Barfüßerretabel, Archiv des Restaurierungsateliers des NLMH. Das reicht nicht aus, um das Zersägen der Mitteltafel vor oder nach der Aufstellung in der Nikolaikirche datieren zu können. 175 Es gibt diverse Beispiele, in denen die mittelalterliche Malerei direkt übermalt oder sogar zuvor zerstört wurde: Am Hochaltarretabel des Hamburger Doms, 1499 vermutlich von Absolon Stumme und Werkstatt geschaffen, wurden z.B. die Leinwandabklebungen mit der Malerei auf der Außenseite der äußeren Flügel größtenteils, aber nicht vollständig entfernt und im 17. Jahrhundert mit einer Abendmahlsund Kreuzigungsszene nach Kupferstichen von Adamsz Bolswert ersetzt; siehe HAMBURG DENKMALSCHUTZAMT 2001, S. 15, 68 sowie Abb. 1 und Einlegekarte. 176 Christian Freigang, Von der Pfarrkirche der Tuchmacher zur Universitätskirche: Neue Forschungen zu St. Nicolai. In: Spektrum 1-2/2000, S. 16f. Den Hinweis darauf verdanke ich Dr. Hans Dörge, Stuttgart. 177 Friedrich Wilhelm Unger, Göttingen und die Georgia Augusta, Göttingen 1861, nach BEHRENS 1939, S. 29, Anm. 46. 178 FIORILLO 1803, Franz Kugler, Handbuch der Geschichte der Malerei, Berlin 21847, S. 257. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 58 - wissen Umbauarbeiten auch die untere Ebene der Paulinerkirche für ihre Zwecke in Besitz. So musste das Barfüßerretabel weichen und wurde „neben den Räumen des zoologischen Museums zur Seite gestellt“.179 Ein derartig gering schätzender Umgang wäre gewiss nicht zu vertreten gewesen, wenn Abnahme der Leinwandbilder und anschließende Restaurierung erst wenige Jahre zurückgelegen hätten. Das Jahr 1820 war auch in anderer Hinsicht einschneidend, begann doch in diesem Jahr der Abriss der Barfüßerkirche zur Neugestaltung des Wilhelmsplatzes.180 Als der bereits 14-jährig erblindete König Georg V. von Hannover (1819 Berlin – 1878 Paris) ab 1861 aus nationalistischen und politischen Gründen systematisch das neu gegründete Welfenmuseum aufbaute, gelangten 1863 vier bedeutende spätmittelalterliche Altargemälde aus dem Besitz der Königlichen Universitätsbibliothek in Göttingen nach Hannover, darunter das Barfüßerretabel und die dem Meister des Jacobikirchenaltars zugeschriebene Zehngebotetafel (WM XXVII, 2).181 1861 hatte der König auch bereits die sogenannte Goldene Tafel (WM XXIII, 27), ehemals aus der Benediktinerabteikirche St. Michael in Lüneburg, für das Welfenmuseum erwerben können. „Im Anschluss an die Goldene Tafel“, heißt es im Bestandskatalog von 1930 zum Barfüßerretabel, habe man die nach der Abnahme der barocken Leinwandbilder „sichtbar gewordenen Kreidegrundstreifen im Museum übermalt“.182 Noch heute sind diese sehr fein ausgeführten Rekonstruktionen auf dem linken Innenflügel sowie auf den beiden seitlichen, abgesägten Segmenten der Mitteltafel erhalten, nicht jedoch zu Seiten der Kreuzigungsszene. Sie legen nahe, dass die beiden Segmente der Mitteltafel zusammengesetzt wie ein Flügel präsentiert wurden, das Kreuzigungsbild dagegen möglicherweise separat gerahmt. Diese Annahme findet darin seine Bestätigung, dass bei Erwerb sechs Inventarnummern vergeben wurden: WM XXVII, 3-8, also anscheinend für die vier Flügel, das Kreuzigungsbild und die beiden Seitenelemente. Das Barfüßerretabel fand seine erste Aufstellung im Altenburg-Palais an der Adolfstraße 3 in Hannover.183 179 Unger 1861, wie Anm. 177, S. 48. Abriss 1820 nach Zahlten, wie Anm. 8, in AUSST.KAT. BRAUNSCHWEIG 1985, Bd. 4, S. 398. 181 Der Altar ist in dem Katalog „Das Königliche Welfen-Museum zu Hannover im Jahre 1863“, Hannover 1864, noch nicht erwähnt. 182 BEST.KAT. HANNOVER 1930, S. 129-130. Das Entfernen der Leinwandbilder ist hier in das Jahr 1863 datiert, was nicht zutreffen kann. Wolfson dagegen datiert sowohl die Abnahme der Leinwandbilder wie auch die Übermalung der dadurch sichtbar gewordenen Kreidegrundstreifen vor 1847. BEST.KAT. HANNOVER 1992, S. 105. 183 Diesen Hinweis verdanke ich Dr. Cornelia Aman. 180 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 59 - 1869, drei Jahre nach der Annexion des Königreichs Hannover durch Preußen, als die Provinz Hannover des Preußischen Königreichs auch die Verwaltung der Sammlungen des nun so genannten Provinzialmuseums übernahm, zogen Teile des Welfenmuseums in den 1853-55 erbauten Museumsbau an der Sophienstraße (heute „Künstlerhaus“) um. Das Welfenmuseum – und mit ihm der Göttinger Barfüßeraltar – blieb bis 1955 unbestritten im Eigentum des Welfenhauses, wurde jedoch per Leihvertrag 1892 und 1925 an den Standort Hannover gebunden.184 1882 überließ der Hannoversche Hofmaler Carl Oesterley die zwei zum Barfüßeraltar gehörigen Predellenfragmente dem Museum.185 1886 wurde die sogenannte „Cumberlandsche Galerie“ in Erweiterung des Museumsbaus an der Sophienstraße fertiggestellt. Sie war ausschließlich dafür bestimmt, Kunstwerke aus dem Besitz des Herzogs von Cumberland, des im österreichischen Exil lebenden Sohns von Georg V., sowie ausgewählte Stücke aus dem Welfenmuseum zu zeigen. Dazu gehörten auch Teile des Barfüßerretabels. Die Kreuzigungstafel und ein Flügel der Apostelseite des Barfüßeraltars fanden im Erdgeschoss, die drei anderen Flügel die zu einem weiteren „Flügel“ vereinten seitlichen Szenen der Mitteltafel im ersten Obergeschoss ihren Platz.186 Die vollständige Eingliederung des Welfenmuseums und der Fideicommiss-Galerie des Gesamthauses Braunschweig-Lüneburg hatte jedoch einen Museumsneubau notwendig gemacht, der im Neorenaissance-Stil nach Plänen von Hubert Stier am Maschpark erbaut und 1902 eingeweiht wurde. Gemäß einer vertraglichen Vereinbarung wurde die Sammlung des Welfenmuseums in sich geschlossen im Hauptgeschoss gezeigt, darunter die einzelnen Tafeln des Barfüßerretabels. Erst im Zuge der zwischen 1922 bis 1926 vorgenommenen Neuordnung der Kunstsammlungen des Museums fand das Retabel seine Aufstellung im großen Mittelaltersaal im Obergeschoss.187 Der bis zur Neueröffnung der Mittelaltersammlung am 6. Juli 1924 restaurierte Barfüßeraltar wurde mit neu 184 Vergleiche Gert van der Osten, Zur Geschichte der Sammlungen von Gemälden Alter Meister im Niedersächsischen Landesmuseum, 1954, Wiederabdruck in: BEST.KAT. HANNOVER 1992, S. 18. 185 Inv.-Nr. PAM 712/13, im Inventarbuch ohne Herkunftsangabe. Laut Robert Engelhard 1891 habe Oesterley (1805 Göttingen - 1891 Hannover, seit 1831 Prof. für Kunstgeschichte in Göttingen) die Tafeln aus Göttingen erworben, „und zwar sollen sie aus der dortigen Johanniskirche stammen. In diese Johanniskirche, wie auch in die Nicolaikirche gelangten bei Abbruch der Barfüßerkirche im Jahre 1820 verschiedene kirchliche Gegenstände.“ Engelhard, Beiträge zur Kunstgeschichte Niedersachsens, Duderstadt 1891, S. 13. 186 Ausführlicher in dem in Co-Autorschaft der Autorin mit Heide Grape-Albers und Cornelia Aman verfassten Beitrag zur Geschichte des Retabels für den Kolloquiumsband behandelt, Manuskript S. 5. 187 Ebenda, Manuskript S. 8. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 60 - gerahmter Mitteltafel auf einem langen Sockel präsentiert, darunter die Predellenfragmente und ein gesticktes Antependium.188 Im September 1939, unmittelbar mit Beginn des zweiten Weltkrieges, entschied man sich, die großen Altäre, Goldene Tafel und Barfüßerretabel, vor Ort stehen zu lassen und mit einer Holzverschalung und Sandsäcken einzuhausen, die übrige Sammlung aber weitgehend zu evakuieren. Erst nach den ersten Luftangriffen auf Hannover im Mai 1940 verbrachte man das Barfüßerretabel doch ins Erdgeschoss des Landesmuseums. Evakuierungslisten zufolge wurden die Predellenfragmente im November 1943 nach Idensen ausgelagert.189 Im Verlauf des großen Bombenangriffs auf Hannover im Oktober 1943 erlitt das Landesmuseum schwere Bombenschäden. Es sollte noch bis 1956, 11 Jahre nach Kriegsende, dauern, bis das Haus wieder ganz eröffnet werden konnte.190 Zwischenzeitlich fanden wichtige Stücke der herzoglichen Kunstsammlung Aufstellung in der Marktkirche und bildeten damit Anfang September 1951 die Kulisse für die Hochzeit von Herzog Ernst August von Braunschweig und Lüneburg und seiner Frau Ortrud. Der Barfüßeraltar erhielt eine prominente Aufstellung im Eingangsbereich, nach Osten gerichtet und damit vis-à-vis des Marktkirchenaltars von 1440, der noch heute als Hauptaltar im Chorraum fungiert (Abb. 17). Für diesen Auftritt wurde der Barfüßeraltar wieder instand gesetzt, „in einem Schnellverfahren, das viele unerlaubte Zutaten und unsachgemäße Bearbeitung mit sich gebracht hat.“191 Nach Rückführung in das Museumsgebäude am Maschpark und umfangreicher Restaurierung 1954 bis 1957 wurde das Retabel am alten Platz im Mittelaltersaal im Obergeschoss neu aufgestellt. 1955 kaufte das Land Niedersachsen das Barfüßerretabel zusammen mit den übrigen Werken des Welfenmuseums an. Im März 1995 musste die Mittelalterabteilung wegen notwendiger Sanierungsmaßnahmen geschlossen werden, das Retabel verblieb an Ort und Stelle und wurde verhüllt. Im 188 Historisches Foto im Archiv des Niedersächsischen Landesmuseums Hannover. NLMH, Archiv des Restaurierungsateliers, Akte Bergungslisten 1943–1944, Idensen, „Einlieferung v. 2. und 17.11.1943“. 190 Die Galerie Alter Meister wurde 1951 teileröffnet. 1952 war erst etwa die Hälfte der Kunstabteilung zugänglich. Ines Katenhusen, 150 Jahre Niedersächsisches Landesmuseum Hannover. In: Das Niedersächsische Landesmuseum Hannover 2002: 150 Jahre Museum in Hannover, 100 Jahre Gebäude am Maschpark, Festschrift zum Jahr des Doppeljubiläums, S. 44-49 und Abb. 38. 191 Fritz Reimold, Restaurierungsbericht von 1954 bis 1957, S. 143 (NLMH, Archiv des Restaurierungsateliers). 189 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 61 - Zusammenhang mit den Planungen für die Grundinstandsetzung des Museumsgebäudes wurden Erschütterungsmessungen am Barfüßeraltar und an der Goldenen Tafel durchgeführt. Sie ergaben eine erhebliche Erschütterungsbelastung für die auf Wandarmen aus Vierkanteisen ruhenden Flügel des Barfüßerretabel schon durch den vor dem Gebäude auf Kopfsteinplaster vorbeifahrenden Bus- und Schwerlastverkehr.192 Nach den Maßnahmen zur Sicherung von Malschicht und Fassung wurden die Altarflügel daraufhin im November 1997 abgebaut und in Holzkisten eingelagert. Die Mitteltafel erhielt eine auf Tragarmen schwebende, stabile Einhausung, die Klimaüberwachung und -befeuchtung mit mobilen Geräten einerseits, Parkettlegearbeiten andererseits ermöglichte. Zur Neueröffnung der Mittelalterabteilung im Dezember 1999 war das große Restaurierungsprojekt angelaufen. Die weiteren Forschungs-, Konservierungs- und Restaurierungsarbeiten an der Mitteltafel wurden vor den Augen der Museumsbesucher vom Gerüst aus durchgeführt. Für die Bearbeitung der Flügel war ein Oberlichtsaal auf der Südseite des Gebäudes so abgeteilt worden, dass Besucher Einblicke durch ein Fenster nehmen konnten. Erst im Oktober 2002 wurden das innere Flügelpaar, zwei Jahre später, im Oktober 2004 das äußere Flügelpaar neu montiert. 2005 konnte die Restaurierung abgeschlossen und das Retabel im Rahmen zweier Abendveranstaltungen zum 30. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hannover erstmals wieder vor den Augen der Öffentlichkeit feierlich gewandelt werden. Seitdem werden die drei Schauseiten etwa in einem Zwei-Monatsrhythmus so gewechselt, dass der Besucher die alten liturgischen Gepflogenheiten der geschlossenen Präsentation zur Passions- und zur Adventszeit nachempfinden kann. Restaurierungsgeschichte Einen ersten Hinweis auf eine „Auffrischungsmaßnahme“ überliefert Fiorillo 1803 in seinen „Kleinen Schriften artistischen Inhalts“, wenn er angesichts der Werktagsseite schreibt: „Die Farben, welche der Künstler gebraucht hat, widerstehen zwar der Nässe, allein dieses rührt, wie ich glaube, von einem Firniß her, womit das ganze Werk, bey einer Auffrischung, überzogen worden ist; denn man verspürt wenn die Farben mit dem Prof. Dr. H. G. Natke, Dr. Gerasch, Curt-Risch-Institut für Dynamik, Schall- und Messtechnik der Universität Hannover Gutachten vom 15.08.1996, Bauakten, NLMH, Archiv des Restaurierungsateliers über einen Zeitraum von August 1997 bis Januar 1998 durchgeführt von der Universität Hannover im Auftrag des Staatlichen Baumanagements Hannover, Grenzwertbestimmung auf 0,2 mm/s im, Erschütterungsüberwachung während der Baumaßnahmen vom 4.08.1997 bis zum Abbau der Flügel am 5.11.1997, an der Mitteltafel auch bis 27.01.1998, Überschreitungen bis 1,1 mm/s an den Flügeln. 192 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 62 - Finger gerieben werden, einen eigenthümlichen Geruch.“193 Durch die technologischen Untersuchungen gelang die Zuordnung dieses Überzuges in der Schichtenabfolge nicht. Für eine Datierung dieser Maßnahme gibt Fiorillos Publikation lediglich den terminus ante quem. Eine älteste größere Restaurierung lässt sich erst durch die bei den jüngsten Untersuchungen und Freilegungsarbeiten festgestellten Firnis-, Retusche- und Kittschichten in Abgleich mit der archivalischen Überlieferung etwa auf das Jahr 1820, vor der Aufstellung in der Paulinerkirche, datieren. Damals müssen die barocken Leinwandbilder abgenommen und die dabei um die Nagellöcher herum entstandenen großen Ausbrüche neu gekittet,194 retuschiert und im Bereich der Farbschichten mit einem stark fluoreszierenden Firnis überfirnist worden sein. Bereibungen unter diesem Firnis, besonders in der Szene „Christus am Ölberg“ beweisen, dass zuvor stärkere „Reinigungen“ stattgefunden haben. Möglich ist, dass zum Abschluss dieser Behandlung noch ein grauer Leimüberzug über den Firnis gelegt wurde. Auf dem weißlich fluoreszierenden Firnis ließen sich nämlich zwei graue, ehemals wässrig lösliche Überzüge bestimmen, den Analysen zufolge in der unteren Schicht mit einem tierischen Leim, im oberen Überzug mit einem Pflanzengummi, wahrscheinlich Traganth gebunden.195 Erst bei ihrer Abnahme war zwischen einer oberen gelblichbräunlichen und einer unteren grauen Schicht zu unterscheiden. Querschliffe belegen die Pigmentierung mit schwarzen und einigen rotbraunen Pigmenten, stärker in der oberen Schicht (Abb. 29 a,b).196 Bei diesen Schichten handelt es sich demnach um bewusst 193 FIORILLO 1803, S. 354f. Ein sehr weiches, etwas bräunlich weißes Kittmaterial, wohl ein schwach gebundener Kreide-LeimGrund, fand sich bei der Restaurierung 1999-2005 in den Nagellöchern unter meist zwei weiteren Kittphasen. 195 Die Eigenschaften der beiden, von nachfolgenden Firnisaufträgen durchtränkten Schichten waren zunächst wenig eindeutig und schwierig zu analysieren. Bindemittelbestimmungen führten Prof. Dr. Henrik Schulz und Dipl. Chem. Martina Schulz, FH Hildesheim, mittels histochemischen Anfärbetests an Querschliffen und mittels FTIR- Spektralskopie an ethanolischen Extrakten von Wattebäuschen (aus der Abnahme der grauen Schichten auf dem Kreuzigungsbild) bzw. von auf vorextrahiertem Papier gelösten Bindemittelproben (von der Werktagsseite) durch. Sie ergaben zur oberen Schicht: „die Bildung von Differenzspektren (...) weist auf das Vorliegen eines Gummen, sehr wahrscheinlich Traganth, hin“, zur unteren Schicht: „Die fluorochrome Reaktivfärbung mit FIC weist auf einen tierischen Leim (vermutlich Glutine)“. Analyseberichte vom 09.02.2000 und 16.08.2000. Die Analyse ergab für die Werktagsseite (Probe BF 3.3 LP1) analog: „Pflanzlicher Leim, der mit Sicherheit noch eine weitere Komponente enthält, möglicherweise einen tierischen Leim“. Analysenbericht 270301 vom 07.06.2001. 196 In den meisten Querschliffen war mit den gegebenen Mitteln nur eine einzige nicht fluoreszierende Schicht mit nach oben stärkerer Pigmentierung erkennbar. Vergleiche Querschliffe BF17 P3, BF18.5 P1, 194 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 63 - vorgenommene Patinierungen. Es ist anzunehmen, dass der erste Leimüberzug gleich nach den Maßnahmen um 1820 aufgestrichen wurde, um mindestens den Glanz des neuen Firnisses zu mildern. So schwer die beiden grauen Schichten optisch zu unterscheiden waren, so sprechen doch mehrere Indizien dafür, dass die zweite Patinierung mit Pflanzengummi erst in größerem zeitlichen Abstand auf die untere Leimschicht aufgebracht wurde.197 Auf den Predellenfragmenten finden sich sowohl die weißlich fluoreszierende Firnisschicht wie auch die beiden grauen Schichten, hier allerdings durch eine dünne Firnisschicht voneinander getrennt.198 1803 wurde die Predellentafel mit den Heiligen Magdalena und Elisabeth von Fiorillo das letzte Mal im Zusammenhang mit dem Retabel beschrieben.199 Der technische Befund legt jedoch nahe, dass die Teile der Predella noch gemeinsam mit dem Retabel um 1820 restauriert und dabei auch nach dem Firnissen mit dem Leimüberzug versehen wurden. Erst ab 1882 verläuft die Geschichte von Retabel und Predellenfragmenten nach ihrer Zusammenführung in Hannover wieder parallel. Dazwischen sind die Predellentafeln mit einem dünnen Harzfirnis versehen worden. Carl Oesterley, Maler und ab 1831 Kunstgeschichtsprofessor in Göttingen, kümmerte sich in dieser Zeit um die überlieferten Kunstwerke Göttingens und übergab die beiden Tafeln 1882 dem Museum in Hannover.200 Hier waren derweil, wie oben BF18.6 P1 und P2. Die Differenzierung der beiden Schichten wurde in den Querschliffen BF9 P1 und BF13 P2 und besonders im Lösungsverhalten bei der Abnahme deutlich. NLMH, Gemälderestaurierung, Archiv, Dokumentation zum Barfüßer-Projekt, Ordner „Technologie/Querschliff-Untersuchungen“. 197 Eine Verdichtung an der Oberfläche der Leimschicht könnte als Schmutzschicht interpretiert werden. Im Querschliff BF21 P2 werden die beiden Schichten durch einen fluoreszierenden Überzug (Festigungsmittel?) getrennt, bei BF18.7P1 ist die pigmentierte Schicht in ein Craquelé durch die hell fluoreszierende Firnisschicht bis in die Grundierung eingedrungen. An der Werktagsseite zeigen sich Malschicht und Firnis insgesamt sehr spröde unter den vielfach eingedrungenen pigmentierten Leimschichten. Dies weist auf ein gewisses Alter des versprödeten Firnisses hin und auf den zeitlichen Abstand, nach dem mindestens eine der beiden Patinierungsschichten aufgetragen wurde. 198 Vergleiche insbesondere die Querschliffe vom rechten Fragment BF29 P1 und P2, Restaurierungsdokumentation zum Barfüßerprojekt, Archiv des Niedersächsischen Landesmuseums. 199 „Gleich neben diesem beschriebenen Bilde, an dem Orte des Altars, wo man sonst die Reliquien aufzubewahren pflegte, sind ebenfalls noch einige halbe Figuren übrig, in deren heiligen Scheine, die kaum lesbaren Nahmen, Maria, Elisabetta, M. Magdalena … vidua, eingegraben sind.“ FIORILLO 1803, S. 356f. 200 Oesterley soll sich dafür stark gemacht haben, „einige vorübergehend schon der Sammlung (der Universität Göttingen) angegliederte Zeugen der alten Göttinger kirchlichen Malerei ihr zu erhalten“. Dies sei aber fehlgeschlagen. Wolfgang Stechow, Katalog der Gemäldesammlung der Universität Göttingen, Göttingen 1926, S. V. Siehe auch Anm. 186. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 64 - beschrieben, nach dem Erwerb 1863 und wohl vor der ersten Aufstellung der Retabelteile die Zierbänder nach Vorbild der Goldenen Tafel ergänzt worden.201 Die zweite Patinierungsschicht wurde – das ist das Ergebnis der Querschliffuntersuchungen zur Schichtenabfolge der Überzüge – erst nach 1882 sowohl auf dem Retabel wie auf den Predellenfragmenten aufgebracht. Die Neuaufstellung in der Cumberlandschen Galerie 1886 bildet dafür einen plausiblen Anlass. Damit handelt es sich hier um eine im Museum vorgenommene Patinierungsmaßnahme, ähnlich dem gelblichen Galerieton, der auf vielen Gemälden der hannoverschen Sammlung noch zu finden ist.202 Erst während der Abnahme der beiden grauen Schichten in der jüngsten Restaurierungskampagne wurde ersichtlich, wie weit die Patina einerseits Schäden abtönte, andererseits auch interpretierend eingriff (Abb. 26 -28).203 Seit 1903 oblag die konservatorische Betreuung der Sammlung dem ersten fest angestellten Restaurator Schiele. Dessen Zuständigkeit ging aber über die Sammlung des Museums in den heute von der Denkmalpflege betreuten Bereich hinaus. 1907/08 restaurierte Schiele auch den, dem Göttinger Barfüßer-Meister zugeschriebenen „Kindheit Christi“-Altar aus Offensen im Provinzialmuseum (Abb. 135).204 Behrens erwähnt eine 1905 durch Schiele ausgeführte Restaurierung am Barfüßerretabel, bei der es sich aber nur um kleinere Ausbesserungen gehandelt haben kann.205 Maßnahmen an Stücken der Welfensammlung bedurften nämlich der schriftlichen Genehmigung durch die herzogliche Verwaltung, und zwar in Form von Einzelanträgen, nachdem ein pauschaler jährlicher Beitrag für Pflege und Erhaltung abgelehnt worden war.206 Ein Schriftwechsel zur Behandlung des Altarwerks im Jahr 1905 findet sich in den erhaltenen Akten nicht. 1908, bereits vier Jahre nach dem Umzug in das neue Museumsgebäude wurde der „voranschreitende Verfall der Bilder moderner Meister“ im neuen Gebäude des ProvinIm Bereich der bildfeldteilenden Bänder fand sich ein weiß-gelbliches, körniges und sehr hartes Kittmaterial. 202 Die kunsttechnologischen Untersuchungen der Autorin im Rahmen der Bearbeitung des Bestandskataloges Die holländischen und flämischen Gemälde des 17. Jahrhunderts, Hannover 2000, erbrachten häufig den mikroskopischen Befund, dass Safranfäden dem Firnis zur Abtönung beigemischt waren. 203 Siehe Kap. 2.3, S. 81. 204 Siehe Kap. 4.2. 205 „Der Altar ist mehrfachen Restaurierungen unterzogen worden, 1905 durch Schiele, seit 1920 durch Koch. Seit 1935 arbeitet Restaurator Redemann an der Erhaltung des Werkes.“ BEHRENS 1939, S. 30 206 Briefwechsel vom 02.12.1912, NLMH, Gemälderestaurierung, Archiv, Akte I.6.2. 201 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 65 - zialmuseums öffentlich beklagt.207 Direktor Jacobus Reimers zog Gutachter aus Kassel und Berlin hinzu. Gemeinsam wiesen sie auf die ungünstigen klimatischen Verhältnisse an den früheren Standorten, auf die „für Bilder immer verderblich(e)“ Luftheizung in der Cumberlandschen Galerie hin208 und hoben indessen die regelmäßige Kontrolle von Temperatur und Luftfeuchtigkeit im neuen Museumsbau hervor. Bis zum Jahr 1912 muss sich der Zustand des Barfüßerretabels dramatisch verschlechtert haben. Angesichts dringend erforderlicher Restaurierungsmaßnahmen bittet Direktor Reimers die Herzogliche Verwaltung im Oktober um Klärung der Kostenübernahme.209 Schon einen halben Monat darauf wurde die Dringlichkeit noch einmal betont und Geld zur Verglasung des Retabels gefordert, „um zu verhindern, dass gelöste Farbteile durch unbefugtes Berühren herabfallen.“210 Restaurator Schiele schlug als Maßnahmen an den vier Seitenflügel des Retabels „festlegen, auskitten, eintönen, reinigen, firnissen“ vor und erstellte einen Kostenvoranschlag über eine Summe von 400 Mark.211 Im Dezember 1912 bewilligte die Herzogliche Verwaltung insgesamt 300 Mark zur „Vornahme von Instandsetzungsarbeiten an mehreren Gegenständen des Königlichen Welfenmuseums“.212 Mit diesen Mitteln wurde mit der Verglasung des Barfüßeraltars begonnen. Nach weiteren Anträgen und dem Hinweis, dass „die Schäden (…) abermals beträchtlich vorgeschritten“ waren, konnte die Verglasung im Mai 1913 fortgesetzt werden.213 Beschrieben ist, dass die Glasscheiben in Kiefernholzrahmen eingesetzt wurden. Aus technischen Gründen ist dies nur am tieferen Rahmenprofil der Festtagsseite denkbar, und hier an der Mitteltafel sicher mit Untergliederungen. Die Rahmenprofile der Sonntags- und Werktagsseite lassen ein Einfügen des schweren Glases kaum zu. Im Dezember desselben Jahres bat der Direktor abermals um Kostenübernahme für reine konservatorische Maßnahmen an Altären und Skulpturen des Welfenmuseums.214 Der Erste Weltkrieg brachte das Verfahren offensichtlich ins Stocken und zum Erliegen. Ob 207 Hannoverscher Courier und Hannoversches Tagblatt, HSA Hann. 151 Nr. 174, fol. 5, 36, 39, 50. Hinweis und Recherche verdanke ich Cornelia Aman. 208 Beilage zu Nr. 18 des Hannoverschen Tageblatts, HSA Hann. 151 Nr. 174, fol. 50, Hinweis und Recherche durch C. Aman. 209 NLMH, Gemälderestaurierung, Archiv, Akte I.6.2, Schreiben vom 11.10.1912. 210 Ebenda, Schreiben vom 30.10.1912. 211 Ebenda, Verzeichnis der im Welfen-Museum zu restaurierenden Gegenstände. 212 Ebenda, Schreiben des Museums an die Herzogliche Verwaltung vom 30.10.1912. 213 Ebenda, Schreiben an die Herzogliche Verwaltung vom 9.05.1913, Kostenanschlag von Glasermeister H. Giesecke vom 8.05.1913. 214 Ebenda, Schreiben vom 1.12.1913. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 66 - in dem Zusammenhang tatsächlich auch Restaurierungsarbeiten am Barfüßerretabel ausgeführt wurden, ist nicht klar. Der nachfolgende Restaurator des Museums, Friedrich Koch, schreibt in einem Bericht aus dem Jahr 1934, dass die vorgefundene, ungeschickt in Ölfarbe ausgeführte Ergänzung einer großen schadhaften Stelle – gemeint sind sicher die großen Fehlstellen am rechten Innenflügel – aus der Zeit um 1910 stamme. 1920 unternahm Direktor Wilhelm Behncke einen neuen Vorstoß und mahnte eindrücklich, am Göttinger Barfüßeraltar habe sich „zu den alten Schäden ein erneutes Loslösen von Farbschichten gezeigt, das verschiedentlich schon zu völligem Abblättern geführt hat.“ Es sei notwendig, „daß sofort eingegriffen wird … Der Winter mit seinen schweren Gefahren für kranke Stücke steht vor der Tür.“ 215 Von Ende 1920 bis Mitte des Jahres 1921 führte Restaurator Friedrich Koch umfangreiche Restaurierungsmaßnahmen an allen Seiten des Altars durch. Die Arbeiten dauerten länger als zunächst geschätzt, da im Winter im ungeheizten Raum gearbeitet werden musste und sich die Schäden als weitgehender erwiesen als angenommen. Friedrich Koch stellte eine Rechnung über 1000 Mark.216 Dafür ließ sich bis zur Neurahmung der Mitteltafel und Neuaufstellung 1924 einiges machen. Mit dieser Restaurierung sind sowohl die Überkittungen der Malränder217 wie auch die weißen, sehr harten Kittungen in Zusammenhang zu bringen, die im weiteren Verlauf eine Gefährdung der angrenzenden originalen Farbpartien bedeuteten. Fotos zeigen den rechten Innenflügel während der Restaurierung im gekitteten Zustand (Abb. 16) sowie mit den neuen Ergänzungen (Abb. 18 a,b). Dabei entschied man sich für eine schemenhafte Andeutung der Figurengruppen in größeren Farbflächen auf den beiden Bildfeldern „Marientod“ und „Marienkrönung“. Nach eigenem Bekunden führte Koch Ergänzungen am rechten Innenflügel 1932 aus. Er entfernte die seiner Meinung nach von etwa 1910 stammenden Retuschen in Ölfarbe und ersetzte sie durch „neutralere, weniger auffallende“ ebenfalls in Öl (Abb. 19 a,b).218 Im Restaurierungsbericht der 1950er Jahre wird Koch rückwirkend attestiert, 215 NLMH, Gemälderestaurierung, Archiv, Akte I.6.2, Schreiben vom 30.10.1920. Ebenda, Schreiben vom 7.04., 14.07., 23.07.1921, Rechnung vom 8.07.1921. 217 Im Bestandskatalog 1930 ist die Kenntnis, dass die Außenflügel aus Nadelholz seien (fälschlicherweise als Kiefernholz bezeichnet) noch überliefert. Bei der von Behrens vor 1939 veranlassten Überprüfung konnte Redemann die typische Nadelholzstruktur an den Malrändern nicht mehr erkennen und nahm Eichenholz für das gesamte Retabel an. Vergleiche Kap. 2.5.1, Anm. 276. 218 NLMH, Gemälderestaurierung, Archiv, Akte Restaurierungsgeschichte 2, Bericht des Restaurators Friedrich Koch v. 8.01.1934. Im Bestandskatalog von 1954 heißt es allerdings: „Ergänzungen an der 216 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 67 - dass Ergänzungen mit Temperafarben (sic!) von ihm „sehr anständig und ordentlich eingefügt worden sind; ohne Übermalungen“.219 Zuvor waren jeweils im Sommer der Jahre 1926, 1927 und 1928 weitere Malschichtfestigungen mit Gummi Arabicum durch Koch, 1929 durch seinen Schüler Wilhelm Redemann nötig geworden.220 Dies wiederholte sich 1934 und 1935. Selbst im Bestandskatalog von 1954 heißt es: „Seitdem oftmals, zumal 1939-45, wiederkehrende Blasenbildung beseitigt.“221 Von Oktober 1935 bis Januar 1936 wurde der rechte Außenflügel auf der Außenseite „gänzlich überholt“. Dabei wurden gelockerte Malschichtpartien gefestigt, die Malerei „gründlich gereinigt“ und „die grossen Ersatzflächen“ neu ausgemalt.222 Um eine gewisse Strukturierung der Oberfläche zu erreichen, stupfte man den Leim-KreideGrund im Bereich der großen Fehlstellen und der Rahmen auf. Die Retuschen innerhalb des querlaufenden Schriftbandes mit dem Fertigstellungsdatum ergänzten die gotischen Schriftzeichen diesmal weitgehender als auf dem linken Außenflügel, wo nur der helle Hintergrund geschlossen wurde. Inzwischen entfernte man sich also wieder vom streng zurückhaltenden, quasi „archäologischen“ Umgang mit Fehlstellen und ihren Ergänzungen.223 Im Bestandskatalog von 1930 sind auf dem linken Außenflügel solche „Neutralretuschen“ noch zu sehen, die man dann wohl noch bis zur Veröffentlichung von Behrens 1939 im Bereich der Bildfelder, nicht aber der Inschrift überarbeitet hat, ohne dass das dokumentiert wäre. Während der Umlagerung des Retabels ins Erdgeschoss im Krieg haben „die mangelnde Klimatisierung dieser Räume, die Bombardierung des Hauses, Wassereinbrüche in dem Unterstellraum usw. (…) ihn schwer beschädigt“. Hinsichtlich der Fürstenhochzeit 1951 restaurierte man den Barfüßeraltar „in einem Schnellverfahren, das viele unerlaubte Außenseite des 1. Innenflügels, r. Streifen, 1934“, BEST.KAT. HANNOVER 1954, S. 89. 219 Restaurierungsbericht über die „Generalrestaurierung“ von Frühjahr 1954 bis Februar 1956 (Mitteltafel und Innenflügel) bzw. bis Herbst 1957 (Außenflügel), handschriftlicher Bericht ohne Datum und Signatur, unter Restaurator Fritz Reimold. In: NLMH, Gemälderestaurierung, Archiv, Restaurierungsjournal, S. 143-146. 220 NLMH, Gemälderestaurierung, Archiv, Akte Restaurierungsgeschichte 2. Eintragungen Koch vom 1.06.1927, 3.07.1928, 29.04.1929. 221 BEST.KAT. HANNOVER 1954, S. 89. 222 NLMH, Gemälderestaurierung, Archiv, Akte Restaurierungsgeschichte 2. Zettel Redemann. Diese Ergänzungsmaßnahmen am rechten Außenflügel bestätigt auch von der Osten, BEST.KAT. HANNOVER 1954, S. 89. 223 Siehe dazu das Plädoyer von Direktor Reimers, Die Instandsetzung alter Altarbilder. In: Jahrbuch des Provinzial-Museums zu Hannover 1901-1904. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 68 - Zutaten und unfachgemäße Bearbeitungen mit sich gebracht hat (…), nur um dem Augenblick zu dienen.“224 Rahmen und große Partien wurden einfach mit Plakafarben übermalt. Von Frühjahr 1954 bis Herbst 1957 erfolgte eine umfassende Restaurierung des Retabels, die den Ansprüchen der Zeit gemäß relativ gut dokumentiert ist. Man begann im Januar mit der Festigung der Predellentafeln225 und stellte die Mitteltafel mit dem inneren Flügelpaar bis zur Wiedereröffnung des Museumsgebäudes im Februar 1956 fertig. Erst ein Jahr später konnten die äußeren Flügel bearbeitet und montiert werden. Wegen neuerlicher Blasenbildungen nahm man die Außenflügel im Herbst 1957 nochmals ab, um sie zu festigen. Wie es damaligem Gebrauch entsprach, sicherte man die Malschicht durch eine Imprägnierung des ganzen Retabels systematisch mit einer Masse aus Bienenwachs, Kolophonium und Venetianer Terpentin unter Wärmebestrahlung mit Infrarot-Lampen.226 Im Bereich der mittleren Rahmentraversen der Außenflügel verwendete man auch Immunin, um die hohlliegende Leinwand wieder zu befestigen.227 In einigen Bereichen wurde die Malschicht angestochen, um der Wachsmasse einen Zugang zu Hohlstellen zu verschaffen oder, auf der Außenseite, mit „Leimtrichter“ arbeiten zu können. Auf den Außenseiten der inneren Flügel (Sonntagsseite) waren Grundier- und Malschicht auf dem Leinwandträger „in hohen Wellen“ aufgeworfen und „in dieser Verformung (…) zu einer sehr harten und brüchigen Schale“ eingetrocknet. An den Grenzen zwischen festen und losen Partien schnitt man Leinwand und Bildschichten ab, bügelte sie mit Wachs plan, überarbeitete Fehlstellen im Holz mit Wachskreidekitt, setzte die Stücke wieder ein und bügelte das Ganze in eine Masse aus Bienenwachs, Champagner Kreide, Venetianer Terpentin und Kolophonium ein.228 Die Schnittstellen sind an der Oberfläche deutlich erkennbar. 224 Reimold, Restaurierungsbericht von 1954 bis 1957, wie Anm. 219, S. 143. Kurzbericht, Hs. unbezeichnet. NLMH, Gemälderestaurierung, Archiv, Restaurierungsjournal, S. 54. 226 3 T. Kolophonium, 2 T. Wachs, 1 T. Venetianer Terpentin. Nach Reimold, Restaurierungsbericht, wie Anm. 219, S. 143. 227 Immunin ist ein Polyvinylacetat-Dispersionskleber der Temperolwerke Hamburg (erloschen), das seit den 1940er Jahren vom Doerner-Institut München wegen seiner Flexibilität für Malgründe empfohlen wurde. Barbara Wiemers, Historische und moderne Überlegungen zur Festigung von Malschichten. Unveröff. Diplomarbeit Staatliche Akademie der Bildenden Künste 1983, S. 103, und Kristina Herbst, Dynamische Strukturen. Konservatorische Betrachtung einer malerischen Werkgruppe (1957-63) von Heinz Mack, Diplomarbeit HAWK Hildesheim 2005, S. 16. 228 Reimold, Restaurierungsbericht, wie Anm. 219, S. 144-145. 225 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 69 - Zur Behandlung der Mal- und Firnsschichten heißt es: „Eine Reinigung wurde nur bedingt vorgenommen“,229 worunter zu verstehen ist, dass der Firnis partiell entfernt oder gedünnt wurde.230 Man beließ alte Kittungen und Retuschen teilweise. Die jüngste Restaurierung deckte jedoch auf, dass die langen Risse in der Mitteltafel geöffnet und zum zweiten Mal mit Leinwand ausgefüllt und wohl mit einem Kunstharzkleber verklebt worden waren, bevor sie zweischichtig mit einem harten grauen und einem weißen Kitt geschlossen wurden.231 Neue Kittungen wurden an der Mitteltafel mit Kreide-Öl-Kitt, an den Flügeln mit Wachs-Kreide-Kitt ausgeführt, die Retuschen mit Cutis-Pulverfarbe und mit Ölfarben. Die Überfassung der Rahmen mit Plakafarben, wohl von der kurzfristigen Ausbesserung vor der Fürstenhochzeit 1951, wurde komplett entfernt und einschließlich neuer Ornamente neu gefasst. Die großen Fehlstellen auf der Innenseite des rechten inneren Flügels erfuhren zum dritten Mal eine neue Ergänzung. Die mit der Randnotiz „Noch nicht abgeschlossen!“ versehene fotografische Dokumentation, die schemenhafte Figuren zeigt (Abb. 20 a,b), steht im Widerspruch zu der schriftlichen: „Eine große, viele Figuren umfassende Fehlstelle (…) wurde lediglich in einem neutralen Ton eingestimmt.“232 An diesen Bildfeldern sind zu einem späteren, nicht dokumentierten Zeitpunkt noch einmal Veränderungen vorgenommen worden (Abb. 21 a,b). Die fotografischen Belege der verschiedenen Ergänzungslösungen erzählen auch etwas über den restauratorischen Umgang mit großen Fehlstellen im letzten Jahrhundert (Abb. 18-21). In keinem der Berichte findet sich ein Hinweis zum Umgang mit den Vergoldungen. Die jüngste Restaurierung deckte verschiedenste Materialien und Schichtenfolgen auf. In den 1950er Jahren sind die Hintergründe der zerstörten Bildfelder ebenso wie der ganze Rahmen dieses rechten Innenflügels auf zu dunklem roten Bolus neu vergoldet und sehr streifig poliert worden. Aus den 1920er Jahren stammen offensichtlich die Bronzierungen, die auch die übrigen Rahmen der Festtagsseite weitgehend überdecken und für die Neufassung der ergänzten Rahmenschenkel ober- und unterhalb der Kreuzigung Verwendung fanden. 229 Ebenda S. 144. Zu Firnisabnahme und Firnisreduzierung allgemein: HARTWIEG 2010. 231 Die älteren Gewebeausstopfungen sind braun und mit alkohollöslichem Kleber (Schellack?) gebunden. Ein PVAC-Kleber wird wegen seines Lösungsverhaltens vermutet. Beobachtungen Viola Bothmann, s. Dokumentation Konservierungs- und Restaurierungsmaßnahmen, S. 43. NLMH, Gemälderestaurierung, Dokumentation zum Barfüßerprojekt. 232 Reimold, Restaurierungsbericht, wie Anm. 219, S. 146. 230 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.2 Geschichte - 70 - Für die Zeit bis 1966 quittiert Reimold: „ohne Änderung des Zustandes“.233 Laut mündlicher Überlieferung mussten später wieder regelmäßig Festigungsarbeiten durchgeführt werden, bei denen Wachs und verdünnter PVA-Leim zur Anwendung kamen.234 Aus Sorge um die Gefährdung der Malschichten und des statischen Gefüges wurden die Altarflügel seit den 1980er Jahren kaum mehr bewegt. Zu sehen war nur noch die Festtagsseite. Den Besuchern blieben damit die einzigartigen Darstellungen des geschlossenen Zustands und die monumentale Apostelseite vorenthalten. In Hinsicht auf die Generalsanierung des Museumsgebäudes wurde die Malerei des Altars von Februar bis September 1997 durch die Restauratoren des Hauses notgesichert.235 Finanzmittel für eine umfassende Konservierung und Restaurierung wurden 1999 bewilligt. 233 Handschriftliche Notiz vom 4.02.1966 unter dem Restaurierungsbericht von 1954-1957, wie Anm. 218, S. 146. 234 Auskunft Michael von der Goltz, im NLMH angestellter Restaurator von 1984-2001. 235 Die vergoldeten Hintergründe endgültig mit Störleim, die Farbpartien provisorisch mit Japanpapier und Tylose. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.3 Schäden - 71 - 2.3 Schäden und Veränderungen Im Folgenden sollen die bei der Erhebung und systematischen Kartierung des Schadensbefundes 1999 bis 2000 festgestellten, gravierendsten Schäden aufgeführt werden. Von Interesse sind hier vor allem die Schäden und Veränderungen, die den Originalbestand betreffen und damit für die Rekonstruktion und Interpretation des Göttinger Barfüßerretabels hinsichtlich seines ursprünglichen Erscheinungsbildes und seiner Qualitäten relevant sind. Versucht man die Schadenssituation zusammenzufassend zu charakterisieren, so sind folgende Schadensschwerpunkte zu nennen: 1) die Veränderungen der Holzkonstruktion und statischen Mängel, 2) die großflächigen Verluste, 3) die Lockerungen der Bildschichten, 4) die durch frühere Restaurierungen verursachten Schäden und Veränderungen, 5) die Veränderungen von Farben und Blattmetallen. Veränderungen der Retabelkonstruktion und statische Mängel Die schwerwiegendsten Rissbildungen im Holz zeigt die Mitteltafel (Abb. 24). Hier haben sich auch drei Fugen auf einer Länge von bis zu 225 cm und auf einer Breite von bis zu 1,5 cm geöffnet. Dies kann seine Ursache sowohl im Trocknungsschwund der Tafel bei gleichzeitiger Blockierung durch die rückwärtigen Querleisten236 wie auch in den beim Wandeln der Flügelpaare mit je ca. 400 kg auf beiden Seiten einwirkenden Kräften haben.237 Zeitweise war das Gewicht noch sehr viel größer, nachdem man 1912/13 aus konservatorischen Gründen Glasscheiben vor die Malereien der Festtagsseite gesetzt hatte.238 Unter statischen Gesichtspunkten ist wichtig, dass nicht die Rahmen, sondern die Bildtafeln (also die Füllungen) die Schub- und Biegesteifigkeit der Retabelkonstruktion gewährleisten. Die Lastabtragung erfolgt also über die Bildtafeln. Die Biegesteifigkeit der Mitteltafel ist durch das Zersägen rechts und links der Kreuzigungsszene erheblich verringert. Der genaue Zeitpunkt für diese Maßnahme ist nicht überliefert. Die sehr groben Sägespuren deuten auf eine sehr frühe Trennung hin, möglicherweise bereits bei 236 Siehe Kap. 2.5.1, S. 94f. und 98. Gewichte siehe Kap. 2.1, S. 44. 238 Siehe Kap. 2.2, S. 65. 237 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.3 Schäden - 72 - der Verlagerung aus der Barfüßer-Kirche Ende des 16. oder Anfang des 17. Jahrhunderts (Abb. 25). Die Abschnitte der Rahmenschenkel ober- und unterhalb der Kreuzigung gingen danach verloren und wurden vermutlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ergänzt (Abb. 24). Der Zusammenhalt der Teile erfolgt durch zwei aufgeschraubte Eisenbänder oberhalb bzw. unterhalb der Rahmenschenkel.239 Trotz der originalen Stabilisierung mit geschmiedeten Winkeln an allen Ecken haben sich vor allem die schweren Innenflügel zu einem Parallelogramm verschoben; die äußeren unteren Ecken hängen herab.240 Dies hat seine Ursache nicht nur im höheren Gewicht der Innenflügel, sondern auch in der Art ihrer Rahmenkonstruktion. Während die Eckverbindungen an den Außenflügeln mit zwei schräg gesetzten, kleineren Dübeln gesichert sind, ist an den Zapfenverbindungen der Innenflügel nur je ein einzelner, dicker Dübel gesetzt , der bei Verlust der Klebkraft des Holzleims zu einem Drehpunkt wird (Abb. 40, 41a,b).241 Die Verwölbungen der Tafelbretter führten zu Spannungen, die sich weniger auf die Statik als auf die Haftung der Malschicht auswirkten. Am linken Innenflügel und der Mitteltafel sind nur leichte Verwölbungen zu erkennen. Wesentlich stärker verwölbt sind die einzelnen Nadelholzbretter der Außenflügel. Sie haben die Rahmennut aufgedrückt und jeweils auf dem Zenit der konvexen Wölbung in großen senkrechten Partien Grundierungs- und Malschicht abgesprengt (Abb. 23 b, c). Ein freies Spiel der Bildtafeln im Rahmen ist damit nicht mehr möglich. Dies hatte jedoch den positiven Effekt, dass beim nötigen Transport der Flügel auf ihren Längsseiten die Tafelbretter in ihren Nutrahmen nicht verrutschten. Die Verwölbungen der scharnierseitigen Rahmenschenkel sind für die Geometrie der Retabelkonstruktion viel gravierender, weil sie die Funktionalität der Drehachsen in 239 Die Schrauben sitzen teilweise, statisch nicht optimal, sehr nah an den Sägefugen, Holz ist aber bisher nicht ausgebrochen. 240 Die Verschiebung ist auch an den Malrändern sichtbar: Am linken Innenflügel (Sonntagsseite) ist der Malrand der Unterkante links, also an der Scharnierseite noch vollständig vom Rahmen überdeckt, rechts dagegen 6 mm sichtbar. 241 Eine nur geringe Beweglichkeit in den Eckverbindungen hat auf die Länge der Rahmenschenkel eine erhebliche Wirkung. Öffnet sich die scharnierseitige untere Eckverbindung eines Flügels von 90º auf 90,5º, so führt dies rein mathematisch zu einer Absenkung des 193,5 cm langen, unteren Schenkels außen um fast 17 mm. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.3 Schäden - 73 - Frage stellen. Der linke Rahmenschenkel der Mitteltafel ist z.B. konkav verformt, während die senkrechten Rahmenschenkel des linken Innenflügels ausgebaucht sind. Damit bilden die übereinander angeordneten Scharnieraugen keine einheitliche Drehachse mehr, was beim Wandeln zu einer Zwängungsbelastung der Rahmen-/Tafelkonstruktion führt. Wie weit die jeweiligen Scharnieraugen von den vier Drehachsen der Flügel entfernt lagen, wurde im Einzelnen überprüft.242 Die Drehachsen waren nicht mehr im Lot, was beim Wandeln bestimmte Scharniere stärker belastet, aber im übrigen konservatorisch ohne schädigende Auswirkungen ist. Die Tatsache, dass einheitliche Drehachsen, besonders zwischen Mitteltafel und Innenflügel, nicht mehr gegeben waren, bedeutete indessen eine nicht akzeptable Dauerbelastung beim Bewegen der Flügel. Hinsichtlich der Funktionalität der Drehachsen war auch die Stabilität der Scharnierbänder und ihre Verankerung in den Rahmen zu überprüfen. Die meisten Scharnierbänder sind noch mit den originalen langen Nägeln durch Rostbildung stabil mit dem Rahmenholz verbunden. Einige Vierkant- und Schlitzschrauben sind Anfang des 20. Jahrhunderts bzw. in den 1950er Jahren ersatzweise eingesetzt. Durch Zug und Druck sind die unteren und oberen Scharniere am meisten belastet.243 Das linke obere Scharnier an der Mitteltafel hat vermutlich durch das früher übliche gewaltsame Schließen der herabhängenden Innenflügel Spiel. Größere Eingriffe waren anscheinend bei einer früheren Montage der Außenflügel erforderlich: Für das untere Scharnier am linken Innenflügel wurde offensichtlich in den 1950er Jahren ein ganz neues Scharnierband hergestellt (Abb. 42), beide Scharnierbänder am rechten Innenflügel sind mit Vierkantschrauben vollständig neu eingesetzt und dabei um ca. 10 bis 12 mm weiter nach vorn, d.h. zur Altaraußenseite verschoben worden. Das wurde bei der notwendig gewordenen neuerlichen Demontage des unteren Die Aufsicht und Untersicht jedes Scharnierauges wurde mit zwei, durch Lote bestimmte Passmarken jeweils auf eine Folie gezeichnet. Für die Drehachsen zwischen Mitteltafel und Innenflügel erhielt man damit z.B. je ein Paket von 14 Folien von den Scharnieren an der Mitteltafel und 8 Folien von den Gegenstücken an den Innenflügeln. Beim Übereinanderlegen der Folien wurde deutlich, wie weit einzelne Scharnieraugen aus der Achse sprangen. Hatten die originalen Bolzen einen Durchmesser von 14 bis 15,5 mm an den Außenflügeln und 23 bis 28 mm an den Innenflügeln, so ließ sich als größte gemeinsame Schnittmenge an den Scharnieren der Außenflügel ein Loch von 9 bis 12 mm im Durchmesser, für die Innenflügel von nur ca. 12 mm feststellen. 243 Das obere und untere Scharnierblatt am rechten Rahmenschenkel der Mitteltafel scheint früher bereits gelockert gewesen zu sein und wurde vorne mit je 3 Vierkantschrauben stabilisiert. 242 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.3 Schäden - 74 - Scharnierblattes im Jahr 2003 deutlich. Die kleineren Scharnierbänder an den Außenflügeln werden noch vollständig von den originalen Nägeln gehalten, sind aber teilweise locker (Abb. 44, 45). Die Rahmen der beiden linken Flügel zeigen an ihren Unterkanten Anobienbefall und den Würfelbruch eines Pilzes; sie sind offensichtlich im hängenden, geöffneten Zustand von unten abgehobelt worden. Am linken Seitenteil der Mitteltafel ist ebenfalls am unteren Rahmenelement eine 46 cm langes Stück herausgearbeitet, möglicherweise ebenfalls wegen des Wurmbefalls. Das Zersägen der ganzen Predella bedeutet einen gravierenden Verlust an Originalsubstanz: Sockel-, Deck- und Rückenbrett, die Seitenwangen und etwa 70% der Predellenfront gingen verloren. Die Holzbretter der beiden verbliebenen Predellenfragmente sind allseits beschnitten, auf 8 mm gedünnt und kreuzweise mit einem Zahnhobel geglättet, bevor ein dichtes Flachparkett aufgebracht wurde (Abb. 35). Dieser Eingriff erfolgte vermutlich zwischen der Erwerbung 1882 und 1934 im „Provinzialmuseum“.244 Ein Teil der eingeschobenen Leisten ist noch beweglich, einige neue Rissbildungen sind erst durch die Parkettierung verursacht. Großflächige Verluste Auf der gesamten bemalten bzw. gefassten Oberfläche des Retabels sind die Schäden sehr uneinheitlich verteilt. Während sich Abhebungen von Leinwand, Grundierung und Malschichten auf der Mitteltafel und den Innenseiten der Außenflügel auf kleinere Partien beschränken, sind die beiden Innenflügel auf jeweils einer senkrechten Hälfte stark in Mitleidenschaft gezogen. Großflächige Verluste, eine stärkere Riss- und Schollenbildung sowie Schichtentrennungen zwischen Holz, Leinwand, Grundierung und Malschichten weisen die im ganz offenen Zustand jeweils rechten Hälften der Innenflügel und entsprechend rückseitig, also auf der Sonntagsseite die jeweils linken Seiten der beiden Flügel auf (Abb. 2,3).245 244 Die Maßnahme ist nicht dokumentiert. Auf dem Parkett ist ein Inventarzettel aus dem „Provinzialmuseum“ angebracht. Das Landesmuseum führte den Namen „Provinzialmuseum Hannover“ bis 1934. 245 Auf der Festtagsseite sind BF 12, 13, 14 und BF 25, 26, 27 betroffen, auf der Sonntagsseite die jeweils linken Seiten der Bildfelder BF 6 und 7, Bildfeldnummern vergleiche Anhang S. 312f. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.3 Schäden - 75 - Zu großflächigen Grundierungs- und Malschichtverlusten kam es auf den Bildfeldern mit Marientod und Marienkrönung auf der Innenseite sowie am Apostel Philippus auf der Außenseite des rechten Innenflügels (Abb. 78). Die große Fehlstelle in den beiden Bildfeldern auf der Festtagsseite ist einschließlich einer neuen Gewebeauflage ganz neu aufgebaut worden und hat im Laufe des 20. Jahrhunderts viele verschiedene Ergänzungsversuche erfahren (Abb. 18-21). Auch der Rahmen ist an diesem Flügel innen vollständig neu vergoldet (Abb. 13). Ob die originale Vergoldung unter der neuen Grundierung, einem dunkelroten Poliment und der scharf und streifig polierten Blattgoldauflage noch in dem Ausmaß erhalten ist, das ein Foto von der Restaurierung um 1920 zeigt (Abb. 16), oder zuvor angeschliffen wurde, ist nicht mehr auszumachen. Die starke Schädigung der beiden Innenflügel – insbesondere des rechten – ist weder nach ihrer Ursache eindeutig zu klären noch zu datieren. Die Sonnenbestrahlung durch die südseitigen Fenster der Kirche – häufig Ursache für lokale Schädigungen an Chorretabeln – würde sich nicht so begrenzt auf jeweils eine Hälfte der Flügel auswirken. Am wahrscheinlichsten sind Lagerungsschäden durch aufsteigende Feuchtigkeit bei einer Aufbewahrung auf der entsprechenden Längsseite der Flügel. Schlüssig wäre die Lagerung auf der glatten, der den Scharnieren abgewandten Seite. Dies erklärte die Schäden nur am rechten Innenflügel. Man kann allerdings nicht völlig ausschließen, dass der linke Flügel mit seinem ganzen Gewicht auf die Scharniere gestellt wurde. Die Schäden sind mit dem Restaurierungsfoto von um 1920 belegt (Abb. 16). Sie können also bei der Einlagerung im Zoologischen Institut der Universität Göttingen zwischen etwa 1845 und 1863 oder sogar vor der Aufstellung in der Nicolaikirche im 17. Jahrhundert entstanden sein. Die Abdeckung des inneren Zustands mit großen Leinwandbildern 1678 wäre dann nicht nur theologisch begründet, sondern gleichzeitig als denkmalpflegerische Maßnahme zur Abdeckung der älteren großen Verluste zu erklären. Die Abnahme sämtlicher Zierbänder zwischen den Szenen der Festtagsseite, die wohl im Zusammenhang mit dem Aufnageln der Leinwandbilder steht, bedeutet einen gravierenden Verlust für das Erscheinungsbild der Festtagsseite, wie noch zu zeigen sein wird. Beim Entfernen der Leinwände sind jeweils um die Nagellöcher größere Malschichtpartien verloren gegangen. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.3 Schäden - 76 - Die großen Fehlstellen auf allen vier Bildfeldern der Außenseite verlaufen in mehreren senkrechten Bahnen nicht entlang der Brettfugen, sondern auf dem Zenit der Verwölbung jedes einzelnen Nadelholzbrettes. Durch die aufgedübelten, waagerechten Querleisten wurde die Verwölbungstendenz der tangential geschnittenen Bretter bei trockenem Klima behindert, es kam zu Spannungen und in Folge zu Abblätterungen der Grundierungs- und Malschichten. Die Rückseiten dieser Flügel (Sonntagsseite) sind indessen kaum betroffen. Auch auf der Werktags- und Sonntagsseite sind die roten Rahmenfassungen vollständig überfasst, so dass das originale Erscheinungsbild verloren ist, auch wenn sich Farbe und schablonierte Blattmetallmuster am Original orientieren. Die letzte Fassung stammt von der Restaurierung in den 1950er Jahren. Die roten Bänder am unteren Rand der Predellenfragment sind mit grobem Pinselstrich nach Befund übermalt, die schablonierten, sich ursprünglich mit Silber und Zwischgoldauflage abwechselnden Vierpassmotive zeigen sich heute in pastoser weißer (Bleiweiß) und gelber Farbe (Bleiweiß, Mennige, Ocker ?) (Abb. 13, 14).246 Diese Überfassung ist offensichtlich schon aus dem frühen 19. Jahrhundert oder älter, weil keine fein geriebenen, „modernen“ Pigmente, aber ein entsprechendes Alterscraquelé feststellbar sind. Lockerungen der Bildschichten Die Lockerungen der Bildschichten247 sind zu differenzieren nach Abhebung der Leinwand vom Bildträger, Haftungsverlust der Grundierung auf der Leinwandauflage und Schichtentrennung zwischen Malschicht und Grundierung (Abb. 23 b). Die ersten beiden Phänomene lassen sich sicher auf Klimaschwankungen zurückführen, während letzteres eher maltechnische Ursachen hat. Die jüngste schwere Schädigung im Zusammenhang mit der Einlagerung des Retabels nach 1942 im Keller des Museumsgebäudes am Maschpark ist im Restaurierungsbericht von 1954 bis 1957 eindrücklich beschrieben: „...die mangelnde Klimatisierung dieser Räume, die Bombardierung des Hauses, Wassereinbrüche in den Unterstellraum usw. 246 Die µRF-Analyse durch Prof. Christoph Herm ergab für das weiße/silberne Muster: Pb, Cu, Zn, Ag (Ca), für das gelbe/goldene: Pb, Cu, Zn, Au (Ca, Ag); Christoph Herm, Untersuchungsbericht 03/NLMH_XE vom 25.09.2006, S. 37-39 (Messpunkte BF29RF1 und RF2). 247 Zum Begriff „Bildschichten“ siehe Kap. 1.2, S. 10, Anm. 11. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.3 Schäden - 77 - haben ihn [den Altar] schwer beschädigt.... Besondere Schwierigkeiten bereiteten die Rückseiten der inneren Flügel (mit Aposteldarstellung). An der Wand herabgelaufene Wasserstreifen, die zum Teil noch über die Tafeln gelaufen sind, haben über den ganzen Altar hinweg schwerste Zerstörungen angerichtet.“248 Damals war es zu einer so großflächigen Ablösung der Leinwand gekommen, dass man auf dem linken Innenflügel an der Apostelseite die Leinwand abschnitt und neu aufbügelte.249 Noch bei der Befundnahme und Kartierung 1999/2000 war großflächiger Haftungsverlust der Leinwand vom Bildträger festzustellen, an vielen Stellen jedoch verdeckt und für ein Klebemittel unzugänglich. Durch Schrumpfung des Holzes hat sich die Leinwand besonders über den Rahmenprofilen gelöst und steht dort hohl. Das Aufquellen des Malgrundes in den stärker geschädigten Bereichen hat offensichtlich zur Riss- und Schüsselbildung der hygroskopischen Grundierungsschicht und zu einem Haftungsverlust auch zwischen Leinwand und Grundierung geführt. Dieser war bei nicht optimaler Klimatisierung immer wieder Anlass für die erwähnten zahlreichen Festigungen. Bei den 1997 durchgeführten Notsicherungen wurden Lockerungen in den vergoldeten Bereichen mit Störleim gefestigt, solche in den Farbbereichen mit Japanpapier und Methylcellulose oberflächlich gesichert (Abb. 23 a).250 Nach Abnahme der Sicherungspapiere war das Ausmaß der Lockerungen etwa auf 15% der bemalten und gefassten Oberfläche zu schätzen, an den Rahmenfassungen teilweise bis zu 60%. Ein Abplatzen von Malschichten auf der Grundierung kommt hauptsächlich in dunkelroten Farblackpartien vor, ist also maltechnisch bedingt. Der zur Modellierung der Schattentiefen relativ dick aufgetragene rote Farblack ist feinteilig ausgebrochen, meist aber großflächig übermalt worden. 248 Restaurierungsbericht von 1954 - Herbst 1957, ohne Signatur, siehe Kap. 2.2 und Anm. 219, (NLMH, Gemälderestaurierung, Archiv, Restaurierungsjournal S. 143-146). 249 „Die zum Teil sehr dicke Grundier- und Malschicht (stellenweise bis zu 3 mm stark) hat sich [bei der beschriebenen Einlagerung im Zweiten Weltkrieg] in der Feuchtigkeit so verquollen, daß sie buchstäblich keinen Platz mehr im Rahmen fand und sich in hohen Wellen aufwarf und in dieser Verformung eintrocknete zu einer sehr harten und brüchigen Schale, die zum Teil die Form einer Dachrinne angenommen hatte und von oben bis unten über die ganze Tafel lief.“ Laut Fotos und Befund ist die Leinwand mit Grundier- und Malschicht gemeint. Restaurierungsbericht von 1954 - Herbst 1957, ebenda S. 144. 250 Ausgeführt von der Autorin und ihrem damaligen Mitarbeiter Michael von der Goltz. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.3 Schäden - 78 - Durch Restaurierungen verursachte Schäden und Veränderungen Wiederbefestigung abgelöster Leinwand: Die Abhebungen der Leinwand vom Bildträger hat man teilweise mit radikalen Mitteln zu beheben versucht. Die „Reparatur“ der abgelösten Leinwandpartien mit originaler Malschicht auf der Außenseite (Sonntagsseite) des linken Innenflügels in den 1950er Jahren hat zu deutlich erkennbaren Schnittstellen geführt (Abb. 9). Hitzeschäden entstanden beim Neuaufbügeln der Leinwandstücke mit einer Masse aus Bienenwachs, Champagner Kreide, Venetianer Terpentin und Kolophonium sowie bei der gründlichen Imprägnierung der Malschicht auf dem ganzen Retabel unter einer Infrarot-Lampe.251 In einzelnen Bereichen zeichnen sich negative Abdrücke eines Gewebes ab, die vermutlich von einer Sicherung der Oberfläche stammen.252 Auf dem linken Innenflügel wurde die Leinwand an der rechten Kante der Verkündigungsszene senkrecht abgeschnitten. Folgen von Festigungen: Durch wiederholte Festigungsmaßnahmen sind unterschiedlichste Bindemittel in das Malschichtgefüge eingebracht worden. Leimreste waren feststellbar, Gummi arabicum ist belegt, 1954/55 wurde teilweise auch mit Immunin gefestigt.253 In den 1960/70er Jahren hat man mehrfach Festigungen mit Wachs-Kolophonium-Mischungen durchgeführt und diese teilweise in dickerer Schicht auf der Oberfläche belassen. In den 1980er Jahren verwendete man verdünnten PVALeim.254 Vor allem auf den Außenseiten sind an mehreren Stellen Perforierungen der Malschichten aufgrund von Festigungsmaßnahmen festzustellen, wie sie auch im Bericht von 1954 beschrieben werden.255 251 „Mit einer Wachs-Kolophoniummischung (3 Teile Kolophonium, 2 Teile Wachs, 1 Teil Venetianer Terpentin) wurde der gesamte Altar mit Hilfe von Infrarotstrahlen bearbeitet. Die sehr rissige und spröde Malschicht nahm unter der Hitze der Infrarotstrahlen das Wachs willig auf...Das Wachs wurde, nachdem es durch die Infrarotstrahlen flüssig war, mit einem Pinsel so lange hin- und hergeschoben, bis die Malerei nicht mehr aufnehmen konnte. Dann wurde die betreffende Stelle mit einem Sandsack beschwert.“ Ebd. S. 143-145. 252 „Diese hohlliegenden Stellen wurden mit feinem Nesselstoff und Kolophonium gesichert. Ebd., S. 144. Einige Abdrücke sind gröber in ihrer Struktur als von Nesselstoff zu erwarten und eventuell früher verursacht. 253 Zu „Immunin“ siehe Kap. 2.2, Anm. 227. 254 Polyvinylacetat PONAL in Wasser, mündliche Auskunft Restaurator Michael v. d. Goltz, nicht dokumentiert. 255 Der Restaurierungsbericht aus den 1950er Jahren beschreibt für die Festigung auf der Werktagsseite: „Die Blasen wurden angestochen und mittels Leimtrichter niedergelegt“ (wie Anm. 219, S. 145). Perforierungen zur Aufnahme von Festigungsmitteln findet man auch auf den anderen Schauseiten. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.3 Schäden - 79 - Lockerungen durch alte Kittungen: Die bewegte Restaurierungsgeschichte spiegelt sich auch in den verschiedenen Kittungsarten wieder, die neben- und übereinander aufgefunden wurden. Ein typischer Schichtenaufbau auf der Festtagsseite zeigt zuunterst eine weiches, leicht gelbliches Kittmaterial, darüber eine rot-braun abgetönte, aber wasserlösliche Kreidekittung, abgedeckt mit einer sehr harten weißen Kittmasse wohl mit Ölzusatz. Daneben gibt es mit Wachsharz und graues, mit Kasein gebundenes Kittmaterial. Wie erst die Kartierungen der Kittungen und der Malschichtlockerungen im Vergleich deutlich machten, war zu hartes Kittmaterial Ursache für Lockerungen in den an die Kittungen angrenzenden Partien.256 Die besonders harten Kittungen sind mit der Restaurierung Anfang der 1920er Jahre in Zusammenhang zu bringen, als auch die sichtbaren Malränder überkittet wurden. Abrieb: Die schlecht erhaltenen Bildfelder der Innenflügel haben nicht nur durch Umwelteinflüsse gelitten, sondern auch durch die offensichtlich häufigere restauratorische Bearbeitung. Dabei sind vor allem die Goldhintergründe meist bis auf die Grundierung berieben und die schützenden Überzüge auf den übrigen Metallauflagen beschädigt worden. In Bereichen starker Schollenbildung sind die Craqueléränder hell berieben, während verbräunte Firnisreste die Schollentiefen verdunkelten. In der Ölbergszene der Mitteltafel werden die beriebenen Partien von der als „Leitschicht“ belassenen Firnisschicht überdeckt, sind also vor dem Auftrag dieses Firnisses um 1820 zu datieren. Auf der Werktagsseite sind die Farbschichten bei zu starken „Reinigungen“ besonders in Mitleidenschaft gezogen worden, stark auffallend zum Beispiel in den Gesichtern der Verkündigungsszene im Bildfeld der Hostienmühle, aber auch in den roten Partien. Verfärbte Retuschen und Übermalungen: Die Veränderung alter Retuschen hatte auf allen Ansichtsseiten ein Maß an ästhetischer Störung erreicht, die letztendlich ausschlaggebend war für die Bewilligung der großen Restaurierungsmaßnahme über die reine Konservierung hinaus. Die Retuschen bestanden aus den verschiedensten Bindemittelsystemen: Leim, Eitempera, Gouache, Ölfarben, Cutis-Pulverfarbe257, Plaka. Die 256 vermutlich wegen des unterschiedlichen Verhaltens von Kittmateral und originaler Grundierung bei Klimaschwankungen. 257 Laut Restaurierungsbericht von 1954 - Herbst 1957 (wie Anm. 219), S. 145; „Cutis“-Pulverfarben, Fa. Pelikan, Günther Wagner Hannover; vgl. Paul B. Eipper, Vier Künstlerfarben- und Malmaterialhersteller Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.3 Schäden - 80 - großen Ergänzungen der halb zerstörten Bildfelder genügten gar nicht mehr den Ansprüchen musealer Präsentation. Spätere Überzüge und partielle „Reinigungen“: Wie oben beschrieben, sind die 1997 vorgefundenen Überzüge teilweise grau patiniert, teilweise leicht vergilbt. In der Regel liegt folgender Schichtenaufbau vor: Auf verschiedenen älteren, teilweise verbräunten Überzugsresten258 folgen ein großflächig erhaltener, hell fluoreszierender, schwer löslicher Firnis sowie ein bis zwei graue, wasserlösliche Schichten, überdeckt von einer Folge von bis zu sechs leichter löslichen, jüngeren Firnissen aus dem 20. Jahrhundert (Abb. 29). Die jüngeren Überzüge verschließen die Craquelés und verhindern die notwendige Festigung der Malschichten. Der jüngste, in den 1950er Jahren vorgenommene Firnisauftrag erfolgte vollflächig über die Farbflächen und Goldhintergründe hinweg.259 Bei früheren Firnisaufträgen blieben Goldflächen und Nimben mehrmals ausgespart, so dass die Anzahl der Überzüge und Überzugsreste auf den Farbflächen höher ist. Der hell fluoreszierende, schwer lösliche Überzug, der bei der Restaurierung 1999 bis 2005 als „Leitschicht“ definiert und belassen wurde, beschränkt sich auf die Farbflächen. Er ist auf der Sonntagsseite in relativ dicker Schichtdicke mit nur leichter Gilbung gut erhalten, auf der Festtagsseite jedoch partiell – zum Beispiel im Bildfeld mit dem Hl. Franziskus – reduziert, besonders aber auf der Werktagsseite dünn und degeneriert. Auf den Goldflächen wird ein nicht vollständig erhaltener, aber durch seine Verbräunung mit bloßem Auge gut erkennbarer Überzug auch über Beschädigungen hinweg von einem transparenten Leimüberzug überdeckt, der an der Oberfläche einigen Schmutz gebunden hat. Punzierungen, die das Licht hell reflektieren sollten, sind mit Schmutz und Bindemitteln dunkel zugesetzt. zwischen 1900 und 1970, Bern, 1997 258 Über einigen Bereichen der Malschicht findet sich ein dick aufgetragener, brauner, aber unpigmentierter Überzug (Lasur oder originaler Firnis? Z.B: „Verkündigung an Joachim“ Querschliff BF9 P1), besonders auffällig auf der silberfarbenen Metallauflage des Brokatgewandes Mariae („Heimsuchung“ Querschliff BF 22 P2). Dieser Überzug, für den Öl- und Harzbestandteile nachgewiesen werden konnten, ist in sich stark gebrochen und innerhalb des Brokatmusters sehr berieben. Analyse durch Prof. Dr. Henrik Schulz und Martina Schulz, FH Hildesheim, mit Anfärbetest und FTIR-Transmissions-Spektrum, Probe BF 18.7 P2 im grünen Landschaftsfond der Kreuzigungsszene, Analysenbericht 091299 vom 09.02.2000. 259 „Eine Abschlussbehandlung des Altares erfolgte mit Mastixfirnis durch Abreiben mit einem Tampoon.“ Restaurierungsbericht von 1954 - Herbst 1957 (wie Anm. 219), S. 145. Bei der Oberflächenuntersuchung im UV-Licht zeigte sich allerdings eine sehr starke senkrechte und waagerechte Streifigkeit eines unvertriebenen Pinselauftrags, Fingerabdrücke vom Abstützen beim Firnissen der Mitteltafel sowie der Abdruck eines runden (Firnis-)Gefäßes im Goldgrund in Höhe der Seitenwunde Christi, die beweisen, dass die Mitteltafel wie auch die Innenseiten der Innenflügel im Liegen gefirnißt wurden. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.3 Schäden - 81 - Aufgrund mehrerer nur partieller Reinigungen und Firnisaufträge ergab sich ein sehr heterogenes Bild der Überzüge im Oberflächenbild und im Schichtenaufbau, das zu einer erheblichen Verschiebung der Farbwerte beigetragen hat. Partielle Firnisabnahmen waren gängige Praxis und sind aus den 1950er Jahren belegt.260 Dabei hatte man sich auf die ikonografisch wichtigsten und hellsten Partien konzentriert. So wurden z.B. die Gesichter und Teile der Gewänder der trauernden Frauen unter dem Kreuz heraus“geputzt“, während man sich bei den Gesichtern im Hintergrund auf die hellsten Bereiche beschränkte. Der Auftrag von zwei grauen, wasserlöslichen Schichten, der – wie oben beschrieben – vermutlich auf die 1820er und 1880er Jahre zu datieren ist, dämpfte die ursprüngliche Farbigkeit erheblich.261 Umfang und Patinierungsgrad dieser bindemittelreichen Schichten wurde erst bei ihrer Abnahme richtig ablesbar. Teilweise deckten sie Beschädigungen ab, teilweise interpretierten sie auch räumliche Angaben neu. Die Farbperspektive auf den Querbalken der Schächerkreuze war zum Beispiel mit der grauen Patinierung nivelliert. Die Modellierungen großer Gewandflächen – wie zum Beispiel des blauen Mariengewandes in der Kreuzigung und der Apostelgewänder auf der Sonntagsseite – verschwanden, was zum Eindruck des geringen räumlichen Auffassungsvermögens des Meisters noch beitrug. Die intensive gelbe Farbigkeit des Mantels vom Hl. Matthäus wurde optisch zurückgedrückt (Abb. 28). Auf der Malerei der Werktagsseite war die Verdunklung der Farben besonders eklatant. Dies rührte hier sowohl von stark verbräunten Firnisschichten auf der originalen Malschicht, von einer Oxalatbildung wie auch von den sogenannten „grauen Schichten“ und vom Auftrag verschiedener Festigungsmittel her. Für die bereits reduzierten alten Firnisse hatten Analysen ergeben, dass es sich wahrscheinlich um stark gealterte HarzÖl-Überzüge handelt, die sich durch mikrobiellen Abbau in Gegenwart von Calciumsalzen zu schwer löslichem Calciumoxalat verändert hatten.262 Oxalate, die auch durch 260 „Eine Reinigung wurde nur bedingt vorgenommen. Die alten, vor dem Krieg eingesetzten Kittstellen und deren Einstimmung wurden belassen, da die Arbeiten termingebunden waren und sich bei einer völligen Erneuerung zu weit ausgedehnt hätten.“, Restaurierungsbericht von 1954 - Herbst 1957 (wie Anm. 219), S. 144. 261 Beschreibung und Analysenergebnisse siehe oben Kap. 2.2, Anm. 195, 196. 262 Analysen an Schabeproben mit FTIR-Spektroskopie durch Prof. Dr. Henrik Schulz, FH Hildesheim (Analysenbericht 270301 vom 07.06.2001, Probe BF 2.3 SP1) sowie durch Prof. Dr. Christoph Herm, Hochschule der Bildenden Künste Dresden (Untersuchungsbericht Nr. 03/05 vom 19.01.2005, Probe BF Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.3 Schäden - 82 - Restaurierungsmaterialien eingebracht werden können, zerfallen in Oxalsäure, die mit Metallionen von Pigmenten oder Schmutz reagieren und graue Krusten bilden. Über bestimmten Farbpartien erscheinen diese Krusten dicker.263 Dieser Schadensbefund erlaubte eine vollständige Abnahme der grauen Schichten auf der Werktagsseite nicht, lediglich eine Reduzierung (Abb. 27). Das ursprüngliche Erscheinungsbild der Außenseite des Retabels muss man sich deshalb heller und farbiger vorstellen. Veränderungen von Farben und Blattmetallen Hierunter zählen sowohl die Veränderungen ursprünglicher Farbwirkungen von Metallauflagen und Farbschichten wie auch die dreidimensionalen Veränderungen im Oberflächenbild. Durchweg handelt es sich dabei um irreversible Alterserscheinungen, die auch nach der Restaurierung Bestand haben. Riss- und Schollenbildungen wurden oben schon beschrieben und im Zusammenhang mit den großflächigen Verlusten lokalisiert. Die ursprüngliche Glätte der Farboberfläche, auf der sich erhabene Farbeffekte stärker absetzten,264 ist damit in diesen Bereichen verloren. Zu der Veränderung ursprünglicher Farbwirkungen soll hier nur ein allgemeiner Überblick gegeben werden, die Rekonstruktion des Erstzustands wird so weit als möglich in der Beschreibung des technischen Aufbaus gegeben. Metallauflagen: Im Vergleich mit anderen Altarwerken dieses Alters befinden sich einige Silber- und Zwischgoldpartien noch in erstaunlich gutem Zustand. Hingewiesen sei auf die versilberte Rüstung des Soldaten am rechten Rand der Kreuzigung (Abb. 79 a) 4.3 S1). Schulz zu BF 2.3 SP1: „Kein Schwarzpigment,...gealterter Harz-Öl-Firnis“. Herm zu BF 4.3 S1: Das „IR-Spektrum ...enthält das Material Calciumoxalat und organisches Material, das sich durch Spektrenvergleich als Naturharz interpretieren lässt. Die Schärfe und Lage der Alkyl-Valenzschwingungen (2933,2859 cm-1) deutet weiter auf einen Anteil trocknender Öle hin...Bei dem Überzug handelt es sich wohl um einen stark gealterten Firnis aus Naturharz und Öl. Calciumoxalat wird durch anaeroben mikrobiellen Abbau von organischen Stoffen in Gegenwart von Calciumsalzen (z.B. Calciumcarbonat) gebildet.“ 263 Schmutz ist typischerweise reich an Calcium. „This highly insoluble crusts contain oxalate salts (especially calcium oxalate) but may also contain other materials such as calcium (and other metals) sulphates, carbonates, phosphates....They often seem to be thicker over areas containing certain pigments such as red lake, ultramarine and copper greens.” Marika Spring, Catherine Higgitt, Analyses Reconsidered: The Importance of the Pigment content of Paint in the Interpretation of the Results of Examination of Binding Media. In: Jileen Nadolny (Hg. ), Medieval Painting in Northern Europe. Techniques, Analysis, Art History. Festschrift Unn Plahter, London 2006, S. 226. Siehe auch: Nati Salvado u.a., Identification of reaction compounds in micrometric layers from gothic paintings using combined SRXRD and SR-FTIR, in: Talanta 79/2009, S: 419-428, online unter www.elsevier.com/locata/talanta. 264 Siehe Kap. 2.5.4, Plastische Effekte, S. 147f. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.3 Schäden - 83 - oder auf das Untergewand der Hl. Maria in der Heimsuchung mit blauem Brokatmuster auf Silber (Abb. 80) wie auch auf die Zwischgoldauflagen im Brokatgewand des Hauptmannes unter dem Kreuz. Andere Silberauflagen sind so stark korrodiert, dass es zu einer Umkehrung des Hell-Dunkel-Kontrastes kam. Hier ist der Schutzüberzug durch Alterung gebrochen oder durch Reinigungsmaßnahmen angegriffen, schädliche Umwelteinflüsse haben die Umwandlung in schwarzes Silbersulfid verursacht. Diese Farbumkehrung tritt heute eklatant in den Gewändern des Joachim in der Verkündigung an Joachim (BF 9), im Mariengewand der Geburt Christi (BF 23), im Kleid der Maria der Krönung (BF 27) in Erscheinung: Hier steht heute ein weißes Muster auf Schwarz (verschwärztem Silber), während ursprünglich das Silber gegenüber dem matten Weiß herausschillerte (Abb. 91). Im Gewand Joachims der Goldenen Pforte (BF 10), heute Blau auf verschwärzter Metallauflage, ist die ursprüngliche Farbwirkung ebenfalls schwer ablesbar (Abb. 95). Im Bildfeld der „Anbetung der Könige“, in dem die die Silberauflage in einem senkrechten Streifen am Gewandumschlag des knienden Königs korridiert ist, wird deutlich, welche Verschiebung des Tonwertes die Korrosion ausmacht (Abb. 198 b). Gravierender haben möglicherweise die Verbräunungen der ursprünglich farbigen und transparenten Überzüge auf den Metallauflagen zu einer Angleichung der Farbigkeit beigetragen. Am Beispiel der Verkündigungsszene auf dem linken Innenflügel unten rechts sei dies verdeutlicht: hinter den heute ähnlich bräunlich wirkenden Brokatimitationen des Engel- und des Mariengewandes sowie des Ehrentuches hinter Maria verbergen sich mehrere Korrosionsphänomene. Während das Ehrentuch silbern unterlegt und mit einem goldenen oder evtl. grünen Lack mit grünen Mustern versehen war, wird sich der Brokat der Maria auf Zwischgold mit wohl gelblichem Lack und rotem Muster ursprünglich möglicherweise im Komplementärkontrast abgesetzt haben. Heute sind die Metallauflagen durch Verschwärzung, die Lacke durch Verbräunung aneinander angeglichen und das Zinnoberrot ist im Bereich des Oberkörpers der Maria inzwischen ins Blaugraue umgewandelt (Abb. 96).265 Die Silberauflage im Bereich des Brokatgewandes des Verkündigungsengels wirkt im mikroskopischen Bild wie völlig verschwunden unter dem vermutlich verbräunten Lack, wurde also eventuell abgerieben und mit einem Der beobachtete Farbumschlag des Zinnober wurde durch die µRF-Analyse verifiziert (Messpunkt BF13 RF2). HERM 2006/3, S. 23. 265 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.3 Schäden - 84 - neuen Lack versehen (Abb. 97). Ursprünglich wird das Gewand kühl silbrig gewirkt und in bestimmtem Licht hell reflektiert haben im Gegensatz zu den aufgemalten deckend weißen, dann etwas dunkler wirkenden Mustern. Farbpartien: Auf den blauen Partien ist ein inzwischen verbräunter Überzug in die Malschicht eingedrungen, so dass z.B. die große Fläche des blauen Mariengewandes unter dem Gekreuzigten jetzt dunkel wirkt und an Modellierung verloren hat. Auch die verbräunten, teilweise borkigen Überzüge auf den grünen Partien, besonders der Vegetation, sind vermutlich als – wenn auch degenerierter – Originalbestand anzusehen, verdunkeln damit aber den ursprünglich satten Grünton. Die bereits erwähnte Verschwärzung oder Vergrauung des Zinnobers kommt in den Brokatmustern der Mariengewänder in Tempelgang, Vermählung und Verkündigung auf dem linken Innenflügel wie auch im Priestergewand der Darbringung im Tempel auf dem rechten Innenflügel sowie auf der Werktagsseite vor. Insgesamt werden die Veränderungen der Farben und Metallauflagen die Farbkomposition auf der Festtagsseite stärker verschoben haben als auf allen anderen Schauseiten. Auf der Sonntagsseite nehmen die gelüsterten Brokatgewänder einen untergeordneteren Platz ein. Allerdings werden die Untergewänder des Petrus (BF 5 links), des Andreas (BF 6 links), des Matthäus (BF 7 Mitte) und des Matthias (BF 8 rechts) ursprünglich um Einiges heller erschienen sein (Abb. 2). Die Veränderung der Farbwirkung auf der Außenseite beruht vor allem auf den nicht entfernbaren grauen Schichten. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.4 Restaurierung 1999-2005 - 85 - 2.4 Konservierung und Restaurierung 1999-2005 Der mangelhafte Erhaltungszustand von Fassung und Statik des Altarwerks sowie die Grundinstandsetzung des Gebäudes des Niedersächsischen Landesmuseums gaben den Anstoß zu dem umfangreichen, unter der Leitung der Autorin von 1999 bis 2005 durchgeführten Projekt zur „Konservierung, Restaurierung und Erforschung des Göttinger Barfüßer-Altars von 1424“. Auf der Basis der 1997 in Zusammenhang mit einer Notsicherung erstellten ersten Bestandsaufnahme hatte die Autorin zwei alternative Konzeptionen mit Kostenkalkulation und Projektantrag erarbeitet: (1) die reine Konservierung mit ästhetischer Korrektur verfärbter älterer Retuschen und (2) eine umfassende Konservierung und Restaurierung. Weil das Göttinger Barfüßerretabel Teil der herausragenden Sammlung mittelalterlicher Kunstwerke aus dem frühen 15. Jahrhundert im Niedersächsischen Landesmuseum ist, war das Konzept für seine konservatorischrestauratorische Behandlung im Kontext dieser Sammlung zu entwickeln, so verwandt die Aufgabenstellung auch mit den von der Denkmalpflege andernorts realisierten Altarrestaurierungsprojekten im Kirchenraum ist.265 Dies schlug sich auch in der Struktur des Projektes, in der Leitung durch die Leitende Restauratorin der Landesgalerie und in der Zusammensetzung der begleitenden Kommission nieder.266 Trotz des höheren Organisationsaufwandes wurde letztendlich die Entwicklung eines Museumsprojektes der Auftragvergabe an ein Team freiberuflicher Restauratoren vorgezogen. Angesichts der unbefriedigenden Ergänzungen und starken Veränderungen der Retuschen wurde die „Große Maßnahme“ (2) bewilligt. Die Schätzung lag hier bei 16 „Mannjahren“, aus arbeitsökonomischen Gründen aufgeteilt auf vier Mitarbeiter und vier Jahre, und bei einer Summe von 2 Millionen DM für Sach- und Personalkosten. Das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur übernahm die Gesamtkosten von 1,2 Mill. Euro, im ersten Schritt mit ca. 70% dieser Kosten für die Schadensaufnahme, Konservierung und Restaurierung aus dem Kulturetat und nach einem ergänzenden Forschungsantrag ab 2003 mit Mitteln der Forschungsförderung. 265 Siehe Kap. 1.2, S. 12 und Anm. 15. Genauere Angaben zu Projektablauf und -struktur werden nachzulesen sein bei B. Hartwieg, Das Projekt „Konservierung, Restaurierung und Erforschung des Göttinger Barfüßeraltars von 1424“, in: Kolloquiumsband, erscheint in der Reihe der Niederdeutschen Beiträge zur Kunstgeschichte, in Vorbereitung. 266 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.4 Restaurierung 1999-2005 - 86 - Im Vordergrund standen aufwändige konservatorische und restauratorische Maßnahmen mit folgenden Zielen: 1. die Sicherung der Malschichten auf einer Fläche von ca. 60 m² originaler detaillierter Malerei, 2. die Wiedergewinnung einer ästhetischen Gesamterscheinung von Malerei und Rahmenfassung, 3. die Schließung oder Ergänzung großer Fehlstellen, 4. die statische Sicherung von Mitteltafel und Flügeln, wenn möglich und konservatorisch vertretbar verbunden mit der Wiedergewinnung der Wandelbarkeit des Flügelaltars sowie 5. eine Verbesserung der Präsentation. Die kunsttechnologischen Untersuchungen konnten zunächst nur insoweit ausgeführt werden, wie sie für die genaue Festlegung des konservatorischen und restauratorischen Konzeptes erforderlich waren. Erst mit der Bewilligung der Forschungsmittel waren weitere Untersuchungen – IR-, Röntgenuntersuchungen, weitere Analysen – möglich. Allerdings mussten auch sie exemplarisch bleiben.267 Weitere Untersuchungen zu im Rahmen dieser Arbeit aufgeworfenen Fragestellungen wurden von der Autorin noch nach Abschluss des Projektes durchgeführt. Die enormen Ausmaße des Altarretabels bedeuteten bei der Schadensaufnahme, der konservatorisch-restauratorischen Behandlung und der Untersuchung eine besondere Herausforderung. Die enge Zusammengehörigkeit der Teile des Retabels, seine doppelseitige Bemalung und die konservatorische Notwendigkeit, die Transporte auf ein Minimum zu beschränken, erforderten ein Höchstmaß an Abstimmung der Arbeiten der einzelnen Projektmitarbeiter. Kurz zusammengefasst hat das Projekt folgende herausragende Ergebnisse gebracht:268 (1) Durch die Abnahme von Überzügen und zu harten Kittungen wurden erst eine gründliche Malschichtfestigung und teilweise Wiederbefestigung der Leinwandbeklebung möglich, die die Erhaltung des Altarretabels für die nächsten Jahrzehnte sicherstellen sollte. 267 Zu den vordringlich behandelten Fragestellungen siehe Kap. 1.6, S. 34. Eine ausführliche Darstellung der durchgeführten Maßnahmen mit Angabe verwendeter Materialien wird veröffentlicht werden: Viola Bothmann, Babette Hartwieg, Die Maßnahmen. Konservierung, Restaurierung und Neupräsentation, in: Kolloquiumsband, erscheint in der Reihe der Niederdeutschen Beiträge zur Kunstgeschichte, in Vorbereitung. 268 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.4 Restaurierung 1999-2005 - 87 - (2) Es gelang die ganzflächige Abnahme mehrerer Firnisschichten aus dem 20. Jahrhundert sowie zweier im 19. Jahrhundert bewusst aufgebrachter grauer Patinierungen. Wie sehr die beiden grauen Patinierungsschichten die urspünglichen Farbvaleurs verändert hatten, wurde erst während ihrer Abnahme ersichtlich (Abb. 27, 28). Auf der Werktagsseite ließen sich die grauen Schichten allerdings nur reduzieren.269 Eine darunter liegende Firnisschicht vom Anfang des 19. Jahrhunderts konnte als Schutz- und „Leitschicht“ auf der originalen Farboberfläche erhalten werden. Damit ließ sich das zurückhaltende Konzept einer „Firnisreduzierung“ verwirklichen, das die Geschichte des Altarretabels und seiner Alterserscheinungen respektiert.270 (3) Der Wiedergewinnung eines ästhetischen Gesamterscheinungsbildes dienten – neben der Reduzierung der Überzüge – auch die Abnahme verfärbter Retuschen und Übermalungen sowie unregelmäßiger, teilweise gelockerter, teilweise über die Originalfassung reichender älterer Kittungen. Erst die Anpassung neuer Kittungen an die vorgegebene Oberflächenstruktur und vor allem die Retusche fügten das Erscheinungsbild wieder optisch zusammen. Die Retuschen erhielten eine Strichstruktur, die der unterschiedlich feinen Ausführung von Werktags- und Sonntagsseite einerseits und der Festtagsseite andererseits Rechnung trägt. Diese Struktur macht die Fehlstellen im nahen Betrachterabstand erkennbar. Ergänzungen wurden nur so weit vorgenommen wie wissenschaftlich vertretbar, ohne Neuinterpretationen zu versuchen. Einen wesentlichen Beitrag zur Annäherung an den früheren Zustand des Retabels lieferte darüber hinaus die Behandlung der Rahmenfassung auf der Festtagsseite. Die von nachgedunkelten Bronzierungen vollkommen überdeckte Originalvergoldung auf den seitlichen Rahmensegmenten der Mitteltafel und dem Rahmen des linken Innenflügels wurde freigelegt (Abb. 24), die ergänzten Rahmensegmente stupfend überretuschiert sowie eine abstrakt gehaltene Ergänzung goldener Zierleisten zwischen den Bildfeldern aufgesetzt (Abb. 12). Erst mit diesen Maßnahmen ist die ursprüngliche Einheit von Goldhintergründen, Rahmen und Zierleisten wieder erfahrbar. (4) Für die Ergänzung der großen Fehlstellen in den Bildfeldern „Marientod“ und „Marienkrönung“ im inneren Zustand sowie im Gewand des Hl. Philippus im mittleren 269 270 Erläuterungen siehe oben Kap. 2.3, S. 81. Zu Begriffen und Methoden der Firnisabnahme genauer: HARTWIEG 2010. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.4 Restaurierung 1999-2005 - 88 - Zustand wurde nach Diskussion vieler Ergänzungsmodelle eine sehr abstrakte Lösung gewählt. Sie besteht in einem durch verschieden farbige, senkrechte Strichlagen erzeugten ocker-goldenen Ton im Inneren (Abb. 13) und einem braun-rosa Farbton auf der Apostelseite (Abb. 9). Alle Versuche, den Besuchern mit Umrisslinien oder differenzierteren Farbflächen eine „Lesehilfe“ zu geben, mussten angesichts zu spekulativer Linienführungen verworfen werden. Lediglich die in ihrer Linienführung ganz eindeutige rahmende Säule neben dem Hl. Philippus wurde ergänzt. (5) Das ehrgeizige Ziel, die Wandelbarkeit der Flügel ohne Eingriff in die Originalsubstanz wieder herzustellen, ist durch die Entwicklung eines völlig neuen Verfahrens gelungen.271 Nur die originalen Scharnierbolzen wurden in ihrer Funktion aufgegeben und ausgetauscht gegen dünnere neue Stahlstifte. Damit war in den Scharnieraugen ausreichend Platz vorhanden, um Metallhülsen auf neu definierte Drehachsen „aufzufädeln“. In einer Art „Stahlbeton“-Verbund wurden die Hülsen mit einem Kalkmörtel in die alten Scharnieraugen eingeklebt und mit Epoxidharzbrücken zusätzlich abgesichert.272 Dieses Verfahren ist ohne Vorläufer und kann für andere Altarprojekte in der Denkmalpflege beispielgebend sein. Damit konnte auf die Zerlegung des Retabels, Aufgabe einer Schauseite und separate feste Aufstellung eines Flügelpaars – ähnlich der Aufstellung des ebenfalls doppelt wandelbaren “Isenheimer Altar” von Grünewald in Colmar – verzichtet werden. Es ist nun möglich, die Wandlungen in regelmäßigen Abständen im Museum zu vollziehen und den Museumsbesuchern alle drei Schauseiten in an das Kirchenjahr angelehnten Zeitabschnitten zu präsentieren (Abb. 4). Im Ruhezustand werden die Flügel zusätzlich von unten gestützt und über Wandanker auch oben gehalten (Abb. 3). (6) Das Konzept der Neupräsentation beinhaltete einerseits eine neue Gestaltung von Sockel und Predella, andererseits eine ausführlichere Besucherinformation. Ein Predellenkasten wurde zur Aufnahme der Predellenfragmente wie auch zur Verklei271 Das Verfahren wurde in Zusammenarbeit mit Dr. Ing. Norbert Bergmann, Pfaffenhofen, und bei den Klebemitteltests mit Prof. Dr. Erwin Stadlbauer, Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege Hannover entwickelt. Genauer wird dies nachzulesen sein bei Babette Hartwieg, Harald Theiss, Die statischen Mängel und die Wiederherstellung der Wandelbarkeit, in: Kolloquiumsband, erscheint in der Reihe der Niederdeutschen Beiträge zur Kunstgeschichte, in Vorbereitung. 272 LedanTC 1 plus, hydraulische Kalk-Zementmischung für die Festigung von Mauerwerk und Putz und Epoxidharz Pattex Stabilit Express. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.4 Restaurierung 1999-2005 - 89 - dung der Spindeln benötigt, die zur Unterstützung der Flügel im geschlossenen und mittleren Zustand bedient werden müssen. Die Entwicklung der Form in seinen Ausmaßen und seiner Profilierung basiert auf den Vergleichen mit erhaltenen zeitgenössischen Predellen (s. Tab. B.1, S. 177 und B.2, S. 178), vor allem aber auf der Formgebung der Predella des Göttinger Jacobikirchenaltars von 1402. Für die Gestaltung des neuen Predellenkastens galt dasselbe Prinzip wie bei der Rekonstruktion der Zierleisten: Wegen der mangelnden Kenntnis der ursprünglichen Farbfassung sollte eine Differenzierung des Erscheinungsbildes nicht durch Farbe sondern nur durch die architektonische Gliederung erreicht werden. An der durchgehenden Front, an deren Enden die Fragmente eingeschoben sind, wurde die Mitte mit zwei Fugen eines herausnehmbaren Brettes herausgehoben (Abb. 3). Damit sollte dem Publikum die Gewissheit einer ursprünglich betonten Mitte – ob Sakramentsnische oder Figur273 – vermittelt und zugleich ein Fach für die Bedienung der Spindeln geschaffen werden. Die graubraune Farbfassung des neuen Predellenkastens nimmt auf die Dominanz der Rottöne, die Rahmenfassungen der äußeren beiden Schauseiten sowie auf die Farbgebung der Ergänzung auf der Sonntagsseite Bezug (Abb. 2). Der Wunsch des Museums nach einer Multimediapräsentation hat das Projekt von Beginn an begleitet. Er hat auf den Dokumentationsstandard der Zustandsaufnahmen Einfluss genommen und die filmische Begleitung der Restaurierungsarbeiten in Liveaufnahmen veranlasst. Von dem geplanten umfassenden multimedialen Informationsangebot, das unter anderem eine Zoomfunktion bis in kleinste Bilddetails mit ikonografischen Erläuterungen, eine virtuelle Rekonstruktion der 1820 abgerissenen Göttinger Barfüßerkirche enthalten sowie – konservatorisch sehr befürwortet – die virtuelle Wandlung der zwei Flügelpaare per Mausklick ermöglichen sollte, wurde nur die Dokumentation des Restaurierungsprojekts realisiert.274 Sie kann seit 2007 auf einem vor dem Altarretabel aufgestellten Besucherterminal von den Besuchern abgerufen werden. 273 Rekonstruktionsmöglichkeiten siehe die Vergleiche in Kap. 3.1, S. 172 ff.. Unter der Leitung von Prof. Ulrich Plank entwickelten Dozenten und Studierende des Instituts für Medienforschung (IMF) der HfBK Braunschweig die Multimediapräsentation. Das Learning Lab Lower Saxony (L3S) förderte das Projekt unter dem Titel „Digitales Kulturerbe“ von 2001 bis 2003. Konzeption und Organisation der Filmarbeiten während der Restaurierung, Auswahl des Filmmaterials: B. Hartwieg; Kameramann und Filmschnitt: Heiko Hoppe, Sprechertexte: Karin Leopold, B. Hartwieg; Programmierung: Peter Werner. 274 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 90 - Technischer Aufbau 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion Das Göttinger Barfüßerretabel besteht aus einer fest stehenden Mitteltafel mit je zwei beidseitig bemalten Flügeln zu beiden Seiten. Sie konnten den liturgischen Erfordernissen entsprechend gewandelt werden, so dass sich drei verschiedene Ansichtsseiten ergaben. Durch die Beschränkung auf Malerei und Vergoldung wurde kein Bildschnitzer und nur eine wenig anspruchsvolle Schreinerarbeit benötigt. Das Retabel weist eine einfache Konstruktion aus fünf in Nutrahmen gefassten großen Bildtafeln auf. Hinweise auf eine Bekrönung gibt es weder auf der Oberseite der Mitteltafel noch der Flügel. Für die Retabelgestalt ist damit eine einfache Kastenform mit geradem oberen Abschluss ohne Blatt- oder Palmettenranken belegt. Für den Besucher der Barfüßerkirche, dem der Zutritt hinter den Lettner in den schmalen hochaufragenden Chorraum mit 5/8-Apsis gestattet war, war damit bei geöffnetem Zustand des Retabels der Blick auf drei hohe Maßwerkfenster hinter der Mitteltafel und je ein Fenster hinter den Flügeln freigegeben.275 Maße Das Retabel beeindruckt noch heute durch seine Größe. Im geöffneten Zustand hat es eine Breite von 7,88 m. Die Höhe der Flügel ist ca. 3,05 m.276 Mit der ursprünglichen Predella – von deren Gestalt und Größe noch die Rede sein wird – wird man von einer Höhe von ca. 365 cm ausgehen müssen. Das Retabel ist damit wesentlich größer als die etwa 20 Jahre älteren Vorgängeraltäre aus Wildungen von Conrad von Soest und aus St. Jacobi in Göttingen und steht dem fast hundert Jahre späteren Isenheimer Altar von Grünewald in Colmar von seinen Ausmaßen her nicht nach.277 Am ursprünglichen Ort auf dem Hochaltar der Barfüßerkirche muss man eine Gesamthöhe von etwa 5 m 275 Beckermann et. al. beschreiben den Kirchenbau nach den überlieferten Quellen als typische Bettelordenskirche mit 47 m Länge, 14,3 m Breite und 25,4 m Höhe. Wolfgang Beckermann, Doris Köther, Eva Schlotheuber, Ein Rundgang durch das Göttinger Franziskanerkloster. In: AUSST.KAT. GÖTTINGEN 1994, S.26. Vergleich auch die virtuelle 3D-Rekonstruktion der Barfüßerkirche auf der Grundlage überlieferter Pläne durch die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig im Rahmen des Learning Lab Lower Saxony. Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur (Hg.), Designtransfer an niedersächsischen Hochschulen, Hannover Dezember 2002, S. 28-29. 276 Genaue Maße siehe Kap. 2.1, Seite 44. 277 Wildunger Altar (1403) Maße siehe Einführung Anm. 21, Göttinger Jacobikirchenaltar (1402) Mittelschrein Höhe 265 cm, Breite 350 cm, Flügel Breite 173-174 cm, Breite im geöffneten Zustand ca. 700 cm, Höhe mit Predella 325 cm; Isenheimer Altar von Grünewald (um 1512-1516) im geöffneten Zustand bei rekonstruierten Rahmenschenkeln, Höhe ca. 310 cm, Breite knapp über 7 m, siehe Kap. 1.4, S. 16, Anm. 25. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 91 - annehmen, rechnet man die Höhe der Aufstellung hinzu. Die Position des Klappaltars ist sicher höher anzusetzen als in der heutigen Ausstellung im Mittelalter-saal des Niedersächsischen Landesmuseums möglich. Betrachtet man die Maße genauer, so fällt die annähernde Übereinstimmung der Flügelbreiten von 191,7 bis 193,5 cm mit dem mittelalterlichen Maß eines Lachters, ca. 192 cm, auf (Abb. 30).278 Wenn auch keine entsprechenden Archivalien überliefert sind, so ist doch gut vorstellbar, dass der Auftrag an die Schreiner- und Malerwerkstatt oder an einen Generalunternehmer über die Herstellung eines vier Lachter breiten Altarwerks erging. Aus den Maßen des Barfüßerretabels ließ sich der Gebrauch weiterer damals üblicher Längeneinheiten nicht eindeutig ableiten.279 Verwendetes Holz Mitteltafel, Innenflügel und alle Rahmen sind aus Eichenholz gefertigt. 280 Die Tafeln der mit nur rund 6 cm dicken Eichenholzschenkeln gerahmten Außenflügel hingegen bestehen aus Fichtenholz. Erst die Freilegung der überkitteten und übermalten Malränder und die anschließende Holzanalyse ermöglichten diesen Befund für die Außenflügel.281 Auch das für die Predellenfragmente verwendete Holz war als Fichtenholz zu bestimmen.282 Die Annahme, dass das Retabel ganz aus Eichenholz bestehe, ist damit genauso zu revidieren wie die Angabe, es handele sich bei Predella bzw. Außenflügeln 278 Ein Lachter ist ein bergmännisches Längen- bzw. Tiefenmaß, Lachtermaße lagen in Braunschweig und Hannover gleichermaßen bei 1,9198 cm, in Clausthal bei 1,9238 cm. Es ist das Maß, das ein Mann mit ausgestreckten Armen „umklaftern“ konnte. Ein Lachter ist in der Regel etwas größer als ein Klafter (= 6 Fuß, = 1,7526 cm in Hannover); Helmut Kahnt/Bernd Knorr, Alte Maße, Münzen und Gewichte, Mannheim 1987 und Richard Klimpert, Lexikon der Münzen, Maße, Gewichte, Zählarten und Zeitgrößen aller Länder der Erde, unveränderter Nachdruck Graz 1972. 279 Die Verwendung des Fuß-Maßes war sehr geläufig. Für die 1290 bis 1306 erbaute Barfüßerkirche ist eine Länge von 160 Fuß und eine Breite von 47 Fuß überliefert. (ZAHLTEN 1985, Bd. 4, S. 398). Nach Kahnt /Knorr 1987, wie Anm. 278, betrug das Fußmaß im welfischen Lande in Braunschweig 28,54 cm, in Hannover 29,21 cm, in Hildesheim 28,02 cm. Verdenhalven nennt als vor 1836 in Hannover gebräuchliches Fußmaß 29,1 cm, in Kalenberg 29,3cm; vgl. Fritz Verdenhalven, Alte Maße, Münzen und Gewichte aus dem deutschen Sprachgebiet., Neustadt an der Aisch 1968. Recherchen im Göttinger Stadtarchiv erbrachten keine Gewissheit über das in Göttingen um 1420 gültige Fußmaß. Nach dem hannoverschen Fußmaß könnte die Predella ungefähr die Höhe von 2 Fuß=58,2 cm gehabt haben. 280 makroskopischer Befund 281 Fichte (picea abies), Holzartenbestimmung von Romy König, HAWK Hildesheim, erstellt, siehe Bericht v. Mai 2003. 282 Fichte (picea sp.), Holzartenbestimmung von Dr. Peter Klein, Universität Hamburg, Ordinariat für Holzbiologie, erstellt; s. Bericht v. 30.11.2001. WOLFSON 1992, S. 105 nennt für die Predellentafeln Kiefernholz. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 92 - um Kiefernholz.283 Letzteres kommt in der Umgebung von Göttingen nicht vor und wäre dann als Importware anzusehen. Hatte die andersartige Holzart der Predellenfragmente zuweilen den Zweifel an ihrer Zugehörigkeit zum Barfüßerretabel genährt, so wissen wir heute, dass der Wechsel der Holzarten durchaus gebräuchlich war. 284 Am riesigen Göttinger Barfüßerretabel hatte die Wahl des leichteren Nadelholzes für die Außenflügel gewiss statische Gründe. Die Nadelholztafeln haben eine Stärke von unter 20 mm und sind zu den Rändern hin bis auf ca. 14 mm abgefast, während die Eichenholztafeln der Innenflügel und der Mitteltafel etwa 30 mm dick und ebenfalls zu den Rahmennuten hin leicht abgeschrägt sind. Die Innenflügel aus Eichenholz mit ihren 16,5-17,5 cm breiten Rahmenprofilen (Abb. 37) haben ein Gewicht von fast 300 kg, die Außen-flügel dagegen nur von ca. 100 kg.285 Dendrochronologische Untersuchungen ließen sich weder an den Nadelholz- noch an den Eichenholztafeln durchführen: an den Predellenfragmenten, weil die Zahl der Jahrringe nicht ausreichte, an den großen Bildtafeln, weil die Hirnholzkanten durch die Rahmung nicht zugänglich waren. Sie hätten uns über die Herkunft des Eichenholzes aufklären können. Da Bretter in sehr uneinheitlichen Breiten vorkommen, kann man aber davon ausgehen, dass das normierte qualitätvolle Wagenschott, das in dieser Zeit in der Regel Importware aus dem Baltikum war, nicht verwendet wurde.286 Auch waren an den Brettfugen keine auffälligen Stufen durch unterschiedliche Brettstärken zu erkennen, die bei der Verwendung von konzentrischem Spaltholz und WagenschottHolz typisch sind.287 Hier handelt es sich um Sägeschnittware. Beim Fichtenholz legt 283 Behrens ging aufgrund eines Befundes von Restaurator Redemann davon aus, dass das Retabel ganz aus Eichenholz geschaffen wurde, auch die Predellentafeln, die er aber eher als unabhängige Werke aus der Hand des Barfüßer-Meisters erst unter „Werkstatt-Umkreis“ erwähnt; BEHRENS 1939, S. xx. Wolfson übernimmt Eichenholz für Mitteltafel und Flügel; WOLFSON 1992, S. 105. Der Bestandskatalog von 1930 besagte allerdings noch „Die äußeren Flügel Kiefernholz“; BEST.KAT. HANNOVER 1930, S. 130. Diese Angaben lassen Rückschlüsse auf die Restauriergeschichte zu, insbesondere auf den Zeitpunkt, zu dem die Malränder überkittet wurden; siehe Kap 2.2 S. 66. 284 Am dem Barfüßer-Meister zugeschriebenen „Kindheit Jesu“-Altar in Offensen von 1418-22 bestehen die Flügel ebenfalls aus in Eichenholzrahmen gefassten Nadelholzbrettern. SAALBACH 2003 S. 37 285 Maße und Gewichte s. oben Kap. 2.1, S. 44. 286 Siehe Michael Rief, Eingekerbte Hausmarken auf baltischen Wagenschott-Brettern des 14.-16. Jahrhunderts. In: ZS für Kunsttechnologie und Konservierung 20/2006 Heft 2, S. 309-324. Diese wurde auch beim Goschoff Altar des Brüggemann verwendet, siehe Bernd Bünsche, Das Goschoff-Retabel in Schleswig. Ein Werk des Hans Brüggemann. Diss. TU Berlin, Kiel 2005; 287 Zur Praxis des Spaltens der frischen Baumstämme entlang der Markstrahlen vgl. ausführlicher TÅNGEBERG 2000, S. 204 ff. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 93 - das geringe Vorkommen von Fichtenwäldern im Mittelalter die Herkunft aus dem Harz und damit aus der unmittelbaren Umgebung Göttingens nahe.288 Aussagen über die Qualität des Holzes wie auch über die Bearbeitung der Oberflächen lassen sich nur eingeschränkt treffen, da die Flügel allseitig gefasst sind, die Rückseite der Mitteltafel schwer zugänglich blieb und mit einer weißen Schlämme überdeckt ist. Nur wenige Äste sind, der Untersuchung mit Spiegeln und Endoskop zufolge 289, an der Rückseite der Mitteltafel erkennbar. Größere Äste oder Unregelmäßigkeiten im Holz wurden hier ausgestochen und mit eckigen Intarsien ausgesetzt (Abb. 31). Am linken Innenflügel zeigt das exemplarische Röntgenfoto allerdings breite, ausgespänte Risse und einen dicken Ast (Abb. 32 a, b). Am linken Predellenfragment hat ein großer, belassener Ast auch einen Schaden an kritischer Stelle an der Stirn der Hl. Elisabeth verursacht (Abb. 33). An den Rahmen sind mehrere eckige Löcher auffällig, die wahrscheinlich von originalen Ausbesserungen oder von Montagen stammen. Am rechten senkrechten Rahmenschenkel der Mitteltafel ist eine rechteckige Aussparung ausgebrochen und ein Dübelloch zu sehen. Vermutlich handelt es sich auch hier um eine originale Holzaussetzung in der Form einer bei Steinmetzarbeiten so genannten „Vierung“, die verloren ging. Konstruktion Egal ob aus Eiche oder Fichte gefertigt, die vier Flügel sind jeweils aus je 7 bis 8 sehr unterschiedlich breiten, senkrechten Brettern zusammengesetzt. Sowohl bei den Eichenwie auch bei den Fichtentafeln kommen sich extrem nach oben oder unten verjüngende Bretter vor (Abb. 30). Es überrascht, dass an der dem Scharnier abgewandten Seite des rechten Innenflügels noch ein ganz schmales Brett von etwa 4 cm festzustellen ist.290 Dies spricht dafür, dass die Bretter zunächst verleimt und dann auf Maß beschnitten 288 Werner Kaemling, Atlas zur Geschichte Niedersachsens, Braunschweig 1987, Karte über Nadelholzanteil im Mittelalter, S. 116. 289 Endoskop siehe Kap. 1.5, S. 38. Die Befundnahme und Kartierung der Rückseite der Mitteltafel übernahmen Karin Leopold und Viola Bothmann. 290 Die Außenflügel bestehen aus je 7 Nadelholzbrettern von 7,8 bis 45,2 cm Breite, wobei das breiteste Brett nach obenhin auf nur 38,8 cm konisch zuläuft, vermutlich entsprechend der Wuchsrichtung. Die Innenflügel sind aus je 8 Eichenholzbrettern mit Breiten von ca. 4 bis 39 cm zusammengesetzt. Hier finden sich ebenfalls zwei gegeneinander gesetzte extrem konisch zulaufende Bretter (Brett A unten 33,2/oben 24 cm, Brett B unten 13,4/oben 22,6 cm). Das schmale Seitenbrett lässt sich nicht genau vermessen, weil es unten über eine Breite von 2,6 cm zu sehen ist, darüber hinaus aber noch etwas in den Falz hineinragt. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 94 - wurden. Die Mitteltafel besteht aus 13 senkrechten Brettern mit etwas größeren und gleichmäßigeren Breiten (Abb. 31).291 Möglicherweise wurden etwas qualitätvollere Eichenholzbohlen für die Mitteltafel als für die Flügel verwendet. Wie die Röntgenfotos erkennen lassen, sind die Bretter auf Stoß zusammengesetzt und mit Dübeln von mehr als 10 cm Länge und 0,9 bis 1,5 cm im Durchmesser verbunden. Die Dübel sind nicht sehr dicht und unregelmäßig gesetzt, auf einem 80 cm hohen Röntgenfoto einer Fuge ist nur ein Dübel zu sehen. Wegen der tiefen Bohrlöcher scheinen sie von Brettkante zu Brettkante oder Fuge zu Fuge gegeneinander versetzt. An der nah an einer Fuge verlaufenden Sägefuge links des Kalvarienberges sind Dübellöcher aufgeschnitten und in unregelmäßigen Abständen auszumachen. Ob die Dübel ganz, nur zur Hälfte oder gar nicht verleimt waren, ließ sich nicht feststellen.292 Den Röntgenfotos zufolge haben die Eichentafeln in die Rahmennute eingeschobene Malränder von ca. 2,5 bis 3,5 cm, die Nadelholztafeln der Außenflügel jedoch nur von ca. 1,5 bis 2 cm. Da die von Grundiergrat zu Grundiergrat zu ermittelnden Bildmaße auf den Außenflügeln aber etwas größer sind, kommt man wieder auf etwa übereinstimmende Tafelgrößen.293 Die Eichenholzbretter stehen heute relativ plan. Über den Schnitt aus dem Stamm lässt sich allerdings nichts sagen, weil die Hirnholzkanten verdeckt sind. Die Nadelholzbretter der dünnen Außenflügel dagegen haben sich stärker verwölbt und mit ihrer überwiegend zur Sonntagsseite hin konkaven Verwölbung die Rahmennut gesprengt. Dieser Befund lässt vermuten, dass die Kernseiten der tangential geschnittenen Bretter mehrheitlich nach außen, also zur Werktagsseite hin zeigen. Zur Stabilisierung der großen Mitteltafel sind an ihrer Rückseite fünf, 10 bis 16 cm breite und 6,5 bis 8,5 cm dicke Querbalken aus Eichenholz in regelmäßigen Abständen von 55 bis 66 cm (ca. zwei Fuß) aufgesetzt. Der untere, mittlere und obere Balken ist offensichtlich mit jedem einzelnen Brett verdübelt, der zweite und vierte Balken dagegen nur an 5 bis 6 Dübelpunkten (Abb. 31). An den beiden oberen Ecken der Tafel, in den Bildfeldern mit den Heiligen Franziskus und Georg, wurden sogar je drei Dübel Brettbreiten zwischen 14,7 und 43,3 cm. Bünsche weist darauf hin, dass Dübel häufig nur in eine Brettseite eingeleimt wurden. Bernd Bünsche, Fugensicherung und Stabilisierung an mittelalterlichen Holztafelbildern. In Beiträge zur Erhaltung von Kunstwerken 2/1984, Berlin/DDR, S. 71. 293 Höhe der Bildfläche auf den Innenflügeln: 276-277 cm, zuzüglich Malränder 281-284 cm. Bildmaße auf den Außenflügeln ca. 280,5 cm, zuzüglich Malränder 283,5-284,5 cm. 291 292 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 95 - dicht nebeneinander gesetzt. Die Dübel aus Eiche haben einen Durchmesser von meist 2 bis 2,5 cm (gemessen 1,2 bis 3,4 cm) und reichen von der Tafelvorderseite bis zur Balkenrückseite. Auf diese Weise waren die Bohrungen leichter herzustellen. Sie zeichnen sich heute durch Risse in der Malschicht oder aufgrund des unterschiedlichen Trocknungsschwunds des Holzes in Längs- und Radialrichtung teilweise auch erhaben ab (Abb. 34).294 Es ist davon auszugehen, dass die mit Querbalken stabilisierte Mitteltafel zunächst gerahmt, bemalt und geliefert wurde, bevor beim Aufbau in der Kirche vor Ort Aussparungen in die Querleisten geschnitten wurden, um ein Ständerwerk vertieft einsetzen zu können. Diese Konstruktion wird weiter unten beschrieben. Die beiden Predellenfragmente stammen wahrscheinlich aus einem einzigen, tangential geschnittenen Brett mit waagerechtem Faserverlauf oder zumindest aus angrenzenden Brettern aus einem Baumstamm. Der charakteristische Maserungsverlauf und der Schnitt aus dem Stamm sprechen dafür. Betrachtet man den Markverlauf auf den Rückseiten und Röntgenfotos, dann müssen die beiden Fragmente weit auseinander liegende Positionen in diesem Brett eingenommen haben. Das Mark liegt nämlich am rechten Fragment etwa 6 cm höher als am linken, so dass ein leicht diagonaler Verlauf des Kerns zu rekonstruieren ist (Abb. 36 a,b). Die Hirnholzkanten zeigen, dass die Predellentafeln kernseitig bemalt worden sind, wie es einer alten Schreinerregel entspricht. 295 Reste eines Grundiergrates an der Oberkante des linken Fragmentes belegen die ursprüngliche Einfassung des vorderseitigen Predellenbrettes mit einem genuteten Deckbrett oder Rahmenschenkel, zumindest an der Oberkante. Hier ging man bisher von einer dem Musterband am unteren Rand entsprechenden „gemalten Rahmenleiste“ aus.296 An den Unterkanten sind die Tafeln einschließlich der Malränder beschnitten. Nur am linken Fragment ist ein kurzer, ins Holz geschnittener Ansatz der seitlich ausgebildeten Schweifung verblieben. Diese technischen Befunde sind hinsichtlich der Art der ursprünglichen Schreinkastenkonstruktion und gestalt für sich genommen wenig aussagefähig. 294 Die Dübel zeigen sich in Abständen von 55 – 67 cm übereinander, 2 niederländische Fuß sind 62,5 cm. Die kernseitige Bemalung findet man an vielen italienischen Pappelholztafeln, vgl. B. Hartwieg, Cennino Cennini. S. 82, Ausnahme Anm. 7. 296 So A. Dorner (BEST.KAT. HANNOVER 1930, S. 132) und bei G. von der Osten übernommen (BEST.KAT. HANNOVER 1954, S. 89). 295 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 96 - Rahmen Die großen Holztafeln sind in einfachen Rahmenkonstruktionen aus Eichenholz eingefasst. Die ca. 5,5 x 12,5 cm dicken Rahmenschenkel der Außenflügel haben innen lediglich eine flache Kehle (Abb. 37). Einfache Nut-und-Feder-Verbindungen an den Ecken sind mit jeweils zwei, 11 mm dicken Dübeln fixiert. Die an den waagerechten Zargen sitzenden Federn sind entsprechend der Tiefe der inneren Rahmennut um ca. 20 mm schmaler und wie Zinken leicht konisch ausgearbeitet (Abb. 39). Die beiden ca. 13,5 cm breiten Querleisten, die auf den Außenseiten der Außenflügel die Bildfelder teilen und die Inschrift tragen, sind mit dicht gesetzten, ebenso dicken Dübeln so auf den Nadelholztafeln befestigt, dass sich die Dübel in den Kehlen des Profils und auf den Bildflächen der Apostelseite abzeichnen.297 Die Rahmenprofile der Mitteltafel und Innenflügel sind aus ca. 14 x 17,5 cm dicken Eichenholzbalken herausgearbeitet. Die Kehle zur Sonntagsseite fällt etwas tiefer aus als an den Außenflügeln. Zur Festtagsseite ist das Profil reich gegliedert und bietet dem Licht viele verschiedene Reflexionsflächen und -kanten. Neben der Platte sind an der Schräge nach innen zwei, jeweils von Fasen gesäumte Halbrundstäbe ausgebildet, die eine flache Kehle einfassen (Abb. 37). Im Vergleich mit dem Hochaltarretabel aus St. Petri von Meister Bertram (1383) oder der Goldenen Tafel aus St. Michael zu Lüneburg (um 1400) und ihren für die geschnitzte innere Schauseite gewählten Rahmenprofilen erscheint dieses Profil zwar aufwendig, die Fasen sind aber nicht so prägnant geschnitten, dass Dreiviertelrundstäbe herausgebildet wären.298 Die Rahmennute wurden sehr ungleichmäßig ausgehoben, sie haben eine Tiefe von 3 bis 5 cm. Die Eckverbindungen sind mit in einem Steckloch sitzenden verdeckten Zapfen und stabilen Eichenholzdübeln mit 20-25 mm Durchmesser gefügt und damit der Konstruktion der Kastenflügel am Jacobikirchenaltar nah verwandt (Abb. 40, 41). Am Barfüßerretabel wurde das Augenmerk darauf gelegt, dass sich die dicken Dübel nicht an der Vorderseite abzeichnen. An der Mitteltafel sind je Ecke zwei Dübel übereinander, von hinten und von der Seite, zur Sicherung des Zapfens eingeschoben, wobei sich nur an 297 Die Querleiste auf dem linken Flügel ist z.B. mit insgesamt 15, im Zickzack gesetzten Dübeln sowie an den beiden Enden je einem zusätzlichen Dübel von 10 –13 mm Durchmesser befestigt. 298 Albrecht betont die besondere Stellung der Rahmenprofilierung am Petriretabel Meister Bertrams gegenüber den weit verbreiteten, einfachen Formulierungen von Fase und Platte; ALBRECHT 2005, S. 317. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 97 - der oberen linken Ecke der von der Rückseite gesetzte Dübel vorn auf der Platte und an der unteren rechten Ecke das von der Seite geführte Bohrloch in der Rahmenkehle abzeichnet. Wieso der Zapfen an der linken unteren Ecke der Mitteltafel schwalbenschwanzförmig ausgebildet ist, ist nicht plausibel. Hier blieb ein 87 mm tief von der Seite gebohrtes Dübelloch offen (Abb. 41 a). Den exemplarischen Röntgenaufnahmen zufolge sind die Eckverbindungen an den Innenflügeln anscheinend nur mit einem senkrecht zur Platte gesetzten Dübel gesichert, der am rechten Innenflügel sogar fehlt (Abb. 41 a,b). Durch die unterschiedlichen Eckverbindungen an den Außen- und Innenflügeln ist auf der Sonntagsseite der Wechsel von senkrechten Stoßfugen an den äußeren beiden Flügeln gegenüber waagerechten Fugen an den Ecken der Innenflügel auffällig. Auf der Festtagsseite zeichnen sich in der Regel waagerechte Stoßfugen in Verlängerung der inneren Rahmenkanten ab, nicht jedoch an der rechten unteren Ecke der Mitteltafel.299 Das Röntgenfoto verrät Verschnitt und Ausbesserung mit einem von außen eingeschobenen Holzstück mit senkrecht zu den Rahmenzargen verlaufendem Faserverlauf (Abb. 41 b). Eine ähnliche Unregelmäßigkeit weist auch der mit einer Nut- und Feder-Verbindung einfach gefügte Rahmen des Verkündigungsflügels am Offensener Altar aus der Werkstatt des Barfüßer-Meisters auf der Außenseite auf.300 Die Rahmennute sind sehr unterschiedlich tief ausgehoben: an den Außenflügeln war nach den Röntgenfotos eine Tiefe von 15-23 mm, an der Mitteltafel von 30 bis 50 mm zu bestimmen. Holzschwund und Ausbesserungen – Befunde und Bewertung Die endoskopische Untersuchung von der Rückseite der Mitteltafel und die Röntgenaufnahmen machten deutlich, dass die Eichenholzbretter der Bildtafeln Äste, eingesetzte Vierungen und wenig sorgfältige Ausspänungen von Trocknungsrissen aufweisen. Am linken Innenflügel sind breitere Schwundrisse im Holz mit senkrecht zur Faser eingeschobenen Holzkeilen ausgesetzt worden (Abb. 32 a,b).301 Sicher verarbeitete man keine 299 Am Hochaltarretabel aus St. Petri von Meister Bertram und an der Goldenen Tafel aus Lüneburg ist übereinstimmend der Wechsel von waagerechten Stoßfugen an den Außenflügeln und senkrechten an Mitteltafel (Meister Bertram) bzw. Innenflügeln (Goldene Tafel) festzustellen. 300 Während die hier senkrechten Stoßfugen in der Regel in Verlängerung der Innenkanten der senkrechten Rahmenschenkel gebildet sind, ergibt sich links oben ein Versprung zur Kante zwischen Platte und Fase bzw. zur Verlängerung der Rahmennut; vgl. SAALBACH 2003, S. 44, Abb. 27 u. 28. 301 Untere rechte Ecke im geöffneten Zustand (Bildfeld 14, Verkündigung an Maria, und Bildfeld 6.5) gemäß Röntgenfoto XR2. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 98 - stark gerissenen Bohlen originär zum Bau der Bildträger. Die Beobachtung, dass Risse vor dem Grundieren noch einmal ausgespänt wurden, deckt sich mit Befunden an anderen Skulpturen und Altarwerken.302 Man muss also wieder die bei der Behandlung von Skulpturen bekannte Frage stellen, wie lange das Werkstück des Schreiners wohl zum Trocknen stand, bevor der Zubereiter Hand anlegte.303 Bei einer solch komplexen Altarkonstruktion kommt die Frage hinzu, zwischen welchen Arbeitsgängen diese Trocknungszeit anzusetzen ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Risse und Intarsien vor dem Aufbringen der Querbalken auf der Rückseite der Mitteltafel mit Werg beklebt wurden. 304 Diese Beobachtung legt nahe, dass die großen, fertig verleimten und bereits gerahmten Bretter ohne die rückseitigen Querbalken eine Zeit lang gelagert wurden. Dies wäre insofern eine vorausschauende Entscheidung, als die Querbalken den weiteren Trocknungsschwund behinderten und erheblich zu den Rissbildungen der Mitteltafel beigetragen haben. Der bis heute aufgrund von Klimaschwankungen kumulierte Trocknungsschwund der Holztafeln ist anhand der im Zuge der Restaurierung wieder aufgedeckten Grundierungsgrate an den Flügeln messbar. Die Fichtenholzbretter der äußeren Flügel haben sich in der tangentialen, also größten Schwundrichtung oben und unten um ca. 24 mm zusammenzogen, wurden aber in der Mitte durch die aufgedübelten Querleisten im Schwund behindert.305 An den Eichentafeln der Innenflügel mit geringerem Schwindungskoeffizienten beträgt der Schwund zwischen 18 und 30 mm.306 Die Malränder der Mitteltafel sind heute nicht mehr auskunftsfähig, da die beiden Seitenteile nach dem Zersägen rechts und links der Kreuzigungsszene auch stärker in 302 Am heute weitgehend holzsichtigen Mindener Retabel von ca. 1425, Staatliche Museen zu Berlin, Bode-Museum, sind originale rechteckige Holzaussetzungen in Bereichen von Trocknungsrissen im Holz am linken Flügel zu sehen. Auch am Jüterboger Hochaltarretabel von St. Nicolai waren vor dem Grundieren ausgespänte Risse festzustellen; ZIEMS 1997. Am Auferstehungschristus aus Kloster Wienhausen, um 1300, wurde ein Kernriss mit einem Holzkeil original ausgespänt; HARTWIEG 1988. 303 Bei Skulpturen geht man in der Regel von einer Trocknungszeit von zwei Jahren aus, mündliche Auskunft von Prof. Dr. Schießl, Dresden am 9.05.2009. 304 Zur Wergabklebung siehe Kap. 2.5.2, S. 106. 305 Am linken Außenflügel außen war an der Mittelleiste ein Schwund von links 8 mm, rechts 12 mm festzustellen, insgesamt trotz Mittelleiste immerhin noch 20 mm. 306 Der Schwindungskoeffizient (Maßänderung pro Prozent Holzfeuchteänderung) beträgt bei Fichtenholz in tangentialer Richtung 0,32 gegenüber 0,26 bei Eichenholz und jeweils 0,15 in radialer Richtung; vgl. Peter Niemz, Physik des Holzes und der Holzwerkstoffe, Stuttgart 1993. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 99 - die Nut der Rahmensegmente eingeschoben worden sein können.307 Da sie aber nur wenige Risse im Holz zeigen, ist anzunehmen, dass die Abnahme der Querbalken auf deren Rückseiten zusammen mit dem Zersägen bereits zu einem frühen Zeitpunkt geschah bzw. dass erst die starken Klimaschwankungen nach Zersägen und Abtransport aus der Barfüßerkirche für Schwund und Rissbildungen in der Kreuzigungsszene verantwortlich sind. Hier nämlich hat man die Querbalken auf der Rückseite belassen (Abb. 31).308 Schmiedearbeiten und Aufbau Die Rahmen der Flügel und der Mitteltafel weisen schmiedeeiserne Eckstabilisierungen und Scharniere auf, die in ihrer Machart – nach Materialstärke, Oberflächenbearbeitung und ihrer schwalbenschwanzförmigen Form – übereinstimmen und folglich aus einer Werkstatt stammen (Abb. 42 - 45). Stabile Eisenwinkel sichern alle Eckverbindungen der Rahmen, ausgenommen die der Scharnierseite abgewandten Ecken der leichteren Außenflügel. Diese Eisenwinkel sind bis zu 12 mm dick, an den Enden schwalbenschwanzförmig ausgearbeitet, in die Holzrahmen vertieft eingelassen und mit 6,5 bis 8 cm langen, geschmiedeten Nägeln mit großen Köpfen befestigt (Abb. 41 a,b). An den dicken Innenflügeln und an der Mitteltafel sind sie so gearbeitet, dass der von der oberen bzw. unteren Ecke bis zur Position der Schar-niere zur Verfügung stehende Platz so weit als möglich ausgenutzt wird. Die Winkel haben deshalb unterschiedliche Schenkellängen: ca. 30 cm beispielsweise an der oberen rechten, über 50 cm an der linken unteren Ecke der Mitteltafel oder am rechten Innen-flügel unter dem Scharnier 31 cm, an der äußeren unteren Ecke hingegen 42 cm Länge (Abb. 42, 43). Die Scharniere sind aus Eisenplatten ähnlicher Materialstärke gearbeitet, die Scharnierblätter aber zu den schwalbenschwanzförmigen Enden hin dünner ausgeschmiedet. Die Außenflügel sind mit je zwei Scharnieren an den Innenflügeln befestigt, wobei nur je ein Scharnierauge in zwei Ösen greift. Die Innenflügel hängen an je drei Scharnieren. Oben und unten greift ein Auge in zwei Ösen, während in der Mitte zwei Scharnierau307 Der Malrand ist links (von unten nach oben) 13 bis 4 mm, rechts 8 bis 17 mm zu sehen. An den Seitenteilen sind nur noch rechts die beiden unteren Querleisten und links die obere Querleiste erhalten. Die Risse in der Tafel mit der Kreuzigung sind bis zu 7 mm breit. 308 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 100 - gen in drei Ösen an der Mitteltafel hineingeschoben werden. Damit lastet das Gewicht von Außen- und Innenflügel, im Ruhezustand ca. 300 kg, auf den Scharnieren an jeder Seite der Mitteltafel. Für die Montage der Scharniere wurden Vertiefungen aus den Rahmenschenkeln herausgearbeitet und die Rahmenkanten zum Einschieben der Bolzen jeweils oberhalb der Scharniere aus dem gefassten Rahmen ausgeschnitten. Die Scharniere sind teilweise mit so langen Nägeln befestigt, dass sie in der Rahmenkehle gespalten und zu den Seiten umgeschlagen wurden. An den Scharnieren der Außenflügel kam es offensichtlich zu einer Planänderung: Die Schmiedearbeit sah neben den fünf Nagellöchern auf der Platte ein Loch für eine Nagelung von der Seitenkante aus vor, wie dies am linken Außenflügel auch realisiert worden ist (Abb. 44). Am rechten Außenflügel sind die Scharnieraugen nicht im Winkel von 90° um die Rahmenkante gebogen, so dass man auf die Nagelung von der Seite verzichten musste (Abb. 45). Die Drehachse sitzt rechts dadurch weiter vorn als links. Möglicherweise steht die Verschiebung des unteren Gegenscharniers am rechten Innenflügel in diesem Zusammenhang. Bei der Demontage dieses Scharniers stellte sich heraus, dass das Scharnierblatt ursprünglich einmal um ca. 1 cm nach hinten verschoben montiert war. Zur freien Aufstellung des Retabels auf dem Altar im Chorraum der Barfüßerkirche ist die Mitteltafel rückseitig an ein Ständerwerk montiert worden. Anhand von Aussparungen in den Querbalken der Mitteltafel wird deutlich, dass vier 19 bis 20 cm breite, senkrechte Ständer eingelassen waren, die im unteren Bereich noch einmal mit diagonalen Verstrebungen fachwerkartig ausgesteift sind. Die Konstruktion der diagonalen Balken erschließt sich allerdings nicht vollständig (Abb. 31).309 Je eine schwalbenschwanzartige Vertiefung in den senkrechten Rahmenschenkeln der Mitteltafel lässt vermuten, dass hier weitere Eisenwinkel zur Befestigung der Mitteltafel an rückwärtigen Ständern montiert waren. Die äußeren beiden senkrechten Ständer sind allerdings am rechten und linken Tafelrand zu rekonstruieren und nicht hinter den Rahmenschenkeln. Unwahrscheinlich wäre, dass es sich um bis zu 36 cm breite, mit den Rahmenaußenkanten abschließende Ständer handelte. 309 Damit ergibt sich eine große Ähnlichkeit mit dem Ständerwerk am Jacobikirchenaltar von 1402: Neben der Stabilisierung des Schreinkastens mit einem Querbalken und einem Andreaskreuz – entsprechend der Aussteifung der Mitteltafel mit fünf Querbalken am Barfüßerretabel – findet man hier eine diagonale Aussteifung des Rahmens mit „M“- und „W“-förmig ineinander gesetzten Balken; CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005, Tafel 7. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 101 - Die Frage, ob die Eisenteile bereits vor der Übergabe des Werkstücks des Schreiners an die Maler oder zum Abschluss der Arbeiten eingesetzt wurden, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit beantworten, da die Außenseiten der Rahmen nicht grundiert und gefasst, sondern nur lasiert sind. Aufgrund des Erscheinungsbilds der Vertiefungen im Holz spricht jedoch vieles für die These, dass die Scharniere – wie allgemein üblich – erst nach Fertigstellung der Malerei bei Montage der Flügel vor Ort und anschließend die an die Position der Scharniere angepassten Winkel eingesetzt wurden. Eine Stabilisierung der einfachen Rahmeneckverbindungen wäre allerdings schon für einen Transport wichtig gewesen. Der Transport der großen Mitteltafel in den Chorraum der Kirche bleibt ein Rätsel, versperrte doch ein Lettner den Weg in den Chor. Auch die Tür zur Sakristei erscheint zu niedrig.310 Es muss in Erwägung gezogen werden, dass das Retabel direkt im Chorraum geschaffen wurde. Die Scharniere wurden abschließend teilweise noch an die farbige Rahmenfassung angepasst. Die Scharnierblätter der Außenseite und die Ösen der ersten und zweiten Wandlung tragen nämlich noch Reste roter Farbfassung. Predella – Befunde und Rekonstruktion Wie oben dargestellt, ist an den Predellenfragmenten aus dem Faserverlauf des Holzes und aus den aufgemalten Bogenansätzen die Rekonstruktion eines einfachen langen, seitlich geschweiften Predellenkastens mit durchgehendem, vorderseitig bemalten Brett abzuleiten. Andere aus einer Holzbohle (oder zwei dicht zusammengehörenden Brettern) gefertigte Predellenformen und -konstruktionen können jedoch aus technologischer Sicht nicht ganz ausgeschlossen werden. Aus einleuchtenden ikonografischen und kompositorischen Gründen vertrat Johannes Tripps die These, dass die beiden Heiligen Magdalena und Elisabeth rechts der Mitte gestanden und mit ihren nach links gerichteten Zeigegesten und dem hochgehaltenen Salbgefäß auf die in einer Mittelnische unter der Kreuzigung verwahrte Hostie verwiesen haben könnten (Abb. 14, 15). Die beiden Fragmente rahmten dann in umgedrehter Reihenfolge ein Sakramentsfach in der Mitte unter der Mitteltafel.311 Da die Predellenteile des Barfüßerretabels allseitig beschnitten sind, gibt nur das aufgemalte rote 310 Die Prüfung der noch vorhandenen Pläne im Generallandesarchiv Hannover übernahm dankenswerterweise Frau Christine Rödling. Aussagefähig war insbesondere ein Schnitt des Kirchenraums von 1733 aus den Planungen des Einbaus einer dritten Ebene für die Nutzung des Kirchengebäudes als Zeughaus. 311 Tripps, Kolloquiumsbeitrag am 30.09.2006. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 102 - Musterband einen Anhaltspunkt für die Rekonstruktion des gebogenen seitlichen Abschlusses. Führt man den am Fragment mit den Hll. Magdalena und Elisabeth noch bis zur Hälfte der Tafelhöhe (ca. 20 cm, Abb. 14) erhaltenen Bogen weiter, so ergibt sich ein relativ flach geschweifter Abschluss. Damit wäre die Sakramentsnische von einem ungewöhnlich breiten und flachen Bogen eingefasst gewesen. An der linken unteren Ecke dieses Fragmentes, an der sich die originale Brettkante noch in einem kleinen Stück des Bogenansatzes erhalten hat, gibt es keinen Ansatz für einen Falz, der nötig gewesen wäre, um ein Türchen, ein Maßwerk oder ein Gitter zum Verschließen des Sakramentsfaches aufzunehmen, wie am Dornstadter Altar von 1417 ablesbar (Abb. 182).312 Insofern sprechen die technologischen Befunde eher dafür, dass die gebogenen Musterbänder den äußeren seitlichen Abschluss einer geschweiften Predella markierten. Weitergehend stellt sich die Frage, wie die Vorderseite der Predella ursprünglich gestaltet war und welche Ausmaße sie in Breite, Höhe und Tiefe hatte. Wesentliche Anhaltspunkte liefert der Vergleich zeitgenössischer Predellenformen wie er weiter unten gegeben wird.313 Häufiger überliefert ist eine betonte Mitte zwischen einer Reihe mit zwölf Heiligen. Diese kann ein segnender Christus als Auferstandener oder Weltenrichter einnehmen. Aber auch eine Sakramentsnische ist in Erwägung zu ziehen. Dafür bietet der Flügelaltar in Eldingen, Landkreis Celle, aus der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts ein zeitlich und kunstlandschaftlich nahe liegendes Beispiel (Abb. 180 a). In der Mitte einer hohen, kastenförmigen Predella betont hier ein reich geschmücktes schmiedeeisernes Gitter die von hinten zugängliche Sakramentsnische, die seitlich noch von je zwei gemalten Heiligen flankiert wird (Abb. 181 b).314 Ausgehend also von einer aus ikonografischen und kompositorischen Gründen nahe liegenden betonten Mitte lässt sich die ganze Breite der Predella als „Sockelgeschoss“ des Barfüßerretabels folgendermaßen rekonstruieren: Nimmt ein Figurenpaar, wie an den Fragmenten zu ermitteln, ca. 52 bis 54 cm ein und erwartet man sechs halbfigurige weibliche Heilige zu beiden Seiten einer ca. 35 cm breiten Mitte, dann ergibt sich für die Vorderfront der Predella einschließlich der rahmenden Musterbänder eine untere Länge von ca. 360 bis 370 cm, der man noch ca. 10 cm für ein größeres Grundbrett 312 Heute offenes rundbogig gewölbtes Fach mit rot gefasstem Falz. Siehe Kap 3.1, 172 ff. mit Synopsen A1, A2, B1, B2. 314 Christine Rödling ist der Hinweis auf dieses Denkmal zu danken. Vgl. Kap. 3.1, S. 165, Anm. 423 313 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 103 - hinzurechnen muss. Das obere Deckbrett über den geschweiften Seitenteilen griffe dann zu beiden Seiten je ca. 30 cm über die 385 cm breite Mitteltafel hinaus unter die Flügel. Dorner und in Folge von der Osten nahmen ebenfalls die Darstellung von 13 Halbfiguren an, bemaßten die Staffel jedoch mit unten ca. 335 cm, oben etwa 385 cm Breite bei einer Höhe von etwa 47 cm kleiner als hier abgeleitet. Für das obere Deckbrett der Predella gingen sie damit von einer mit der Breite der Mitteltafel übereinstimmenden Länge aus.315 Diese erreicht man allerdings nur, wenn man 12 Heiligenfiguren ohne ein Mittelfeld und die seitliche Schweifung relativ steil oder mit stumpfem oberen Abschluss rekonstruiert.316 In dieser äußeren Form würde die Predella die Maßverhältnisse derjenigen des Göttinger Jacobikirchenaltars zwar nahezu kopieren (Abb. 162). Angesichts der Länge des Predellenkastens und der Häufigkeit ähnlicher Gestaltungen ist aber der Verzicht auf eine betonte Mitte als Gliederungselement kaum denkbar. Hinsichtlich der Höhe der ursprünglichen Predella lässt sich Genaueres sagen. Obwohl die beiden Predellentafeln allseitig beschnitten sind, kann vom vorderseitigen Brett wegen des Zierbandes an der unteren Kante und dem Rest eines Grundiergrates oben in der Höhe nicht viel fehlen. Wie oben beschrieben, ist durch den Grundiergrat die Einfassung des Vorderseitenbrettes mit einem genuteten Brett oder Rahmenprofil für die Oberkante belegt. Rote Farbreste am Grundiergrat belegen sogar, dass zumindest die Innenkante dieses Profils rot gefasst war. Die originale rote Musterborte ist in etwa nach Befund übermalt, allerdings mit grobem Pinselauftrag und weißer bzw. hellgelber Farbe für die ehemals schablonierten und mit Silber- und Zwischgoldauflage versehenen Vierpass-Blütenmuster.317 Am unteren Rand zeichnen sich keine Dübelreste ab, die auf eine stumpfe Verleimung an ein Grundbrett hingewiesen hätten. Anzunehmen ist deshalb, dass das Vorderseitenbrett auch unten in einer Rahmennut gehalten wurde, auch wenn sich kein Grundiergrat mehr erhalten hat. Für die Rekonstruktion der Predella bietet uns die des Jacobikirchenaltars von 1402 einen nahen Anhaltspunkt (Abb. 163 a). Ergänzt man die Bretthöhe von 41 bis 41,8 cm oben um ein ähnlich gekehltes Profil wie am Jacobikirchenaltar, das die Breite des unteren Musterbandes aufnimmt, und das mindestens 3 cm dicke Deckbrett sowie unten ein wahrscheinlich 315 BEST.KAT. HANNOVER 1930, S. 132 und BEST.KAT. HANNOVER 1954, S. 88, 89. Sechs Figurenpaare à 52-54 cm ergeben eine Breite von 312-324 cm, zuzüglich Musterbänder (2x6 cm) und Grundbrettüberstand (2 x ca. 3-5 cm) 330-346 cm unten bzw. oben zuzüglich der seitlichen Bögen (je ca. 33-38 cm). 317 Analyse der Metallauflagen mit µRFA (Messpunkte BF29 RF1 und RF2), vgl. HERM 2006/2, S. 37-39. 316 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 104 - noch dickeres, abgefastes Grundbrett, dann muss die ganze Höhe etwa 55 bis 58 cm betragen haben. Die auf der Basis dieser Überlegungen 2001 von der Autorin entwickelten Entwürfe zu einer Rekonstruktion der Predella, die gleichzeitig den erhaltenen Predellenfragmenten einen ästhetisch ansprechenden und konservatorisch zweckdienlichen Rahmen geben sollte, lehnt sich nah an die erhaltene Staffel des Jacobikirchenaltars von 1402 an, musste aber auf örtliche Gegebenheiten Rücksicht nehmen.318 Eine Höhe von 53 cm war vorgegeben, vor allen Dingen das Grundbrett mag ursprünglich stärker gewesen sein. In dieser 2005 realisierten abstrakten Rekonstruktion einer Predella erhielt das Grundbrett exakt die Breite der Mitteltafel, das Deckbrett hingegen greift auf beiden Seiten mit je 33 cm über die Mitteltafel hinaus (Abb. 1). Ein 40 cm breites Feld in der Mitte ist nicht nur zur Gliederung und Heraushebung eines Mittelfeldes mit zwei Fugen gekennzeichnet, sondern wird auch als Fach benötigt, um die Stempel zur Unterstützung der Flügel im geschlossenen Zustand zu verbergen und gleichzeitig zugänglich zu machen. 319 Die reiche Ausgestaltung der Malerei auf den Predellenfragmenten warf indes eine weitere Frage auf. In der Regel orientieren sich Farbigkeit und Dekorationsreichtum auf einem einfachen Predellenkasten an der Gestaltung der im Kirchenjahr überwiegend sichtbaren Außenseite des geschlossenen Flügelretabels. Hier sind die Hintergründe jedoch vergoldet und das für das Streumuster gewählte Punzierungsmotiv entspricht – wie noch zu zeigen sein wird – exakt dem der Festtagsseite. Lediglich das rote Musterband nimmt in etwa die Gestaltung der Rahmen des mittleren bzw. äußeren Zustands des Flügelretabels auf.320 Zu fragen ist also, ob die Predella ihrerseits Flügel besaß, die im geschlossenen Zustand die Reihe der weiblichen Heiligen auf Goldgrund verdeckten und Malerei zeigten, die wie die vier Szenen auf der Außenseite ganz auf eine Blattgoldauflage verzichtete und 318 Die Höhe ergab sich aus der Position der Mitteltafel auf der Betonkonsole einerseits, der im Mittelaltersaal bereits vorhandenen, 120 cm hohen Sockel andererseits. 319 Vgl. Hartwieg/Theiss, Die statischen Mängel und die Wiedergewinnung der Wandelbarkeit, in: Kolloquiumsband zum Göttinger Barfüsseraltar, in Vorbereitung. 320 Wegen der mehrfachen Überfassungen der Rahmen ist nicht mehr zu erkennen, ob sowohl die Rahmen der Außenseite wie auch die der Apostelseite mit schablonierten Vierpassmotive im Wechsel mit Blattsilber und Zwischgold gestaltet waren. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.1 Bildträger und Retabelkonstruktion - 105 - vor ähnlich roten Hintergründen stand. Diese These wird unten anhand von Vergleichsbeispielen diskutiert, aber als unwahrscheinlich erachtet.321 Wegen mangelnder Kenntnis über die ursprüngliche Farbfassung wurde der neue abstrahierte Predellenkasten nicht durch Farbe, sondern nur durch eine architektonische Gliederung der Form differenziert. Der Kasten ist in einem matten Rotbraunton gefasst, der mit der Dominanz der Rottöne in der Malerei und mit der Retusche der großen Fehlstelle auf der Sonntagsseite korrespondiert (Abb. 1-3). Die ursprüngliche, auffällige Diskrepanz zwischen dem vergoldeten Hintergrund hinter den Heiligenbüsten und der matten Farbigkeit der Malerei der Werktagsseite ist mit dieser Farbfassung allerdings heute gemildert. 321 Vergleiche Kap. 3.1, S. 180 f. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 106 - 2.5.2 Bildvorbereitung Die Malerwerkstatt hat allem Anschein nach die großformatige, aber einfach konstruierte Schreinerarbeit nach einer gewissen Trocknungszeit und einer schreinermäßígen Ausbesserung frischer Risse übernommen, um zunächst die bildvorbereitenden Maßnahmen, dann auch die Metallauflagen und die Malerei auszuführen. Wergabklebung Die Befunde zur Wergabklebung sind am Barfüßerretabel nicht klar entweder dem Gewerk des Schreiners oder dem der Malerwerkstatt zuzuordnen. Folgende Beobachtungen sprechen für das enge Ineinandergreifen der „Gewerke“ bzw. für die Kenntnis des Schreiners vom weiteren Vorgehen der Zubereiter und Maler und die Ausführung durch ihn: Auf der Rückseite der Mitteltafel sind sämtliche Fugen, einige Äste, die eingesetzten Holzintarsien sowie die überwiegend vom oberen Bildrand ausgehenden Trocknungsrisse mit Werg überklebt (Abb. 31). An den später entfernten Teilen der Querbalken wird deutlich, dass einige Risse und Intarsien bereits vor dem Aufbringen der Querbalken so gesichert wurden. Die Fugen sind hingegen nur zwischen den langen Balken und damit wahrscheinlich erst nach der Montage der Querbalken mit Werg gesichert worden. Auch diese Beobachtung spricht für die Einhaltung einer gewissen Trock nungszeit der gerahmten Mitteltafel bevor die rückseitigen Querbalken, wie oben dargestellt, aufgebracht wurden.322 Am unteren Rand des linken Innenflügels (Festtagsseite BF14) und an den großen Fehlstellen des rechten Innenflügels (Sonntagsseite BF 7, am Attribut des Jacobus Minor) waren Wergabklebungen auch im Fugenbereich unter der Leinwand festzustellen, an zwei Stellen auf der Bildseite der Mitteltafel zusätzlich auch Pergamentstücke über offenen Fugen. Das verwendete Klebemittel konnte nicht analytisch identifiziert werden. Es ist anzunehmen, dass die Wergabklebungen in größerem Maße als erkennbar als Fugensicherung aufgebracht wurden. 322 Siehe oben S. 98. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 107 - Leinwandkaschierung Unter der vollflächigen Abklebung der Holztafeln und Rahmen mit Leinwand auf allen Schauseiten war an wenigen, durch die Restaurierung geöffneten Stellen eine graue Schicht mit grober Struktur festzustellen. Dabei handelt es sich offensichtlich um eine Ausgleichsschicht für die Leinwandkaschierung. Als Füllstoff ließ sich Kreide mit einer Beimischung von Holzkohle nachweisen, nicht – wie vermutet – Steinkreide.323 Die Abtönung der Grundierung ist – wie zu zeigen sein wird – in Grundierungen der Zeit kein Sonderfall. Auf einem Querschliff vom Übergang zwischen Rahmen und Bildtafel am unteren Rand der Mitteltafel findet sich eine hellgraue und eine dunkelgraue Schicht direkt unter der weißen Grundierung, die auch von dem vor der Leinwandbeklebung vorgenommenen Grundierungsauftrag stammen wird (Abb. 46).324 Auf der groben grauen Schicht waren analytisch eine dünne Bindemittelschicht und eine feine weiße Schicht ebenfalls aus Kreide und Tonmineral Typ Kaolin („weißer Bolus“) als Füllstoff festzustellen. Spektroskopisch wurden Hinweise auf Protein (tierischer Leim) als Bindemittel gefunden.325 Somit wäre denkbar, dass auf die graue Ausgleichsschicht ein Leim als Klebemittel oder direkt die in Leim getränkten Gewebestücke aufgebracht wurden. Letzteres ergibt, wie eigene Versuche zeigten – eine höhere Klebekraft und entspräche der von Cennino Cennini um 1400 beschriebenen südeuropäischen Praxis.326 Im Röntgenbild oder an Fehlstellen sichtbare, stark verzogene Gewebestrukturen deuten darauf hin, dass die Gewebestücke feucht aufgelegt wurden. Die helle Grundierschicht könnte von oben durch das Gewebe eingedrungen sein. 323 Analyse durch Prof. Dr. Christoph Herm, HfBK Dresden, an losen Proben (BF7.2 LP1, BF7.3 LP3, Bericht 09/03-1 vom 26.03.2004, HERM 2004), Untersuchung mit Polarisationsmikroskopie, FT-IR-Spektroskopie: fossile Calciumcarbonat-Kreide und wenig Gips, Quarz und Holzkohle, Stärke. Ob die Stärke aus dem Bindemittel stammt, möglicherweise auch aus einer späteren Festigung, ist nicht eindeutig zu definieren; nach Herm deuten intakte Stärkekörnchen auf die Funktion als Füllstoff hin. Für mittelalterliche Gemälde und Skulpturen wurde gelegentlich Stärke als Füllstoff der Grundierung nachgewiesen; den Hinweis auf Helmut Richard, Stärke als Füllstoff und Farblackträger in Malschichten. Nachweis bei Kunstobjekten in Österreich, in: Restauro, 108, 2002, S. 426-429, verdanke ich Prof. Herm. 324 Die Probe bleibt eine Ausnahme. Graue Grundierungsschichten auf der Leinwand sind im übrigen weder auf den Bildflächen noch auf den Rahmen zu finden. 325 HERM 2004, S. 2. 326 Versuche zur Kaschierung von Holztafeln mit Leinwand 2010 zusammen mit Sarah Giering in der Restaurierungswerkstatt der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin ausgeführt. Vergleiche auch die Befunde an den Cennino Cennini zugeschriebenen Tafeln des „Hl. Papst“ und „Hl. Bischof“, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, HARTWIEG 2008, S.87. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 108 - Alle für die Malerei vorgesehenen Tafelseiten und die angrenzenden Rahmenvorderseiten waren ursprünglich durchgehend mit Leinwand überklebt (Abb. 47), auch die Querleisten auf den Außenseiten der Außenflügel, nicht aber die Seitenkanten von Mitteltafel und Flügeln. Nur an einer Stelle, am linken Rand der Mitteltafel im Bereich des Bildfeldes mit der Stigmatisierung des Hl. Franziskus, zeigten sich Stoß und Überlappung zweier Leinwandstücke direkt entlang der Rahmeninnenkante bzw. dem Grundiergrat. Im übrigen ist die Leinwand durch den Schwund der Tafeln an den Rändern zum Rahmen aufgerissen. Leinwandabschnitte bzw. –abrisse mit einfacher Leinenbindung in unterschiedlicher Dichte und Größe waren auf ein- und demselben Flügel festzustellen . Es kommen Gewebedichten zwischen 10 und 18 Fäden pro cm² vor, überwiegend aber zwei Gewebesorten mit 12-14 Fäden pro cm² bzw. 16-17 Fäden pro cm².327 Da eine Röntgenuntersuchung größerer Flächen nicht gemacht wurde, lassen sich keine Aus-künfte über die durchschnittliche Größe der Leinwandstücke und über Webbreiten machen. Auf dem linken, ca. 55 cm breiten Predellenfragment sind zwei senkrechte Stoßstellen bzw. Überlappungen ausgefranster Gewebestücke im Röntgenbild erkennbar und damit ein ca. 35 cm breites Stück auszumachen. Auf den Flügeln der Sonntagsseite scheint die verwendete Leinwand etwas dichter zu sein. Am linken Innenflügel (BF 6) war in einer größeren Fehlstelle am Kopf des Hl. Thomas eine waagerechte Überlappung zweier Leinwände von etwa 2 cm festzustellen: Das obere etwas gröbere Gewebe (11 senkrechte und 13-14 waagerechte Fäden/cm²) überlappt das untere, etwas feinere (14 senkrechte, 15 waagerechte Fäden, die zudem etwas dünner und lockerer gewebt sind). Ein ähnlicher Befund ergab sich auf dem anschließenden rechten Innenflügel, wobei hier das untere weitmaschigere Gewebe das dichtere oben überdeckt.328 Die Gewebestücke sind demnach nicht systematisch im Stehen von oben nach unten aufgebracht worden. Die Leinwandstruktur ist an der Oberfläche der Flügel im geschlossenen Zustand deutlich erkennbar, stärker als auf den anderen Flügelseiten. Dies kann seine Ursache im maltechnischen Aufbau oder in der Erhaltung haben. 327 Hierfür seien zwei Beispiele aus dem Bildfeld der Verkündigung (BF14) genannt: Rechts der Maria waren 17 Fäden/cm in senkrechter und waagerechter Richtung, im Engelsflügel am linken Bildfeldrand dagegen 15 senkrechte und 14 waagerechte Fäden zu zählen. 328 BF7 auf etwa halber Höhe (x=142cm): oberes Stück mit 14-15waagerechten Fäden/cm, 17 senkrechte Fäden/cm, unteres Stück mit 13 Fäden/cm². Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 109 - Auf den Innenseiten der äußeren Flügeln haftet das Intelaggio sehr gut am Bildträger bzw. auf der Schlämme, während Hohlstellen unter der Leinwand durch Haftungsverlust im übrigen ein häufig anzutreffendes Schadensphänomen darstellen (Abb. 23 b). Auf der Sonntagsseite (Bildfeld 5, 6 und 8) zeichnen sich zahlreiche waagerecht verlaufende Risse in der Malschicht ab. Möglicherweise stehen die Risse im Zusammenhang mit Nahtstellen zusammengesetzter Leinwandbahnen. Grundierung Eine gelblich-weiße, bis zu ca. 1 mm dicke Grundierung ist einheitlich auf Gemälden und Rahmen aller drei Zustände auf der Leinwandabklebung zu finden. Analytisch ließ sich fossile Calciumcarbonat-Kreide als Füllstoff sowie Protein als Bindemittel nachweisen.329 Die weiße Grundierung ist nach den Analyseergebnissen einheitlich als Kreide-Leim-Grundierung zu charakterisieren. Der Auftrag erfolgte mehrschichtig, meist naß-in-naß. An manchen Querschliffen ist diese Mehrschichtigkeit durch Bindemittelanreicherung ablesbar.330 Die Querschliffe von der Außenseite zeigen wiederkehrend deutlich zwei Schichten, obwohl bei der Gesamtstärke der Grundierung von mehr als zwei Aufträgen auszugehen ist.331 Vielleicht wurde das zweite Schichtenpaket nach einer zeitlichen Verzögerung aufgebracht. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der hier festgestellte Pilzbefall zusätzliche Schichtentrennungen und ein verändertes Verhalten bei der Bindemittelbestimmung verursacht haben kann.332 In den Querschliffen von der Apostel- und der Festtagsseite zeichnet sich auf einer relativ grobkörnigen unteren Grundierungsschicht eine dünnere, feinere obere Schicht ab.333 Durchgehend war eine gelbliche Bindemittelanreicherung am oberen Rand der Grundierung festzustellen, die die Grundierung dort transparenter und dunkler erscheinen lässt. Besonders dick ist diese Schicht auf den Außenflügeln. Bei histochemischen Anfärbungen von Querschliffen wurde deutlich, dass der Proteinanteil nach oben 329 Analyse einer losen Probe der Sonntagsseite (BF7.4 LP1), mit FT-IR-Spektroskopie bestätigt an Querschliff der Festtagsseite (BF14 P6), HERM 2005. 330 Zum Beispiel war eine Dreischichtigkeit an den Querschliffen der aneinander angrenzenden Bildfelder Vermählung und Verkündigung an Maria (BF13 P2 und BF14 P5) auszumachen. Vgl. Dokumentation zum Barfüßer-Projekt, Ordner „Technologie – Querschliffuntersuchungen“, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Archiv. 331 Zum Beispiel BF3.1 P3, BF3.4 P1, NLMH Archiv ebenda. 332 Prof. Dr. Christoph Herm stellte den Pilzbefall an mehreren Querschliffen fest und wies auf die dadurch möglichen Strukturveränderungen hin, HERM 2007, S. 4. 333 Zum Beispiel BF7.1 P1 und BF14 P23, NLMH Archiv wie Anm. 330. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 110 - abnimmt, der Ölanteil dagegen zunimmt. Es handelt sich hier also nicht um eine als Isolierung aufgetragene Leimlösche, sondern um das in das relativ poröse Grundierungsmaterial eingedrungene Ölbindemittel der folgenden Farbschichten. Die Bindemittelanreicherung ist auch unter den Metallauflagen festzustellen, wurde hier aber nicht dahingehend analysiert, ob es sich auch um Öl handelt. Der Grundierungsauftrag wurde allem Anschein nach mit Ziehklingen sorgfältig geglättet. Die typischen parallelen Schlagspuren, die bei zu steilem Ziehwinkel in dichter Folge senkrecht zur Ziehrichtung entstehen, erkennt man an mehreren Stellen, aber weit weniger häufig als beispielsweise an der Goldenen Tafel.334 Die Profile der Rahmen sind etwas nachgraviert, vor allem die Hohlkehlen. Die schmalen Seiten der Flügel und der Mitteltafel blieben ursprünglich ungrundiert. Die Rückseite der Mitteltafel ist mit einer weißen Schlämme versehen. Sie wurde zwischen den Querbalken aufgetragen, liegt aber nicht in den später entstandenen Rissen im Holz oder auf späteren Ausbesserungen. Für die Datierung ist entscheidend, dass sie unter die heute fehlende senkrechte Stützkonstruktion reicht, also vermutlich bereits vor der Errichtung des Retabels in der Kirche aufgebracht wurde. Unterzeichnung - Grenzen der Untersuchung Die Infrarot-reflektografische Untersuchung der Malereien hinsichtlich der Unterzeichnung war von Beginn an ein absolutes Desiderat der Forschung, hatten doch IR-Detailaufnahmen von der Goldenen Tafel und vielen anderen zeitgenössischen Gemälden neue Interpretationsmöglichkeiten und zusätzlichen Erkenntnisgewinn aufgetan. Die Untersuchungen zu den Unterzeichnungen auf dem hell grundierten Bildträger waren am Barfüßeraltar jedoch zu einem Teil ganz ohne Ergebnis, auf ca. 60% der bemalten Fläche hingegen ließen sich Unterzeichnungslinien deutlich sichtbar machen. In einigen Partien gelang die Darstellung einer außergewöhnlich freien und routinierten Handschrift. Der Betrachtung und Auswertung dieser Unterzeichnungen müssen deshalb zunächst die Grenzen der Untersuchung der Unterzeichnungen am Barfüßerretabel und ihrer Darstellung sowie die negativen Befunde vorangestellt werden. 334 Zweiter Zustand, linker Außenflügel innen (BF5) im Architekturrahmen über dem zweiten Propheten von links oder auf dem rechten Außenflügel innen (BF8) am rechten Rand oben (y/x 218-223/2,5cm von rechts). Zur Herleitung der Bearbeitungsspuren durch eigene Versuche siehe HARTWIEG 1988, S. 240-241. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 111 - Für die Untersuchung stand die analoge Videokamera C2400 mit Infrarot-Vidikon der Firma Hamamatsu zur Verfügung, die bei Einsatz der entsprechenden Sperrfilter in einem Wellenlängenbereich von ca. 1000 bis 2000 nm arbeitet. Wegen der Größe des Retabels und der Schwierigkeit, bildparallele Teilaufnahmen auch in großer Höhe aufzunehmen, musste die Aufnahmetechnik modifiziert und Einbußen in der Bildauflösung in Kauf genommen werden, wie oben genauer beschrieben. 335 Abgesehen aber von den technischen Bedingungen sind es vier verschiedene, maltechnisch bedingte Gründe, die die Ausbeute und Auswertbarkeit der Aufnahmen einschränkten. Die Feinheit der Linien der unten beschriebenen ersten Unterzeichnung und ihr geringer Kontrast zeichneten sich mit den gewählten Mitteln nur schwer und sicher unvollständig ab. Hier hätte man mit weiteren Testreihen zur Aufnahmetechnik möglicherweise mehr Befunde gewinnen können. In einigen Fehlstellen der Malerei waren bereits vor Beginn der Restaurierung bei makroskopischer und mikroskopischer Betrachtung hell- und dunkelrote Unterzeichnungslinien erkennbar. Damit hat man den bei Infrarotuntersuchungen gefürchteten Fall, dass die hellroten Linien von der infraroten Strahlung durchdrungen und damit nicht darstellbar werden (Abb. 49 b, c). Es liegt wohl an der unterschiedlichen Zusammensetzung der verwendeten Farbe, insbesondere an der teilweisen Beimengung von schwarzem Pigment (Abb. 48 a, b), dass die IR-Reflektografie in einigen Bildfeldern die Unterzeichnung sichtbar machte, in anderen dagegen gar nicht . Dies trifft für die ganze Mitteltafel zu. In einigen Bildfeldern der seitlichen Flügel und der Sonntagsseite zeichneten sich bei der Sichtung mit der IR-Kamera so wenige Unterzeichnungslinien ab, dass nur die Bildfelder oder Bildpartien mit den aussagekräftigsten IRR-Bildern aufgenommen und montiert wurden. In der Malerei findet man häufig dunkle, meist schwarze, konturierende Pinsellinien, die von ihrer Strichstärke und -charakteristik der Unterzeichnung so ähnlich sind, dass man sie im schwarz-weißen IR-Bild nicht voneinander unterscheiden kann. Dies macht die Auswertung der IR-Montagen so schwierig. Eine Interpretation, welche der Linien zur Unterzeichnung gehören und welche von den oben aufliegenden schwarzen Konturen 335 Genauer siehe Kap. 1.5, S. 42. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 112 - stammen, gelingt nur in der direkten Überprüfung am Kontrollbildschirm vor dem Original. Auf den vier Bildfeldern der Außenseite ließen sich mit der Infrarotreflektografie ebenfalls keine Unterzeichnungen aufdecken. Hier allerdings haben wir eine rote Imprimitur auf der weißen Grundierung. Weder bei der steromikroskopischen Untersuchung der Oberfläche noch der Querschliffe sind Unterzeichnungslinien erkennbar gewesen. Vielleicht wurde eine Unterzeichnung hier erst auf der roten Imprimitur angelegt und wieder abgewischt. Dass die Unterzeichnung mit weißer Kreide ausgeführt wurde, die durch das Malmittel ihren Brechungsindex veränderte und damit quasi unsichtbar wurde, ist eine Technik späterer Zeit auf farbigen Gründen, die im 15. Jahrhundert noch unwahrscheinlich ist. Auch ist die These, dass der oder die Maler ganz auf diesen Vorbereitungsschritt verzichteten und die Anlage mit den Mitteln der Malerei begannen, als „zu modern“ fast auszuschließen.336 Denkbar wäre, dass eine konturierende Pinselunterzeichnung sich von der Malerei nicht differenzieren lässt. Diese müsste dann aber – im Gegensatz zum Befund auf den anderen beiden Schauseiten – auf der Imprimitur und nicht darunter liegen. Erste Unterzeichnung: Konstruktionslinien zur Bildfeldorganisation Neu aufgedeckt hat die IR-Reflektografie, dass zumindest auf den Flügeln des mittleren Zustands als erster Schritt nach dem Grundieren Maßlinien zur Konstruktion der Architektur und zur Aufteilung der großen Bildfelder der Apostelseite aufgezeichnet wurden (Abb. 53 a, b, c).337 Es sind feine, mit Stift und Lineal ausgeführte Konstruktionslinien, die die IR-Reflektografie nur schwach sichtbar macht. Frei gezeichnete Linien mit diesem Zeichenmittel kamen nicht vor. Das Material ließ sich analytisch nicht bestimmen. Ein Kohle- oder Metallstift ist wahrscheinlich, ein Silberstift nach dem Erscheinungsbild auszuschließen. Die heute, nach der Schrumpfung des Bildträgers, etwa 165 336 Auf dem Wildunger Altar des Conrad von Soest gibt es auf den Flügelaußenseiten ebenfalls keine Unterzeichnung. Uta Reinhold, Zur Restaurierung des Wildunger Altares, in: Denkmalpflege und Kulturgeschichte 2/1998, S. 32. Auf der Tafel von der Außenseite des Magdalenenaltars des Barfüßermeisters in der Hamburger Kunsthalle ließen sich allerdings bei einer IRR-Untersuchung am 8.09.2006 Unterzeichnungslinien mit Pinsel feststellen, die etwas gröber als die auf der Innenseite, z.B. auf der Magdalenentafel in Münster ausfallen. 337 Auf der Goldenen Tafel aus Lüneburg gibt es auf dem mittleren Zustand ebenfalls wenige Konstruktionslinien, die der regelmäßigen Aufteilung und Organisation der Bildfelder dienen (meist in der Mitte senkrecht). Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 113 - bis 167 cm breiten Bildflächen wurden offensichtlich zunächst senkrecht in drei ca. 55 cm breite Teile dreigeteilt. Die senkrechten Linien erhielten Begleitstriche im Abstand von 2,5 bis 3 cm. In der Baldachinzone markiert dieses Dreierbündel senkrechter Linien in etwa die beiden auf Eck gestellten Wimperge, die die Arkadengliederung zwischen den drei krabbenbesetzten Spitzbögen zieren (Abb. 53 b). Am linken Innenflügel ist zu sehen, dass auch entlang des Malrandes im Abstand von 2,8 cm eine Begleitlinie gezogen wurde, die von der seitlich gemalten Säule allerdings um 1 cm überragt wird. Im Fußboden-bereich erscheinen die senkrechten Linienbündel desselben Stiftes in denselben gleichmäßigen Abständen unter den gemalten halbrunden Ausbuchtungen wieder, so dass davon auszugehen ist, dass sie die Bildfläche auf ganzer Höhe aufteilten. In der Baldachinzone sind zusätzlich einzelne senkrechte Linien auf der Mitte der Spitzbögen zu finden, vom Goldgrund bzw. Abschluss des Gewölbes bis zum oberen Bildrand. Damit ist die Baldachinzone in sechs gleichmäßige Teile gegliedert. Zwei durchgehende waagerechte Konstruktionslinien im Sockelbereich bereiten die Lage der Stufe vor, weitere waagerechte Linien liegen entlang des oberen Bildrandes kurz über den Arkadenbögen und am unteren Abschluss der mit Kreisen besetzten Zone am oberen Bildrand. Weitere entlang eines Lineals konstruierte dünne Linien, die sich in den IRR-Montagen hell abzeichnen, sind erst im Verlaufe des Farbauftrags „angerissen“ bzw. eingeritzt worden. Sie werden später behandelt. Die Malerei hält sich sehr genau an diese Grundgliederung. Nur die die Apostelflügel seitlich rahmenden Säulen sind in der Malerei breiter ausgeführt als geplant. An den Wimpergen weicht die im Nachgang ausgeführte, im folgenden beschriebene freie Unterzeichnung mit Pinsel von den Konstruktionslinien an Sockel, Giebel und Spitzen ab, nur für den Schaft und den Ring unter dem oberen Blütenabschluss ist die durch die Konstruktionslinien vorgegebene Breite maßgebend. Zweite Unterzeichnung: Figurenanlage Erst die zweite Unterzeichnung mit sicher gesetzten breiten Pinselstrichen zeigt eine eigene charakteristische Handschrift. Auch ohne IR-Untersuchung wurde sie vor der Restaurierung in Fehlstellen der Malerei sichtbar und zeichnet sich dort ab, wo die Blei- Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 114 - weiß/Öl-Verseifung in den hellen Partien, wie im Inkarnat, die Farbschichten hat transparenter werden lassen (Abb. 33). Die Verwendung eines relativ dicken runden, aber spitzen Pinsels und eines flüssigen Farbmittels wird vor allem aber anhand des Erscheinungsbildes in den IR-Reflektografien eindeutig belegbar. Kriterien sind die spitzen Ansätze und Enden sowie das An- und Abschwellen der Linien, ihre unter-schiedliche Deckkraft und Strichstärke bis zu etwa 5 mm Breite. Als Farbmittel diente von Hellrot bis tief Rotbraun variierende Farbe (Abb. 48 a,b).338 Die hellrote Farbe ist optisch dem Boluston verwandt (Abb. 49 c). Wie auf verschiedenen Querschliffen zu erkennen, liegen die Unterzeichnungslinien auf der Grundierung und unter der dünnen Bleiweißisolierung. Sie enthalten rote und teilweise schwarze Pigmente. 339 An einer offen liegenden dunkelroten Unterzeichnungslinie am linken Predellenfragment ließ sich die Pigmentierung zerstörungsfrei mittels der Mikro-Röntgenfluoreszenz-Analyse bestimmen (Abb. 48 b).340 Die höheren Eisen-Signale deuten auf ein Eisenoxid-Pigment hin.341 Allein mit der µRF-Analyse lässt sich jedoch nicht unterscheiden, ob ein Eisenoxidrot, Eisengallustinteder oder der rote Bolus zugleich als Unterzeichnungsmittel verwendet wurde. Dazu bedarf es ergänzend der makroskopischen und Infrarotuntersuchung. Die IR-Reflektografie bildet mit Eisengallustinte gezeichnete Linien nicht ab, aber schwarz pigmentierte. Sie macht also jene Unterzeichnungslinien sichtbar, die zusätzlich zum Eisenoxidrot auch Kohlenstoff enthalten. Dieser ist wiederum in der µRFA nicht detektierbar. Nach der makroskopischen Prüfung des Erscheinungsbildes ist die Verwendung des Bolus und der eher schwarzen oder schwarzbraunen Eisengallustinte für die Unterzeichnung auszuschließen. So ist davon auszugehen, dass rote Farbe in variierender Bindemittelkonsistenz und Ausmischung aus rotem Erdpigment und Pflanzen- oder Beinschwarz verwendet wurde. Dass die rote Unterzeichnung in dieser Zeit keinesfalls ein ungewöhnlicher Befund ist, wird unten mit Vergleichen belegt. 338 An einer Fehlstelle der Farbschicht auf dem linken Predellenfragment lag die dunkelrote Pinselunterzeichnung offen und wurde im Zuge der jüngsten Restaurierung aus didaktischen Gründen bewusst nicht mit Retuschen geschlossen. 339 An folgenden Querschliffen sind offensichtlich Unterzeichnungen mit erfasst: BF13 P2 und BF13 P3 jeweils auf der Lösche unter Grün, Rotpigmente erkennbar, bei P2 auch zwei Schwarzpigmente; BF14 P3; bei BF15 P1 und BF15 P2 unter der weißen Imprimitur, ebenso bei BF18.5 P1 unter Grün, BF18.4 P1 nur Unterzeichnung auf getränkter Grundierungsoberfläche (Zeh des Schächers), 340 Erläuterungen zur µRFA-Methode siehe Kap. 1.5., S. 40, Untersuchung im Rahmen der ersten Messkampagne im Dezember 2003. 341 Messpunkt Grundierung BF28 RF2, Messpunkt Unterzeichnung BF28 RF1 vergleichende Auswertung, HERM 2006/2, S. 40, 41. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 115 - Im Folgenden sollen die IRR-Montagen hinsichtlich der Charakteristik der Unterzeichnung ausgewertet werden. Am augenfälligsten wird diese in der Behandlung der Gesichter: Diese sind mit wenigen schnell, fast frech gesetzten Pinsellinien skizziert. Formelhaft stehen kleine offene Kreise für die Augen, mit wenigen kurzen Strichen werden Mund und Nase angegeben, der Mund häufig in der Form zweier Häkchen (Abb. 50, 52). Dieses Schema wiederholt sich in den Frauengesichtern häufig, meist liegen die Kringel für die Augen in der Zeichnung etwas höher, bei der Ausführung der Malerei wurden die Proportionen des Gesichtsschnitts dahingehend verändert, dass die Frauen höhere Stirnpartien erhielten (Abb. 64 a,b).342 Die Gesichter der Männer scheinen in der Unterzeichnung ausführlicher angegeben mit meist mandelförmigen Augen, Falten, markanten Nasen und starken Augenbrauen, wenn auch die starke Konturierung in der Malerei die Auswertung der IR-Reflektogramme erschwert. Nur bei den Bärten wird sehr verschieden verfahren: einmal einfach mit der Angabe der Außenkonturen, besonders bei den mittig geteilten Spitzbärten, wie bei Joachim auf den Szenen der „Verkündigung an Joachim“ und der „Goldenen Pforte“ oder beim Hl. Simon auf dem ganz rechten Flügel der Apostelseite, ein andermal mit detaillierter Angabe der Barthaare, wie bei dem Hl. Thaddäus auf demselben Flügel. Ein Vergleich der Pinselunterzeichnung des Kopfes vom Hl. Thaddäus mit der ausgeführten Malerei macht deutlich, wie frei der Pinselstrich in der Unterzeichnung bei der Angabe der Barthaare geführt ist. In der Malerei hingegen wird die Vorgabe viel schematischer, viel dekorativer umgesetzt (Abb. 54 a,b). Während die knappe Unterzeichnung der Gesichter eine Ausformulierung mit den Mitteln der Malerei verlangte, konnten sich die Maler an die präzisen, aber dennoch schnell hingesetzten Angaben für die Faltengebung der Gewänder recht genau halten. Hier tauchen wenige Schraffuren auf, die meist eine Faltenlinie kreuzen, sie damit verbreitern und als Schattentiefe kenntlich machen. An mehreren Stellen findet man häkchenförmige Schraffuren zur Angabe der Faltentiefen: z.B. auf der rechten Schulter der Elisabeth, Mutter Johannes des Täufers, auf dem rechten Predellenfragment (Abb. 52) oder im Marientod im Gewand des links unten sitzenden Apostels (Abb. 56). Sie verlaufen sowohl in der Richtung des zunehmenden wie des abnehmenden Mondes. Der 342 Im Gesicht der Maria in der Szene der Beschneidung sitzt die Unterzeichnung der Augen höher, die Angabe des Mundes tiefer. Die Malerei rückt das Gesichtsfeld „puppenhaft“ zusammen. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 116 - Versuch, den Unterzeichner als Rechts- oder Linkshänder zu bestimmen, führt also ins Leere. Die Richtung der Häkchen unterscheidet auch nicht Faltenhöhe oder Faltentiefe, gemeint sind vielmehr in der Regel verschattete Faltentiefen. Diese fischgrätähnlichen Unterzeichnungslinien darf man als ein besonderes „Kennzeichen“ des Meisters bezeichnen. Neben der im allgemeinen sicheren Zeichnung der Darstellungen gibt es nur wenige Partien mit häufigen Korrekturen innerhalb der Unterzeichnung. Im „Tempelgang Mariae“ sind viele Doppellinien zu erkennen, womit die Unterzeichnung hier etwas Suchendes bekommt. Es gibt andere Einzelfiguren, in denen ebenfalls mehrfache Korrekturen mit demselben Pinselstrich festzustellen sind, z.B. bei der Frau am linken Bildrand in der Szene der „Darbringung im Tempel“ auf dem rechten Flügel der Festtagsseite. Auf der Apostelseite werden auf dem äußerst linken Flügel im Bereich des roten Gewandes des Johannes dagegen Korrekturen auch mit feineren Unterzeichnungslinien erkennbar.343 Die Befunde reichen nicht aus, um hier einen Eingriff von anderer Hand oder generell zwei Unterzeichnungsmittel wie am Magdalenenretabel des Barfüßermeisters anzunehmen. Insgesamt aber gibt es auf den großen Flächen der Festtags- und der Sonntagsseite sehr wenige suchende Pinselführungen, vergleicht man die Befunde zur Unterzeichnung mit der an Linienbündeln reichen Strichführung der Zeitgenossen: Auf den Flügeln des Dortmunder Berswordt-Altars von ca. 1400 findet man die Linienbündel noch zurückhaltend,344 in aller Ausführlichkeit bei Conrad von Soest, insbesondere auf dem Wildunger Altar von 1403,345 oder beim Meister von St. Laurenz.346 Es ist deshalb zu erwägen, ob der so sicheren, teilweise verkürzten Pinselunterzeichnung eine Übertragung von einem Karton, eine Zeichnung mit wenig haftender Kohle, die wieder abgewedelt wurde, oder eben doch eine genauere feine Zeichnung mit Stift vorausging, die nicht sichtbar gemacht werden konnte. Die Untersuchungen gaben dafür allerdings keinerlei weitere Hinweise. Im Vergleich mit der sorgfältigen Ausführung der Malerei sind zwei Thesen denkbar: (1) Der Unterzeichner war dermaßen routiniert war, dass ihm die freie Pinselunterzeich343 Feine korrigierende Unterzeichnungslinien sieht man etwa 40 cm unterhalb der rechten Hand des Johannes wie auch in der Falte zwischen seinen Füßen. 344 SANDNER 2002, S. 256 f. 345 SANDNER 2010, S. 224-227, CORLEY 1996. 346 FARIES 1993, S. 170, Abb. 1. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 117 - nung auch ohne Übertragungsverfahren sicher gelang, oder (2) die freie Pinselunterzeichnung hatte nur die Funktion, eine vorausgegangene Zeichnung für die weiteren Arbeitsschritte der Malerei zu verstärken. Im letzteren Fall handelte es sich um einen mechanischen Arbeitsgang, der auch an einen Mitarbeiter der Werkstatt zu deligieren war. Beim Vergleich der verschiedenen Unterzeichnungsbilder auf den Flügeln der sogenannten Festtags- und der Sonntagsseite zeigt sich immer wieder dieselbe Handschrift, die nahelegt, dass ein- und dieselbe Person diese Unterzeichnung ausführte. Ob die in der Malerei vermutete Händescheidung zwischen den Figurendarstellungen auf den Flügeln und denen der Mitteltafel auch schon in der Unterzeichnung fest zu machen ist,347 bleibt eine Frage, die sich angesichts des Fehlens von Unterzeichnungsbildern von der Mitteltafel ebenso wenig klären lässt wie die Urheberschaft einer anzunehmenden Unterzeichnung auf den Bildfeldern des geschlossenen Zustands. Korrekturen in der Unterzeichnung Die Korrekturen innerhalb der Unterzeichnung sind unbedeutend. Es muss ausgearbeitete Vorlagen und viel Routine gegeben haben. Die Malerei hält sich später recht genau zum Beispiel an die vorgegebenen Faltenbildungen. In wenigen Partien aber kommt es in der Malerei zu inhaltlich bedeutsamen Änderungsentscheidungen, auf die bei der Beschreibung der Malerei eingegangen wird.348 Es gibt nur wenige Stellen, an denen Korrekturen Ergänzendes über die Unterzeichnung aussagen: Im Bildfeld der Verkündigung auf der Festtagsseite suchen die Unterzeichnungslinien am Fuß des Gewandes der Maria auffällig nach der richtigen Form (Abb. 55). Hier war vielleicht bereits die Vorlage uneindeutig. Wenig ausgeprägt ist das perspektivische Verständnis sowohl in der Unterzeichnung wie auch später in der Malerei. Im Bildfeld der „Goldenen Pforte“ scheint in dem kleinen Anbau links des Tors räumlich unklar ein nach rechts aufschlagender Fensterladen angedacht gewesen zu sein, der aber in der Malerei nicht zur Ausführung kam. Im linken Predellenfragment ist das Kirchenmodell der Hl. Elisabeth mit einem einfachen 347 348 Vgl. Kap. 2.6, S. 160 ff. Siehe Kap. 2.5.4., S. 145 ff. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 118 - Rechteckgrundriss unterzeichnet – wie es das IR-Bild zeigt – , während die Ecktürme später mit einer eigenen Basis auch im Sockelbereich gemalt sind (Abb. 14, 51 a). Verwendung von Schablonen Die Gesichter dieses Retabels haben auf allen Schauseiten eine auffallende Ähnlichkeit. Sie ist so groß, dass nicht nur von einem schmalen Repertoire an Vorlagen in den von der Werkstatt verwendeten Musterbüchern auszugehen war, sondern die Verwendung von Schablonen oder ähnlichem Hilfsmittel zum Kopieren von Prototypen nahe lag. Die Überprüfung der malerischen Ausführung der Gesichter mit Hilfe von Folien brachte folgendes Ergebnis: In den Szenen aus dem Marienleben und der Kindheit Christi auf den Flügeln der Festtagsseite sind vor allem die Frauengesichter Variationen einer Vorlage. Für die Prüfung dieses Sachverhaltes wurde relativ zufällig die Maria der Heimsuchung gewählt. Wie das IR-Bild zeigt, waren die Augen in der Unterzeichnung eigentlich etwas höher angelegt, in der Malerei jedoch tiefer ausgeführt (Abb. 57 a,b). Im Vergleich mit anderen Frauengesichtern sitzen auch deren gemalte Augen meist höher als die der Maria der Heimsuchung (Abb. 58, 59). Hätte man z.B. die Maria der Verkündigung als „Matrix“ genommen, wären die Übereinstimmungen vielleicht noch verblüffender. Im Ergebnis zeigt sich: Es gibt keine Vorlage, die einzig und allein Maria oder Christus vorbehalten wäre, die Frauengesichter sind untereinander variabel. Ein- und dieselbe Vorlage wurde offensichtlich für aufblickende wie herabblickende Frauenfiguren in sich gedreht (Abb. 58, 59 a) oder gespiegelt (Abb. 59 b). Selbst die liegende Maria des Marientods hat mit der stehenden Maria der Heimsuchung immer noch erstaunliche Übereinstimmungen. Die Konturen des Gesichtsprofils, der Ohr- und Halslinie und des Gesichtes sind jedoch immer wieder leicht gegeneinander verschoben (Abb. 61, 62 a,b). Dies deutet daraufhin, dass zur Differenzierung der Gesichter entweder eine Vorlage während der Übertragung leicht verschoben wurde oder mehrere Schablonenteile Verwendung fanden, zum Beispiel eine Schablone für das vordere Profil, eine für Augen, Nase, Mund und eine für Ohr, Hals und Haar. Für die männlichen Gesichter der Festtagsseite gab es mehrere Vorlagen. Vergleichend geprüft wurden zwei vollbärtige Gesichtstypen, für die Joachim in der ersten Szene des Marienzyklus links unten (Verkündigung an Joachim, BF 9, Abb. 67) und Pilatus von Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 119 - der rechten unteren Passionsszene auf der Mitteltafel (BF 19, Abb. 69) die Vorlage lieferten. Die Gesichter von Joachim in der Verkündigung und in der Goldenen Pforte, dem Bildfeld darüber, decken sich in erstaunlichem Maße (Abb. 66). Derselbe Gesichtsschnitt erscheint aber auch in der Szene der Vermählung Marias mit Joseph im ganz rechts stehenden Mann und auf dem rechten Flügel in der Darbringung im Tempel sowohl beim Priester wie beim gleich hinter ihm wiedergegebenen Mann (Abb. 67, 68). Bemerkenswert ist, dass sich die Gesichtstypen auf der Mitteltafel nicht mit denen auf den Flügeln decken. Die Gesichter in den vier Passionsszenen und im Bildfeld mit dem Hl. Franziskus sind rundlicher, die Nasen haben eine stark ausgebildete Nasenspitze. Für sie wurde offensichtlich dieselbe Mustervorlage wiederverwendet. Die Gesichter von Herodes und Pilatus stimmen, wenn auch seitenverkehrt, in Größenmaßstab und Form fast exakt überein. Selbst für die Köpfe Christi und Franziskus scheint keine davon wesentlich verschiedene Vorlage verwendet worden zu sein, nur ohne Bart(-schablone) (Abb. 70 - 72). Im Mittelbild mit dem Kalvarienberg sind die Köpfe dagegen wesentlich größer. Hier wie auch in der Georgsszene oben rechts konnten für die Gesichter bisher keine exakten Übereinstimmungen ermittelt werden. Auch die Gesichter der Predellenfragmente sind sich nah verwandt, wenn man ihre Konturen seitenrichtig und seitenverkehrt zur Deckung bringt (Abb. 63 - 64). Sie unterscheiden sich aber – soweit bisher festgestellt werden konnte – von den übrigen Frauenfiguren auf dem Flügelretabel. Auf der Sonntagsseite sind die Übereinstimmungen noch erstaunlicher. Mit Ausnahme des Johannes und des Jacobus Minor folgen alle Köpfe demselben Schema. Man findet wiederkehrende Konturverläufe an Augen und Nase, Stirn- und Wangenprofil sowie Ohr-Nacken-Bartansatz. Allerdings konturieren diese Linien mal einen schmaleren, mal einen breiteren Kopf, mal sind sie recto, mal verso, also seitenverkehrt, mal etwas gedreht verwendet. Wahrscheinlich ist auch hier, dass drei von einander getrennte Konturschablonen leicht gegeneinander verschoben eingesetzt wurden, um die Gesichtstypen zu variieren (Abb. 73 - 75). Die Gesichter auf den beiden Innenflügeln sind durchgängig schmaler. Es sieht nach der Ausführung durch eine andere Hand aus, die die Teilschablonen stärker zusammengeschoben hat. Die merkwürdig verschobenen Münder in mehreren Gesichtern finden hiermit eine technische Erklärung. Ob auch für Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 120 - die Gestaltung der Gewänder irgendwelche Übertragungsmittel Verwendung fanden, ließ sich bisher nicht ermitteln. Für die kleineren Propheten in der Baldachinzone war anzunehmen, dass hier nach demselben Prinzip verfahren wurde. Jedoch sind hier stärkere Unterschiede festzustellen. Am linken Außenflügel (BF 5) wird das Prinzip sehr plausibel. Die Gesichtszeichnung stimmt beim zweiten, vierten und sechsten Propheten nahezu überein, variiert wurde nur die Haar- und Barttracht und die Kopfbedeckung. Die Übertragungskartons oder Konturschablonen von der Sonntagsseite waren für die Außenseite kaum anwendbar. Die Köpfe sind dort in der Regel etwas kleiner. Am ehesten stimmen die Prophetenköpfe der Sonntagsseite mit den Köpfen der Schriftgelehrten im Bildfeld links oben überein. Das Aufblicken Josephs links zu Füßen des 12-jährigen Jesus wird durch eine Spiegelung und extreme Drehung der auf der Sonntagsseite für den bärtigen Propheten (BF 5, zweiter Prophet von links) verwendeten Gesichtsvorlage erreicht. Der im rechten unteren Bildfeld rechts neben der trauernden Maria kniende Kaiser zeigt ebenfalls damit deckungsgleiche Konturverläufe. Sicher wären noch mehr Übereinstimmungen dieser Art festzustellen. Die Verwendung von Schablonen ist in der mittelalterlichen Werkstattpraxis ein bekanntes Phänomen, insbesondere bei der Übertragung dekorativer Muster. Unter „Schablone“ versteht man in der technologischen Literatur in der Regel einen geschnittenen Karton, der die verlorene Form zeigt. Trifft man auf übereinstimmende Gesichtszeichnungen, so führte ihr Nachweis häufig auf die Fährte von Werkstattwiederholungen oder Kopien. Hier ist davon auszugehen, dass Pausen von Zeichnungen oder von anderen Gemälden angefertigt wurden, um Proportionen und Konturlinien auf einen neuen Bildträger zu übertragen. Bei den Befunden am Barfüßerretabel ist neu, dass einzelne Segmente der Gesichtszeichnung übereinstimmen. Es bleibt die Frage, wie und in welchem Stadium der Bildvorbereitung übertragen bzw. mit Schablonen gearbeitet wurde. Der häufig beobachtete Versatz der Zeichnung lässt sich – wie oben erwähnt – dadurch erklären, dass ein Karton bei der Übertragung verschoben wurde. Allerdings waren nirgendwo Pauspunkte festzustellen. Wegen der Übereinstimmung einzelner Kontursegmente wird hier deshalb als These neu vorgeschlagen, dass Konturschablonen Verwendung fanden. Zu klären ist, in welcher Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 121 - Phase der Bildvorbereitung dies geschah. In der Regel ist davon auszugehen, dass die Schablonen beim Anlegen der Unterzeichnung verwendet wurden. Am Barfüßerretabel steht die Gleichförmigkeit der Gesichtsgestaltung in der Malerei in merkwürdigem Gegensatz zu der freien Pinselunterzeichnung, die an keiner Stelle den Hinweis darauf gibt, dass sie an einer Schablone entlang geführt wäre. Dass ihr eine feine Zeichnung mit Stift ähnlich der Konstruktionslinien vorausgegangen sein könnte und die freie Pinselunterzeichnung nur dazu diente, die Hauptlinien durch die Imprimitur hindurch stärker in Erscheinung treten zu lassen, wurde oben als These formuliert. Die IRUntersuchung konnte aber eine erste feine Zeichnung nicht sichtbar machen. Wurden die Konturschablonen in diesem anzunehmenden ersten Arbeitsgang benutzt, dann dürften die Konturlinien in der Malerei viel stärker variieren als jetzt festgestellt. Denn die feine Zeichnung wird durch die Imprimitur hindurch kaum mehr zu sehen gewesen sein. Dass die Schablonen zum „Anreißen“ verwendet wurden, kann ausgeschlossen werden, weil Ritzlinien – wie unten genauer dargestellt wird – nur an den Grenzen zur Vergoldung und zur Kennzeichnung der Falten in den gelüsterten Brokaten aufgebracht wurden, nicht innerhalb der Gesichter. So bleibt noch als dritte Variante, dass die Schablonen zur ersten konturierenden Anlage der Malerei verwendet wurden. Hierfür muss allerdings ein dünnflüssiges Farbmittel benutzt worden sein, denn man erkennt nirgends erhabenere Farbansammlungen entlang einer Schablone. Isolierung und Imprimitur Wie es üblich ist, wurden die Grundierungsschichten „isoliert“, bevor man Blattmetalle und Malerei auftrug. Querschliffe belegen, dass dies auf der Sonntags- und der Festtagsseite mit einer weißen Bleiweißschicht geschah, die rote und schwarze Pigmente enthält (Abb. 77). Sie fixierte und milderte zugleich die Pinselunterzeichnung. 349 Wegen ihrer farbgebenden Eigenschaften ist sie – wie unten noch ausführlicher diskutiert – als Imprimitur zu bezeichnen. Messungen mit der µRF-Analyse bestätigten den auffälligen Bleigehalt an vielen Stellen zerstörungsfrei (Abb. 78).350 Es deutet alles daraufhin, dass die Bleiweißschicht überall dort aufgebracht wurde, wo keine Vergoldung vorgesehen war. Eine Ausnahme bilden glanzvergoldete Partien innerhalb der Malerei. Die µRF349 Unterzeichnung und Imprimitur sind übereinander zu finden in den Querschliffen BF 15 P1, BF18.5 P1, BF 18.7 P1, Dokumentation zum Barfüßer-Projekt, Ordner „Technologie – Querschliffuntersuchungen“, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Archiv. 350 Zum Schichtenaufbau aufschlussreich die Messungen in Serie mit einem „Line-Scan“ entlang einer Fehlstellenkante, Messpunkt BF7.5 RF3, HERM 2006/2, S. 43. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 122 - Analyse ergab z.B. eine auffallend hohe Bleiweiß-Anregung in der goldenen Auriole um das Christuskind in der Weihnachtsszene, wo die Bleiweißimprimitur offensichtlich nicht ausgespart wurde.351 Die Bleiweißschicht findet man auch nicht in nah an Goldhintergründen gelegenen Partien wie beim Engel in der linken oberen Ecke der „Verkündigung an Joachim“ auf dem linken Innenflügel. Auf der Sonntagsseite war der Bleigehalt sowohl in dem schmalen vergoldeten Streifen zwischen den Heiligen Petrus und Johannes wie auch im Goldhintergrund etwa 3 cm links der Schulter des Jacobus auf demselben Flügel zu finden.352 Der Anstrich ist also großzügig aufgetragen. Unter den Silberauflagen des Soldaten am rechten Rand der Kreuzigungsszene fehlt die weiße Imprimitur,353 während Herm sie wegen der hohen Bleianregung unter vielen Brokatgewändern vermutet. Bei den wenigen Querschliffuntersuchungen von den Brokatimitationen ist eine Imprimitur gar nicht oder nur in hauchdünner Schicht zu finden.354 Die nur exemplarisch erstellten Röntgenaufnahmen zeigen an den Brokatgewändern des Pilatus auf der Mitteltafel und der Margarete auf dem linken Predellenfragment eine sehr geringe Absorption der Strahlung, was auf ein Fehlen oder eine sehr geringe Schichtstärke hinweist. Die bei dem doppelseitig bemalten Flügel insgesamt benötigte Strahlungsenergie lässt sich dagegen nur mit einer großzügigen flächigen Verwendung von Bleiweiß erklären, wenn diese auch auf dem Summenbild nicht hinsichtlich des lokalen Vorkommens auszuwerten war. Unter den blauen Gewändern der Maria in der Heimsuchung und Marienkrönung ist eine weiße Schicht ebenfalls nicht nachzuweisen.355 In manchen Inkarnaten lag unter der hellrosa Inkarnatfarbe eine eher ockerfarbene Farbschicht. 356 Die Schichtdicke dieser 351 Messpunkt BF23 RF4 , HERM 2006/2, S. 25. Am Jacobus zeigt der Line-Scan über eine Verletzung der Goldauflage hinweg die gleich bleibende Bleianregung deutlich. BF5.4 RF1, HERM 2006/2, S. 12. 353 Vergleiche Querschliffe BF18.6 P1 und P2, Dokumentation zum Barfüßer-Projekt, Ordner „Technologie – Querschliffuntersuchungen“, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Archiv. 354 Wiederholt trennte sich die Metallauflage von den darunter liegenden Schichten, so dass die Querschliffuntersuchung für die hier interessierende Fragestellung kein Ergebnis lieferte. Ein hauchdünner Streifen zeichnet sich in BF27 P3 ab, Dokumentation wie Anm. 353, S. 177. 355 Die Probe vom blauen Mariengewand der Kreuzigung war ohne Ergebnis (BF18.7 P4, untere Schichten fehlen). Das blaue Gewand der Maria der Heimsuchung ist zweischichtig rot untermalt (BF22 P1). Eine sehr dünne rötliche, eventuell auch als Unterzeichnung zu deutende Schicht findet sich auch unter dem blauen Mariengewand der Marienkrönung (BF27 P1). Das violett wirkende Gewand der Elisabeth von Thüringen auf dem linken Predellenfragment zeigt eine dünne rötliche Schicht auf der Grundierung unter der grobkörnigen blaugrünen und rosa-roten Farbschicht (BF28 P1). Dokumentation wie Anm. 353. 356 Querschliffe BF13 P1 und BF 17P1, Dokumentation wie Anm. 34, S. 43-44 und 73-75. 352 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.2 Bildvorbereitung - 123 - weißen Imprimitur schwankt stark. Unter grünen und roten Partien findet man in den Querschliffen besonders dicke weiße Bleiweißschichten. Dies deutet darauf hin, dass die Imprimitur in den unteren Bereichen der Bildfelder mit Goldgrund effizient und großzügig, aber im Wissen um die spätere Farbgebung mit variierender Schichtdicke und sogar gewisser Farbtönung aufgestrichen wurde. Auf allen Bildfeldern der Werktagsseite war dahingegen ganzflächig eine orange farbene Imprimitur oder Untermalung festzustellen. Die Querschliffe zeigen diese in einer Schichtstärke von meist nur 5 µm, mit feiner Körnigkeit und – jedenfalls beim rechten Flügel – hier und da dunkelroten, glasigen Einschlüssen.357 Das ölige Bindemittel ist hier noch in stärkerem Maße als an den anderen Schauseiten in die Grundierung eingedrungen. Überraschenderweise ergab die Analyse mit dem Raster-Elektronenmikroskop (SEM-EDX) eine unterschiedliche Pigmentzusammensetzung der roten Schicht auf den Bildfeldern: Auf dem unteren Bildfeld des linken Flügels hat sie keinen erhöhten Bleigehalt,358 auf dem unteren Bildfeld des rechten Flügels ließ sich analytisch dahingegen Blei und Eisen nachweisen. So ähnlich ihr Erscheinungsbild, so verschieden sind demnach die Ausmischungen. Auf dem rechten Flügel kann man nach makro- und mikroskopischem Befund auf die Verwendung von roten Erden und Mennige schließen, obwohl nach der Elementbestimmung auch Bleiweiß z.B. als Sikkativ denkbar wäre. Für den linken Flügel ist die Auswertung der Analyseergebnisse schwieriger, Bleizinngelb als Pigmentzusatz aber wahrscheinlich.359 Auf den oberen beiden Bildfeldern erfolgte der Nachweis der orange farbenen Imprimitur nur makroskopisch, Proben wurden hier nicht entnommen. Die farbige Imprimitur bildete für die braun-roten Hintergründe der vier Bildfelder zugleich einen guten vorbereitenden Untergrund, auf dem ein einschichtiger Farbauftrag effizient folgen konnte. 357 Hostienmühle BF2 Ecke r.o. Maria der Verkündigung, BF 2.2P2, orangerote, wohl ölhaltige Imprimitur unter proteinhaltigem Inkarnat. Grüner Mantel des dritten Apostel von links BF 2.3 P2. 358 Vergleichende Analyse der Proben BF2.3 P2 und BF3.3 P4 hinsichtlich der Imprimitur lieferte Prof. Dr. Christoph Herm, HfBK Dresden: Die Anfärbung mit Natriumsulfid wies keinen erhöhten Bleigehalt in der Imprimitur der Probe BF2.3 P2 nach; der Scan der EDX-Analyse zeigt allerdings einen gleich hohen Pb- und geringen Fe-Gehalt in Imprimitur und Farbschicht und einen Anstieg des Sn-Gehaltes in der Imprimitur, auf den in der Auswertung von Herm nicht eingegangen wird. (HERM 2006/1, Abb. 5, 7 und 10, wobei Abb. 7 von BF2.3 P2 ein Gesamtspektrum zeigt, Abb. 10 von BF3.3 P4 jedoch das Spektrum einer Punktmessung nur von der Imprimitur!). Bei BF3.3P4 erscheint das Blei hell in der Darstellung mit dem Rückstreuelektronen-Detektor, ebendort Abb. 9, vgl. Anhang Kap. 7.1. 359 Rückschluss auf Blei-Zinn-Gelb aus Sn-Anregung in Probe BF2.3 P2, s. Anm. 41. Da hier auch der Eisenanteil unauffällig ist, fällt die Bestimmung des farbgebenden Pigments aus der Palette der um 1400 verfügbaren Pigmente schwer. Ockerfarbene Erden wären am nahe liegendsten. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 124 - 2.5.3 Blattmetallauflage und ihre Oberflächengestaltung An der Verwendung der Blattmetallauflagen lässt sich die ganz konsequente Abstufung des für die drei Schauseiten der sogenannten Werktags-, Sonntags- und Feiertagsseite betriebenen materiellen Aufwands ablesen: Auf der Außenseite kommen keinerlei polierte Blattmetallauflagen und nur in wenigen Partien der Nimben und Kronen eine Blattgoldauflage als abschließende Verzierung der Malerei vor. Im mittleren Zustand dominieren die großen Farbflächen der Apostelgewänder, für die Goldhintergründe und die Brokatuntergewänder sind ca. 30% der Malfläche mit Blattmetallen belegt. Auf der kostbarsten, inneren Schauseite dagegen wurden auf ca. 60% der Bildfläche Metallauflagen aufgebracht, in manchen Bildfeldern sogar etwa 70%, z. B. in der Geburt der Maria auf dem linken Flügel oben links oder der Geburt Christi auf dem rechten Flügel Mitte links. Dies fällt heute nicht auf Anhieb in diesem Umfang auf, weil einige Metallauflagen mit farbigen Überzügen und Mustern verdeckt und/oder durch Korrosion verschwärzt sind und damit ihr metallisches Schillern verloren haben. Ähnlich sieht es bei der Rahmenfassung aus: Nur die Rahmen des inneren Zustands sind vergoldet, dazu die zwischen den Bildfeldern zu rekonstruierenden Zierleisten. Es wird zu zeigen sein, dass eine entsprechende klare Kategorisierung der drei Schauseiten auch in der Oberflächengestaltung der Metallauflagen eingehalten wurde und an der Art der Punzierungen und des Musteraufwands abzulesen ist. Der Dekorationsreichtum und die große Vielfalt an mit Metallauflagen erreichten Effekten ist ein charakteristisches Merkmal des Göttinger Barfüßerretabels und seines Meisters. Ist die Apostelseite noch auf überwältigende Fernwirkung ausgerichtet, so überraschen der nur in Nahsicht erkennbare Detailreichtum und die Qualität der Verzierungen der Goldoberflächen im inneren Zustand. Sie stehen in einem merkwürdigen Gegensatz zur enormen Größe des Retabels und waren ursprünglich in dem langen Kirchenraum von fern sicher gar nicht wahrnehmbar, von den Teilnehmern der Andachten allenfalls in Form von im Kerzenlicht reflektierenden Partien; nur für den die Andacht zelebrierenden Priester mögen die punzierten Engel identifizierbar gewesen sein. Mit welchen Mitteln diese Effekte technisch erreicht wurden, wird im Folgenden beschrieben. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 125 - Vorritzung Die nach der Unterzeichnung ausgeführte Vorritzung hat am Barfüßer-Retabel tatsächlich nur die Funktion, die Unterzeichnungslinien im Bereich der mit Blattmetall zu versehenden Partien zu übertragen. Es ist keine eigenständige Ritzzeichnung. Darüber hinaus gibt es Ritzlinien, die später während des Malprozesses ausgeführt wurden. Auch sie haben nur dienende Funktion zur Konstruktion architektonischer Elemente und werden weiter unten behandelt.360 Auf den Malereien des geschlossenen Zustands lassen sich gar keine Ritzlinien feststellen, nicht einmal in den Nimben.361 Angesichts des Fehlens von flächigen Vergoldungen oder anderen Metallauflagen erscheint dies logisch. Auf der Festtagsseite sind die Bildfeldränder, also die für die Zierbänder zu reservierenden Streifen mit Hilfe eines Lineals durchlaufend, also nicht nur im Bereich der Goldhintergründe sondern auch in der Malerei vorgeritzt.362 Konstruiert wurden auch alle Nimben mit ritzenden Zirkellinien. Die Zirkeleinstichlöcher für die Vorritzung der Außenkonturen und die Trassierung weiterer konzentrischer Hilfslinien für die Punzierung werden im Streiflicht und in der IR-Reflektografie deutlich sichtbar (Abb. 33, 49 a, 50, 63 b). Es sieht so aus, dass diese Punkte im Zuge der Unterzeichnung für die weiteren Arbeitsschritte dunkel gekennzeichnet wurden. Entsprechend ihrer rein technischen Funktion konzentrieren sich die Ritzlinien hauptsächlich auf die an die Vergoldungen der Hintergründe angrenzenden Konturlinien der Figuren und der Architekturen. Da jedoch alle Brokatgewänder, Harnische, Waffen und Gefäße mit Metallauflagen bedeckt sind, finden sich in diesen Bereichen zusätzlich zu den Konturen auch geritzte Binnenzeichnungen. Die Faltengebungen der Gewänder scheinen in derselben Dichte, wie sie in den IR-Reflektografien zu erkennen sind, auch im Bereich der Brokate vollständig nachgeritzt worden zu sein. Der Umfang der Vorritzungen wird in der exemplarischen Kartierung des Bildfeldes mit „Christus vor Herodes“ deutlich (Abb. 76). 360 Siehe Kap. 2.5.4, S. 145. Für die nochmalige Überprüfung dieses Befundes danke ich Kirsten Hinderer, Restauratorin des Niedersächsischen Landesmuseums. 362 Deutlich erkennbar rechts und links des Kreuzigungsbildes auch in der unteren Bildhälfte im Bereich der Malerei, sowie z.B in der Anbetung der Könige (BF 24), oben rechts senkrecht, nicht von der grünen Übermalung des Zierbandes abgedeckt. 361 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 126 - Dass die Ritzzeichnung der Pinselunterzeichnung genau folgt, erkennt man an ein paar Details: An der Hand der Hl. Elisabeth von Thüringen auf dem linken Predellenfragment wird im Vergleich von Auflicht und IR-Reflektografie deutlich, wie Ritzzeichnung und Unterzeichnung übereinstimmen; die Korrektur der Hand ersann erst der Maler im nächsten bzw. – nach der Vergoldung – übernächsten Arbeitsgang des Farbauftrags (Abb. 51 a,b). Weitere Verschiebungen kleinerer Details erlaubte sich der Maler, wenn er z.B. in der Darbringung im Tempel Halsausschnitt und Taille Mariens höher setzte, als die Ritzlinien es vorgaben. Auf der Sonntagsseite gibt es ein paar Veränderungen von Faltendetails.363 Erhebliche Pentimenti zeigen sich in der Baldachinzone über den Aposteln des linken Außenflügels: Hier überlappt die Vorritzung der Schriftbänder ursprünglich die nach unten hängenden Kreuzblumen, in der Malerei bekamen sie dann einen ganz anderen Verlauf. Diese Merkmale belegen, dass die Ritzzeichnung am Barfüßerretabel nicht mehr als ein „mechanisch“ umgesetzter Arbeitsgang war, um die Unterzeichnung zur Orientierung bei der Metallauflage zu übertragen. Es ist kein Prozess des Überlegens und Gestaltens ablesbar. Dieser Arbeitsgang war also leicht zu delegieren. Anlegemittel Im Bereich der glanzvergoldeten Hintergründe ist ein Poliment aus sehr dünn aufgetragenem, blass rotem Bolus an beschabten Partien offen zu erkennen (Abb. 88 a). Bei der zerstörungsfreien Mikroröntgenfluoreszenzanalyse waren vor allem Eisenbestandteile für diese Schicht nachweisbar.364 Auf der goldenen Rahmenfassung der Festtagsseite, die heute nach Freilegung den Goldton fortführt, zeigt sich der rote Bolus an den vielen geschädigten Partien an der Oberfläche nicht, nur die Querschliffe von der Rahmenfassung deuten auf eine etwas rötlich abgetönte Leimschicht hin.365 Ähnlich sieht es an den mit Silber und Zwischgold belegten Partien aus: Im Auflicht ist an einigen Stellen nur eine dünne, nicht deckende, ocker-orange wirkende Anlegemittel363 Zum Beispiel auf dem linken Außenflügel, innen (BF5), im Brokatgewand über dem Fuß Jacobus' d.Ä. Ausschlaggebend ist die µRFA-Analyse aus der Heimsuchung BF22 RF1, die außerdem einen geringen Zn-Anteil zeigt neben Ca und Sr aus der Grundierung. Der bei einem über einen Kratzer im Gold hinweg geführten „line-scan“ gemessene beträchtliche Anstieg von Fe- und Pb-Intensitäten (BF5.4 RF4) ist mit dem Überlappen der Bleiweißimprimitur aus der Farbpartie des angrenzenden Apostelgewandes zu erklären. Vgl. HERM 2006/2, S. 12 und 33. 365 SPECKHARDT 2000, S. 18, 20, 52. 364 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 127 - schicht auszumachen. In mehreren Querschliffen zeichnen sich hier unter der Metallauflage sehr dünne transparente Anlegemittelschichten mit wenigen roten und dunklen Pigmenten ab, die sich aber wegen ihrer geringen Schichtdicke hinsichtlich des Bindemittels nicht analysieren ließen. Am wahrscheinlichsten ist ein etwas abgetöntes LeimAnlegemittel. Wie oben beschrieben, reicht die ölige Imprimitur teilweise in Partien mit Blattmetallauflage, wie z.B. im Bereich des Strahlenkranzes um das neugeborene Christuskind auf dem rechten Innenflügel (Abb. 102). Die Blattgoldauflage unterscheidet sich hier oberflächlich nicht von den Polimentvergoldungen im Hintergrund. Hier könnte also ausnahmsweise ein Poliment auf die ölhaltige Bleiweißimprimitur aufgetragen worden sein. Verwendete Blattmetalle und ihre Qualitäten Das Barfüßerretabel weist goldene und silberne Partien in hervorragendem Erhaltungszustand auf. Hingewiesen sei auf die Goldhintergründe der Außenflügel auf der Apostelseite wie auch auf solche auf der jeweils linken Hälfte der Innenflügel auf der sogenannten Festtagsseite sowie auf die Versilberungen der Rüstung des Soldaten am rechten Rand der Kreuzigungsszene und im gelüsterten Brokatgewand der Maria der Heimsuchung (Abb. 79, 80). Dazwischen gibt es Goldtöne in so vielen Spielarten, dass sich die Frage nach den vorkommenden Blattmetallqualitäten stellte, die indes für die heute zur Verfügung stehenden analytischen Verfahren eine große Herausforderung darstellte. Zur Einschätzung der Qualität des Blattgoldes lieferte die Anfertigung von Mustertafeln einen ersten Hinweis.366 Zu dem blassen Goldton der originalen Polimentvergoldungen passte Rosenobeldoppelgold mit 23,5 Karat im Farbton am besten.367 Dies steht in interessanter Übereinstimmung zu den mit der µRF-Analyse annähernd ermittelten Resultaten. Da die µRF-Spektrometrie ein halbquantitatives Verfahren darstellt und bisher keine Vergleichsmessungen zu Blattmetallen vorlagen, waren Referenzmessungen, die an losen und auf Poliment aufgelegten Blattmetallen durchgeführt wurden, von grund- 366 Brigitte Schröder fertigte die Mustertafeln mit verschiedenen Vergoldungen und Polituren. 23,5 Karat entsprechen einem Massenverhältnis von 97,9% Gold neben Anteilen von Kupfer und sehr wenig Silber. 367 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 128 - legendem Wert.368 Nach den Intensitätsverhältnissen der Röntgenanregung von Gold, Silber und Kupfer lagen bei dem am Barfüßerretabel analysierten Blattgold Anteile von ca. 96 % Gold bei 4% Kupfer und keinen oder sehr geringen Spurenelementen Silber vor.369 Diese Werte entsprechen den von der Vergoldung der Reliquienbüste aus Uslar ermittelten Ergebnissen,370 während das auf der Goldenen Tafel aus Lüneburg verwendete Blattgold einen höheren Kupferanteil aufweist.371 Das auf der Außenseite zur abschließenden Verzierung der Malerei in den Nimben und Kronen verwendete Blattgold hat einen dunklen, warmen Ton. Die optisch naheliegende Vermutung, es handele sich hier um Zwischgold, war durch die µRF-Messungen zu widerlegen, da nur ein sehr geringer Silberanteil festzustellen war. Aufgrund der darunterliegenden Farbschichten lässt sich aber nicht sagen, ob ein Teil der sehr hohen Kupferanregung nicht auch auf einen gegenüber der für die Glanzvergoldung verwendeten Goldsorte höheren Kupferanteil im Blattgold schließen lässt. Die Farbverschiebung erklärt sich allerdings auch aus der Untermalung mit der grobkörnigen roten Imprimitur, dem Mordant und aufliegenden Überzügen. Die unterschiedlichen Spielarten der weiteren Goldtöne, waren – wie sich durch die µRF-Messungen herausstellte – vor allem durch Abtönungen von Silber- und Zwischgoldauflagen mit verschiedenen, farbigen Überzügen begründet. Andererseits ließ sich ein Zwischgold mit einem sehr hohen Goldanteil feststellen, der eine dickere goldene Deckschicht auf einer dünnen Silberunterlage vermuten lässt.372 Schon bei den Auflichtuntersuchungen fielen die Goldbrokate z.B. des Mannes mit rotem Turban rechts unter dem Kreuz durch einen gewissen, aber nicht eklatanten Farbunterschied zum Blattgold, aber mit einem für Zwischgold hervorragenden Erhaltungszustand auf (Abb. 104). Die durchgeführten µRFA-Messungen reichten jedoch nicht aus, um die Verwendung verschiedener Zwischgoldsorten ausmachen zu können, ja in einigen Fällen musste 368 Zu den zwei unterschiedlichen Messverfahren mit einem Molybdän- und einem Wolfram-Target siehe oben Kap. 1.6, S. 40, zur Auswertung siehe HARTWIEG/HERM 2005. 369 Messung mit dem Wolfram-Kopf, Intensitäten der Ag L1, Au L1 und Cu K12-Linien 370 Zur Reliquienbüste siehe Kap. 4.4 und Anm. 765 (96,4-96,7% Au und 3,3 % Cu). 371 Vergoldung der Goldenen Tafel, Messung im Bildfeld mit der „Vorhölle“: 92-92,5% Gold, 7,6% Kupfer, 0-0,4% Silber, s. HARTWIEG/HERM 2005, Table 1 (Corrigenda). 372 Skaug definiert Zwischgold: „..Not an alloy [...], but the laminate consisting of a silver base with a thin gold layer on top.” und liefert Begriffsklärungen für den europäischen Sprachraum. Erling Skaug, http://www.punchmarks.net/Glossary.html vom 26.03.2010. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 129 - sogar offen bleiben, ob es sich um Gold oder Zwischgold handelt.373 Setzt man die mit einer Wolfram-Röhre gemessenen Silber- und Goldintensitäten zueinander ins Verhältnis, so schwankt der Silberanteil zwischen ca. 33% an der Goldenen Pforte (Abb. 81) und 42 % im Brokatgewand der Maria der Vermählung (Abb. 96). Zieht man die Messungen mit der Molybdän-Röhre hinzu, die allerdings Silber schlechter detektiert, so ergaben sich Silberanteile von nur 11% beim Hauptmann der Kreuzigung und 17% bei der Goldschale des Pilatus (Abb. 92). Im Vergleich war an der Goldenen Tafel aus Lüneburg sogar mit der Wolfram-Röhre ein Zwischgold mit einer Silberanregung von nur 11% und einem entsprechend sehr hohen Goldanteil feststellbar. Diese Befunde liegen weit entfernt von einem modernen Zwischgold, das nur eine dünne Goldschicht auf einem dickeren Silberträger aufweist und entsprechend bei der µRF-Analyse einen Silberanteil von 78% zeigte. Die Schwankungen in der Zusammensetzung der Zwischgoldauflagen – auf die unten noch eingegangen wird – sind durch das manuelle Ausschlagen und die Verwendung von Münzen als Grundmaterial leicht erklärbar. 374 Wegen der Überzüge auf den Versilberungen, ohne die sich die Metallauflage in vielen Partien nicht so gut erhalten hätte, waren im Silber vorkommende weitere Elementbestandteile nicht auswertbar. Einige Silberauflagen sind komplett korrodiert und erscheinen schwarz (Abb. 103). Mehrere Brokate, die durch die gelben Überzüge hellem Zwischgold ähnlich sahen, stellten sich als Silberlüster heraus. Polituren Auf den Goldhintergründen war der sanfte Glanz des Goldes auffällig, für den die Politur verantwortlich ist. Bei dem Versuch, die Vergoldungstechnik auf Musterplatten zu rekonstruieren, ließ sich der Glanz am ehesten dadurch herzustellen, dass man den Bolusgrund polierte, bevor das Blattmetall aufgelegt wurde.375 Die mit dem Achat polierten Vergoldungen hatten dahingegen einen viel zu spitzen Glanz. Auch waren 373 Herm hält sowohl Gold wie auch Zwischgold beim Mann mit rotem Turban auf der Kreuzigung (BF 18.6 RF4, Herm: „Blattgold oder Zwischgold“) und an der Schale des Pilatus für möglich (BF 19 RF1, Herm: „Blattgold (gemäß Ag/Au-Verhältnis im Mittelwert; gemäß MP[Messpunkt]10 eher Zwischgold)“), die Auflichtuntersuchungen und der nicht unerhebliche Silberanteil sprechen hier jedoch für Zwischgold. HERM 2006/2, S. 5-7. Unklar bleibt insbesondere die Auswertung des für die doppelte Blattmetallauflage in einigen Brokaten verwendete Material (BF5.5 RF1, Herm: „eher Blattgold auf Silberfolie als Zwischgold“). 374 Siehe Kap. 3.3, S. 199. 375 Brigitte Schröder, die die Musterplatten herstellte, ist diese Beobachtung zu verdanken. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 130 - Streifen vom Polieren auf der Originaloberfläche nicht zu finden. Natürlich ist einschränkend in Betracht zu ziehen, dass Überzüge und deren Abnahme im Laufe der Zeit zu Veränderungen an der Oberfläche geführt haben. Auch die einzelnen in die Malerei integrierten Goldflächen, wie zum Beispiel die Nimben der Marien unter dem Kreuz oder die Strahlenmandorla um das neugeborene Kind auf dem rechten Flügel, hatten einen von den Hintergründen nicht zu unterscheidenden Glanz, auch wenn der Untergrund hier durch das Durchziehen der weißen Imprimitur möglicherweise beim Polieren nicht mehr so flexibel nachgeben konnte wie in den ausgesparten Partien. Insbesondere die Vergoldung der Rahmen hat erheblich gelitten, so dass mögliche ursprüngliche Glanzunterschiede hier nicht mehr auszumachen sind. Im Bildfeld mit der Begegnung von Joachim und Anna an der Goldenen Pforte auf dem linken Innenflügel wird das namengebende goldene Türblatt durch die Gestaltung mit der sogenannten Kreispolitur herausgehoben (Abb. 81 a,b). Die – nach der Rekonstruktion Kollers376 – mit Hilfe einer Art Spindel oder Bohrer gebildeten Kreise haben einen relativ gleichmäßigen Durchmesser zwischen ca. 10 und 12 mm. Skaug stellt auch einfachere Herstellungstechniken zur Diskussion, 377 mit denen aber die am Barfüßerretabel festzustellende Perfektion der Ausführung kaum zu erreichen ist. Dies ist ein einzigartiger Befund aus folgenden Gründen: Die Kreispolitur war in Nordeuropa bisher nur auf späteren Werken als das Barfüßerretabel festzustellen, mit einer Ausnahme: Das nahe liegendste und früheste Beispiel befindet sich – laut Beobachtung Tångebergs – auf dem Merxhausener Retabel von 1350/1370 in Kassel.378 Normalerweise findet man die Kreispolitur nur auf reinem Blattgold. Hier aber ließ sich Zwischgold auf dem auch für die Vergoldungen verwendeten, dünn aufgetragenen, hellroten Poliment nachweisen. 379 Die Metallauflage befindet sich noch heute in einem hervorragenden Erhaltungszustand. 376 KOLLER 1990/2, S. 53. Politur mit dem Daumen, Erling Skaug, Stippled angles and forgotten halos. Manuskript für den Kolloquiumsband zum Göttinger Barfüßeraltar, für dessen Überlassung dem Autor herzlich gedankt sei. 378 Eine Aktualisierung der bisherigen Kreispolitur-Befunde und den Hinweis auf das früheste Vorkommen für die kreisförmige Politur von Nimben auf Ikonen aus dem frühen 11. Jahrhundert vom Katherinenkloster auf der Insel Sinai liefert Skaug, ebenda. Interessant ist, dass Uwe Gast jüngst aus stilistischen Erwägungen für das aus Kloster Merxhausen bei Kassel stammende Retabel eine Entstehung in einem „der Zentren in Niedersachsen“ in Erwägung zieht. Uwe Gast, 'Im Niemandsland' - Alte Thesen und neue Ideen zu den stilistischen Voraussetzungen der Malereien des Retabels in St. Jacobi zu Göttingen, in: CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005, S. 421. 379 Nachweis von Zwischgold mit Hilfe der µRF-Analyse durch einen Line-scan über einen Kratzer hinweg (BF10 RF4). HERM 2006/2, S. 20. 377 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 131 - Die obere Goldschicht ist durch die polierende, d.h. reibende Bewegung nicht verletzt. Durch den nach der Politur noch dunkler wirkenden Goldton rückt die Tür räumlich in den Vordergrund und nicht in die Ebene des Goldhintergrundes (Abb. 11). Punzierungen und Trassierungen Die Punzierungen am Barfüßer-Retabel zeichnen sich nicht durch ein reiches Repertoire verwendeter Motivpunzen aus, sondern durch den handwerklich und künstlerisch anspruchsvollen Einsatz einfachster Punzwerkzeuge für die feinteilige figürliche Darstellung von Engeln in einigen Goldhintergründen der Festtagsseite. Daneben werden die Punzen auch verwendet, um die großen Goldflächen mit Streumustern aufzulockern und zu rahmen sowie die Nimben mit Legenden zu versehen und zu dekorieren. Versucht man eine genaue Auflistung des Repertoires verwendeter Punzwerkzeuge, so sind gerade die einfachsten Punktpunzen, mit denen so kunstvolle „pointillierte“ Figuren und Muster gefertigt wurden, schwer voneinander zu unterscheiden, weil sie ihren Durchmesser je nach Tiefe des Einschlags verändern (Abb. 82). Es ist deshalb nicht ganz auszuschließen, dass die ca. 1,3 mm großen konkaven Einschläge noch mit dem Punzeisen geschaffen wurden, dem auch die 0,75 bis 1 mm großen Punkte entstammen (Bezeichnungen P2 und P3, vergleiche Liste S. 133), und die feinsten Punkte unter 0,2 mm im Durchmesser auch mit der „Nadelpunze“ gesetzt werden konnten, die zur Ausführung der ca. 0,3 bis 0,5 mm großen Punkte diente (P4 und P5). Dies würde die Arbeit erheblich erleichtern, weil kein ständiger Wechsel der Punzeisen nötig wäre. Weil die Punkte sich nicht so klar in der Tiefe unterscheiden, werden die Werkzeugspuren unten aber getrennt aufgelistet. Willberg nennt die größeren Punktpunzen „Perlpunzen“ oder „Perlstempel“, was insofern sinnfällig ist, da sie mit den mit weißer Farbe erhaben aufgesetzten „Perlen“ negativ korrespondieren. 380 Dies wird hier nicht übernommen, weil die Grenze in der Größe schwer zu ziehen ist. Ein Zahnrädchen kam nur auf der Festtagsseite zum Einsatz, besonders im Kreuzigungsbild und in der aufwendigen Umrahmung der Szenen der Heimsuchung und Marienkrönung (Abb. 88, 89). Die geringfügigen Unterschiede in der Dichte der Punkte 380 WILLBERG 1997, S. 84 und Katalog. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 132 - pro cm zeigen, dass den Werkstattmitarbeitern zwei Rädchen zur Verfügung standen.381 Die mit Zahnrädchen ausgeführten Linien sind den entlang der Bildfeldränder gesetzten Halbkreisen nah verwandt (Abb. 84). Beide setzen sich aus rechteckigen Einzelpunkten zusammen. Denkbar wäre, dass ein halbkreisförmiges Punzeisen ähnlich eines Hohleisens mit gezahnter Kante und einer Breite von ca. 19 mm zur Anwendung kam. Da Form und Breite der Halbbögen aber doch etwas variieren, ist wahrscheinlicher, dass das Zahnrädchen schräg gehalten und kreisförmig geführt wurde, um die Girlanden zu bilden.382 Aufgeführt werden hier auch die Werkzeuge, die zur Strukturierung der Silber- und Brokatflächen verwendet wurden. Hier sind bisher sehr verschiedene Bezeichnungen im Umlauf. Solange die meist sichelförmigen Strukturierungen von Kettenhemden nicht vor der Polimentvergoldung eingraviert oder nach der Politur mit einer Reißnadel geritzt, sondern geschlagen sind, trifft der Begriff der Punze sicher am besten. Am Barfüßerretabel sind zunächst wenige Hilfslinien geritzt oder trassiert (Definition s.u.) und dann mit 5 mm breitem Hohleisen mit weichen Abdrücken in Reihen gegenläufig in den noch flexiblen versilberten Grund eingeschlagen (Abb. 79 b). Ähnlich gilt dies für die Strukturierungen von Brokaten, mit denen der Fadenverlauf der textilen Oberfläche imitiert werden soll. Sie werden hier als „Strichpunze“ bezeichnet, was an anderer Stelle noch diskutiert und begründet wird. Am Barfüßerretabel kommen sie nur auf der Mitteltafel vor. Abzulesen sind unterschiedlich lange und breite Abdrücke, die jeweils in Reihen mit zwei unterschiedlichen Instrumenten in den mit Blattmetall versehenen Grund eingeschlagen wurden: Das eine Werkzeug wird einem Flacheisen mit spitzem Ende ähnlich gewesen sein, das andere einem Schlitzschraubenzieher mit stumpfem Abschluss. Da die Werkzeuge meistens etwas schräg gehalten wurden, sind die Striche an einer Seite tiefer und breiter als an der anderen, spitz auslaufenden und unterschiedlich lang. Folgende unterschiedliche Punzformen lassen sich auf den Vergoldungen sowie – unter P9 bis P11 aufgeführt – auf den Versilberungen und Zwischgoldauflagen identifizieren: 381 Siehe Kap. 3.3, Liste S. 203 f. Die Kanten der quadratischen Punkte sind allerdings an der „Innenkurve“ kaum tiefer eingedrückt, was bei der schrägen Führung des Werkzeugs zur erwarten wäre. 382 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext Nummer P1 P2 P3 P4 P5 P6 P7 Punzenform Punkt-Punze Punkt Punkt Punkt Punkt Zahnrädchen mit quadratischen Punkten Gezahnter Ring P8 Kleiner Ring P9 Strich, eckig P10 Strich, spitz P11 Sichel Größe Ø 2,2 – 2,75 mm Ø ca. 1,3 mm Ø ca. 0,75 –1 mm Ø ca. 0,3 – 0,5 mm Ø unter 0,2 mm 12 quadratische Punkte/cm Ø 5 mm äußerer Durchmesser, Kreis mit 19 quadratischen Punkten Ø 3,5 mm äußerer Durchmesser, 5 Punkte Max. 7 mm lang, Abdrücke 4-5 mm, 0,2-0,5 mm breit Max. 8 mm lang, Abdrücke 4-8 mm, 0,1-0,5 mm breit 5 mm lang, < 1 mm breit (Kettenmütze des Soldaten) 2.5.3 Blattmetallauflage - 133 - Bemerkung Hauptmann Kreuzigung Brokat auf Zwischgold Gewand Pilatus Brokat auf Zwischgold Sehr charakteristisch ist die im äußeren Durchmesser 5 mm große Ringpunze mit 19 quadratischen Punkten (P7). Dieses Werkzeug kommt am Barfüßerretabel sowohl in den Nimben wie auch entlang der Bildfeldränder vor (Abb. 87 – 89). Aufgrund vergleichender Befunde liegt nahe, dass dieses Werkzeug aus einem gezahnten Blech hergestellt wurde.383 Am Magdalenenaltar war die Ringpunze identisch auf der Tafel mit dem „Noli me tangere“ in der Staatsgalerie Stuttgart wie auch auf jener mit der „Auffahrt der Magdalena“ im Landesmuseum Münster nachweisbar (Abb. 128 a,b).384 Sie konnte auch auf den zugehörigen Tafeln in Privatbesitz gefunden werden. Nur an den Nimben ist die systematische Abfolge der Arbeitsgänge ablesbar: Sie wurden zunächst mit einem Zirkelschlag vorgeritzt, erhielten – nach der Vergoldung – bei Verwendung derselben, häufig noch erkennbaren Zirkeleinstichlöcher diverse trassierte Hilfslinien, entlang derer die verschiedenen Musterpunzen aufgereiht und die Legenden (Bezeichnung der Heiligen) angelegt wurden. Der äußere Rand ist jeweils mit der größten Punktpunze (P1), sozusagen einer Perlreihe, konturiert und deutlich vom Hinter383 Siehe unten Kap. 3.3, S. 202 und Abb. 185 a, b. Iris Herpers überprüfte dies an der Tafel in Münster. Ihr und Katja von Wetten, Staatsgalerie Stuttgart, ist für die Bereitstellung der Detailaufnahmen zu danken, vergleiche Kap. 4.1, S. 241. 384 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 134 - grund abgesetzt. Die Schriften wurden zunächst mit einer Punktreihe umfahren, dann entweder „positiv“ mit dicht aufgereihten Einzelpunkten ausgefüllt, oder „negativ“ herausgearbeitet, d.h. glatt belassen vor „gekörntem“ Hintergrund (Abb. 148, 149). Skaug spricht von „forgotten halos“ für die verlorene Form.385 Je höher das Bildfeld und je weiter der Betrachterabstand, desto nachlässiger erscheint die Ausführung der Verzierung: Der Nimbus der Maria ist in der Darbringung im Tempel auf dem rechten Innenflügel oben mit vielen konzentrischen Kreisen aus einfachen Zirkellinien gestaltet. Diese Abstufung von unten nach oben zeigt sich auch in den Punzierungen, die die einzelnen Bildfelder rahmen, ja hier ist eine Steigerung im Dekorationsaufwand entsprechend der Bedeutung der Darstellungen ablesbar: Während die Bildfelder mit Franziskus und dem Hl. Georg auf der Mitteltafel ganz ohne Rahmung bleiben, ist der Goldhintergrund der Szene mit der „Begegnung von Joachim und Anna an der Goldenen Pforte“ mit Blütenreihen und Dreipass-Arkaturen umrahmt (Abb. 94), die im Bildfeld der „Vermählung“ mit Blättchen und der Kreispunze noch ergänzt werden. Auf dem Kreuzigungsbild werden schließlich die gemalten Wolken punziert fortgeführt, von denen viele „gerädelte“ Strahlen ausgehen. Dieses Wolkenband erscheint nur am Ende des Marienlebens noch einmal in der Heimsuchung und in der Marienkrönung rechts unten (Abb. 89). Genau in diesen drei Bildfeldern finden sich auch die so fein gepunzten Engel (Abb. 88). Die größeren drei, die im Kreuzigungsbild das Blut aus den Wundmalen Christi auffangen, erscheinen heute aufgrund von Firnis- und Schmutzresten als dunkel punktierte Zeichnung, obwohl sie doch ursprünglich hell im Licht reflektieren sollten (Abb. 90). Für das Streumuster auf den Goldgründen der Apostelseite diente die größte Punktpunze zur Gestaltung einer 7-blättrigen Blüte um einen zentralen Kern (Abb. 86). Im inneren Zustand ist eine gleich gearbeitete 6-blättrige Blüte um einen Kreis aus Punkten innen und um dreiblättrige Strahlen aus Punktreihen außen erweitert, wobei Punktpunzen in drei Größen benutzt wurden (P1, P2, P4, Abb. 90). Durch die Gestaltung des Goldhintergrundes auf der Predellenfront mit genau diesem Motiv werden die Malereien dort eindeutig der Festtagsseite zugeordnet (Abb. 52). 385 Erling Skaug, s. Kap. 1.4, S. 29, Anm. 96. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 135 - Zusammengefasst sind drei Arten des Umgangs mit den Punzwerkzeugen festzustellen: (1) die einzeln oder in kleinen Gruppen gesetzte Punze, (2) das schematische „Körnen“ von Flächen (engl. granulation, oder stippling, nach Cennino Cennini granare a disteso) und (3) modellierendes “Pointillieren" (nach Cennino Cennini granare a rilievo).386 Bei den qualitätvoll pointillierten Engeln ist erstaunlicherweise keine Vorritzung oder Trassierung erkennbar, wobei kaum vorstellbar ist, daß es solche vorbereitenden Maßnahmen nicht gab. Es wird immer wieder diskutiert, ob der Maler selbst oder spezialisierte Handwerker in einem mittelalterlichen Werkstattbetrieb die Punzierungen ausführte. Skaug ist – im Sinne Cennino Cenninis - überzeugt, dass diese Art der anspruchsvollen Gestaltung des Kunstwerks Sache des Malers war. Am Barfüßerretabel sind allerdings auch in der Ausführung der Malerei mehrere Hände erkennbar, die teilweise die Figuren routiniert plakativ und ohne große Detailfreude ausführten. Verwandtschaften finden sich andererseits, wenn man die auf der Festtagsseite gemalten Engel – z.B. in der Wolkenzone unter der Marienkrönung – mit den punzierten Engeln, die gemalten Wolkengirlanden mit den auf den Goldhintergründen fortgeführten Punzierungen vergleicht oder auch die Ausführung der Perlentasche des Mannes mit grünem Turban unter dem Kreuz betrachtet. In der Gruppe der Werkstattmitarbeiter werden diese Arbeiten einem besonders spezialisierten oder talentierten Mitglied überlassen worden sein. Gestaltung der Silberpartien Von der Gestaltung der versilberten Flächen mit Punzen war schon die Rede, hier soll es um deren farbige Differenzierung gehen. Ein transparenter Überzug war zur Erhaltung des Silbers obligatorisch. Zur Modellierung der Harnische der Soldaten am rechten Rand des Kreuzigungsbildes wurde darauf mit spitzem Pinsel eine Art Schwarzlotzeichnung aufgebracht.387 Da, wo eine gegenständliche Differenzierung erforderlich war, sind einzelne Partien mit farbigen Lasuren abgetönt, z.B. am Visier und der Zierscheibe über deren Drehpunkt oder an den Lederschnallen (Abb. 79 a). Überraschend war, dass sich die Elementanteile am silbernen Helm des Soldaten nicht von der bräunlich abgesetzten 386 Siehe ausführlicher Kap. 3.3 sowie Skaug 1994. Straub hat den Begriff der Schwarzlotzeichnung analog der Zeichnung auf farbigen Gläsern als gemäldetechnologischen Fachbegriff eingeführt, STRAUB 1988, S. 230f. Ausführlicher dazu: Nina Westermayer, Die sog. Schwarzlotzeichnung als schwarze Linienzeichnung auf dem Goldgrund in der mittelalterlichen Tafelmalerei und Skulpturenfassung, Seminararbeit Hochschule füür Bildende Künste Dresden 2011. 387 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 136 - Visierschraube unterschieden (Abb. 79 b). Dies Ergebnis besagt, dass der Überzug mit einem organischen Farbstoff und/oder Kohlenstoff abgetönt worden sein muss, während für die ledernen Schnallen am Rücken seines Harnischs deutliche Eisenanteile einer braunen Erde nachweisbar waren (Abb. 79 c).388 Wie oben erwähnt, ist eine silberne Metallauflage im Bereich der Brokatgewänder in viel größerem Umfang festzustellen, als das farbige Erscheinungsbild zu erkennen gibt. In einigen Partien blieb sie, mit einem transparenten Lack geschützt, farbgebend. Besonders reizvoll wird die Oberflächenwirkung dort gewesen sein, wo ein deckend aufgemaltes Bleiweiß-Muster ein Wechselspiel zwischen reflektierenden Silber- und matten Weißpartien ergab, wie beispielsweise in dem nach der Vision der Hl. Birgitta weißen Gewand der Maria der Geburt (Abb. 91).389 Dieses zarte Changieren zwischen Hell und Dunkel bzw. positiven oder negativen Musterformen je nach Lichtreflexion auf dem Silber ist allerdings heute nicht mehr nachzuvollziehen, da die Verschwärzung des Silbers in diesen Partien zu einem starken, nicht umkehrbaren Schwarz-WeißKontrast geführt hat. In anderen Bereichen dienen die Versilberungen vornehmlich als Reflektor für farbige Lüsterungen, die vor allem auf der sogenannten Festtagsseite des Barfüßerretabels ursprünglich in großer Variationsbreite vorzustellen sind, wie im Folgenden beschrieben. Darstellung von Brokatstoffen In den Brokatgewändern liegt ein aufwendiger Schichtenaufbau vor, der sich in der Regel wie folgt darstellt: (1) leicht rotbraun getöntes, wohl proteinhaltiges Anlegemittel, (2) Silber- oder Zwischgoldauflage, (3) Strukturierung mit einer Strichpunze nach einer Skizzierung des Musters (nur an einigen Gewändern der Mitteltafel), (4) transparenter Überzug oder farbiger Lüster, (5) deckend, teilweise zweischichtig aufgemaltes, farbiges Muster, (6) lasierende Faltenangaben. 388 Die µRF-Analyse vom Helm (BF18.6 RF7) und der dunkleren Visierschraube (BF18.6 RF5 und 6) ergab den identischen Nachweis von Fe-, sowie geringen Cu- und Pb-Intensitäten für den Überzug, Kohlenstoff ist mit der µRFA nicht detektierbar. HERM 2006/3, S. 9-11. 389 Nach der Vision der Hl. Birgitta war die Jungfrau „mit einem weißen Mantel und einem dünnen Kleid angetan“ und ihr „goldglänzendes Haar war über ihre Schultern ausgebreitet“ (KOLLER 1990, S. 144). Hier trägt sie nur das ehemals weiß schillernde Kleid. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 137 - Mit diesen technischen Mitteln sollen italienische oder orientalische Seidensamte oder Lampasgewebe dargestellt werden. Am wirklichkeitsgetreuesten gelingt dies dort, wo die goldenen Partien entsprechend der mit Goldfäden durchwirkten Stoffe mit Punzierungen strukturiert sind und neben den glatten, farbigen, in realiter meist erhabeneren Samtpartien stehen (Abb. 92). Eine gewisse schematische Musterung ist am Barfüßerretabel aber nicht zu leugnen, da die Muster flächig, ohne Rücksicht auf die Modellierung angelegt sind und erst durch die abschließend aufgemalten Faltenangaben ihre räumliche Wirkung erhalten. Insofern ist eine unmittelbare Anschauung von Seidenstoffen nicht vorauszusetzen. Bei dieser Art großflächiger Mustrierungen stellt sich die Frage nach der effektiveren Verwendung von Schablonen. Am Barfüßerretabel ist sie nicht nachweisbar. Nachdem sich die Strukturierungen mit der Strichpunze an der Mitteltafel jedoch auf die goldsichtigen Partien beschränken und das später ohne Schablone mit Pinsel frei aufgemalte farbige Muster aussparen, muss man von einer Übertragung oder Skizzierung der Muster auf den Metallauflagen ausgehen. Es zeigen sich jedoch keine Ritzlinien oder Trassierungen. Bleibt die Frage nach „flüchtigeren“ Musterangaben wie Aufstäuben von Kohle oder Kreide. Dies ist mit Hilfe einer Lochpause linear oder mit einer Schablone flächig vorstellbar. Für beides gibt es keinen Nachweis. In den Querschliffen zeigen sich unter den farbig aufgemalten Partien keine Überzüge, mit wenigen Ausnahmen. Dieses deutet daraufhin, dass die transparenten oder farbigen Lüster (Schicht 4, s. o.) nicht flächig aufgestrichen wurden, sondern bereits die Muster berücksichtigten. Damit wären dann selbst bei den transparenten Überzügen die Muster an den Glanzunterschieden leicht zu erkennen, die anschließend mit deckender Farbe ausgefüllt werden mussten. An den Übergängen sind Überlappungen leicht erklärbar.390 Die Überzüge sind heute meist gelblich oder bräunlich. Dazu trägt die Vergilbung der Bindemittel, die chemische Reaktion von Grünpigmenten und das Ausbleichen von Farbstoffen bei. An einigen Brokaten ließ sich mit Hilfe der µRF-Analyse aufgrund des hohen Kupfergehalts eindeutig ein grüner Lüster bestimmen.391 Dies gilt z. B. für das 390 Annette Berg, Diplomrestauratorin und Mitarbeiterin im Restaurierungsprojekt zum Barfüßerretabel, wies darauf hin, dass die auffällige Grobkörnigkeit in den farbigen Musterbereichen durch das flächige Aufstupfen einer grobkörnigen, sehr schwach gebundenen ersten Farbschicht mittels einer Schablone denkbar wäre. In den Querschliffen zeigt sich allerdings keine separate Schicht. 391 Probe BF23 RF3: Cu, Ca, Fe, Pb, Ag, Sr in abnehmenden Konzentrationen, HERM 2006/2, S. 23. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 138 - Ehrentuch hinter der Maria in der Anbetung des Kindes auf dem rechten Innenflügel, das damit die Farbe der grünen Wiese fortführte und hinter die Maria im weiß schillernden Gewand und das Christkind auf goldenem Strahlenkranz optisch stärker zurücktrat (Abb. 13, 198 b). Wie oben auch für das Bildfeld der Verkündigung exemplarisch dargestellt,392 trägt die Farbveränderung der Überzüge heute zu einer Vereinheitlichung von Farbwirkungen bei. Wie sehr aber die Grüntöne der Lüster ursprünglich variierten, ist heute schwer nachvollziehbar. Die Korrosion des Silbers hat zusätzlich teilweise zur Verbräunung, teilweise zur Verschwärzung geführt. Dies ist bei der Farbbewertung der Brokate zu berücksichtigen. Die Muster sind mit Pinsel und deckender Farbe frei aufgemalt. Es deuten keine Farbwülste an den Musterrändern auf die Verwendung einer Schablone hin. Häufig wurde Rot als Musterfarbe verwendet, daneben Weiß auf Silber, Gelbgrün, mit Weiß ausgemischtes Hellgrün und Dunkelgrün, Rosa und ein ins Türkise gehendes Blau (Abb. 80, 91-95 und Brokatmustertabellen Anhang S. 323ff.). In der Regel ist der Farbauftrag einschichtig. Nur im Rot zeigen die Querschliffe einen zweischichtigen Aufbau: Die an der Oberfläche ablesbare Körnigkeit stammt von den groben Weißpigmenten in der hellroten Unterschicht, die von einer dünnen, dunkelroten Farblackschicht überdeckt wird. Mit Hilfe der µRF-Analyse ließen sich unterschiedliche Rotausmischungen feststellen, die heute nicht mehr so deutlich hervortreten. Das Muster auf dem Stoffbehang hinter der Weihnachtsszene enthält überwiegend Mennige neben geringen Anteilen von Zinnober, während das Muster auf dem Marienkleid in der Vermählung auf dem linken Flügel hauptsächlich aus Zinnober besteht, das allerdings heute teilweise blaugrau verschwärzt ist (Abb. 96). 393 Das türkisblaue Muster enthält feinteiliges Azurit.394 Einige Stoffe sind als besonders kostbar gekennzeichnet, indem einzelne Tiermotive extra golden hervorgehoben sind. Dies betrifft auf der Apostelseite nur das Untergewand des ganz links, heraldisch an erster Stelle stehenden Petrus, das in einem Rapport 392 Siehe Kap. 2.3, S. 83. Messung im Stoffbehang (Messpunkt BF23 RF7), im Marienkleid (Messpunkt BF13 RF2), HERM 2006/3, S. 14 u. 23. 394 Die µRF-Analyse des blauen Musters im Gewand des Joachims an der Goldenen Pforte legt aufgrund des Cu-Gehalts Azurit nahe (Messpunkt BF 10 RF 2), HERM 2006/3, S. 16. Die Analyse an einem Querschliff vom Gewand der Maria der Heimsuchung (BF22 P3) ergab feinteiliges Azurit, ausgemischt mit Bleiweiß, Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, Analysebericht von Heide Härlin vom 15.01.2003. 393 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 139 - von ca. 20 cm zwei Reihen gespiegelter goldener Löwen zeigt (Abb. 198 a). Im inneren Zustand sind es gleich vier Flächen mit zwei verschiedenen Mustern, die dieses Erscheinungsbild zeigen. Das Löwenmuster erscheint sehr verwandt in der Anbetung des Kindes auf dem von Engeln gehaltenen Ehrentuch, hier feiner gezeichnet als auf der Sonntagsseite und mit zwischen den Löwenköpfen herausgehobenen Kronen (Grafik 14).395 Auf den anderen drei Stoffpartien werden Greifvögel mit gesenktem Kopf und erhobenen Flügeln ebenfalls zuseiten einer Krone golden hervorgehoben.396 Sie schmücken die Bettdecke in der Mariengeburt auf dem linken Flügel oben, das Gewand der Magdalena auf der Kreuzigung sowie auf dem rechten Flügel das Untergewand der Elisabeth der Heimsuchung (Abb. 94). Technisch wurde dieser Effekt durch eine ganzflächige Versilberung, einen kupferhaltigen, also ehemals grünen Lüster, ein hier jeweils rotes Muster und eine zusätzlich partiell aufgelegte zweite Metallauflage, wahrscheinlich reines Blattgold erreicht.397 Als Anlegemittel ist Öl mit hohem Bleigehalt als Sikkativ anzunehmen.398 Ein Querschliff macht deutlich, dass die Metallauflage aufgelegt wurde, als das rote Muster in der ersten helleren Farbschicht angelegt war, obenauf wurde das Muster noch einmal mit derselben hellroten Farbe nachgezogen und mit rotem Farblack abgetönt. Für die abschließend auf den Mustern dunkler aufgemalten Faltenangaben sind wiederum Farblüster gewählt, teilweise im Ton der Muster (z.B. Dunkelblau auf mittelblauem Muster im Gewand der Maria der Heimsuchung, oder in vielen Partien Dunkelrot auf zinnoberrotem Muster), teilweise mit den Mustern kontrastierend (z.B. Dunkelrot auf Gelbgrün im Gewand des Johannes und des Andreas auf der Apostelseite, dunkelrote Falten auf weißem Muster beim Untergewand des Thomas rechts des Andreas und der Maria der Geburt oder auf türkisblauem Muster für das Gewand Joachims an der Goldenen Pforte sowie dunkelblaue Falten auf weißem Muster z.B. im Gewand des Mannes mit grünem Turban auf dem Kreuzigungsbild). Bei der dunkelblauen Lüsterfarbe am Verkündigungsengel und dem Mann unterm Kreuz sprechen die Indizien 395 Siehe die Brokatmusterzeichnungen und -tabellen im Anhang Kap. 7.2, S. 327 f. Siehe Anhang Kap. 7.2, S. 325 f. u. 17, Grafik 13. 397 Die µRF-Analyse legt Blattgold nahe, qualitätvolles Zwischgold kann aber nicht ganz ausgeschlossen werden, siehe oben S. 129 und Anm. 373. 398 Nach der µRF-Analyse ist ein extrem viel höherer Pb-Gehalt in der golden hervorgehobenen Musterpartie festzustellen, Messpunkte BF5.5 RF1 und RF2 im Vergleich, HERM 2006/2, S. 15 u. 16. 396 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 140 - dafür, dass ein organisches Pigment oder Farbstoff , wie z.B. Indigo verwendet wurde, da weder Kupferelemente für Azurit noch die Elemente anderer mittelalterlicher Blaupigmente nachzuweisen waren.399 Die Aufnahme der Brokatmuster erbrachte 92 Felder auf der mittleren und der inneren Schauseite, deren Katalogisierung in Form einer Datenbank mit grafischer Kartierung und Dokumentation im Anhang angefügt sind.400 Nur ein einziges Brokatmuster weist keine Metallauflage auf: Der Mann am rechten Rand der Vermählung Mariens trägt ein grünes Untergewand mit gelben Mustern und dunkelroten Falten (Abb. 11). Motivisch gibt es nicht die einzeln gesetzten Musterblumen wie zum Beispiel bei Conrad von Soest, sondern es herrschen die in einem bestimmten Rapport senkrecht aufeinander aufbauenden Musterfolgen, selbst auf der waagerechten Bettdecke der Mariengeburt, vor, in denen vor allem ein Granatapfelmotiv mit verschiedenen, reichen Blattkränzen vielfältig variiert wird. Nach dem Brokatmusterkatalog ergeben sich folgende Motivgruppen: (1) Muster mit Krone und einander zugewandten Greifvögeln mit gesenktem Kopf und erhobenen Flügeln, (2) Muster mit Krone und einander zugewandten Greifvögeln, jedoch mit erhobenem Kopf und gesenkten Flügeln, (3) Muster mit Krone und feuerspeienden Löwen, (4) Granatapfelmuster umgeben von Kreisband, mit und ohne Krone (5) Muster mit spitzem, rautierten Blütenstand, (6) Muster mit Krone und Blattranke. Muster und Farbkombinationen sind vielfältig variiert. So erscheint das oben beschriebene Löwenmuster auf dem Petrusgewand der Apostelseite zum Beispiel nah verwandt noch einmal im rot-goldenen Brokatgewand des mit Glocken behängten vornehmen Mannes rechts unter dem Kreuz wieder (Abb. 93).401 Auf der sogenannten Sonntagsseite 399 Dieses Ergebnis brachte die µRFA für die dunkelblaue Faltenfarbe im Gewand des Verkündigungsengels (BF14 RF4, Herm 2006/3, S. 30) und des Mannes mit grünem Turban auf dem Kreuzigungsbild (BF18.8 RF1, Herm 2006/2, S. 32), jeweils mit nur geringer Cu-Anregung. Im Querschliff BF22 P3 (s. Anm. 394) vom Mariengewand der Heimsuchung lassen sich allerdings ein paar größere Azuritpigmente erkennen, die hier wohl beigemischt wurden. 400 Siehe Kap. 7.2, ab S. 314. 401 Der Glöckchenbesatz ist auch mit kupferhaltigem Überzug abgetönt, so dass er sich vom goldenen Mantel absetzt (BF 18.6 RF4), HERM 2006/2, S. 30. Aufgrund der teilweisen Korrosion des Zwischgolds Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.3 Blattmetallauflage - 141 - fallen die Muster jedoch entsprechend des Größenmaßstabs der Figuren einfacher und größer aus. Nie sind die Muster völlig deckungsgleich. Die Versuche, Foliendurchzeichnungen mit verschiedenen Mustern zur Deckung zu bringen, bestätigten, dass die Verwendung von Schablonen im Malprozess unwahrscheinlich, in einer vorbereitenden Phase jedoch anzunehmen ist. Die größten Übereinstimmungen sind noch an den komplizierten Greifvogelmustern festzustellen: Gegenüber dem Magdalenengewand der Kreuzigung mit partieller Blattgoldauflage und dem Untergewand des Pilatus in der Handwaschung ohne diese erscheinen die Greifvögel auf dem silber-weißen Mariengewand des Weihnachtsbildes auf dem rechten Flügel etwas größer und wie versetzt (Abb. 91, 92). Der sichere, freie Pinselauftrag der Muster verrät, wie die Maler das Musterrepertoire außerordentlich routiniert gebrauchten und abwandelten. Auch wenn die am Barfüßerretabel dargestellten Muster nicht das direkte Abbild von Stoffvorlagen sein müssen, so belegen doch erhaltene Textilien, wie das Seiden-/ Leinengewebe mit Granatapfel, Greifvögel- und Löwenpaaren in Rapportornamentik aus dem 14. Jahrhundert im Schleswig-holsteinischen Landesmuseum in Schloss Gottorf (Abb. 197), dass solche Stoffe in reichen Haushalten und Klöstern in Norddeutschland als Importware aus Italien vorhanden waren.402 Möglicherweise soll die prunkvolle Kleidung mit den vielen Goldbrokaten bewusst an jene Form welfischer Machtdemonstration erinnern, die der Vater des auftraggebenden Landesherrn Otto Cocles, der von 1367 bis 1394 regierende Herzog Otto III., »der Quade«, mit der Veranstaltung von fünf glanzvollen Turnieren innerhalb von acht Jahren zwischen 1368 und 1376 wählte. Durch den Göttinger Stadtschreiber ist in malerischer Schilderung überliefert, dass aus diesem Anlass außerordentlich schöne adelige Frauen in schweren purpurnen Kleidern mit glockenbehängten Gürteln eigens in die Stadt kamen.403 fällt der Farbunterschied heute nicht mehr so stark auf. 402 Seidenstoff mit Rapportornamentik, Italien, vermutl. Lucca, 14. Jh., aus Kloster Preetz, s. BEST.KAT. SCHLESWIG 1994, S. 26, 61, 135, Abb. 26 und 69. 403 Mindermann referiert aus dem Urkundenbuch der Stadt Göttingen: „ Diese Turniere ließen selbst den sonst so nüchternen Stadtschreiber ins Schwelgen geraten über die außerordentlich schönen adeligen Frauen, die aus diesem Anlass nach Göttingen gekommen waren und mit ihren schweren purpurnen Kleidern mit glockenbehängten Gürteln ein stetes schur, schur schur, kling, kling kling in der Stadt ertönen ließen, wie er lautmalereisch ausführt.“ MINDERMANN 2005, S. 140. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.4 Herstellung der Malerei - 142 - 2.5.4 Herstellung der Malerei Blickt man von fern, ist die Dominanz verschiedenster Rottöne auffällig. Im geschlossenen Zustand umrahmte ein wohl in hellerem Rot gefasster Rahmen mit schwarz abgesetzter Kehle die von dem dunkleren Rotton der Hintergründe dominierten Bildfelder. Auch auf der Apostelseite muss man von einer helleren Rotfassung des Rahmens neben der früher dunkler wirkenden azuritblauen Kehle ausgehen. Hier ist der ursprüngliche Komplementärkontrast zwischen Grün und Rot in den großen Gewandflächen wie auch in den Propheten der Baldachinzone noch gut ablesbar, die farbveränderten Metallauflagen und Lüster an den Untergewändern der Apostel treten stärker in den Hintergrund. Nur auf den beiden Innenflügeln leuchten die hellen Gewänder des Bartholomäus in Weiß und des Matthäus in Gelb heraus. Dies ist sicher von inhaltlicher Bedeutung, vermittelt aber auch den Eindruck einer zu den Rändern dieser Schauseite hin dunkler werdenden Farbperspektive, auch wenn man in Betracht ziehen muss, dass das Brokatgewand des Petrus ganz links mal leuchtend grün mit rotem Muster gewesen sein muss. Im inneren Zustand schließlich fällt die farbverändernde Wirkung durch Korrosion und Verbräunung bzw. Ausbleichen und Transparenzerhöhung stärker ins Gewicht.404 Aber auch trotz der Rekonstruktion leuchtenderer Grüntöne in der Vegetation und in einigen Brokatgewändern und eines intensiveren Blaus in den Mariengewändern der Verkündigung, Kreuzigung und auf dem rechten Flügel der Heimsuchung, Darbringung im Tempel, Marientod und Marienkrönung, bleibt der Variationsreichtum der Rottöne zwischen Rosa, Orangerot, leuchtend Zinnoberrot und Rotbraun. Die Predella war mit einem ursprünglich helleren roten Band gerahmt. Farbreste deuten darauf hin, dass die Rahmenfassung am oberen Rand ebenfalls in leuchtendem Rot ansetzte. Verwendete Pigmente Die verwendeten Pigmente wurden mit besonderem Augenmerk auf die verschiedenen Rottöne analysiert sowie exemplarisch nur dort, wo weitere Fragestellungen relevant waren. Diese Stichproben zeigen, dass die typische spätmittelalterliche Farbpalette vorliegt: Bleiweiß, Blei-Zinn-Gelb, gelbe bis braune Erden405, Mennige, Massicot, Zinno404 Zu den Farbveränderungen siehe Kap. 2.3, S. 82f. Für den rotbraunen Hintergrund der Bildfelder der Außenseite (BF3.2 LP1) ergab die Untersuchung mit Polarisationsmikroskopie (PLM) und Optischer Emissions-Spektralanalyse (OES) Eisenoxidrot (Hämatit) und Eisenoxidhydroxid-Gelb, für die rosabraune Grundfarbe der Baldachine auf der Apostelseite (BF7.1 LP1) zusätzlich roten Farblack, HERM 2004, S. 3 und 8. 405 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.4 Herstellung der Malerei - 143 - ber, Kupfergrün, feinteiliges und grobkörniges Azuritblau sowie Schwarz, dessen Herkunft aus Pflanzen oder Bein nicht bestimmt wurde.406 Dazu sind als organische Farbmittel ein Blau, vermutlich Indigo, und ein oder mehrere rote Farblacke verwendet worden.407 Beim Gewand des Philippus der Apostelseite waren im zweischichtigen Rot neben Massicot, Mennige und grobem Zinnober als Hauptbestandteile auch Quarz und wenig Calcit-Kreide als Begleitstoffe festzustellen. Diese Charakteristik ließ sich ebenfalls im Rot am Offensener Retabel des Barfüßer-Meisters nachweisen.408 Bei der Größe des Retabels und der Beschränkung auf ausgewählte Analysen sind möglicherweise nicht alle verwendeten Pigmente vollständig erfasst. Generell auffällig ist die unterschiedliche Korngröße der Pigmente: Bleiweiß und Zinnober sind in der roten Musterfarbe auf den Metallauflagen in sehr grobem Korn verwendet worden, sehr feinteilig dagegen in der weißen Imprimiturschicht und in den Inkarnaten. Selbst der rote Farblack hat eine auffällige Grobkörnigkeit. Das Azuritblau des Mariengewandes der Kreuzigung ist sehr gleichmäßig mittelgroß gemahlen, während im Mariengewand der Heimsuchung bei den Blaupartien auf Silber ein grobes Azuritkorn auf sehr feinteiligem Azurit zu finden ist. Der rauhe Charakter der Farboberfläche und der Farbstruktur auf der Außenseite unterscheidet sich auffällig vom mittleren und inneren Zustand und gab wegen der anderen Lichtreflexion zur Vermutung Anlass, dass auf der Außenseite bewusst ein anderes Bindemittel gewählt worden sei. Der Grund liegt – wie sich herausstellte – jedoch allein in der gröberen Pigmentkörnung, vor allem der orangen Imprimitur oder Untermalung. Verstärkt wird der Eindruck dadurch, dass sich an dieser rauhen Oberfläche Schmutz und künstliche graue Patina stärker angelagert haben. Verwendete Bindemittel Bindemittel wurden nicht systematisch, sondern vergleichend für die drei Schauseiten untersucht. Die Analysen konnten prinzipielle Unterschiede im Bindemittelgebrauch auf den drei Zuständen nicht bestätigen. Überwiegend handelt es sich demnach bei den 406 In einer Probe der oberen roten Farbschicht des roten Gewandes von Philippus (BF 7.3 LP 2) war Holzkohle zu bestimmen, HERM 2004, S. 6. 407 Befund zum Blau siehe Kap. 2.5.3, S. 140 und Anm. 399. 408 Nachweis von Quarz und Calcit als Begleitstoff von Zinnober am Barfüßerretabel in Probe BF 7.3 LP1 und LP 2, HERM 2004, S. 4-6, wie es ebenfalls am Offensener Retabel vorkommt, siehe Kap. 4.2, S. 241, bzw. SAALBACH 2003, Anhang S. PLM 6f.. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.4 Herstellung der Malerei - 144 - Imprimituren wie auch bei den Malschichten um ein ölhaltiges Bindemittel, das jeweils von oben in die proteinhaltige Grundierung eingedrungen ist.409 Dies ermöglichte das Vertreiben von Farbpartien, Einritzen in die noch nicht getrocknete Farbe und teilweise die Naß-in-Naß-Malerei. Nur bei der Betrachtung der Inkarnate im Vergleich war analytisch eine Zunahme an proteinhaltigem Bindemittel zur Oberfläche hin nachzuweisen, dies aber in gleicher Weise auf der Werktags- wie auf der Festtagsseite. Die feine Binnenzeichnung in den Gesichtern ließ sich mit wässrigem Bindemittel und feinem Pinsel sicher leichter ausführen als mit öligem.410 An einer Stelle im Wiesenboden der „Darbringung im Tempel“ deutet ein Abperlen der hellgrün aufgemalten Gräser auf die Verwendung einer wässrigeren Tempera für die Details. Nicht analysiert wurde das für Blaupartien und für die unten beschriebenen plastischen Farbeffekte verwendete Bindemittel. Um die nötige buttrige Konsistenz für den plastischen Auftrag zu erreichen, waren Zusätze zum Bindemittel wahrscheinlich erforderlich.411 Beobachtungen zum Farbauftrag Die Malerei ist in großen Farbflächen angelegt, für die sich ein simpler Farbaufbau wiederholt: Auf einem flächig aufgestrichenen Grundton wird die Modellierung mit halbtransparenten, meist Schwarz und Farblack enthaltenden Schattentiefen und mit Bleiweiß oder Blei-Zinngelb ausgemischten Lichthöhungen ausgeführt. In hellen Gewändern bleibt diese Modellierung nicht Ton-in-Ton, die Schattentiefen changieren vom gelben Mittelton ins Rot, vom rosa-weißen ins Rotbraun. Die intensiv grüne Untermalung für die Partien der Vegetation wie auch die rosafarbenen oder hellgrünen Grundtöne für die Fliesenböden sind zu einem frühen Zeitpunkt im Malprozess aufgestrichen, die Figuren und Gegenstände des Vordergrundes aussparend. Senkrechte Tropfspuren in der Vegetation im Bildfeld mit dem Hl. Georg belegen, dass die Tafeln zum Malen senkrecht aufgeständert waren. Auf der Apostelseite zeichnet sich durch pastoseren Pinselauftrag deutlich ab, wie der rosagraue Grundanstrich im 409 HERM 2006/1, S. 34ff. Siehe HERM 2006/1, S. 9. Die Vermutung Herms, dass hier auch Leim ganzflächig von der Oberfläche her eingedrungen sein könnte., halte ich an beiden Proben parallel für unwahrscheinlich, weil in der Regel Ölharzfirnisse zu finden sind, bevor die grauen Gummen- und Leimschichten oder teilweise Festigungsmittel aufgebracht wurden. 411 Am Tiefenbronner Altar des Lucas Moser von 1432 wurde für die weißen punktförmigen Ornamentierungen der Mitra eine durch eine Emulsion aus Pflanzengummi und trocknendes Öl hergestellte, „sahnige, aber nicht zerfließende Farbe“ festgestellt. STRAUB/RICHTER/HÄRLIN/BRANDT 1974, S. 31. 410 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.4 Herstellung der Malerei - 145 - Fußboden mit wechselnden Pinselrichtungen senkrecht und waagerecht aufgestrichen wurde.412 In diese noch nicht durchgetrocknete Untermalungsfarbe sind entlang eines Lineals Ritzlinien zur Markierung der Fliesenfugen konstruiert, die sich im Streiflicht und auch in den IRR-Montagen abzeichnen.413 Sehr viel unregelmäßiger wurde darauf der Fugenstrich aufgemalt. Zur Sonntags- und Werktagsseite hin wird die Malweise generell einfacher, plakativer, zeichnerischer. Die Haare werden auf einem mittelbraunen Grundton nur mit zwei Farben relativ schematisch angegeben, mit in Schattenbereichen braunen und auf den Höhen entweder fast weißen oder hell gelben Haarlocken (Abb. 73, 86). In den Gesichtern werden Höhungen weiß gesetzt und nicht vertrieben. Dies gilt besonders für die Außenseite und für die Propheten auf der Apostelseite. Auf dieser Seite unterscheidet sich die Malweise auf den beiden Außenflügeln auffällig von der der beiden Innenflügel: Nicht nur die Gesichter fallen auf den Außenflügeln breiter in ihren Proportionen aus, wie oben dargestellt,414 auch die Architekturdarstellung mit Sockel, Säulen und Baldachinen ist in der Farbwahl härter und kontrastreicher in den Schattierungen als auf den beiden Innenflügeln. Diese Utnerschiede sprechen für die Ausführung durch zwei verschiedene Mitarbeiter der Werkstatt. Im Innern dagegen werden die Details mit feinerem Pinselstrich ausgeführt. Ritzlinien mit einem weichen (Holz-?)Stift werden dazu genutzt, das Gefieder der Flügel des Verkündigungsengels in die frische Farbe zu zeichnen (Abb. 97). Auch hier deuten sich Unterschiede zweier Hände an: Die Gesichter der Passionsszenen rechts und links der Kreuzigung sind wärmer und etwas rötlicher im Inkarnatton und an den Übergängen weicher vertrieben als alle Figuren des Marienlebens auf den Innenflügeln, die auch dunklere und härtere Konturlinien zeigen. Dies entspricht schon der Unterzeichnung, die auf der Mitteltafel generell heller rötlich ist und nur auf den Innenflügeln sichtbar gemacht werden konnte. 412 Deutlich zum Beispiel auf dem rechten Innenflügel (BF7). Zum Beispiel: „Vermählung der Maria“ (BF13) in der Ecke links unten oder “Goldene Pforte” (BF 10) rechts von Joachim. 414 Siehe oben Kap. 2.5.2, Verwendung von Schablonen, S.119. 413 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.4 Herstellung der Malerei - 146 - Pentimenti Die Malerei hält sich in den Gewändern recht genau an die mit der Unterzeichnung vorgegebenen Faltenbildungen, an den Händen, Gesichtern und Gewandsäumen wiederholen sich jedoch die kleinen Änderungen, die die Maler vornahmen. In wenigen Partien treffen sie sogar inhaltlich bedeutsame Änderungsentscheidungen gegenüber der Pinselunterzeichnung: Ein gravierendes Pentiment findet sich in der Verkündigungsszene auf dem linken Innenflügel. Die IRR-Montage zeigt im Betpult der Maria ein leicht geöffnetes Türchen (Abb. 55 b). In der Malerei ist später stattdessen eine Lilie vor die geschlossene Pultwange eingestellt (Abb. 55 a). Natürlich ist das Betpult viel zu flach, um noch ein Bücherregal zu fassen. Doch sollte hier sicher nicht nur der räumliche Fehler korrigiert werden, sondern die Lilie einen prominenteren Platz bekommen. Im Vergleich mit der Verkündigungsszene des von der Forschung circa fünf Jahre früher datierten Retabels in Offensen wird deutlich, welches Repertoire in der Barfüßer-Werkstatt verfügbar war. Hier ist der Pultschrank oder Ambo mit geöffnetem Türchen, das weitere Bücher zu erkennen gibt, wie ein Attribut der Maria sehr prominent zur Seite gestellt, allerdings außerhalb der Thronarchitektur, die hier die enge Bühne für die Verkündigungsszene bildet (Abb. 138). Während der Verkündigungsengel auf dem Barfüßerretabel in seiner Haltung in etwa übernommen ist, wenn auch zierlicher und mit kunstvollerer Gewandung, wird für die Maria eine ganz neue Lösung gefunden. In der neueren Fassung desselben Themas kann man einen erweiterten Sinn für Räumlichkeit erkennen. Auf ein weiteres Pentiment sei in der „Geburt Christi“ auf dem rechten Innenflügel aufmerksam gemacht: Statt des Hirten am linken Bildrand war ein rundes Gefäß in der Unterzeichnung angelegt, das zusammen mit zwei Lämmern auch in der Untermalung der grünen Wiese ausgespart blieb. In der weiteren Ausführung der Malerei fügte man erst den in viel kleinerem Maßstab gegebenen Hirten sowie vier weitere Lämmer in der linken unteren Ecke hinzu, die nun bei größerer Transparenz der Bleiweißpartien auf der grünen Untermalung grau wirken. Auf dem linken Predellenfragment entschied der Maler ebenfalls erst zwischen erstem und zweitem Farbauftrag über eine Änderung der linken Hand der Hl. Elisabeth: Die Aussparung in der Untermalungsschicht folgt noch der Größe der unterzeichneten Hand (Abb. 52 c). Am Ende versäumte der Maler, die Gewandfarbe noch einmal bis an die gemalte Hand heranzuziehen – vielleicht ein Indiz Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.4 Herstellung der Malerei - 147 - für die Eile der malerischen Fertigstellung. Die wiederholt vorkommende Verschiebung vor allem der Augenpartie bei der Gestaltung der Gesichter ist hier ebenfalls gut ablesbar. Während der Ausführung der Malerei gibt es sonst nur sehr wenige Pentimenti. Waren die Prophetenköpfe auf dem linken Außenflügel der Apostelseite – wie oben durch den Vergleich der Gesichtskonturen beim zweiten, vierten und sechsten Propheten bestätigt – zunächst recht gleichförmig angelegt, so wurden beim bärtigen zweiten Propheten von links die zunächst weiß aufgemalten senkrechten Stirnfalten noch einmal zu waagerechten Stirnrunzeln mit pastosen Weißhöhungen verändert. Die Änderung des Wappens unter dem Hl. Thomas in der Mitte des linken Innenflügels geschah zu einem sehr späten Zeitpunkt des Malprozesses, nachdem schon die abschließend auf die Malerei aufgebrachten Blattmetallpartien aufgelegt waren. Das Wappen der Familie von Kerstlingerode, das mit dem der Familie von Adelebsen übermalt ist, befindet sich an prominenterer Stelle auf dem linken Außenflügel ohne eine Korrektur (Abb. 105, 106).415 Plastische Effekte in der Malerei Korrespondierend mit den durch die Punzierungen erreichten, vertieften Verzierungen, nutzten die Maler auch die Möglichkeiten, mit der Malfarbe erhaben Strukturen zu schaffen, an denen das Licht spielen konnte. Hierfür wurde das Bindemittel wahrscheinlich angedickt.416 Mit nur geringem Relief ist pastose helle Farbe auf den Hut des Jacobus Major auf dem linken Außenflügel innen gestupft, ohne dass ganz klar würde, welches Material damit imitiert werden soll, Gewebe oder Geflecht außen, Filz oder Fell innen (Abb. 74). In ganz ähnlicher Manier ist auch der Lanzenstab des Hl. Thomas auf dem sich anschließenden, linken Innenflügel mit gestupften Farbreihen sozusagen „aufgerauht“, auch hier nur als malerischer Effekt, ohne zur größeren Realitätsnähe des dargestellten Materials beizutragen. Mit dickerem Bleiweißauftrag wurden Perlen in erstaunlicher Kunstfertigkeit reliefartig erhaben erzeugt. Diese Technik findet sich nicht auf der Außenseite und nur an wenigen Stellen der Apostelseite, wie z.B. am Griff des Schwerts, das der Hl. Matthäus hält. Ausführlich erst ist diese Dekortechnik auf der Festtagsseite angewandt. Hier sind 415 416 Vergleiche Kap. 2.2 Geschichte, S. 51f.. Vergleiche legen Gummi-Öl-Tempera nahe, s.o. S. 144 und Anm. 411. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.4 Herstellung der Malerei - 148 - Gürtel und Gewandborten mit Perlen besetzt (Abb. 96, 99), zeigt die Mitra des Priesters der „Vermählung“ aufgesetzte Goldborten mit Perlenstickerei (Abb. 101), trägt die Maria der Verkündigung eine Perlenkrone und ist ihre Korallenkette mit perlenbesetzten Kugeln durchsetzt (Abb. 59 b). Besonders auffällig ist die rote Tasche des Mannes im kurzen silber-blauen Wams und grünen Turban unter dem Kreuz dekoriert (Abb. 98). Am Kopfschmuck des guten Hauptmannes unter dem Kreuz wird das ganze Repertoire an dekorativen Techniken, erhabenen und vertieft geprägten Strukturen, und das Spiel mit der Lichtreflexion in dichter Nachbarschaft vorgeführt (Abb. 100): Der helle Pelzrand des mit Brokatmuster versehenen Hutes ist gestupft, die goldene Musterborte darauf mit roten und grünen lüsterfarbenen, also Edelstein darstellenden Lanzettformen und weißen „Farbperlen“ in Girlanden besetzt, zu der die etwa gleich großen Punzieungen auf der Brosche über der Stirn in direktem Kontrast stehen. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.5 Verzierungstechniken auf Malerei - 149 - 2.5.5 Verzierungstechniken auf Malerei und Fassung Die mit der Herstellung des Barfüßerretabels beauftragte Werkstatt zeichnet – das wurde schon an der Behandlung der Goldhintergründe und der Brokatflächen deutlich – die Verfeinerung großer Farbflächen mit einem großen Repertoire verschiedenster Verzierungen aus. Dazu kann man auch die auf die grünen Grundflächen fast wie ein Flächenmuster frei aufgemalte Vegetation mit Blumen, Gräsern und Kräutern und die oben beschriebenen erhabenen Perlenimitationen zählen. Im Folgenden soll auf die mit den Mitteln der Malerei erzeugten Muster auf der Außenseite, auf die mit Blattmetall sowie die aus massivem Metall hergestellten, zum Abschluss aufgebrachten Verzierungen besonders eingegangen werden. Verzierungen mit Muschelgold kommen am Barfüßerretabel im Original nicht vor. Schablonierte farbige Muster Wie bei der Herstellung der Brokatimitationen verdeutlicht wurde, bewiesen der oder die Maler auf der mittleren und inneren Schauseite große Routine, ein bestimmtes Musterrepertoire variierend frei aufzumalen. Dies ist am Pinselstrich ablesbar – auch dann, wenn die Muster mit Hilfe irgendeiner Schablone oder Pause vorskizziert worden sein sollten. Nur an einer Stelle gibt es auf der Festtagsseite ein ganz aus Farbe gebildetes Muster: Das Untergewand des rechten Mannes in der Szene der Vermählung von Maria und Joseph zeigt Muster in Bleizinngelb auf dunkelgrünem Grund mit Faltenangaben in rotem Farblack.417 Auch wenn das Einzelmotiv mit ca. 7,5 cm Höhe kleiner ist als die übrigen Brokatmusterrapporte, deutet auch hier nichts auf die Verwendung einer Schablone hin. Anders ist der Charakter der Muster auf der Außenseite des Retabels: Sie sind einfach und schnell ausgeführt und in der Regel mit pastoser Farbe aufschabloniert. Brokatgewänder werden damit eher von fern assoziiert als imitiert. Mit Hilfe von Einzelschablonen werden 3 x 3 cm oder 4 x 3 cm große Motive flächig nebeneinander gesetzt. Auf den Untergewändern zweier Apostel im Mühlenbild sind es Blütenmotive, auf dem Gewand eines Kirchenvaters im Mühlenbild und des Kaises rechts der Pietà sehr vergröberte Motive einer französischen Lilie. Die Farbstellung ist hier jeweils Gelb auf 417 Siehe Musterdurchzeichnung im Anhang Kap. 7.2, Grafik 25, S. 342. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.5 Verzierungstechniken auf Malerei - 150 - rotem Grund. Das Muster im Untergewand der Maria und im Mantel des linken Kirchenvaters im Mühlenbild ist dagegen frei mit roten Pinselstrichen auf gelbem Grund aufgemalt: Es zeigt in Streifen aufgemalte Kreise mit eingestellten Vierpässen (Abb. 5). Es ist sicher der bewussten Unterscheidung des jeweiligen Ranges der drei Schauseiten geschuldet, dass auch die Sterne, die die braunroten Hintergründe der vier Bildfelder auf der Außenseite zieren, in „Goldimitation“ ausgeführt sind. Bleizinngelb wurde hier in zäher, dickflüssiger Konsistenz aufschabloniert. Die zu den Rändern der Muster ansteigende Farbmasse und deren starke Absorption im Röntgenbild beweist die Verwendung der Schablonen. Die Sterne sind allerdings in so regelmäßigem Rautenmuster positioniert, dass die Anlage von Hilfslinien oder -punkten anzunehmen ist. In die jedes Bildfeld umrahmende schwarze Kehle wurden ebenfalls mit Bleizinngelb Vierpassmuster ähnlicher Größe aufschabloniert. Sie leiten über zu der Rahmenfassung der roten äußeren Platte, die heute mit großen aufschablonierten, vier- und sechsblättrigen Blumenmustern im Wechsel von Weiß und Gelb versehen ist und anscheinend trotz umfangreicher Überarbeitungen die Erstfassung recht getreu wiedergibt. Originale Rotfassung mit gelbem Blumenmuster konnte sogar auf einem eisernen Scharnierband festgestellt werden. Blattmetalldekorationen auf der Malerei Blattmetallauflagen auf wohl öligem Anlegemittel kommen am Barfüßerretabel sowohl – wie oben bereits beschrieben – für die partielle Vergoldung bestimmter Partien in einigen Brokaten vor wie auch in den Familienwappen auf der Apostelseite, in Nimben und Kronen auf der Außenseite, als Dekor auf dem Musterband der Predella und in den Mustervergoldungen und -versilberungen der Rahmenfassung. Die dafür verwendeten Anlegemittel sind mal dünn und transparent, mal dicker und pigmentiert. Dies wird im Auflicht und an Querschliffen anschaulich, Ergebnisse zur Bindemittelzusammensetzung sind nicht gezielt erhoben worden. Das Anlegemittel zum Beispiel für die Muster auf dem rahmenden Band der Predella hebt sich kaum von der darunterliegenden Farbfassung ab, während das auf den Bildfeldern der Werktagsseite verwendete Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.5 Verzierungstechniken auf Malerei - 151 - Anlegemittel im Querschliff gelblich wirkt und deutlich mit Schwarz und wenig rot pigmentiert ist.418 Auf der Außenseite sind nur die Nimben und Kronen sowie der Kelch in der Mitte der „Hostienmühle“ noch einmal mit einer goldenen Blattmetallauflage betont (Abb. 5, 6). Sie wirkt dunkel und matt, besteht aber überwiegend aus Gold.419 Die mit Blattgold versehenen Partien sind mit dicken schwarzen Linien konturiert oder mit einer Art Schwarzlotzeichnung – zum Beispiel an Tiara und Kaiserkrone im Bildfeld der „Pietà“ – differenziert. Besonders reich ist das Mühlenbild verziert. Hier sind die Nimben der Apostel innen im Wechsel rot und grün unterlegt; darauf aufgemalte Arkaturen mit eingeschriebenen Dreipässen in Bleizinngelb stehen im direkten Kontrast zur Vergoldung des Randes mit aufgemalter schwarzer Arkatur. Der Befund lässt sich sowohl zu den Flächenvergoldungen wie auch zu den partiellen Mustervergoldungen zählen.420 Dem oberflächlichen Erscheinungsbild zufolge wurde Blattgold bei den unter dem Fußbodensockel der Apostelseite dargestellten Wappen nur auf dem linken Flügel verwendet, die auf die bedeutendsten Stifter verweisen. Hier wurde das dünne Anlegemittel jeweils frei aufgemalt (Abb. 106). Schablonierte Muster mit Metallauflage finden sich auf dem Musterband am unteren und seitlichen Rand der Predellentafeln: Zwei unterschiedliche Schablonen mit nur leicht variierten Vierpassmotiven dienten zum Auftrag eines transparenten öligen Anlegemittels, auf das Silber- und Zwischgoldblätter im Wechsel angeschossen wurden. Diese Motive sind heute mit weißer bzw. gelber Farbe grob überfasst. Derselbe Wechsel von verwandten, aber etwas größeren Musterschablonen und Blattmetall ist vermutlich Bildfeld „Pietà“, Querschliff BF 3.2 P4 von der Krone des rechten Königs. Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Archiv Gemälderestaurierung, Ordner „Querschliff-Untersuchungen“. 419 Siehe oben Kap. 2.5.3, S. 128. Die hohen Kupferanteile können entweder aus der Goldlegierung oder aus dem Anlegemittel stammen. 420 Im deutschen Sprachgebrauch ist bei Mustervergoldungen meist von „Mordantvergoldung“ die Rede, wenn es sich um ein partiell auf die Malerei aufgestrichenes Anlegemittel für die Metallauflage handelt. Wie die Befunde vom Barfüßerretabel zeigen, ist dies definitorisch nicht genau. Straub möchte unter Mordant im Deutschen „stets nur ein wachshaltiges Anlegemittel“ verstanden wissen und weist auf den Unterschied im Englischen hin, wo „mit „mordant“ jede Art von Anlegemittel für Blattmetall gemeint ist“. STRAUB 1988, S. 236. Nach Quellenschriften ist Knoblauchsaft ein Hauptbestandteil, ebenda, S. 239/240. Im Englischen favorisiert Nadolny, „mordent“ für jedwedes öliges Anlegemittel für Blattmetallauflagen im Gegensatz zu Leim zu verwenden, egal ob bei flächiger Vergoldung oder bei partiellem Auftrag auf die Malerei, weil eine Unterscheidung nach dem technischen Aufbau nicht zu begründen sei, NADOLNY 2006. 418 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.5 Verzierungstechniken auf Malerei - 152 - auch für die Rahmenfassung der Sonntagsseite zu rekonstruieren, die allerdings weitgehend verschwärzt und großflächig überarbeitet ist. Zierleisten Die Bildfelder des Marienlebens und der Passion auf der inneren Schauseite werden heute von unterschiedlich gestalteten, 31 bis 43 mm breiten Bändern voneinander geteilt. Auf dem rechten Innenflügel sind die Streifen neu grundiert und wahrscheinlich bei der großen Restaurierung in den 1950er Jahren dunkelgrün übermalt worden.421 Auf dem linken Flügel und zwischen den Passionsszenen der Mitteltafel erscheint ein feines Muster auf mittelgrünem Grund wieder, das nach 1863 im Welfenmuseum nach der Vorlage der Zierstreifen kopiert worden sein muss, die sich zwischen den Bildfeldern der Sonntagsseite der „Goldenen Tafel“ befinden (Abb. 110).422 Schwarze Begleitstriche aus dieser Zeit überdecken vielfach die Malerei der Bildfelder deutlich. Rechts und links der Kreuzigung zeigen sich noch die originalen hellen, grundierungssichtigen Streifen (Abb. 107, 109).423 Als die 1678 von Justus Münch gemalten großen Leinwandbilder auf die Tafeln der Festtagsseite aufgenagelt wurden, habe man die ursprünglichen plastischen „Gipsleisten“, die die einzelnen Bildfelder voneinander trennten, entfernt. Die Quelle von 1803, die diesen Befund beschreibt, wird seitdem immer wieder zitiert.424 Bei genauerer Betrachtung zeigen sich in der glatt geschliffenen, für die Malerei vorbereiteten Oberfläche der hellen Grundierung rechts und links der Kreuzigung wie auch unter den Übermalungen Nagellöcher und Nägelchen oder Nagelreste (Abb. 107-110). Sie bilden eine doppelte Nagelreihe im Abstand von ca. 25 mm. Außerdem lassen sich wiederkehrende Gruppen von vier Nägeln ablesen, die auf den senkrechten Streifen rechts und links des großen Kreuzigungsbildes und auf dem linken Innenflügel einen Rapport von ca. 77 bis 80 mm Länge, auf den waagerechten Streifen zwischen den 421 Behrens beschreibt 1939 auch noch für den rechten Flügel 4,2 cm breite Trennungsstreifen, die heute nach der Abnahme der Ergänzungen hier schmaler sind. BEHRENS 1939, S. 23. 422 Zur Geschichte siehe Kap. 2.2, S. 58; Abbildung der Zierbänder der Goldenen Tafel in P ATRIMONIA 2007, S. 54, 55. 423 Die Kreuzigung war eventuell separat gerahmt, während die beiden seitlichen Segmente von der Mitteltafel damals zu einem „Flügel“ zusammengefügt waren, so dass jeweils nur eine Hälfte der beiden senkrechten Zierbänder übermalt ist und sich zu einem Muster ergänzt. 424 Zum Beispiel BEST.KAT. HANNOVER 1992, S. 105. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.5 Verzierungstechniken auf Malerei - 153 - Passionsszenen der Mitteltafel von ca. 55 bis 60 mm Länge bilden. Die ursprüngliche Breite der verlorenen Zierbänder zeichnet sich am linken Flügel durch Abdrücke der Kanten in der Grundiermasse ab. Die zu rekonstruierende Breite der Bänder von 30 bis 31 mm wird anhand der Ritzlinien bestätigt, die zur Bildfeldbegrenzung innerhalb der Goldhintergründe und der Malerei gezogen wurden. Den entscheidenden Hinweis für die Rekonstruktion der Bänder lieferte ein einziges noch erhaltenes, kleinstes Fragment eines Metallblechs am Mittelbild mit der Kreuzigung links oben (Abb. 107). Zerstörungsfrei ließ sich reines Kupfer mit Spuren von Eisen, Nickel, Zink und Blei nachweisen. Die Nägel dagegen bestehen aus Messing. Da die Entnahme eines Nägelchens zur Analyse vertretbar war, konnten mit Hilfe der Atomabsorptionsspektroskopie (AAS) sogar die Massenanteile von Kupfer und Zink quantitativ bestimmt werden.425 Es handelt sich um ein kupferreiches Messing mit 80 bis 86 Masse-% Kupfer und 13 bis 16% Zink.426 Mit seinem hohen Kupferanteil und seiner goldenen Farbigkeit wird es als Tombak oder auch Goldmessing bezeichnet.427 Am linken Flügel ist die Oberfläche unter den verlorenen Zierbändern so unregelmäßig, dass man vermuten muss, die Zierbänder seien hier zusätzlich auf Grundierungsmasse geklebt gewesen, die bei der Abnahme aufgerissen ist. Analytisch unterscheidet sich diese nicht von der hellen Grundierung unter der Malerei.428 Eine Klebung wäre für ein Metall eine unübliche und ungeeignete Applikationstechnik, andererseits wäre die Nagelung ebenso wenig materialgerecht bei der Befestigung eines vorfabrizierten Stuckelements. Analytisch ließ sich auf den Nagelköpfen Gold einer Feuervergoldung nachweisen.429 Dies wäre auch die an einem Kupferblech wahrscheinlichste Vergoldungstechnik. Ob Die Atomabsorptionsspektroskopie führte Prof. Dr. Ernst Ludwig Richter, Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, durch. Bericht vom 31.10.2001, unveröffentlicht. 426 Die Summe der mit AAS gefundenen Gehalte an Kupfer und Zink ergibt nicht 100%, da weitere Elemente enthalten sind. Im Vergleich mit diesen Ergebnissen waren auch die Messungen der µRFA an einem identischen und zwei weiteren Nägeln quantitativ auswertbar. Die relativen Linienintensitäten von Kupfer und Zink wurden mit den entsprechenden Elementgehalten aus der AAS für Nagel 1 kalibriert. Veröffentlicht in HARTWIEG/HERM 2005, S. 7 und Tab. 4. 427 Den Hinweis auf Tombak verdanke ich Christoph Herm. „Tombak“ ist eine schmiedbare Kupfer-ZinkLegierung mit über 70 % Kupfer, das auch für Helme und Dekorationselemente benutzt wird. 428 Analyse an Probe BF14 P6 durch Prof. Dr. Chr. Herm, Dresden, Hochschule für Bildende Künste: Calciumcarbonat und Protein mit von oben eingedrungenem trocknendem Öl. Darauf dicker brauner Überzug mit Metallseifen, das von der Ölvergoldung der Metallplättchen, aber auch von einer späteren Überarbeitung stammen kann, HERM 2005, S. 2 429 Analyse durch Prof. E.-L. Richter wie Anm. 425. 425 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.5 Verzierungstechniken auf Malerei - 154 - die Musterelemente zusätzlich farbig gefasst waren, ist nicht mehr zu klären.430 Sucht man am Objekt selbst nach Anknüpfungspunkten für eine Rekonstruktion, so könnte das Musterband auf dem Pelzhut des guten Hauptmannes unter dem Kreuz mit den gewundenen Perlenreihen (Abb. 100) eine Ahnung davon geben, wie die Zierbänder vielleicht ausgesehen haben könnten. Jedenfalls wird man entsprechend der unterschiedlichen Größe der Plättchen von zwei verschiedenen, in die Kupferblechabschnitte eingeprägten Mustern ausgehen können. Applizierte Metallplättchen, zumal aus Kupfer, sind ein ungewöhnlicher Befund. Wie unten noch zu zeigen sein wird, gibt es viele Beispiele für plastische Zierbänder in dieser Zeit, kaum jedoch einen Nachweis für aus Metall gearbeitete.431 Interessanterweise deuten regelmäßige Abdrücke in der Grundier- oder Klebemasse auch an den Rändern der zersägten Tafeln des Magdalenenretabels darauf hin, dass hier ebenfalls kurze Musterabschnitte aneinandergereiht aufgeklebt, wenn auch nicht aufgenagelt worden sind (Abb. 134 a,b). 432 Die plastischen Bänder aus dieser Zeit aus anderen Materialien geben jedoch einen Anhaltspunkt dafür, wie man sich die Gestaltung dieser Metallapplikationen vorzustellen hat. Angesichts des hier verwendeten, für eine Malerwerkstatt ungewöhnlichen Materials stellt sich die Frage, wer diese Kupferplättchen geliefert haben könnte. Der Schmied, der die robusten Eisenbeschläge herstellte, war hierfür sicher nicht verantwortlich, eher ein Goldschmied. Kupferhütten aber gab es im Harzraum reichlich, darunter auch in Uslar. Am rechten Rand der Kreuzigungstafel fanden sich noch rote Farbreste, die aber nicht eindeutig den Zierbändern zugeordnet werden können. 431 Siehe Katalog von Vergleichsbeispielen Kap. 3.5, S. 225. 432 Von der Autorin bei der Besichtigung der Tafeln in Privatbesitz am 9.09.2006 festgestellt. Siehe Kap. 4.1, S. 243. 430 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.5.6 Überzüge - 155 - 2.5.6 Überzüge Im Rahmen der hier vorgenommenen Untersuchungen war nicht zu klären, ob Goldhintergründe, Malerei und Rahmenfassung vor oder nach dem Aufbringen der letzten Mustervergoldungen oder -versilberungen noch einmal einen Schutzüberzug erhalten haben oder ob das Altarretabel zur Aufstellung 1424 zunächst ungefirnist präsentiert wurde. Der erste Überzug auf den Goldhintergründen ist eine Leimschicht, deren Originalität allerdings offen bleiben muss. Die Figuren zeigen teilweise „Höfe“, d.h. von der Malerei auf das Gold überlappende Ränder eines nur auf die Farbpartien beschränkten Überzugs. Es sind nur sehr vereinzelte Analysen der ersten Überzugsreste auf der Malerei durchgeführt worden, die für einen verallgemeinernden Befund nicht repräsentativ genug sind. Auf dem blauen Mariengewand des Kreuzigungsbildes ist ein HarzÖl-Firnis in die poröse blaue Farbschicht eingedrungen. 433 Die erste Firnisschicht in der Vegetation rechts davon weist ebenfalls „als Hauptbestandteil ein stark gealtertes Öl oder einen Harz-Öl-Firnis“ aus, unterscheidet sich aber in der Zusammensetzung durch eine „mögliche Proteinbeteiligung im Bindemittel“.434 Schmutzschichten zwischen Farboberfläche und Überzug, die auf zeitlichen Abstand zwischen Fertigstellung der Malerei und Auftrag des Überzugs hindeuten würden, sind jedenfalls nicht zu erkennen. Bei dem untersten, verbräunten Überzug auf der Außenseite handelt es sich um einen „stark gealterten Firnis aus Naturharz und wahrscheinlich Öl“.435 Aufgrund von Schimmelpilzbefall ist dieser Ölharzfirnis degradiert und hat neue Oxalatverbindungen gebildet. Wegen der geringeren Anzahl von Überzugsschichten auf der Außenseite und der Nähe des FT-IR-Spektrums zu Mastix muss die Originalität dieses Überzugs wohl in Zweifel gezogen werden. Auch der Zustand der Oberfläche legt die Vermutung nahe, dass die Außenseite ohne Schutzüberzug blieb. Analyse an Querschliff BF18.7 P2 und Schabeprobe BF18.7 P3 mit Anfärbetests und FT-IR-Spektroskopie durch Prof. Dr. Henrik Schulz und Martina Schulz, HAWK Hildesheim, Analysebericht [091299] vom 9.02.2000, S. 5-6. 434 Ebenda, S. 4, Analysebericht für Querschliff BF18.8 P1 und Schabeprobe BF18.8 P2. 435 Schabeprobe BF4.3 S1, HERM 2005, S. 2. 433 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.6 2.6 Zusammenfassung/Auswertung - 156 - Zusammenfassung und Auswertung der Befunde vom Barfüßerretabel Technologische Charakteristika Die Ergebnisse der Befundanalyse des Göttinger Barfüßerretabels sollen im Folgenden noch einmal zusammengefasst werden, wobei die Frage im Vordergrund steht, welche Merkmale für die Arbeitsweise der Barfüßer-Werkstatt besonders charakteristisch sind. Werktechnik Die Retabelkonstruktion ist von einfacher, zeittypischer Bauart. Auffällig ist der Wechsel der Holzarten Eichen- und Fichtenholz. Das verwendete Holz hat nicht die beste Qualität und stammt allem Anschein nach unmittelbar aus der Region. Die Eckverbindungen sind unregelmäßig gearbeitet, die Rahmenprofile nicht besonders scharf geschnitten. Die Holzkonstruktion kann von einem Schreiner oder einem Zimmermann ausgeführt worden sein. Auch die Schmiedearbeiten, die Winkel zur Stabilisierung der Rahmenecken und die Scharniere, sind einfach gearbeitet. Sie haben alle schwalbenschwanzförmige Enden und eine grob gehämmerte Oberfläche. Beide Gewerke werden höchstwahrscheinlich an ortsansässige Handwerker vergeben worden sein, wobei die Ausführung den lokalen Zunftbestimmungen unterlag. Diese wenig spezifischen Merkmale werden insofern bei der Zuschreibung weiterer Werke an die Barfüßer-Werkstatt ergänzende Argumente liefern können, aber keine Voraussetzung darstellen. Bildvorbereitung Die Fugen wurden offensichtlich teilweise noch vom Schreiner (vor der Montage der Querbalken auf der Rückseite der Mitteltafel) mit Werg gesichert. Die Leinwandabklebung mit dicht bei dicht gesetzten großen Gewebestücken in einfacher Leinwandbindung von verschiedenen Leinwandballen liegt auf einer schwarz pigmentierten Grundierung und überzieht auch die Rahmen. Die weiße Kreide-Leim-Grundierung ist mehrschichtig aufgetragen. Mit feinem Stift und Lineal wurden die Tafeln auf der Sonntagsseite in drei gleich breite senkrechte Felder geteilt und weitere Hilfslinien für die Architektur vorgezeich- Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.6 Zusammenfassung/Auswertung - 157 - net. Sie zeigen einen gut organisierten Umgang mit den großen Flächen. Man wird auch von einer genau bemessenen Konstruktion der Kreuze im Mittelbild ausgehen können, wie auch die auffällig im Vorder- wie im Hintergrund übernommene „Horizontlinie“ in der „Darbringung im Tempel“ auf dem rechten Innenflügel oben weitere konstruierte Linien in der Unterzeichnung annehmen lässt (Abb. 13). Charakteristisch aber ist eine freie, schnell aufgetragene, eher summarische Unterzeichnung mit breitem, spitzen Pinsel und flüssigem, hellroten bis dunkelbraunen Farbmittel. Sie steht am Barfüßerretabel im Gegensatz zur schematischeren Ausführung der Malerei. Mit wenigen Strichen und Kringeln angelegte Gesichter sowie fischgrätähnliche Betonungen der Faltentiefen mit Häkchen und wenige Schraffuren sind dabei das „Kennzeichen“ des Meisters. Die mehrfache Verwendung weniger Gesichtsschablonen – seitenrichtig, gespiegelt und in sich leicht verschoben – lässt sich vor allem auf der mittleren und inneren Schauseite belegen. Dieselben Vorlagen bzw. Schablonen wurden sogar für unmittelbar nebeneinander dargestellte Figuren verwendet und dadurch variiert, dass die vordere Gesichtslinie gegenüber der rückwärtigen Nackenlinie mal dichter zusammengeschoben, mal in größerem Abstand gesetzt ist. Das Übertragungsverfahren ist nicht ersichtlich, die Verwendung von Konturschablonen wäre denkbar. Die Malerei hält sich so nah daran, dass diese Konturschablonen auch erst bei der ersten Anlage der Malerei zum Einsatz gekommen sein könnten. Eine Ritzzeichnung ist nur da ausgeführt, wo sie zur Kennzeichnung der mit Metallauflagen zu versehenden Partien benötigt wurde. Auf dem mittleren und dem inneren Zustand liegt eine weiß bis rosafarbene (schwarz und rot pigmentierte), ölige Imprimitur vor, die allerdings nicht vollflächig über die Unterzeichnung aufgestrichen wurde, sondern Goldhintergründe, Metallauflagen und Blaupartien ausspart. Im Inkarnat des Hl. Franziskus ist sie ins ockerfarbene variiert. Auf der Außenseite sind die Bildfelder dagegen mit einer grobkörnigen, orangeroten Imprimitur versehen. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.6 Zusammenfassung/Auswertung - 158 - Metallauflagen und ihre Oberflächengestaltung Ein nicht ganz reines, deshalb eher blasses Blattgold liegt auf dünn aufgetragenem, blass roten Poliment. In klarer Abstufung zwischen den drei Schauseiten werden Blattmetallauflagen und Verzierungstechniken eingesetzt. Im inneren Zustand wurden Blattgold, Silber und Zwischgold – letzteres in unterschiedlicher Qualitätsstufe – üppig (auf bis zu 70% der Fläche) verwendet . Der Werkstatt ist das ganze Repertoire an damals bekannten Verzierungstechniken geläufig. Selbst die Kenntnis von der selten anzutreffenden Kreispolitur liegt vor, die qualitätvolle Ausführung zeugt von technischer Erfahrung. Punktpunzen in verschiedener Größe, zwei Kreispunzen und das Punzierrädchen stehen zur Verfügung, wobei nur die gezahnte Kreispunze einen charakteristischen, zuverlässig bewertbaren Abdruck hinterlässt. Im übrigen handelt es sich um eine Werkzeugpalette, der sich in dieser Zeit auch andere Malerwerkstätten bedienen. Mit den einfachsten Punzwerkzeugen werden aber kunstvoll Figuren, hauptsächlich Engel, in den Goldhintergrund geschlagen, die ganz ohne Schwarzlotzeichnung oder farbige Betonung auskommen und nur durch Lichtreflexion in Erscheinung treten. Die Goldhintergründe der einzelnen Bildfelder werden mit Punzierungsmustern umlaufend gerahmt. Die Nimben folgen einem einheitlichen Gestaltungsmuster. Sie sind mit den Legenden der Heiligen geschmückt, sowohl „positiv“ (gepunzte Buchstaben stehen vor glattem Hintergrund) wie auch negativ (Buchstaben stehen erhaben vor „gekörntem“ Hintergrund). Farbauftrag Der Farbauftrag zeigt eine effektive Herangehensweise: Große Farbflächen werden mit deckenden Farben angelegt und dann mit Ausmischungen mit Bleiweiß oder Blei-ZinnGelb gehöht. Für die Modellierung von Faltentiefen wird roter Farblack gern benutzt, wie überhaupt Rottöne in verschiedensten Spielarten vorherrschen. Grüne Bodenflächen sind – außer auf den Bildfeldern der Außenseite – mit pastosem Farbauftrag dicht mit Gräsern, Blumen und Kräutern oder kleinen Nebenszenen gefüllt. Die Palette enthält zeittypische Pigmente, das Bindemittel ist im allgemeinen ölhaltig, nur in den Inkarnaten zeichnet sich ein stärkerer Proteingehalt ab. Die ölgebundene Farbe ist auf der Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.6 Zusammenfassung/Auswertung - 159 - Außenseite sowie in der weit oben befindlichen Baldachinzone der Apostelseite mit gleichmäßig breiten Pinsellinien deckend und unvertrieben, fast plakativ gesetzt. In den Passionsszenen der Mitteltafel hingegen wurde eine dünnflüssigere Farbe besonders stark vertrieben. Dies bezeugt nicht nur, welcher unterschiedliche Aufwand auf den drei Schauseiten des Wandelaltars betrieben wurde, sondern auch dass – wie unten genauer analysiert – hier die Handschrift eines anderen Mitarbeiters der Werkstatt vorliegt. Weiße Farbe in dickerer Konsistenz wird mit breiterem Pinsel aufgetragen, um Farbflächen zu strukturieren, oder mit gleichmäßigen feinen Punkten aufgestupft, um Perlen zu imitieren. Einige Partien sind auf öligem Anlegemittel auf der Malerei vergoldet, versilbert oder mit Zwischgold versehen. Auf der roten Rahmenfassung der Sonntagsseite und dem die Predellenfront rahmenden Band ist ein transparentes Anlegemittel mit Hilfe von Vierpassschablonen aufgetragen und mit Blattsilber und Zwischgold belegt. Mit weißer oder gelber Farbe in deckendem, pastosem Auftrag sind auf Malerei und Rahmenfassung der Werktagsseite Sterne, Blüten- und Vierpassmuster aufschabloniert. Brokatmuster und Verzierungstechniken Auf die Wiedergabe reicher Brokatstoffe wurde besonders viel Wert gelegt. Der Farbaufbau ist aufwendig: Als Unterlage dienen Zwischgold oder Silber, wobei die versilberten Flächen mit transparenten Überzügen oder farbigen, vor allem gelblichen und grünen Lüstern vielfältig variiert sind. Die Muster sind darauf mit deckender roter, rosa, weißer, türkisblauer Farbe oder verschiedenen Grüntönen und Pinsel routiniert frei Hand aufgemalt. Die Verwendung von Schablonen lässt sich an der Malerei nicht nachweisen. Die Muster bleiben in der Fläche, erst die mit dunkelrotem Farblack oder transparenter, dunkelblauer Farbe aufgemalten Faltenangaben besorgen die Modellierung. Nur auf der Mitteltafel wird in einigen Brokaten die Fadenstruktur imitiert, indem Strichpunzen, offensichtlich mit zwei etwas verschiedenen Werkzeugen, reihenweise in die golden belassenen Musterpartien eingeschlagen wurden. In anderen Brokaten auf der Sonntags- und Festtagsseite werden einzelne Motive durch eine doppelte Metallauflage, anscheinend partiell aufgelegtes Blattgold, auf einer grün gelüsterten Versilberung besonders betont. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.6 Zusammenfassung/Auswertung - 160 - Den Brokatmustern liegt ein charakteristischer Musterkanon zugrunde. Vor allem wird ein Blüten- und Blattmotiv durch einen unterschiedlichen – mal spitzen, mal fächeroder granatapfelförmigen – Kern variiert, in dem ein Band mit eingeschriebenen Kreisen immer wiederkehrt. Besonders herausgehobene Partien werden mit Greifvögeln und feuerspeienden Löwen versehen, die sich jeweils symmetrisch gegenüberstehen. Kronen kommen als Motiv häufig vor, daneben gibt es reine Rankenformen. Zwischen den Bildfeldern der Festtagsseite waren auf den Innenflügeln und den senkrechten Streifen der Mitteltafel ursprünglich 77 bis 80 mm lange Plättchen aus reinem Kupfer, auf den waagerechten Bändern zwischen den Passionsszenen der Mitteltafel 55 bis 60 mm lange Elemente aufgenagelt. Ihr ursprüngliches Erscheinungsbild, wahrscheinlich ein geprägtes, vergoldetes und farbig gefasstes Muster, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Aufgabenteilung und Werkstattstruktur beim Göttinger Auftrag Hinweise auf die Beteiligung mehrerer Mitarbeiter des „Barfüßer-Meisters“ lassen sich für die verschiedenen Phasen im Entstehungsprozess des großen Altarwerks nicht aus Quellen, sondern am Retabel selbst ablesen. Eine „Händescheidung“ ist unter technologischen Gesichtspunkten möglich, wobei „Händescheidung“ hier nicht im in der Kunstgeschichtsschreibung bisher üblichen Sinn die Unterscheidung verschiedener eigenständiger Meister meint. Vielmehr kann über diese genaue Differenzierung einen Einblick in die Werkstattstruktur gewonnen werden. Dort, wo die Unterzeichnung sichtbar gemacht werden konnte – auf der Apostelseite, den Szenen des Marienlebens auf den Flügeln der Festtagsseite und auf den Predellenfragmenten –, hat der freie, routinierte Pinselstrich einen einheitlichen Charakter, der von großer Souveränität zeugt. Als Beispiel vergleiche man die lockere Zeichnung der Bärte mit der schematischen malerischen Ausführung (Abb. 54). Die so häufig angenommene Zuständigkeit des Meisters für die Unterzeichnung ist hier ebenfalls plausibel, auch wenn die Zeichnung am Barfüßerretabel eher bestätigenden als erfindenden Charakter hat. Auf der Mitteltafel aber wurde eine hellere rote Farbe für die Unterzeichnung benutzt, die sich mit Infrarotstrahlen nicht sichtbar machen ließ. Das andere Farb- Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.6 Zusammenfassung/Auswertung - 161 - mittel ist bestenfalls ein Indiz dafür, dass die Mitteltafel in einer anderen Phase als die Innenflügel und die Apostelseite unterzeichnet wurde, aber kein Nachweis für eine andere Hand. Die Verwendung und unterschiedliche Handhabung mehrerer Gesichtsschablonen sowie die Differenzen im Farbauftrag sind hier auskunftsfähiger. Die vier Passionsszenen und die Darstellung des Hl. Franziskus sind unter Zuhilfenahme einer einheitlichen Gesichtsmustervorlage entstanden, die allerdings nicht in der Kreuzigung Verwendung fand. Hier sind die Gesichter viel größer und auch variantenreicher. Die Szene mit dem Hl. Georg fällt ganz heraus. In der Malweise ähnelt sie eher der Malerei der Innenflügel, die Gesichter aber sind besonders klein geraten. In den Szenen des Marienlebens auf den Flügeln wurden wenige Vorlagen für die hier schmaleren Gesichter möglicherweise in Form von Konturschablonen übertragen, dabei gedreht und gewendet. Die in der Verwendung dieser Gesichtsschablonen festgestellten Unterschiede spiegeln sich überraschend analog im Farbauftrag wider, was in der Behandlung der Inkarnate am besten ablesbar ist: Auf den Passionsszenen und beim Hl. Franziskus ist die Hautfarbe warmtoniger, rötlicher gehalten, transparenter im Farbauftrag und weicher vertrieben. Die Gesichter in den Szenen aus dem Leben Mariae dagegen sind härter in der Modelllierung, deckender im Farbauftrag und mit mehr pastosem Weiß ausgemischt. Auch für die Apostelseite lassen sich zwei unterschiedliche Hände für die beiden inneren und die beiden äußeren Flügel durch folgende Kriterien dingfest machen (Abb. 2): Die Apostelgesichter sind auf den Innenflügeln (Abb. 8, 9) viel schmaler, Säulen und Architektur heller in Rosatönen und weniger kontrastreich als auf den Außenflügeln (Abb. 7, 10) angelegt. Die Inkarnate der Propheten in der Baldachinzone sind mindestens auf dem linken Innenflügel warmtoniger. Allerdings wurden die Gesichter auf der gesamten Apostelseite mit sehr verwandten Schablonen angelegt, so dass auch dieselben Konturschablonen für die rechte und linke Gesichtskontur verwendet und auf den Innenflügeln näher zusammengeschoben worden sein könnten. An den Gewändern und in der Vegetation lassen sich solche Unterschiede in der malerischen Ausführung der Innen- und Außenflügel aber nicht erkennen. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.6 Zusammenfassung/Auswertung - 162 - Die Aufteilung der Metallauflagen auf die drei Schauseiten und die kategorische Abstufung in der Ausführlichkeit der Punzierungen spricht für die klaren Vorgaben des Auftraggebers oder eines gut strukturierten Auftragnehmers und Werkstattleiters. Innerhalb der Ausführung der Punzierungen sind unterschiedliche Handschriften nicht zu erkennen. Die ausführlicheren Punzierungen in der Kreuzigung, der Heimsuchung und der Marienkrönung sind eher dem Rang der Darstellung und dem näheren Betrachterabstand geschuldet. Immerhin wurden zwei, geringfügig verschiedene Zahnrädchen benutzt, so dass zwei Mitarbeiter die aufwendigen Verzierungen auch parallel herstellen konnten. Entgegen der Meinung von Erling Skaug, dass das Punzieren integraler Bestandteil der Arbeit der Maler war und von diesen ausgeführt wurde, wird angesichts der Größe des Auftrags und der besonderen Qualität der Punzarbeiten die These vertreten, dass ein spezialisierter Mitarbeiter, der durchaus als Maler und nicht als Goldschmied geschult worden sein mag, für die Ausführung der Punzierungen hinzugezogen wurde. Die Brokatmuster sind sehr routiniert aufgemalt. Mit wirkungsvollen Effekten, wie der Heraushebung einzelner Tiermotive mit zusätzlicher Blattgoldauflage, wird nicht gespart. Der Farbauftrag auf der Außenseite ist einfach deckend, häufig à la prima, die ölhaltige Farbe wurde nicht vertreiben. Diese Arbeitsweise legt die Vermutung nahe, dass die Arbeiten unter Zeitdruck standen. Fazit: Diese Beobachtungen werfen ein Licht auf die Entstehungsbedingungen des Retabels. Die von Deiters beobachteten stilistischen Unterschiede zwischen der Mitteltafel und den Flügeln der Festtagsseite finden in dem Vorkommen unterschiedlicher Gesichtsmustertypen und im Farbauftrag ihre Bestätigung. Jedoch ist nicht davon auszugehen, dass zwei eigenständige Meister die Verantwortung für die verschiedenen Teile des Retabels trugen. Zu genau stimmen die Brokate auf der ganzen Festtagsseite überein. Auffällig ist, dass die Unterschiede bei der Verwendung der Gesichsschablonen und in der Ausführung der Malerei analog auftreten, obwohl man die Übertragung der in der Werkstatt entwickelten Gesichtstypen eher dem Arbeitsgang der Unterzeichnung zuordnen möchte. Dies wird hiermit aber noch einmal in Frage gestellt. Konturschablonen könnten auch beim Auftrag der Imprimitur oder ersten Untermalungsschicht zum Einsatz gekommen sein. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 2.6 Zusammenfassung/Auswertung - 163 - Die Anzahl der Mitarbeiter dieser Werkstatt ist schwer zu beziffern, die technischen Beobachtungen geben jedoch Anhaltspunkte für die Verteilung der Aufgaben innerhalb der Werkstatt. Neben der beschriebenen Aufteilung von Mitteltafel und Flügeln an verschiedene Werkstattmitglieder könnten die Ausführung der Brokate und der Punzierungen, möglicherweise auch der mit Pflanzen besetzten Grünflächen jeweils durchgängig in einer Hand gelegen haben. Nicht zu vergessen ist die Rolle des Zubereiters, von dessen Beteiligung in großen Werkstätten auszugehen ist. Ihre Aufgabe war das Vorbereiten des Werkstücks, also Leinwandbeklebung, Grundieren und Vergolden. Nach von Bonsdorff waren es ausgebildete Maler, „die nicht die Möglichkeit oder nicht das Talent besaßen, um Maler oder Schnitzer zu werden.“436. Quellen von 1388 aus Unterfranken und ab 1426 aus Antwerpen nennen den Bereiter.437 Darüber hinaus war es auch am Barfüßerretabel nötig, Subunternehmer oder Zulieferer hinzuziehen: Dies betrifft die Herstellung aller Schmiedearbeiten und der kleinen Zierelemente durch einen Goldschmied oder Grapengießer und wird auch bei der Herstellung und Aufstellung der Retabelkonstruktion durch einen Zimmermann oder Schreiner der Fall gewesen sein. Es ist nicht anders denkbar, als dass die Koordination dieses Großauftrags in der Hand eines Unternehmers lag. Die Quellenforschungen von Weilandt zu Niklaus Weckmann am Ende des 15. Jahrhunderts verdeutlichen, welche Bedeutung den Verträgen zwischen dem Auftraggeber des Retabels und dem Auftragnehmer zukamen.438 Vor diesem Hintergrund ist die so prominente Inschrift auf der Außenseite des Barfüßerretabels noch einmal anders zu lesen (Abb. 5, 6): Mit „ista tabula completa est“ wird die Vollendung des Werkes und vermutlich zugleich die Erfüllung des Vertrages besiegelt. Dieser Moment wurde häufig feierlich begangen.439 436 VON BONSDORFF 1993, S. 35. (1) Laut Inschrift auf Sitzmaria von 1388 in Dimbach/Unterfranken: „anno die MCCCLXXXVIII iar wart ich bereit“, in: KOLLER 1990/1, S. 142 (Abb. Sockelinschrift); (2) In Dokumenten der Stadt Antwerpen wird 1426 ein beeldeverwere genannt. Nadolny führt Quellen von 1426 bis 1578 auf, in denen mit zunehmender Häufigkeit Zubereiter erwähnt werden. NADOLNY 2008/1, S. 11f. Tab. 1. 438 Gerhard Weilandt, Verträge mit Künstlern und finanzielle Abwicklung von Aufträgen, in: AUSST.KAT. STUTTGART 1993, S. 314. 439 Weilandt, ebenda, S. 314. 437 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 164 - 3. Ausgewählte technische Befunde im zeitgenössischen Kontext Die am Göttinger Barfüßerretabel gesammelten Befunde sollen im Folgenden in den Kontext zeitgenössischer Werke gestellt und damit hinsichtlich Tradition, Werkstatteigenart oder Innovation bewertet werden. Die hier angewandte vergleichende Methode bezieht sich einerseits auf eigene ergänzende Untersuchungen und Beobachtungen, andererseits auf in der Literatur zugängliche Einzelergebnisse. In die Untersuchungen wurden die dem Barfüßermeister zugeschriebenen Werken sowie die großen Altarretabel des unmittelbaren Umkreises, darunter der Peter- und Paul-Altar aus St. Lamberti Hildesheim, der Jacobikirchenaltar in Göttingen und die Goldene Tafel aus Lüneburg einbezogen. Um Traditionszusammenhang und technologische Besonderheiten bewerten zu können, ist darüber hinaus der Blick auf Werke der kölner, westfälischen und böhmischen Malerei und auf in Skandinavien überlieferte, meist importierte Altarwerke unter technischen Gesichtspunkten unablässig. Die Rekonstruktion der am Barfüßerretabel fast vollständig verlorenen Teile, der Predella und der Zierbänder, bedarf der Vergleiche im besonderen Maße, da hier die Detailbeobachtungen und technischen Analysen nicht ausreichen, um das ursprüngliche Erscheinungsbild aus den am Objekt erhaltenen Spuren heraus zu ermitteln. Vielmehr lassen erst die Vergleiche Rückschlüsse zu, die für die Rekonstruktion entscheidend sind. 3.1 Bildträger und Retabelkonstruktion Holzauswahl und Tafelfügung Im norddeutschen Raum ist Eichenholz als Holzart in dem hier behandelten Zeitraum so vorherrschend, dass andere Holzarten nicht selten Zweifel an der Provenienz aus diesem Raum oder an der Zugehörigkeit zu einem eichenen Ensemble weckten. Hintergrund hierfür sind nicht nur das regionale Holzvorkommen, sondern auch städtische Zunftbestimmungen, die bestimmte Holzarten vorschrieben, wie etwa die ausschließliche Verwendung von Eiche in Lübeck.440 In seinen jüngsten Untersuchungsergebnissen zu 440 Tångeberg weist die Verwendung unterschiedlicher Holzarten im 12. bis 13. Jahrhundert nach. Die aus Lübeck vor 1425 überlieferte Zunftbestimmung, nach der ausschließlich Eichenholz für kirchliche Gegenstände verwendet werden durfte, schließt Lokalisierungen von Werken nach Lübeck aus, wenn eine andere Holzart festgestellt werden konnte. Daneben ist Nussbaum eine in Norddeutschland häufiger Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 165 - Retabeln und Altarschreinen des 14. Jahrhunderts in Schweden stellte Tångeberg wiederholt Nadel- und helles Laubholz neben Eichenholz fest.441 Die Bestimmung der Holzart Fichte für die Tafeln der Außenflügel des Barfüßerretabels und mindestens für die Vorderfront seiner Predella trägt ebenfalls zu einer Revision der Forschungsmeinung vom Primat der Eichenholzverwendung, jedenfalls für den hier diskutierten, südniedersächsischen Raum bei. Es ist offensichtlich, dass die Holzarten hier mit genauer Kenntnis ihrer spezifischen Eigenschaften, insbesondere Festigkeit und Gewicht, ausgewählt wurden: Eichenholz für die stabileren Rahmen, Fichtenholz für die Tafeln der äußeren Flügel, um deren Gewicht zu minimieren. Ähnlich lässt sich erklären, dass am Flügelaltar aus Gammelgarn, Gotland, die äußeren senkrechten Rahmenschenkel der Flügel aus leichterem Kiefernholz bestehen, dort also, wo im geöffneten Zustand durch die Hebelwirkung das größte Gewicht nach unten zieht.442 Hingewiesen sei auch auf den Befund vom sogenannten Ahnaberger Altar, der um 1430/40 vom selben Stifterehepaar des Göttinger Barfüßerretabels Otto Cocles und seiner Ehefrau Agnes, geborene Landgräfin von Hessen, in Auftrag gegeben wurde (Abb. 184): Die Seitenflügel bestehen ebenfalls wohl aus Nadelholz in EichenholzNutrahmen, während sich die Mitteltafel aus sechs senkrechten Brettern aus Eichenholz, Nadelholz und Buchenholz zusammensetzt.443 Das statische Argument für die Holzauswahl verwundert wiederum bei der Predella, die als Sockel für das schwere Barfüßerretabel besonders stabil gebaut sein sollte. Andere Predellen sind im Vergleich aus sehr massiver Eiche gefertigt.444 Natürlich kennen wir die Holzkonstruktion des ursprünglichen Predellenkastens nicht. In der Regel aber waren es schlichte Kästen ohne eine stabilisierende Innenkonstruktion. Angesichts dieser Gegebenheiten lässt sich für die Predella des Barfüßerretabels rückschließen, dass das Hauptgewicht der Mitteltafel mit ihren zwei Flügelpaaren – ähnlich wie am ganz mit Malereien versehenen Hochaltarretabel der St. Nikolaikirche in Osterwieck – verwendete Holzart. TÅNGEBERG 1986, S. 144. 441 TÅNGEBERG 2005. 442 Flügelretabel vor Mitte des 14. Jahrhunderts; TÅNGEBERG ebenda, S. 234. 443 Mitteltafel mit der Kreuzigung Christi, lichtes Maß ohne Rahmen H. 95 cm, B. 140 cm: Brettfolge von links nach rechts: 2 Eichenholzbretter, 2 Nadelholzbretter, 1 Buchen- und 1 Eichenholzbrett. Die Predella ist aus Nadelholzbrettern gefertigt. BEST.KAT. KASSEL 1997, S. 134. 444 Zum Beispiel: Predella von Lucas Moser, Magdalenenaltar aus Tiefenbronn, aus einer 9,5 cm dicken, ca. 164 cm langen massiven Eichenholzbohle (in der ganzen Breite des geöffneten Retabels), auf die eine profilierte Deckplatte aufgedübelt ist. STRAUB/RICHTER/HÄRLIN/BRANDT 1974, S. 16. Die Retabel in Offensen und Osterwieck bestehen jeweils aus aus 6 Eichenholzbrettern zusammengesetzten Kästen. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 166 - wahrscheinlich über ein rückwärtiges Ständerwerk abgefangen wurde und die Lastabtragung nicht vollständig über den weniger stabilen Predellenkasten zu denken ist. Einen ähnlichen Wechsel der Holzart konstatiert Tångeberg für das Altarretabel aus Burs, Gotland, um 1410-1420. Das Flügelretabel ist komplett aus Eichenholz gefertigt mit Ausnahme der Predellenvorderfront, die ebenfalls aus Nadelholz besteht und mit qualitätvollen Malereien in der Nachfolge Conrads von Soest versehen ist. Deshalb folgert Tångeberg: „ Eine Herkunft aus einer anderen Stadt in Norddeutschland [als Lübeck, Anm. Autorin] sollte vielleicht für diesen Altar erwogen werden“ und verweist auf die Nähe der Skulpturen zur Goldenen Tafel aus Lüneburg. 445 In Süddeutschland wurden die tragenden Bauteile eines Retabels ausschließlich aus Nadelholz gefertigt, meistens Tannenholz, weniger Fichte.446 Auffällig ist, dass die Qualität des verwendeten Eichenholzes im hier behandelten Raum nicht besonders gut ist. Das Peter- und Paul-Retabel aus St. Lamberti in Hildesheim besteht aus extrem astreichem Eichenholz (Abb. 167-169). Die für den Göttinger Barfüßeraltar wie auch für das Offensener Retabe getroffene Holzauswahl ist etwas besser, entspricht aber nicht der des baltischen Imports von Wagenschott.447 Für die Goldene Tafel ist Eichenholz erkennbar, aber eine Aussage über seine Qualität bisher noch nicht möglich. Die Befunde zu Holzart und Qualität belegen, dass die Zunftbestimmungen in Göttingen, Hildesheim, Braunschweig, oder wo die Werkstatt des Barfüßermeisters zu lokalisieren ist, hinsichtlich der Schreinerarbeit lockerer als in Lübeck waren. Im späten 14. Jahrhundert vollzieht sich ein Wechsel in der Fugtechnik. Nun werden die Tafeln – wie es holzphysiologisch sinnvoll erscheint – fast ausnahmslos aus senkrechten Brettern gefügt, so auch bei den drei dem Barfüßermeister zugeschriebenen Retabeln.448 Eine Ausnahme bildet das bis jetzt ebenfalls um 1420 datierte Peter- und Paul-Retabel in St. Lamberti in Hildesheim. Mitteltafel und Flügel sind hier unterschiedlich gefügt: 445 TÅNGEBERG 1986, S. 144 und Anm. 261. Elisabeth Krebs, Der Schrein – mehr als eine Kiste? Konstruktionsmerkmale von Ulmer Retabeln, in: AUSST.KAT. STUTTGART 1993, S. 265. 447 Vergleiche RIEF 2006. 448 Albrecht beschreibt für das Retabel in St. Annen (Kreis Dithmarschen) um 1390/1400 „die für Schleswig-Holstein damals bereist altertümliche Verwendung horizontaler Rückwandbretter“. Albrecht, Blatt und Zinken. Zur Konstruktion mittelalterliche rRetabel in Schleswig-Holstein, in: KROHM/ALBRECHT/WENIGER 2004, S. 100. 446 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 167 - die Mitteltafel mit stehenden Brettern (Abb. 167), die Flügel mit waagerechtem Faserverlauf (Abb. 168 a, 169). Aus dem unterschiedlichen Schwundverhalten des Holzes quer und senkrecht zur Faser erklären sich auch die unterschiedlichen Höhenmaße. Ob andere technische oder statische Überlegungen hinter dieser Fugtechnik stehen oder nur Nachlässigkeit in der Vorbereitung des Holzkerns, ist nicht ablesbar. An den gespaltenen Tafeln der Flügel zeigen die an den Fugen endenden, „halben“ Dübellöcher, dass einzelne Holzbretter zweitverwendet wurden. Die Retabelkonstruktion des Peter- und Paul-Retabels erscheint in Tafelqualität und -fügung wie auch mit den zu rekonstruierenden sehr breiten Rahmen altertümlich.449 Beispiele für den Wechsel der Faser- und Fugrichtung sind durch die gründlichen Untersuchungen Tångebergs gut dokumentiert. Sie stammen alle aus früherer Zeit: Das oben bereits erwähnte Retabel aus Gammelgarn zeigt einen ganz wilden Verbund mit einem waagerecht und einem senkrecht gefügten Flügel sowie einem Schrein mit aus senkrechten Brettern gebauter, betonter Mitte, zu deren Seiten die Schreinrückwand mal waagerecht, mal senkrecht gefügt ist.450 Der älteste auf Gotland erhaltene Flügelaltar in Endre, um 1360, hat eine Schreinrückwand aus waagerechten Brettern und dazu senkrecht gefügte Flügeltafeln, wobei Eichen- und Nadelholzbretter offensichtlich zweitverwendet wurden und das leichtere Nadelholzbrett ganz außen (sic!) am linken Flügel sitzt.451 Durch seine durchgehend senkrecht gefügten Eichenholztafeln erweist sich das Warendorp-Retabel im St. Annen-Museum Lübeck aus dem 2. Viertel des 14. Jahrhunderts als technisch sehr fortschrittlich, wenn seine Rahmenkonstruktion, auf die im Folgenden hingewiesen werden muss, auch noch ganz einer älteren Tradition verpflichtet ist. Zu rekonstruieren sind max. 24 cm breite Rahmenschenkel um die ca. 133 cm hohen und 120 cm breiten Flügel und die 288 cm breite Mitteltafel. Bei dieser Breite ist eine Gestaltung der Platte mit farbigen oder plastischen Mustern zwingend zu rekonstruieren, vgl. z.B. die 18 cm breiten Rahmen um die Zehngebotetafel (Bildfläche ca. 124 x 137cm). HARTWIEG 2005, S. 285f., Abb. 6, Vergleichsbeispiele für weitere Retabel mit breiten Rahmen siehe Anm. 14-16. Einen extrem breiten Rahmen hat auch das kleine Norfolk Triptychon, 1415-1420, geöffnet 33 x 58 cm, Rotterdam Museum Boymans van Beuningen. STROO 2009. 450 TÅNGEBERG 2005, S. 235. 451 TÅNGEBERG 1986, S. 47. Außerdem: Flügelretabel in Anga, Gotland, 1360-70, Bretter ganz aus waagerechten Eichenholzbrettern, und in Lärbo, Gotland, 1370-1380, Flügelrückwände waagerecht gefügt, zwei Drittel des Mittelschreins mit tieferer Mittelzone senkrecht, ein Drittel waagerecht, TÅNGEBERG 2005, S. 266 und 271. Die früheren Retabel ohne Flügel meistens waagerecht (Ganthem, 1. Hälfte 14. Jh.), TÅNGEBERG 1986, S. 44. 449 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 168 - In der Regel wurden die Bretter nicht nur stumpf verleimt, sondern zusätzlich mit meist 8 bis 12 cm langen Dübeln gesichert. Am Barfüßerretabel sind sie wie am Retabel aus St. Lamberti unregelmäßig gesetzt, am Mindener Flügelaltar sitzen sie, wie an den frühen westfälischen Antependien, regelmäßig immer auf derselben Höhe. Eine Ausnahme bildet hier der Bielefelder Marienaltar von Meister Berswordt: Die fast 3 m breite Mitteltafel war ursprünglich aus elf 17,5 bis 35 cm breiten und ca. 2,8 cm dicken Brettern sorgfältig mit Nut und Feder verleimt und zusätzlich mit ca. 10 cm breiten Einschubleisten stabilisiert.452 Retabelformen und -konstruktionen Folgt man den Thesen Uwe Albrechts, so vollzieht sich in der Schreinkonstruktion und -typologie oder, handwerksnäher formuliert, in der Rahmenkonstruktion gerade in dem hier behandelten geografischen Raum um 1400 ein Umbruch: Wurden Schreine und Flügel zunächst als „dicke Tafel“ ausgebildet, d.h. als durchlaufendes Brett mit aufgesetzten Rahmenleisten, so entwickelte sich nun auch hier allgemein der Nutrahmen, in dem die Tafeln „geführt“ wurden. Der Nutleistenrahmen blieb „bis zum Ende des Mittelalters und noch darüber hinaus für Retabel verbindlich […], bis der neuzeitliche Falzrahmen diesen allmählich zu verdrängen begann.“453 Den Typ der „dicken Tafel“ beschreibt Albrecht als „schreintypologische Sondergruppe“, die hauptsächlich in Westfalen, dem südlichen Niedersachsen, Nordhessen und den östlich anschließenden Landschaften zwischen Altmark und Thüringer Wald Verbreitung fand.454 Das oben erwähnte Warendorp-Retabel im St. Annen-Museum Lübeck stellt ein gutes Beispiel für diesen Typ dar: Die Schreinrückwand und die Flügeltafeln haben hier jeweils bereits das Rahmenaußenmaß, Rahmenleisten sind in mehreren Lagen auf beiden Seiten entlang der Außenkanten aufgedübelt, womit „die flache Tafel plastisches Relief gewinnt“.455 Wie bei frühen Antependien fehlt eine selbständige Rahmenzarge. Am Göttinger Jabobikirchenaltar von 1402 (Abb. 162) existiert die altertümliche und die moderne Konstruktion nebeneinander: Während die Schreinrückwand und die inneren Flügel als Rahmen/Füllung-Konstruktion gebaut sind, wurden profilierte Rahmen452 HERPERS 2001, S. 110 und 115, Abb. 1. Albrecht wie Anm. 448, S. 101. 454 ALBRECHT 2005, S. 305. 455 Albrecht wie Anm. 448, S. 99f. 453 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 169 - leisten auf die Tafeln der vollständig bemalten Außenflügel umlaufend aufgesetzt.456 Die fünf großen Tafeln des Barfüßerretabels sind indessen komplett in genuteten Rahmenzargen gefasst, genauso wie die Flügel des Magdalenen- und des Dreikönigsretabels aus dieser Werkstatt. Nur die Schreinrückwand des kleinen Retabels in Offensen hat noch die volle Breite des Mittelschreins und wurde auf die an den Ecken mit Schlitz und Zapfen verbundenen Seitenbretter möglicherweise schon im Original aufgenagelt. Der Hauptvorteil der neuen Nutrahmenkonstruktion, die der eingefassten Tafel eine geführte Dehn- und Schwundbewegung ermöglichen soll, wird allerdings am Barfüßerretabel, wie auch an anderen Altarwerken, durch aufgedübelte Querleisten wieder aufgehoben.457 Mit dem Aufkommen der Rahmen/Füllungs-Konstruktion werden auch die Eckverbindungen weiterentwickelt. Neben den einfachen Überblattungen, wie sie das Hochaltarretabel der Hamburger Petrikirche von Meister Bertram zeigt, dessen Entstehung zwischen 1379 und 1383 datiert werden kann, tritt dann aber meistens eine aus Fingerzapfen und Dübeln gebildete Eckverbindung auf, wie sie am Barfüßerretabel und am Mittelschrein des Jacobikirchenaltars anzutreffen ist (Abb. 40).458 Eine konstruktive Verbesserung stellt an der Mitteltafel des Barfüßerretabels die doppelte und verdeckte Dübelung der Eckverbindungen von hinten und von den schmalen Seitenkanten dar.Viel häufiger ist nur ein Dübel von vorn eingesetzt, der sich an der Ansichtsseite abzeichnet und beim Verlust der Klebekraft des Leims und Schwund des Holzes viel eher einen Drehpunkt bilden kann. Das Röntgenfoto offenbarte überdies, dass an einer Eckverbindung der Mitteltafel des Barfüßerretabels der Zapfen schwalbenschwanzförmig gespreizt ist (Abb. 41 a). Was hier noch wie ein Versuch anmutet, ist an den Eckverbindungen der dünnen Außenflügel durchgehend fachmännisch ausgeführt. Hier sind die Schlitz- und Zapfenverbindungen nämlich mit schwalbenschwanzförmigen Zapfen ausgebildet, so dass ein größerer mechanischer Halt gewährleistet ist (Abb. 39). Auf der Basis der systematischen Erfassung mittelalterlicher Altarwerke in Schleswig-Holstein schlussfolgert Albrecht: „Der Übergang vom geraden Fingerzapfen zum gespreizten 456 ALBRECHT 2005, S. 316, Abb. 7A und b. So wird zum Beispiel auch die Mitteltafel des Ortenberger Altars in Darmstadt, um 1400, durch die rückwärtig aufgeleimte Querleiste blockiert. Renate Kühnen, Untersuchungen zur Herstellungstechnik des Altares, in: VETTER 2000, S. 125. 458 So in Schleswig-Holstein auch in Burg auf Fehmarn, Herburg bei Lübeck, Grambeck im Kreis Herzogtum Lauenburg, Albrecht wie Anm. 453. 457 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 170 - Zinken vollzieht sich in Schleswig-Holstein – wie überall im norddeutschen und skandinavischen Bereich – im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts.“459 Am Barfüßerretabel ist auffällig, dass die Stoßfugen der Rahmenschenkel an der Mitteltafel und am inneren Flügelpaar waagerecht, an den Außenflügeln jedoch senkrecht verlaufen, was auf der Sonntagsseite am besten ablesbar ist (Abb. 2).460 Der Wechsel von durchgehend waagerechten, geschlitzten Rahmenschenkeln an Mitteltafel oder Mittelschrein, in die die senkrechten Schenkel mit Zapfen eingeschoben sind, und durchlaufend senkrechten Rahmenzargen an den Flügeln, in deren Schlitze die kürzeren waagerechten Rahmenschenkel eingefügt sind, ist häufig461 und macht m.E. statisch Sinn: Der untere waagerechte Rahmenschenkel der Mitteltafel bildet die Hauptauflage für das Gewicht des Retabels, an den Flügeln dagegen überträgt der lange, schwerere senkrechte Schenkel das Gewicht über die Scharniere. Das jüngere Mindener Retabel im Bodemuseum in Berlin, um 1425, zeigt Schlitze an den Ecken aller horizontalen Rahmenzargen sowohl an der Mitteltafel wie an den Flügeln, d.h. durchgehend waagerechte Stoßfugen, mit jeweils einem Dübel an den Eckverbindungen; allerdings werden die Rahmen noch einmal von einem Brett umgeben, das eine Profilkante bildet (Abb. 179 a, b).462 Es ist dieselbe Zeit, in der der Gehrungsschnitt an qualitätvoll gearbeiteten Schreinkonstruktionen neu aufkommt. Er bietet den großen Vorteil, dass Rahmenprofile mit dem Profilhobel bis zur Ecke durchgezogen werden können. Am noch altertümlich nach dem Prinzip der „dicken Tafel“ konstruierten Warendorp-Retabel im St. Annen-Museum sind bereits um 1340 die auf die Mitteltafel aufgesetzten Rahmenleisten auf Gehrung geschnitten. Dies stellt ein ungewöhnlich frühes Beispiel dar. Raffinierter und komplizierter in der Herstellung ist die Eckverbindung an den Rahmen des Ortenberger Altars um 1400 im Hessischen Landesmuseum Darmstadt: Hier ist die Schlitz-Zapfen-Verbin- Albrecht wie Anm. 448, S. 101. Vergleiche Kap. 2.5.1, S. 97. 461 So zum Beispiel: am Trinitatisaltar in der Bernwardskirche in Hildesheim, am Flügelretabel in Endre, Gotland, um 1360 Fügung, wie Anm. 13. Am Großen Friedberger Altar in Darmstadt, der im übrigen mit Ausnahme des Aufsatzes vom linken Seitenflügel (Kiefer) sehr sorgfältig vollständig aus guten Eichenbrettern gefertigt ist, laufen die vertikalen Rahmenschenkel durch, während horizontale auf Stoß dazwischen gesetzt und ihre Zapfen von vorn verdübelt sind. SCHOENBERG 1999, S. 20 Abb. 9. 462 Maße Mindener Retabel. Mitteltafel H. 179 cm, B. 276 cm, Flügel je 137 breit, die Rahmen bestehen aus 13 x 10,5 cm dicken Eichenbalken, umgeben von einem ca. 2 cm dicken Brett. 459 460 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 171 - dung vorder- und rückseitig mit Gehrungsschnitten versehen. 463 Am Tiefenbronner Altar von Lucas Moser von 1432 ist die Gehrung nur vorn ausgearbeitet, rückwärtig laufen die Leisten auf Stoß durch.464 Auch der Dortmunder Berswordtaltar, um 1390, zeigt Gehrungen an Mittelbild und Flügeln.465 Die Mitteltafel des Isselhorster Altars um 1425 im Westfälischen Landesmuseum Münster (Inv. Nr. 7LM), die an den oberen beiden Ecken Gehrungen, unten aber senkrechte Stoßfugen zeigt, ist ein Zeichen des Übergangs. In Schleswig-Holstein sind Gehrungen erst vereinzelt seit dem zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts anzutreffen, flächendeckend seit der Jahrhundertmitte.466 Um so überraschender ist es, dass sich in Süddeutschland Schreinkonstruktionen ohne Gehrungsschnitt bis Ende des 15. Jahrhunderts halten. Im Überblick der Retabelkonstruktionen der Ulmer Weckmann-Werkstatt und weiterer südwestdeutscher Werke schreibt Krebs: „Die Brüstungen sind überwiegend gerade gearbeitet, seltener auf Gehrung abgesetzt. Das aufrechte Rahmenteil läuft in der Regel durch und weist einen oder zwei Schlitze auf, das Querstück stößt gerade an und zeigt einen oder zwei Zapfen. […] Die Eckverbindungen wurden nicht durch Dübel zusätzlich gesichert, wie es z.B. bei flandrischen Rahmen häufig vorkommt.“467 Die Untersuchungen am Göttinger Barfüßerretabel haben ergeben, dass der ehemalige Hochaltar eine ganz schlichte rechteckige Form, ohne Aufsätze auf der Mitteltafel oder auf den Flügeln, ohne Kamm oder aufgesetztes Kruzifix hatte. Dies entspricht einem im norddeutschen Raum sehr geläufigen Typ. Auch der Kamm auf dem kleinen DreiKönigs-Retabel in Offensen aus der Barfüßerwerkstatt ist nicht original, hier war aber früher, offensichtlich jedoch nicht im Erstzustand, ein Kruzifix montiert. Ein solches, möglicherweise originales Kruzifix überragt das schlichte rechteckige, gemalte Altartriptchon in St. Nikolai in Osterwieck von ca. 1430 noch heute. Ein Blattkamm von beeindruckenden Ausmaßen (58 cm hoch) ziert den Mittelschrein und die Innenflügel des Retabels aus St. Georgen in Wismar (Abb. 184 a). Von ähnlicher Gestalt und Aufteilung, aber von geringerer Größe ist der Kamm, der oben auf Mittelschrein und Flügeln des Altartripychons in Eldingen aufsitzt (Abb. 180). Einen sehr feingliedrigen Fries mit kleinen Büsten im Wechsel mit Maßwerkfeldern zeigt das Hochaltarretabel VETTER 2000, S. 126 und Abb. 83. STRAUB/RICHTER/HÄRLIN/BRANDT 1974, Zeichnung S. 17. 465 HERPERS 2001, S. 115, Abb. 2. 466 Albrecht wie Anm. 448, S. 101. 467 Krebs, wie Anm. 446, S. 270. 463 464 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 172 - aus St. Petri in Hamburg von Meister Bertram als Bekrönung. Ob der Kupferstich von 1700 von der Goldenen Tafel aus Lüneburg wirklich ihren „wahrhafften Abriß“ zeigt und damit einen nur auf dem Mittelschrein des doppelflügeligen Retabels befindlichen Kamm aus der Entstehungszeit zeigt oder eventuell eine spätere Hinzufügung, wird man technologisch nicht mehr klären können, weil der Schreinkasten nicht mehr erhalten ist.468 Seine Gestalt mit den in zwei Größen wechselnden Blättern und am seitlichen Abschluss halb beschnittenen Blättern hat große Ähnlichkeit mit der am Hochaltarretabel aus dem Kloster zum Hl. Kreuz in Rostock erhaltenen Bekrönung (nach 1430). 469 Auch die dargestellte Predella mit der doppelten seitlichen Schweifung ähnelt der Rostocker. Die im Stich dargestellten Dimensionen und der stufenweise Aufbau – der Blattkamm sitzt auf einer doppelten Kehle und einem Fries und nimmt an Breite über den Schreinkasten hinaus zu – legen eine Idealisierung aus der Zeit des Stichs nahe. 470 Die glatte, schlichte äußere Retabelform ist jedenfalls der im südniedersächsischen Raum am weitesten verbreitete Typ, während Bekrönungen in Form von Blattkämmen ein eher seltenes und nach Norden weisendes Schmuckelement sind. Predellenformen Die Rekonstruktion der Predella des Göttinger Barfüßerretabels basiert wesentlich auf dem Vergleich mit Staffeln aus dem nahen geografischen und zeitlichen Umkreis. Dabei stellten sich folgende Fragen an die vergleichenden Untersuchungen: • Wie ist das ikonografische Programm auf gemalten Predellenvorderseiten ? • Ab wann übernehmen die Predellen die Funktion eines Sakramentsfaches und wie sind diese gestaltet? • Welche architektonischen Gliederungen sind üblich? • Welche Breite nehmen die Staffeln im Verhältnis zum Mittelschrein ein? • In welcher Tradition steht der seitlich geschweifte Abschluss? • In welchem Verhältnis steht die Gestaltung der Predella zu den verschiedenen Zuständen eines doppelt wandelbaren Retabels? • Wie wahrscheinlich ist das Vorkommen von Flügeln oder Schiebetüren zur Abdeckung einer reich gestalteten Vorderfront? PATRIMONIA 2007, S. 22, Abb. 9. Siehe unten Liste B2 S. 178 und Anm. 488. 470 Seit der Reformation war das Retabel seit 1532 nicht mehr in liturgischem Gebrauch, entsprechend sind keine Investitionen in Maßnahmen am Altar im 16. Jahrhundert zu erwarten. Nach der Formensprache können Bekrönung und Predella nicht aus einer Zeit vor 1532 stammen. 468 469 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 173 - Die im folgenden gegebene Übersicht noch erhaltener Predellen aus einem Zeitraum von ca. 1375 bis 1450 verdeutlicht, woran die Predella des Barfüßerretabels anknüpft, welche Vorbilder auf den Entwurf Einfluss genommen haben können und wie die Gestaltung im Kontext zeitgenössischer Werke einzuordnen ist. Die vorgestellten Predellen werden nach formalen Kriterien ihrer äußeren Form unterschieden und darin chronologisch geordnet. Schlichte Kästen mit geradem seitlichen Abschluss kommen in dieser Zeit sehr viel häufiger vor als seitlich geschweifte. Sie nehmen die Maße des Mittelschreins auf oder sind leicht breiter. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Predellenkästen von vollständig bemalten Retabeln ohne Schnitzwerk, im Vergleich werden aber auch geschnitzte Beispiele herangezogen. Die Predellen, denen eine Schaufunktion zur Präsentation von Reliquien und Sakrament offensichtlich zukommt, werden extra herausgestellt. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 174 - A.1 Gerader Kasten mit bemaltem Vorderseitenbrett Objekt Datierung Konstruktion/ Gestaltung Vorläufer Altarstaffel aus Kloster Isenhagen, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover WM XXVII471 um 1310/20, Niedersächsisch Nur Vorderseitenbrett erhalten, Grund- und Deckbrett sind anzunehmen, da ein optischer Abschluss fehlt. Braunroter Grund mit einst goldenen Sternen, die Halbfiguren unter Rundbögen, die mit einem Trifolium enden. Mühlenaltar, Münster Doberan472 um 1410/20 Kasten mit überkragendem Grundund Deckbrett mit Grund- und Deckbrett beidseitig um ca. ein Viertel der Flügelbreite breiter als MT 12 Apostel- bzw. Heiligenköpfen um einen Weltenrichter (?), Malerei stark fragmentiert Drei-Königs-Retabel Offensen, Werkstatt des Barfüßer-Meisters (Abb. 135) 1410-20, Niedersächsisch Breite 130 cm, H. 34cm, T. 34,5cm, Kasten beidseitig je ca. 5 cm breiter als Mittelschrein Originale Malerei verloren, Schrifttafel und lasierender Farbanstrich aus barocker Zeit, 1907/08 und 1956 überarbeitet. Flügelretabel St. Nikolai Osterwieck Anf. 15.Jh., Langer, flacher Kasten Niederaus 4 cm dicken Brettern sächsisch (Rückbrett Nadelholz), Deckbrett wenig vorn überkragend, unten ehem. ca. 5 cm hohe Leiste als optische Basis aufgesetzt. Die Mitteltafel hängt an rückwärtigen Ständern, die Predella hat damit keine statische Funktion. Breite 227 cm, insg. 5,2 cm breiter als Mitteltafel, H. ~ 29 cm, T. ~ 26 cm (+ heute fehlende untere Leiste), d.h. mehr als doppelt so tief wie das Retabel im geschlossenen Zustand (12,5 cm).473 Je sechs Apostel zu seiten des Weltenrichters in Halbfiguren, 8 der 12 Apostel sind paarig angeordnet, nur in der Mitte wenden sich jeweils Petrus und Johannes Christus zu. Kasten geringfügig breiter als der Mittelschrein Originalfassung verloren, 7 etwa quadratische Felder mit je drei Heiligenbüsten zu Seiten eines Vera Icon, wohl 17. Jh. Ehem. Hochaltarretabel 1425-30 aus St. Nicolai Gardelegen, heute in St. Marien Gardelegen474 471 Kasten aus ca. 2 cm dicken Eichenholzbrettern, Konstruktion ähnlich Osterwieck, mit vorn oben aufgesetzter Profilleiste (original?) Breite Darstellung/ zur Mitteltafel Zustand Christus zwischen fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen BEST.KAT. HANNOVER 1992, S. 145. Johannes Voss (Text) / Jutta Brüdern (Fotos): Das Münster zu Bad Doberan. Großer DKV-Kunstführer, München/Berlin 2008, S. 75ff. Abb. S. 77. 473 Derzeit 1,2 cm Überstand links, 4 cm rechts. 474 Frank Matthias Kammel, Die Gardelegener Hochaltarretabel, in: LAMBACHER/KAMMEL 1990, S. 136f. und Abb. 79. 472 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 175 - Objekt Datierung Konstruktion/ Gestaltung Breite Darstellung/ zur Mitteltafel Zustand Meister Francke, ThomasAltar, Hamburger Kunsthalle475 1424-1436 Flache, rechteckige Predella, nur nach einem Kupferstich von 1731 überliefert Breite ca. 2 m, Breite wie Mittelschrein Der Erlöser mit den 12 Aposteln als Halbfiguren, wobei Christus nicht die Mittelposition einnimmt, sondern links die Reihe eröffnet. Flügelretabel, Kirche in Eldingen (Kreis Celle) (Abb. 180)476 1. Hälfte 15.Jh., Niedersächsisch einfacher Kasten mit Grund- und Deckbrett, mittig vergittertes, von hinten zugängliches Sakramentsfach, zwei querrechteckige Türen auf der Rückseite sowie ein kleines rundbogiges Türchen an der linken Schmalseite Breite 191 cm, Höhe 50cm, Grund- und Deckbrett überragen den Mittelschrein um je ca. 4 cm, der Kasten übernimmt die Breite des Mittelschreins je zwei Halbfiguren rechts und links der Sakramentsnische, links: Hl. Antonius und Hl. Bischof, rechts: Hl. Dorothea, Hl. Agnes Ausblick: Hochaltarretabel Grafelde (Kr. Alfeld)477 Ende des 15. Jh., Niedersächsisch Kasten mit vorkragendem Grundund Deckbrett Breite 163 cm, H. 49 cm, in der ganzen Breite des geöffneten (!) Altarschreins Je sechs ganzfigurige Apostel zu Seiten einer gemalten Monstranz. 475 AUSST.KAT. HAMBURG 1999, S. 142. Christine Rödling hat dankenswerterweise auf dieses Retabel hingewiesen und gemeinsam mit Arne Zerbst der Autorin Maße und Fotos überlassen. Vgl. auch Joachim Bühring, Konrad Maier, Die Kunstdenkmale des Landkreises Celle. Im Regierungsbezirk Lüneburg (Die Kunstdenkmale des Landes Niedersachsen Bd. 34,Textband S. 115f. Bildband Abb. 81-83. 477 Die Kunstdenkmäler der Provinz Hannover II/6, Kreis Alfeld, bearb. v. O. Kieker und P. Graff, Hannover 1929, Abb. 147, freundlicher Hinweis von Chr. Rödling. 476 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 176 - A.2 Gerader Kasten als „Schaukasten“ für Reliquien und Sakrament Objekt Datierung Konstruktion/ Gestaltung Breite Darstellung/ zur Mitteltafel Zustand Hochaltarretabel der Brüdernkirche Braunschweig478 Um 1383, Niedersächsisch einfacher Kasten, vorderseitig Maßwerkgliederung mit breitem Mittelfeld und zu den Seiten je 4 spitzbogigen Fensterelementen Predella so breit wie die Mitteltafel Hochaltarretabel St. Marien Gardelegen479 Um 1400, einfacher Kasten, vorder- Predella so seitig Maßwerkgliedebreit wie die rung mit acht hinter Mitteltafel Rundbogenarkaden eingestellten Reliquienbüsten Tempziner Altar, ehem. Hochaltarretabel der Antoniter-Präzeptorei Tempzin, Staatliches Museum Schwerin/Güstrow480 (Abb. 205 a, b) 1411 Wismarer Werkstatt Schreinkasten mit fünf Maßwerkfeldern für die Präsentation von Reliquien, verschließbar mit klappbaren, bemalten Flügeln mit Grund- und Deckbrett, beidseitig um eine knappe Rahmenstärke schmaler als Mitteltafel, verhältnismäßig hoch Auf den Flügelinnenseiten je 3 Bildfelder mit Heiligenszenen, außen fragmentiert 14 ganzfigurige Heiligendarstellungen Flügelretabel, Kirche in Eldingen (Kreis Celle) (Abb. 180)481 Niedersächsisch Kasten mit Sakramentsfach in der Mitte, von hinten zugänglich nur zur Präsentation des Sakraments konzipiert, Reliquien können über zwei querrechteckige Türen auf der Rückseite und ein Türchen an der linken Schmalseite eingelegt und nicht sichtbar aufbewahrt worden sein. Kasten so breit wie Mittelschrein, Grundund Deckbrett etwas breiter Zu Seiten des Sakramentsfachs Malerei: je 2 halbfigurige Heiligenfiguren Ursprünglich hinter dem Maßwerk eingestellte Reliquienbüsten oder -gefäße nicht mehr erhalten KIRCHNER 1979, S. 27, sowie Reinhard Karrenbrock, in CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005, S. 336, Abb. 1. Frank Matthias Kammel, Die Gardelegener Hochaltarretabel, in: LAMBACHER/KAMMEL 1990, S. 133f., sowie Reinhard Karrenbrock, in CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005, S. 338, Abb. 2. 480 BEST.KAT. SCHWERIN 1979, Kat. Nr. 14. 481 Siehe oben Anm. 478 478 479 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 177 - B.1 Seitlich geschweifte Predella mit bemaltem Vorderseitenbrett Objekt Datierung Konstruktion/ Gestaltung Breite Darstellung/ zur Mitteltafel Zustand Flügelretabel aus Lye, Gotland, Statens Historika Museet Stockholm482 1. Hälfte 15.Jh., norddeutsch Geschlossener Predellenkasten, Vorderfront vollständig bemalt, seitlich steile Schweifung Grundbrett in der Breite des Mittelschreins und ausgreifendes Deckbrett Vera Icon, gehalten von zwei schwebenden Engeln Altartriptychon Kloster Ahnaberg,, Hessisches Landesmuseum Kassel, (Abb. 183)483 Um 1435/40, niedersächsisch Vorderseitig geschlossener, bemalter Predellenkasten mit Grund- und Deckbrett und steiler seitlicher Schweifung, an der rechten Seite originale kleine Tür, Tür links wohl später. Grund- u. Deckbrett breiter als Mitteltafel: oben 185,2 cm, unten 167,3 cm, Mitteltafel ca. 158 cm, Höhe: 37,3 cm, Tiefe 35 cm. Je zwei halbfigurige Heilige (Hll. Petrus, Johannes, Paulus, Elisabeth v. Thüringen) zu Seiten von Christus als Weltenrichter unter bogenförmigem Rahmen, außen je ein Stifterwappen Ausblick/Vergleich: Altar der Lukasbruderschaft, Doppelflügelretabel Lübeck, St. Annenmuseum 484 1484, lübisch, Malerei Hermen Rode Kasten mit vollständig bemaltem Vorderseitenbrett, steil ansetzende, zum Deckbrett weit ausladende seitliche Schweifung Deckbrett breiter als das Retabel im geöffneten Zustand , Breite 239 cm, H. 45 cm, in der ganzen Breite des geöffneten (!) Altarschreins Je zwei halbfigurige Kirchenväter zu Seiten von Christus als Weltenrichter TÅNGEBERG 2005, S. 145 BEST.KAT. KASSEL 1997, S. 134-156. Zur Stiftung von Otto Cocles, dem Einäugigen, aus Braunschweig-Göttingen und seiner Gemahlin Agnes, geborene Landgräfin von Hessen, möglicherweise aus Anlass ihrer Hochzeit 1406, siehe Kap. 4.4. 484 ALBRECHT/ROSENFELD/SAUMWEBER 2005, Kat. Nr. 83, S. 248, Abb. 83.1 S. 249. 482 483 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 178 - B.2 Seitlich geschweifte Predella als „Schaukasten“ für Reliquien und Sakrament Objekt Datierung Konstruktion/ Gestaltung Breite Darstellung/ zur Mitteltafel Zustand Hochaltarretabel St. Jacobi, Göttingen (Abb. 162, 163)485 1402, Niedersächsisch Vorderfront mit durchbrochener Maßwerkgliederung mit 13 Spitzbogenfenstern zur Aufbewahrung und Präsentation von Reliquien, von hinten über drei Türen zugänglich, seitlich flacher Bogen, separates Grund- und profiliertes Deckbrett Deckbrett so Seitenwangen mit breit wie Rankenwerk bemalt Mittelschrein: ca. 350 cm, Grundbrett 254,5 cm, H.: 60 cm, T.: oben 57 cm, unten 54 cm. Dornstadter Retabel, Württembergisches Landesmuseum Stuttgart (Abb. 182).486 1417 Vorderfront mit rundbogigem Sakramentsfach in der Mitte, ursprünglich wohl mit Gittertür verschlossen, Seitlich hoher Bogenansatz unter dem Deckbrett Deckbrett ist zugleich Grundbrett des Mittelschreins Zu Seiten des Sakramentsfachs Malerei: je zwei weibliche Heiligenbüsten unter Spitzbogengliederung Vorderseitig offener Kasten mit geschnitzter Maßwerkgliederung, 5 Rundbögen mit eingestellten Schnitzfiguren: im Zentrum Trinität, zu Seiten je 2 kniende weibliche Heilige, seitlich steil geschwungener Abschluss, in den Zwickeln zwei geschnitzte Engel Deckbrett um eine Rahmenbreite breiter als Mitteltafel, Sockelbrett um eine Rahmenbreite kürzer Maßwerk golden, Kasten und Rückwand rot gefasst, an der Skulptur der Trinität Christus und Hl. Geist-Taube verloren. Offener Predellenkasten zur Aufbewahrung von Reliquiaren, verschließbar mit querrechteckigen bemalten Flügeltüren, Sonderform: doppelte seitliche Schweifung Deckbrett so breit wie Mittelschrein Auf den Flügelinnenseiten 12 törichte und kluge Jungfrauen als Halbfiguren jeweils paarig angeordnet, auf den Außenseiten 6 halbfigurige Propheten über die Mitte hinweg in 3 Paaren einander zugewandt. Hochaltarretabel aus dem um 1420 Trinitatis-Hospital Hildesheim, heute in St. Bernward, Hildesheim (Abb. 181)487 Hochaltarretabel Kloster zum Hl. Kreuz Rostock Kulturhistorisches Museum Rostock488 485 nach 1430 Dr. Detlev Gadesmann, Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege Hannover ist für die Übermittlung der Maßezu danken. Im übrigen siehe: CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005 sowie Jürgen Diederichs, Restaurator in Katlenburg-Lindau, Dokumentation zur Restaurierung des Jakobi-Kirchenaltars 1992, unveröffentlichtes Exemplar im Evang.-Luth. Amt für Kunstpflege. 486 AUSST.KAT. STUTTGART 2003, Abb.1, S. 10. 487 JAHNS/KÜHN 2002. 488 Reinhard Hootz (Hrsg.), Mecklenburg-Vorpommern. Deutsche Kunstdenkmäler, Ein Bildhandbuch, Darmstadt ²1992, Abb. 220. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 179 - Formal macht der Überblick deutlich, dass sich die seitlich geschweifte Form neu entwickelt. Am Dornstadter Retabel von 1417 (Abb. 182) setzt der Bogen noch wie eine Konsole erst kurz unter dem Deckbrett an. Die elegante, von einem relativ kurzen Grundbrett in weit ausladendem Schwung bis auf die Breite des Mittelschreins auskragende Schweifung ist eine Erfindung, die uns erstmals mit dem Jacobikirchenretabel von 1402 (Abb. 162) überliefert ist und sicher Vorbild gebend für das Göttinger Barfüßerretabel war. Das legen die technischen Befunde nahe.489 Auch wenn die überlieferten Predellen mit seitlicher Schweifung zahlenmäßig für eine statische Auswertung kaum reichen, hat es den Anschein, dass die Breite und Höhe der Predellen im Laufe der Zeit zunehmen. Der Überblick der kastenförmigen und geschweiften Predellenkästen widerlegt die immer wieder geäußerte These, die Staffeln erfüllten eine statische Funktion zur Unterstützung der geöffneten Flügel, jedenfalls für den Zeitraum von ca. 1375 bis 1450. Zu selten und zu geringfügig ragen die Predellenkästen über Mitteltafel oder -schrein seitlich hinaus. In der St. Jacobikirche haben sich noch steinerne Konsolen mit gehauenen Figuren an der Chorrückwand erhalten, auf die die geöffneten Flügel außen, also an viel sinnvollerer Position, abgefangen werden können.490 Eine wahrscheinliche Breite in Bezug zum Mittelschrein lässt sich aus den aufgeführten Vergleichsbeispielen nicht ablesen. Die Maße der Mitteltafel werden nur selten exakt für die Visierung der Predella übernommen, eher weichen sie bewusst ein wenig davon ab. Die lange gängige Forschungsmeinung, dass die Aufbewahrung der Eucharistie in der Predella erst am Ende des 15. Jahrhunderts auftritt, ist durch die überlieferten, frühen Beispiele zu revidieren.491 Neben dem oben aufgeführten Dornstadter und Eldinger Retabel ist zum Beispiel auf das früheste bekannte Sakramentsfach im Klarenaltar im Kölner Dom nach 1350 zu verweisen.492 Dem Göttinger Barfüßerretabel zeitlich und kunstlandschaftlich am nächsten steht sicher das Flügelretabel in Eldingen, auf dessen 489 Vergleich Kap. 2.5.1, S. 103. CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005, Taf. 1, 8, 9. 491 „...im allgemeinen bevorzugte man doch seit dem Ende des 15. Jahrhunderts das Tabernakel in der Predella oder im Sockel des Altarretabels“ Otto Nußbaum, Die Aufbewahrung der Eucharistie, Bonn 1979, S. 440. 492 WOLF 2002, S. 84ff., Abb. 40. 490 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 180 - Predella das Sakramentsfach mit dem reich geschmückten schmiedeeisernen Gitter auffällig in Szene gesetzt wird (Abb. 188 b) und damit ein Beispiel gibt, wie die Mitte der ursprünglichen Predella am Barfüßerretabel auch gestaltet gewesen sein kann. Das Studium der Quellen zum eucharistischen Sakramentskult führte Laabs zu dem Schluss, dass „seit dem Ende des 13. Jahrhunderts auch die Aufbewahrung des Allerheiligsten auf dem Hochaltar gegenüber den, in einigen Regionen verbreiteten, besser verschließbaren Wandnischen wieder vorgezogen“ wurde. Gerade in den Klöstern habe man über die ständige Aufbewahrung der konsekrierten Hostein auf dem Hochaltar streng gewacht.493 Nicht zuletzt legt das deutlich eucharistische Bildprogramm der Außenseite des Barfüßerretabels den Bezug zu einem Sakramentsfach nahe. In jedem Fall ist davon auszugehen – das legen die vielen Vergleichsbeispiele mit noch erhaltenen Türen nahe –, dass das Innere der Predella des Barfüßerretabels über rückwärtige oder seitliche Türen zugänglich war und zur Aufbewahrung von Reliquien und/oder Hostien genutzt wurde. Geht man nach dem holzphysiologischen Befund und nach den nicht wenigen Vergleichsbeispielen auch für das Barfüßerretabel von einer vorderseitig geschlossenen und auf einem einzigen durchgehenden Brett komplett bemalten Predella aus, so hat die Darstellung von 12 halbfigurigen Heiligen zu Seiten eines segnenden Christus als Auferstandener oder Weltenrichter eine ikonografische Tradition. Die paarweise Zuordnung der Heiligen ist ein wiederkehrendes, wenn auch nicht als Regel vorauszusetzendes Motiv. Von einer betonten Mitte, ob in der Malerei oder als Sakramentsfach, wird man also ausgehen können.494 Ausgehend von der Annahme, dass auf der Vorderseite der Predella des Barfüßerretabels je drei einander zugewandte Paare halbfiguriger, weiblicher Heiliger zu beiden Seiten einer betonten Mitte dargestellt waren, ließ sich die Staffel, wie oben dargestellt, auch messtechnisch relativ genau rekonstruieren.495 Die maltechnischen Untersuchungen am Barfüßerretabel, insbesondere der Punzierungen, haben deutlich gemacht, dass der auf der sogenannten Werktags-, Sonntags493 LAABS 1997, S. 79. Als Ausnahmen mit einer Gliederung der Predella mit einer geraden Anzahl von Bögen oder Bildfeldern sind der Doberaner Kreuzaltar, um 1360/70 mit 6 Bogenfeldern oder der Petrikirchenaltar von Meister Bertram (1379-1383), Hamburger Kunsthalle, mit einer 12-teiligen Bogengliederung zu nennen, wobei letztere die Mitte mit der über zwei Felder reichenden Verkündigung doch betont. 495 Siehe Kap. 2.5.1, S. 103f. Die vergleichenden Untersuchungen legen allerdings nahe, dass das Breitenmaß der Mitteltafel weder am Deckbrett noch am Sockelbrett exakt übernommen wurde. 494 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.1. Kontext: Bildträger und Retabelkonstruktion - 181 - und Festtagsseite betriebene Dekorationsaufwand geradezu kategorisch abgestuft wurde. Danach korrespondieren die Punzierungen auf den Predellenfragmenten eindeutig mit der Festtagsseite, so dass sich die Frage stellt, ob die weiblichen Heiligen vor ihrem Goldgrund außerhalb der kirchlichen Feiertage noch einmal mit Flügeln verdeckt werden konnten, deren äußere Bemalung mit der Gestaltung der geschlossenen Altarflügel korrespondierte. Zeitgenössische Predellen mit Klapptüren haben sich am Tempziner Altarretabel (Abb. 205 b) und am Hochaltarretabel aus dem Kloster zum Hl. Kreuz in Rostock überliefert, wie oben unter A.2 und B.2 aufgeführt. Verwiesen sei auch auf das um 1370 hinzugefügte untere Register des Hochaltarretabel in Bad Doberan und den sogenannten „Böhmischen Altar“, das ehemalige Hochaltarretabel im Dom zu Brandenburg von 1375/80.496 In allen diesen Fällen handelt es sich um rechteckige Klappflügel, die einen zur Aufbewahrung von Reliquiaren offenen Predellenkasten verschließen. Am Barfüßerretabel liegt weder ein offener Predellenkasten zur Aufbewahrung von Reliquiaren vor noch gibt es Platz für die senkrechte Montage von Scharnieren. Ein Klappmechanismus mit waagerechter Drehachse entlang der Unterkante der Predella, wie ihn Johannes Voss für den Doberaner Kreuzaltar rekonstruierte, ist theoretisch eine Alternative.497 An Predellen mit geschweiftem seitlichen Abschluss kommen aber, wenn auch überwiegend erst aus dem späten 15. Jahrhundert, nur Schiebetüren vor.498 Vielleicht muss man also an eine ephemere Verhüllung der reich geschmückten Predellenfront, zum Beispiel mit einem Altartuch, denken, wenn das Retabel im geschlossenen Zustand gezeigt wurde. 496 Die Klappflügel sind hier zweiteilig und werden um die Schmalseite und die Vorderseite herum geschlagen. Im Kasten sind 6 Bogenfelder rekonstruiert, die Reliquienbehältnisse sind verloren. W OLF 2002, S. 165ff., Abb. 99-111. Zum Doberaner Hochaltarretabel ebendort S. 22. ff. 497 Johannes Voss, Anmerkungen zur Geschichte des Kreuzaltars und seines Retabels im Doberaner Münster. In: ALBRECHT/V. BONSDORFF 1994, S. 115, Abb. 3. 498 Beispiele für Predellen mit geschweiftem seitlichen Abschluss und Schiebetüren: Blaubeurener Hochaltar (1493-94), Hochaltarretabel in der Pfarrkirche St. Nikolai in Kalkar (1490-1501), Flügelretabel der Fronleichnamsbruderschaft (1495-97), Flügelretabel der Bruderschaft der Schneidergesellen (1519, Schiebebretter verloren) und Flügelretabel der Thomasbruderschaft der Brauerknechte (um 1520, Schiebeverschluss verloren), alle vier Lübeck, St. Annenmusem. Für diese Hinweise danke ich Anna MorathFromm und Iris Kalden-Rosenfeld. Außerdem: Marienretabel um 1515, Kloster Isenhagen, Nonnenempore des ehemaligen Zisterzienserinenklosters. Hinrick Stavoer (?): 81cm hohe, seitlich geschweifte Predella mit Sakramentsfach in der Mitte und Sulpturennischen, die von Schiebetüren von der Seite abgedeckt werden, Annette Metzger (Berg), Technologische Untersuchung der polychromen Fassung am spätmittelalterlichen Marienaltar im Kloster Isenhagen, Diplomarbeit im Studiengang Restaurierung, FH Hildesheim 1993, von der Autorin als Zweitprüfer betreut, Abb. 1 und 2, S. 3f. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 182 - 3.2 Bildvorbereitung Leinwandkaschierungen Die komplette Beklebung mit Leinwand, die die Maler-Werkstatt als erstes nach Übernahme des Werkstücks vom Schreiner auf Bildtafeln und Rahmen des Barfüßerretabels vorsah, ist in dieser Zeit kein ungewöhnlicher Befund. Chapuis' Bemerkung zum Dombild von Stefan Lochner „On the interior the well-joined panels are lined with canvas, which is rare for oak“,499 stimmt nur im Vergleich mit niederländisch-flämischen Herstellungsgepflogenheiten im 15. Jahrhundert, nicht aber im Blick von Köln aus nach Osten. Das aus Eiche gefertigte Hochaltarretabel von St. Georgen in Wismar ist hier ein eher seltenes Beispiel, bei dem auf eine Leinwandabklebung ganz verzichtet wurde.500 Die Befunde vom Barfüßerretabel sollen im Folgenden hinbsichtlich Vorkommen und Machart von Leinwandbeklebungen im größeren Zusammenhang gesehen und eingeordnet werden. Am Barfüßerretabel fällt auf, dass Leinwandstücke aus verschiedenen Ballen, d.h. mit verschiedener Gewebedichte nicht in einer bestimmten Abfolge, zum Beispiel von oben nach unten, aber sehr dicht, teilweise überlappend aufgeklebt wurden. Gewebedichten zwischen 10 und 18 Fäden pro cm, überwiegend aber zwei Gewebesorten mit in beiden Richtungen 12-14 Fäden pro cm² bzw. 16-17 Fäden pro cm² sind festzustellen.501 Die beiden anderen dem „Barfüßer-Meister“ zugeschriebenen Flügelaltäre, das Magdalenenretabel und das Offensener Retabel, sind genauso gearbeitet und jeweils innen und außen mit Gewebe in einfacher Leinenbindung beklebt, bei den Tafeln des Magdalenenretabels mit einer Fadenzahl von 9-12 Fäden pro cm².502 Auch das Peter- und Paul-Retabel aus St. Lamberti Hildesheim ist außen und innen vollständig mit Leinwand beklebt. Auf der Außenseite des linken Flügels ist ein Gewebe in einfacher Leinenbindung in einer Dichte von 16 Fäden pro cm² im Bildfeld mit dem Sturz des Magiers Simon oben rechts sowie unten auf der Rückseite des Gebets am Ölberg der Abdruck der fast vollständig abgerissenen Leinwand mit 17-19 Fäden pro cm² festzustellen (Abb. 499 CHAPUIS 2004, S. 162. Für diese Information danke ich Dipl. Rest. Martina Runge. 501 Siehe Kap. 2.5.2, S. 108 502 Siehe unten Kap. 4.1, S. 239 und Kap. 4.2, S. 250. 500 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 183 - 168 b).503 Da die Rahmen der Mitteltafel und Flügel nicht mehr erhalten sind, lässt sich hier genauso wenig wie an den beiden dem Meister des Barfüßerretabels zugeschriebenen Retabeln sagen, ob das Gewebe auch über die Rahmenschenkel gelegt war. Dies sieht man allerdings deutlich am ehemaligen Hochaltarretabel aus dem Mindener Dom von um 1425, heute in der Skulpturensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin, da die Leinwand nach dem fast vollständigen Verlust der Fassung heute zum Beispiel auf dem Rahmenschenkel des rechten Flügels offenliegt (Abb. 179 b).504 Die Untersuchungen am Großen Friedberger Altar aus dem Hessischen Landesmuseum Darmstadt ergaben nicht nur, dass die Leinwandbeklebung auch um die Rahmen herumreicht, sondern belegen die Verwendung einer Vielzahl verschiedener Gewebestücke mit unterschiedlichster Dichte (Fadenzahl 12x12, 16x15, 10x12, 19 x21, 18x18 /cm²). 505 Noch sorgloser erscheint die Auswahl der Gewebe für die Leinwandbeklebung als Vorbereitung einer Skulpturenfassung. Die „Fritzlarer Pietà“, ein mittelrheinisch-hessisches Holzbildwerk von um 1360/70 im Dom zu Fritzlar, zeigt Leinen mit „drei verschiedene(n) Bindungen. Eine sehr feine, dichte Leinwand und eine grobe, weit gewebte in Leinenbindung sowie eine dicke Leinwand in Köperbindung“ mit eher zufälliger Platzierung.506 Im Gegensatz zu diesen Befunden ließ sich auf den Tafeln des Orber Altars des Meisters der Darmstädter Passion, heute auf um 1460 datiert,507 wie auch auf der in Berlin befindlichen Tafel des Fürbittaltars aus der Werkstatt des Konrad Witz, um 1445, eine regelmäßige Beklebung mit waagerechten Leinwandbahnen feststellen, bei ersteren auf Werk- wie Festtagsseite, auf letzterer nur auf der inneren Schauseite. In der Werkstatt des Konrad Witz waren die Bahnen sogar zunächst mit einem Heftfaden zusammenge- 503 Der Sturz des Magiers Simon befindet sich im Besitz des Herzog Anton Ulrich-Museums Braunschweig. Die Rückseite des Gebets am Ölberg aus dem Römer Pelizäus Museum Hildesheim zeigt offensichtlich die Kreuzigung Petri, da sich der Nimbus des kopfüber gekreuzigten Petrus abzeichnet. 504 Datierung aufgrund der dendrochronologischen Untersuchung von Peter Klein, Hamburg: frühestes Fälldatum ab 1421; KROHM/SUCKALE 1992, S. 115. 505 SCHOENBERG 1999, S. 27. 506 Uta Reinhold, Das Fritzlarer Vesperbild, Ein Meisterwerk mittelalterlicher Schnitz- und Fasskunst. In: Landesamt für Denkmalpflege Hessen (Hg.), Denkmalpflege und Kulturgeschichte 2/2000, S. 33-38, hier S. 35. 507 Michael Gallagher, Maria Reimelt, Die Restaurierung der Berliner Tafeln des Meisters der Darmstädter Passion. In: AUSST.KAT. BERLIN 2000, S. 72, Abb. 55 und Restaurierungsdokumentation. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 184 - näht worden, wie das Röntgenfoto offenbart. 508 Eine Naht wurde auch am Bielefelder Marienretabel des Berswordt-Meisters von um 1400 festgestellt. Hier konstatiert Herpers, dass Mitteltafel und Flügelinnenseiten „...mit einem sehr feinen und dicht gewebten Leinen abgeklebt [sind]. Das Leinen wurde aus zwei Bahnen zusammengenäht, die jeweils 16 Kett- und Schussfäden pro cm² haben. Für die Flügelrückseiten war kein Leinen nachweisbar.“509 Es ist nicht selten, dass nur die Innenseiten von Flügelretabeln, in Einzelfällen sogar nur deren obere Hälften, mit einer Leinwandbeklebung versehen und dann grundiert wurden.510 Das ist plausibel, weil die Leinwand eine wichtige Funktion als flexibler Untergrund beim Polieren und Punzieren der Goldhintergründe übernimmt und auf den Außenseiten oft bewusst ganz auf eine Polimentvergoldung verzichtet wird. Dies ist zum Beispiel der Fall am Dortmunder Berswordt-Retabel von um 1395, am Bielefelder Marienretabel desselben Meisters sowie, wie oben erwähnt, am Dombild von Stefan Lochner von 1440/45. Im Umkehrschluss kann man davon ausgehen, dass dem Barfüßer-Meister nicht der Nutzen für die Vergoldung am wichtigsten war, sondern die Funktion als Ausgleichsschicht, die Struktur, Unregelmäßgikeiten und Bewegungen des Holzes gegenüber der Malschicht puffert. Im Schichtenaufbau aber bietet das Barfüßerretabel zwei bemerkenswerte Befunde: Auch unter der Leinwand befindet sich eine Grundierungsschicht, die mit Holzkohle abgetönt ist. Skaug kommt das Verdienst zu, den unterschiedlichen Aufbau von Pergament-, Leinwand- oder Wergabklebungen in den Fokus genommen zu haben. Er unterteilt die Beklebungen nach ihrem unterschiedlichen Schichtenaufbau in sieben Typen. Mit einer Synopse der ihm zugänglichen Befunde aus der europäischen Tafelmalerei des Mittelalters und der Renaissance gibt er den Anstoß, der Frage des Aufbaus von Beklebungen genauer nachzugehen und den Überblick um weitere Beispiele zu ergänzen.511 Bisher zeichnen sich folgende Tendenzen ab: Während in Skandinavien, England und Böhmen fast ausschließlich Fugen und Äste lediglich partiell mit Leinwand gesi508 Laut Ergebnis der jüngsten Untersuchungen der Verfasserin sind die Bahnen an den Webkanten zusammengenäht, das hat 12 waagerechte Kettfäden und 9 Schussfäden pro cm², HARTWIEG 2010, S. 183. 509 HERPERS 2001, S. 111 sowie Anm. 11. 510 STRAUB 1988, S. 148. 511 SKAUG 2006, Typen A bis G, im Überblick Tab. 2.1 und 2.2, S. 198 ff. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 185 - chert wurden, dominiert in Deutschland die ganzflächige Beklebung mit einem Gewebe oder einem Pergament direkt auf dem Holzbildträger. Partielle Wergbeklebungen kommen nach Skaug erst seit etwa 1500 vor und werden von da ab vor allen anderen Materialien bevorzugt.512 Am Barfüßerretabel haben wir aber sowohl die partielle Wergabklebung wie auch einen ganzflächigen Leinwandüberzug, der seinerseits zwischen zwei Grundierungsschichten liegt.513 Dafür, dass die Leinwand zunächst auf eine meist gröbere Grundierungsschicht gelegt ist und dann von einer (feineren) Grundierung überdeckt wird, führt Skaug ausschließlich Belege aus Italien bis Mitte des 14. Jahrhunderts auf.514 Auch aus Mittel- und Norddeutschland lassen sich aber, wenn auch nur wenige zeitnahe Vergleichsbeispiele benennen, bei denen ebenfalls eine Grundierungsschicht unter der Leinwand liegt. Auf den Fragmenten einer Kreuzigungstafel in St. Martin in Oberwesel konnte sie festgestellt werden.515 Beim Großen Friedberger Altar findet sich nur an einem Flügelgiebel auch eine Grundierungsschicht unter der Leinwand, die im übrigen überall direkt auf Tafel und Rahmen geleimt ist.516 Am Peter- und Paul-Retabel aus St. Lamberti in Hildesheim belegen die Grundierungs- oder Kittreste auf den Rückseiten der ungespaltenen Flügelfragmente, auf denen die Leinwandbeklebung mit Malerei abgerissen wurde, dass die Holztafeln zunächst ganz gespachtelt bzw. grundiert wurden, bevor man sie mit Leinwand überzog.517 Angesichts des verwendeten astreichen, unruhigen Holzes ist diese Verfahrensweise hier auch plausibel. 512 Als Ausnahme verweist Skaug auf das Wilton Diptychon von ca. 1395, das ganz und gar mit Pergamentfasern beklebt ist. „Richard II presented to the Virgin an Child by his Patron Saint John the Baptist and Saints Edward and Edmund“, Eichenholz 53 x 37, ca. 1395-99, National Gallery London, NG 4451. 513 nach Skaug Typ B „full, embedded canvas covering“ in Kombination mit Typ F „full or partial coverings of loose fibres“, SKAUG 2006, S. 184 und 188. 514 Skaug weist darauf hin, dass Zunftbestimmungen in Cordoba den Malern am Ende des 15. Jahrhunderts einen solchen Aufbau vorschrieben, ebenda, S. 183. Wie schwierig die Unterscheidung von Grundierungsschicht und Leim mit durch das Gewebe hindurch gedrungener erster Kreide- oder Gipsschlämme ohne Probeentnahme sein kann, wurde bei der Untersuchung der Cennino Cennini zugeschriebenen Tafeln in Berlin deutlich, HARTWIEG 2008, S.88. 515 JÜLICH 1999, S. 274. Für den Hinweis auf diesen Befund danke ich Frau Adelheid WiesmannEmmerling. 516 SCHOENBERG 1999, S. 27. Schönberg versteht Straub so, dass intelaggio als Begriff nur für zwischen zwei Grundierungsschichten eingebettete Leinwandüberzüge benutzt werden sollte. 517 Tafel mit dem „Gebet am Ölberg“ Römer-Pelizäus Museum Hildesheim, Rückseite mit Malereifragment und Abdruck des Nimbus wohl von der „Kreuzigung Petri“. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 186 - Schwarz pigmentierte Grundierungen Auch wenn die schwarz pigmentierte Grundierung am Barfüßerretabel an untergeordneter Stelle, nämlich unter der Leinwand vorkommt und die Pigmentierung insofern keine optische Funktion hat, sei hier doch auf das Phänomen schwarz pigmentierter Grundierungen vergleichend hingewiesen. Die eben erwähnte Grundierungs- oder Kittmasse unter der Leinwand am Retabel aus St. Lamberti wurde nicht analysiert, zeigt aber im Mikroskop einen gröberen schwarzen Zuschlagstoff im weißen Füllstoff (Kreide) und feine Fasern, während auf der Leinwand eine feine weiße Grundierung mehrschichtig aufgebaut ist.518 Beim Dornstadter Altar Meister Hartmanns von 1417 liegt auf der Leinwandbeklebung zunächst ein dicker grauer Füllgrund aus Kreide, Steinmehl und etwas Holzkohle unter einer mehrschichtigen weißen Kreidegrundierung.519 Auch auf Tafeln von Hans Multscher wurde grauer Grund aus Kreide (Calciumcarbonat) und Pflanzenschwarz, 520 auf seinem Wurzacher Altar von 1437 zusätzlich Magnesium, evtl. von Dolomit, nachgewiesen.521 Am Wildunger Altar des Conrad von Soest besteht die zweischichtige Grundierung auf der Leinwandkaschierung aus einer ersten „recht groben“ Schicht aus Calciumcarbonat, Pflanzenschwarz und Ocker und einer Schicht nur aus Calciumcarbonat und Proteinleim.522 Der Zuschlag von Beinschwarz zur Grundierung ist in Quellen belegt. In ihrer Übersicht über mittelalterliche Rezepte für Grundierungen führt Nadolny zwei aus der ersten Hälfte des 14. und um die Wende zum 15. Jahrhundert stammende Quellenschriften auf, die auch „burnt bone“ neben Öl aufführen.523 Die Beimengung der verschiedenen schwarzen Pigmente wird keine färbende, sondern eine technische Funktion gehabt haben, indem zum Beispiel die hohe Absorptionsfähigkeit der Kohle genutzt wird. Welche Art damals verfügbarer schwarzer Pigmente mit welchem praktischen Nutzen verwendet 518 Bünsche hat verschiedenfarbige Wollfasern in der Grundierung der bemalten Flügelaußenseiten des Landkirchener Retabels von 1370/75 im Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum festgestellt und sich dem Phänomen der Beimengung von Faser ausführlicher gewidmet. Bernd Bünsche, Farbige Wollreste in der Grundierung. In: Maltechnik/Restauro, München 2002, Heft 3, S. 168-170. 519 Elisabeth Krebs, Die Malereien auf Flügeln und Predella, in: AUSST.KAT. STUTTGART 2003, S. 42 und Anm. 1 und 2. 520 Evamaria Popp, Tafelbilder aus dem Umkreis Hans Multschers, in: Ausst.-Kat. Hans Multscher. Bildhauer der Spätgotik in Ulm, Ulm 1997, S. 210. 521 Michael Gallagher, The Passion Scenes of the „Wurzacher Altar“: Restoration and Painting Technique Interim Report, in: JB d. Berliner Museen 38, 1996, S. 201-213. 522 REINHOLD 1998, S. 32. 523 NADOLNY 2008/2, S. 2, Tabelle 1: Nr. 5 Isländische Quellenschrift 1. Hälfte 14. Jahrhundert, und Nr. 6 Liber diversarum arcium, 14./15. Jh.. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 187 - wurde, verdient noch eine vertieftere Betrachtung. Bei der analysierten Holzkohle kann es sich auch um Kienruß handeln.524 Jüngste Untersuchungen zur Schwarzlotzeichnung ergaben, dass verkohltes Leder oder Pergament, das Quellenschriften für die Schwarzlotzeichnung empfehlen, analytisch von Pflanzenschwarz nicht zu unterscheiden ist, weil das Protein nach der Verkohlung nicht mehr nachweisbar ist.525 Weiße Imprimituren oder Untermalungen Im Gegensatz zur Isolierung des Malgrundes, die über der weißen Grundierung und der Unterzeichnung als reiner Öl- oder Leimanstrich angebracht ist, um „den Malgrund weniger saugend [zu] machen und eventuell auch die gezeichneten Linien [zu] fixieren“, gibt Straub für die Imprimitur folgende Begriffsdefinition und Funktionsbeschreibung: „Wenn ein solcher Aufstrich mit Farbmitteln getönt worden ist, so trifft für ihn die Bezeichnung Imprimitur zu. Über eine isolierende Wirkung hinaus konnte die Imprimitur den Sinn haben, zu markante schwarze Linien der Unterzeichnung so weit zu dämpfen, daß sie nur noch leicht durchschimmerten. Dazu konnte noch eine optische Funktion kommen: reine Bleiweiß-Öl-Imprimituren sollten in der Regel das einfallende Licht noch stärker reflektieren, als es der Kreide- oder Gipsgrund vermocht hätte.“526 Die Grenzen zwischen einer Ölisolierung und einer Bleiweiß oder Mennige enthaltenen Imprimitur sind allerdings fließend, weil das Bleipigment dem Öl auch als Sikkativ zugesetzt worden sein kann. Als historische Begriffe sind niederländisch primuersel (auch preumuersel, pourmuersel) sowie französisch imprimé in Quellenschriften belegt,527 wobei Nadolny darauf hinweist, dass diese Begriffe quellengeschichtlich eher generell eine Anstrichfarbe in der Zusammensetzung aus Öl und Bleiweiß meinen als den Auftrag einer Imprimitur, ist doch von „pourmuersel“ auch als Klebemittel für Pressbrokatapplikationen die Rede.528 524 Diesen Hinweis verdanke ich Prof. Dr. Andreas Burmester. Nina Westermayer, Die sogenannte Schwarzlotzeichnung als schwarze Linienzeichnung auf Goldgrund in der mittelalterlichen Tafelmalerei und Skulpturenfassung, Seminararbeit Hochschule für Bildende Künste Dresden 2011, S. 31 und Anm. 166. 526 STRAUB 1988, S. 167. 527 Preumuersel für Öl und Bleipigment, Antwerpen 1442; imprimé für Bleiweiß in zwei bis 3 Lagen mit Öl, Lyon 1496. NADOLNY 2008/2, S. 6 Tab. 2, Rezept Nr. 37 und Nr. 39. 528 NADOLNY 2008/2, S. 11. Die in Modeln vorfabrizierten „Stuck-“auflagen auf den Tafeln der Burg Karlstein von Meister Theoderich wurden ebenfalls mit einem Klebemittel aus Öl und Mennige fixiert. 525 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 188 - In der deutschsprachigen kunsttechnologischen Literatur hat sich eingebürgert, bei einem ganzflächigen Anstrich mit auf die Malfarbe Einfluss nehmender Wirkung von einer Imprimitur, bei einem partiellen von Untermalung zu sprechen. Dies Kriterium lässt sich aber bei teilweise vergoldeten, mittelalterlichen Tafeln nicht durchhalten, weil eine Imprimitur unter einer Polimentglanzvergoldung wenig Sinn macht.529 Die eigenen Untersuchungen am Barfüßerretabel und vergleichenden Studien an zeitgenössischen Werken zeigen, dass ein solcher Anstrich als Reflektor für bestimmte Farben partiell aufgetragen wurde, genauso wie es damals handwerkliche Praxis war, für jedes Farbpigment das jeweils „optimale“ Bindemittel zu verwenden. Der für eine Farbe gezielt gewählte Schichtenaufbau begann also bereits mit dem Auftrag der weißen Reflektorschicht, die angesichts dieser Funktion auch bei partiellem Anstrich Imprimitur im Sinne von primuersel genannt werden kann. Straub schreibt noch: „Über Bleiweiß-Öl-Imprimituren bei deutschen Meistern liegen kaum Beobachtungen vor“, und verweist lediglich auf Bernt Notkes Århuser Altar von 1479. Als frühestes Beispiel in den Niederlanden nennt er das Jüngste Gericht in Diest aus dem 2.Viertel des 15. Jahrhunderts im Musée des Beaux-Arts in Brüssel.530 Die Schichtenanalysen am Göttinger Barfüßerretabel zusammen mit bisher nicht ausgewerteten Einzelbefunden helfen, das technikgeschichtliche Bild von der Anwendung und Zusammensetzung der Imprimituren zu ergänzen und zu korrigieren. Die Befunde lassen heute den Schluss zu, dass die seit der Romanik bekannten, dünnen BleiweißAnstriche auf der Grundierung eine ungebrochene Tradition hatten, in der hier behandelten Zeit um 1400 aber nach Farbpartie und verwendetem Bindemittel besonders differenziert angewandt wurden, bevor man ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert parallel zum zunehmend gebrauchten öligen Malmittel wieder die Vereinfachung eines meist vollflächigen Anstrichs suchte. Auf den über 50 Bildtafeln, die Meister Theoderich um 1360 für die Ausstattung der königlichen Kapelle der Burg Karlstein schuf, zeigt sich auf allen Tafeln ein Bleiweißanstrich mit im Röntgenbild deutlich erkennbaren, unregelmäßigen Pinselzügen und 529 Straub nennt als Ausnahme ein Retabel aus Norwich in England, auf dem die Bleiweiß-Imprimitur auch unter dem Poliment der Blattvergoldungen liegt. STRAUB 1988, S. 167. 530 STRAUB 1988, S. 167, 168. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 189 - unterschiedlicher Schichtdicke.531 Teilweise mit gelbem Ocker vermischt, liegt er stets unter der Unterzeichnung. Diese hier neu aufkommenden weißen Imprimituren gelten an böhmischen Tafelbildern als „westliche“ Technik, weil die ältere böhmische Malerei unter den Inkarnaten eine dunkelfarbige Untermalung nach byzantinischer Manier zeigt.“532 Auf dem doppelflügeligen Altarretabel aus Graudenz/Grudziadz in Ostpreußen/Polen, das mit dem Göttinger Barfüßerretabel deshalb in einem Atemzug genannt wird, weil es sich ebenfalls um einen der wenigen vollständig bemalten Retabel handelt, haben alle Tafeln eine Bleiweißschicht. 533 Die im Anhang des Bestandskatalogs Altkölner Malerei im Wallraf-Richartz-Museum in Köln aufgelisteten Querschliffuntersuchungen durch Hermann Kühn liefern aufschlussreiches Material, das in Hinsicht auf unsere Fragestellung bisher nicht ausgewertet wurde.534 Das dort laufende Forschungsprojekt zur Altkölner Malerei lässt darüber hinaus noch fundierteres Befundmaterial erwarten.535 Nach jetzigem Kenntnisstand finden sich auf Tafeln des späten 14. Jahrhunderts bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts nie ganzflächige weiße oder leicht getönte Imprimituren oder Untermalungen. Häufig kommen sie unter roten und grünen Farbpartien vor und sind – ganz wie am Barfüßerretabel – mit wenig roten Pigmenten abgetönt.536 Bemerkenswert ist, wenn auf ein und derselben Tafel eine Grünpartie auf der weißen Reflektorschicht aufgebaut ist, eine andere nicht.537 Blaupartien sind entweder weiß oder schwarz untermalt. Weiße Imprimituren unter Grün und Blau finden sich noch bei Stefan Lochner538 und großflächiger bei Rogier van der Weyden. Anlässlich der Untersuchungen der Tafeln Rogiers in der 531 Schichtdicke 0,01-0,06 mm, an einem Schliff auch 0,003mm, STRAUB 1988, S. 167. 533 Frau Prof. JiĜina Lehmann sei für diesen Hinweis (E-mail vom 30.07.2004) und die Durchsicht der entsprechenden polnischen und tschechischen technologischen Literatur herzlich gedankt. 534 Hermann Kühn, Pigmentanalysen in: BEST.KAT. KÖLN 1990, S. 567-666. 535 Vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung bis Februar 2012 gefördertes Verbundprojekt des Wallraf-Richartz-Museums Köln und der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen/DoernerInstitut München: Die Sprache des Materials: Technologisch-naturwissenschaftliche Untersuchungen Altkölner Malerei vom Meister der Hl. Veronika bis zu Stefan Lochner (ca. 1380-1450). 536 Unter Rot: Bleiweiß mit geringem Zusatz von Zinnober auf MS der Hl. Veronika WRM 11, MS von St. Laurenz, Passionsaltar WRM 20-31, BEST.KAT. KÖLN 1990, S. 576, 583. Unter Grün: Weiß mit etwas Mennige beim MS der Passionsfolgen, 1410/20, WRM 60-62/389/755, auf dem Wasservass'schen Kalvarienberg WRM 65, siehe auch die folgenden beiden Anmerkungen. 537 Eine weiße Schicht nur unter dem grünen Hintergrund, nicht unter dem grünen Gewand beim Elisabeth-Altar, kölnisch 1380/90, WRM 35-37, genau umgekehrt auf einer Tafel mit Maria und dem Kind, Kölnisch um 1460, WRM 11, proteingebunden mit geringen Mengen Öl unter einem Farbauftrag mit öliger Tempera. 538 Zum Beispiel Altarflügel mit den Hll. Markus, Barbara, Lukas, um 1445/50, Köln Wallraf-RichartzMuseum WRM 68, BEST.KAT. KÖLN 1990, S. 610. 532 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 190 - National Gallery London wird darauf hingewiesen, dass es wegen der dünnen Schichtdicke schwer zu beurteilen sei, welches Erscheinungsbild diese Imprimitur ursprünglich gehabt habe. Während in der Auferweckung des Hl.Hubert539 diese Schicht mit etwas Schwarz abgetönt war, enthält sie auf der Pietà aus der Werkstatt Rogier van der Weydens rote und schwarze Pigmente.540 Das Bindemittel ist keineswegs nur Öl. Schon Straub erwähnte für das Jüngste Gericht aus Diest: „Eine Bleiweiß-Schicht liegt dort unter allen Farbpartien mit Ausnahme eines in Krapplack und Öl ausgeführten Gewandes. Die Imprimitur ist allgemein ölgebunden. Doch unter den (wässrigen) Ultramarinlasuren erwies sich das Bindemittel als wasserlöslich.“541 Die weiße Imprimitur unter dem grünen Boden auf den Fragmenten eines Passionsaltars vom Meister der Passionsfolgen ist proteingebunden. 542 Häufig weicht der Aufbau der Inkarnate davon ab. Unter dem hellen, fast weißen Inkarnatton sind diese rötlich oder ockerfarben untermalt. So z. B. Beim Kalvarienberg der Familie Wasservass, um 1420/30: Unter der ersten Bleiweißschicht des Inkarnats, einer Öl, Proteine und Harz enthaltenden Tempera, findet sich hier eine leimgebundene, dünne rötliche Schicht, die Ocker und Pflanzenschwarz enthält.543 Die ockerfarbene Untermalung des Inkarnats war auch auf dem Triptychon des Älteren Meisters der hl. Sippe544 sowie im Inkarnat der Hl. Apollonia des dem Meister des Kirchsahrer Altars zugeschriebenen Triptychons, ebenfalls im Wallraf-Richartz-Museum in Köln, festzustellen,545 allerdings hier tempera- bzw. öl-harz-gebunden. Und wenn selbst auf den Reliefs des Landkirchener Retabels (um 1400) nur die Inkarnate und Haare auf einer Kreide-Leim Grundierung einen orangefarbenen Voranstrich aus Mennige und Öl 539 Rogier van der Weyden und Werkstatt, National Gallery London, NG 783, ca. 1440, Eichentafel, Bildfläche 88,2 x 81,2 cm, CAMPBELL/FOISTER/ROY 1997, S. 71, 72. 540 National Gallery London, NG 6265, ca. 1460, Eichentafel, Bildfläche 35,5 x 45 cm. CAMPBELL/FOISTER/ROY 1997, S. 72. 541 STRAUB 1988, S. 167. 542 MS der Passionsfolgen, 1410/20, WRM 60-62/389/755, BEST.KAT. KÖLN 1990, Pigmentanalysen, S. 603f. 543 Eichenholztafel 131x180 cm, Wallraf-Richartz-Museum Köln WRM 65, BEST.KAT. KÖLN 1990, S. 485 sowie Hermann Kühn, Pigmentanalysen, S. 605f. 544 Wallraf-Richartz-Museum Köln WRM 59, BEST.KAT. KÖLN 1990, S. 21 Sowie Hermann Kühn, Pigmentanalysen, S. 602f., Untermalung, deckende und lasierende Inkarnatschichten alle Öl-Harzgebunden. 545 Triptychon mit Christus am Kreuz und Heiligen WRM 55, BEST.KAT. KÖLN 1990, S. 462f. sowie Hermann Kühn, Pigmentanalysen, S. 600f. Für die Untermalung waren Bleiweiß, Beinschwarz, Harz und Öl nachzuweisen, während die Inkarnatschicht darauf in Tempera mit Öl, Protein und Harzzusatz ausgeführt wurde. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 191 - haben, dann wird wieder deutlich, wie nah Tafelmalerei und Skulpturenfassung in mittelalterlicher Zeit beieinander liegen.546 Der Befund einer ockerfarbenen Untermalung im Inkarnat des Hl. Franziskus auf der Mitteltafel des Barfüßerretabels ist also keine Ausnahme. Orangefarbene Imprimituren und Mischformen Die am Barfüßerretabel festgestellte orangefarbene Imprimitur auf den Flügeltafeln des geschlossenen Zustands kann man – wie die Befunde an den Inkarnaten – lediglich als Variante der oben beschriebenen weißen Imprimituren bezeichnen. Eine These wäre, dass bereits mit diesem Arbeitsschritt auf der Außenseite des Wandelaltars ganz bewusst eine andere Farbwirkung angestrebt war als auf den hochrangigeren anderen beiden Schauseiten. Man darf aber nicht außer acht lassen, dass Mennigegrundierungen und -imprimituren eine eigene längere Tradition und eine zusätzliche Funktion hatten. Diese kommt deutlich in der Hamburger Zunftordnung von ca. 1458 zum Ausdruck, die besagt, dass Holzskulpturen im Außenbereich zuerst mit einem Mennige-Ölgrund zu behandeln seien, bevor sie grundiert werden. Entsprechend findet man Mennigegründe direkt auf einer Vorleimung häufiger an Außenskulpturen aus Holz oder Stein.547 Den Ursprüngen und dem weiteren Vorkommen solcher Mennigeanstriche besonders an Werken aus Norddeutschland ging die Autorin im Rahmen ihrer Untersuchungen an den gefassten Holzskulpturen vom Ende des 13. Jahrhunderts in Wienhausen nach.548 Die untersuchte Skulptur des Auferstehenden vom Ende des 13. Jahrhunderts stellt ein frühes Beispiel dar, bei dem die Mennigeschicht auf einer Leim-Kreide-Grundierung und unter einer Ölvergoldung liegt. Hier hat das Inkarnat übrigens eine davon verschiedene dunkelrosafarbene Imprimitur. Straub et.al. stellten eine „buntfarbig getönte“ Imprimitur auch am oberrheinischen Kartenspiel von ca. 1430 im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart fest. 549 546 Heike Binger, Die Werk- und Maltechnik des Reliefs des Landkirchener Retabels. In: ALBRECHT/BÜNSCHE 2008, S. 32 und Abb. 17. 547 HARTWIEG 1988 und NADOLNY 2008/2, S. 4, Tab. 2 Nr. 13. Ein ähnliches Rezept für eine Mennige-ÖlGrundierung findet sich im Tegernseer Manuskript, um 1500, zur Anwendung auf Putz- und Holzoberflächen, auf denen mit Ölfarben gemalt werden soll, mit dem ausdrücklichen Hinweis (minium propter exiccacionem), dass Mennige als Sikkativ dient. NADOLNY 2008/2, S. 3, Tab. 1,Nr. 8b. 548 HARTWIEG 1988, S. 241-243. Freitag hat sich der Thematik anlässlich der Untersuchungen am Cismarer Altar erneut angenommen, FREITAG/KOLLER/BAUMER 1995, S. 275. 549 STRAUB 1988, S. 167 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 192 - Der Wechsel von weißer und orangefarbener Imprimitur nicht nur zwischen einzelnen Farbpartien, sondern zwischen verschiedenen Seiten eines Retabels wie am Göttinger Barfüßeraltar ist bisher an anderen Werken nicht dokumentiert. Hingewiesen sei aber auf das Kreuzigungstriptychon aus der St. Bavo Kathedrale zu Gent von Justus von Gent, das zwischen 1464 und 1468 zu datieren ist. Während das Triptychon eine Bleiweißimprimitur aufweist, zeigt die Predella hier eine bräunliche Imprimitur.550 Unterzeichnung Entsprechend des technologischen Ansatzes dieser Arbeit geht es im Folgenden um technische und technikgeschichtliche Schlussfolgerungen und nicht um eine vergleichende stilistische Auswertung der am Göttinger Barfüßerretabel sichtbar gemachten Unterzeichnungen. Hierzu ist eine interdisziplinär angelegte Publikation in Vorbereitung.551 Auf der mittleren Schauseite des Barfüßerretabels zeigen Konstruktionslinien mit einem schwarz oder grau zeichnenden Stift, wie die großen Bildflächen maßgenau aufgeteilt wurden. Für diese Art der Bildfeldorganisation liegen nach Kenntnis der Verfasserin bisher keine Beobachtungen für diese Zeit publiziert vor. Geläufig ist, dass Linien zur Anlage architektonischer Rahmen mit Hilfe eines Lineals vorgeritzt wurden. An der Goldenen Tafel aus Lüneburg scheinen auf vielen Bildfeldern mit Stift gezeichnete, senkrechte Konstruktionslinien, die eine Mittelachse angeben, durch die Malerei hindurch. Die geplante IR-Untersuchung wird möglicherweise weitere Konstruktionslinien sichtbar machen können. Auch an der „Gedächtnistafel“, auf die noch genauer eingegangen wird, ist eine entsprechend vermaßte Aufteilung der Tafel anzunehmen, weil die bogenförmige Rahmung und die Schriftzeilen nach der Befunderhebung der Autorin exakt gleichmäßige Abstände aufweisen.552 550 Straub geht dabei von einer „weniger verbreiteten Alternativtechnik“ für die niederländische Malerei des 15. Jh. aus. STRAUB 1988, S. 168. 551 Babette Hartwieg, Cornelia Aman, Befunde und zeitgenössische Vergleiche, im Kolloquiumsband zum Göttinger Barfüßerretabel. 552 Vergleiche Kap. 4.3, S. 259. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 193 - Rote Pinselunterzeichnungen, aus der Wandmalerei als „Sinopie“ sehr geläufig, sind in der deutschen Malerei um 1400 besonders häufig.553 Auf dem ehem. Hauptaltar der Nikolai-Kirche in Jüterbog (um 1430), kommen sie genauso vor wie auf dem Kreuzigungsretabel in der Felsenkirche in Idar-Oberstein (um 1420).554 Auf dem Hochaltarretabel aus St. Georgen in Wismar liegen aufgrund des schlechten Zustandes breite rote Pinsellinien auf der Rückseite des Mittelschreins offen. Sie waren auch auf den Malereien der mittleren Schauseite eindeutig festzustellen.555 Beim Bielefelder Marienretabel des Berswordt-Meisters (um 1400) wurden rote breitere, mit Pinsel aufgetragene Linien sowie feinere von einem vermuteten Rötelstift festgestellt.556 Auch an den Tafeln des Peter- und Paul-Altars aus St. Lamberti in Hildesheim von ca. 1420, an denen die Unterzeichnung nicht sichtbar gemacht werden konnte, ist eine rote Unterzeichnung wahrscheinlich.557 Da man bei diesen Befunden auf mikroskopische Oberflächenuntersuchungen bzw. auf die Beimengung von schwarzem Pigment zu der roten Farbe angewiesen ist, um die Unterzeichnung mit dem IR-Bildwandler sichtbar zu machen, ist davon auszugehen, dass in Zukunft noch viel mehr rote Unterzeichnungen nachgewiesen werden. Die Art der am Barfüßerretabel sichtbar gemachten freien Pinselunterzeichnung verdeutlicht, wie unbefriedigend die verallgemeinernden Schlüsse zur Technikgeschichte in dem 2004 erschienenen Überblick zu Unterzeichnung und Übertragungsverfahren im 15.-17. Jahrhundert bleiben.558 Zwei Statements seien herausgegriffen: (1) „Bildeten bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts Vor- und Unterzeichnung eine Werkphaseneinheit, indem die Komposition auf dem Bildträger aufskizziert wurde, so brachte die Entwicklung vor allem ab dem späten 15.Jahrhundert für die Unterzeichnung grundlegende Veränderungen mit sich: […] wesentlichstes Kennzeichen ist die Verlagerung des kreativen Entwurfsprozesses von der Malfläche auf Zeichenmedien außerhalb des Bildträgers.“ 553 Nicolaus verweist als Beispiel auf ein unfertiges Gemälde aus der 1. Hälfte des 15. Jh., ohne genaue Zuordnung (Abb. 232). Knut Nicolaus, DuMonts Handbuch der Gemäldekunde – Gemälde erkennen und bestimmen. Köln 2003, S. 151f. 554 ZIEMS 1997, SCHWAERZEL 2000. 555 Für diese Informationen ist den Diplomrestauratoren Andreas Mieth und Martina Runge herzlich zu danken. 556 Iris Herpers, Die Restaurierung des Bielefelder Retabels, in: MENZEL 2001, S. 111. 557 Untersuchungen der Autorin 1999 558 SIEJEK/KIRSCH 2004. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 194 - (2) „Ab dem Beginn und im Verlauf des 16. Jahrhunderts vollzieht sich nördlich der Alpen eine Veränderung in der Maltechnik, die ihren Niederschlag in der Gestaltung und im künstlerisch-arbeitstechnischen Umgang mit der Unterzeichnung findet. Die Detailgenauigkeit weicht einer zunehmend skizzenhaft ausgeführten Unterzeichnung.“559 Die eigenen Befunde vom Göttinger Barfüßerretabel stellen beide Behauptungen in ihrer geschichtlichen Einordnung in Frage. Wie wichtig die Rolle von Schablonen „idealer“ Gesichtstypen war, die in der Werkstatt über Vorzeichnungen entwickelt wurden, wird weiter unten noch behandelt. Ein Blick auf die Pinselunterzeichnung (Abb. 51, 54 a, 56) zeigt ihren skizzenhaften und summarischen Charakter. Sie hat offensichtlich nur die Funktion, eine feinere, möglicherweise gepauste, mit unseren Mitteln nicht erkennbare Figurenzeichnung mit schnellem Strich so nachzufahren, dass sie durch die Imprimitur hindurch deutlich sichtbar bleibt. Die Kombination von Stift und Pinsel ist nicht selten. Sie wurde zum Beispiel am Turmretabel aus der Kartause in Champmol (zuletzt um 1395 datiert, heute im Museum Myer van den Bergh in Antwerpen) festgestellt. Für die erste Phase der Unterzeichnung wird ein Metallstift, für die zweite ein flüssiges Medium angenommen. 560 Eine doppelte Unterzeichnung war auch am Fragment aus Münster vom Magdalenenretabel des Barfüßer-Meisters nachzuweisen: eine feine erste Unterzeichnung mit heller Farbe, feinem Pinsel(?)-Strich und suchenden parallelen Linien wurde hier mit breitem sicheren Pinselstrich und dunkler Farbe aus Pflanzenschwarz teilweise korrigierend, teilweise ergänzend überarbeitet.561 Verwendung von Schablonen Die Verwendung von Schablonen für die Wiedergabe von Mustern ist in der spätmittelalterlichen Tafelmalerei und Fasstechnik häufig belegt. Dies Verfahren gilt seit Taubert als Praxis, die in der altdeutschen Malerei des 15. Jahrhunderts fußt und hier weit 559 SIEJEK/KIRSCH 2004, S. 158f.. STROO 2009, S. 90 561 IR-Aufnahmen von Prof. Ingo Sandner zusammen mit Iris Herpers, naturwissenschaftliche Analyse der Pigmente durch Prof. Dr. Elisabeth Jägers. 560 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 195 - verbreitet war.562 Dass aber Gesichter und ganze Figuren nach einer Vorlage schematisch übertragen wurden, ist für die altdeutsche Malerei bisher kaum erkannt worden. Für die um 1500 in Perugia tätige Werkstatt Pietro Peruginos und seines Schülers Raffael hat Hiller von Gärtringen die Verwendung von Kartonvorlagen in erstaunlicher Variationsbreite und Verfahrensreife nachweisen können. Danach wurden Figurenvorlagen in der Werkstatt schematisch, möglicherweise über ein Quadrierungsnetz, vergrößert und verkleinert und Kartons auch spiegelverkehrt („Inversion“) verwendet. 563 Die in der National Gallery in London derzeit noch laufenden Untersuchungen belegen, dass bereits in der großen und vielfältig tätigen Werkstatt Andrea del Verrochios, in der neben Perugino auch Leonardo da Vinci und Lorenzo di Credi ausgebildet wurden, mit Teilkopien einzelner Figuren gearbeitet wurde.564 Offensichtlich sehr gebräuchlich war die Verwendung von Kartons bei der Anlage von Portraits. Häufig finden sich gerade in den Gesichtern keine oder nur sehr sparsame, konturierende Unterzeichnungen, die auf eine Übertragung hindeuten, während in den Händen und Gewändern die Unterzeichnung freier und ausführlicher ist. Dies bestätigen die von der Autorin durchgeführten Untersuchungen für die beiden in der Berliner Gemäldegalerie befindlichen Profilbildnisse Sandro Botticellis und seiner Werkstatt (Bildnis der Simonetta Vespucci, Bildnis des Giuliano de' Medici)565 sowie des weiblichen Profilbildnisses von Fra Filippo Lippi.566 Auch in der nordeuropäischen Malerei fiel erst jüngst das Augenmerk verstärkt darauf, dass für Portraits Vorzeichnungen wiederverwendet und übertragen wurden.567 Anlässlich der Ausstellung „Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden“ gelang Kemperdick zusammen mit Graf der Nachweis von gleich drei so nahen Übereinstimmungen von Gesichtszeichnungen, dass 562 TAUBERT 1975, S. 394. Rudolf Hiller von Gärtingen, Raffaels Lernerfahrungen in der Werkstatt Peruginos. Kartonverwendung und Motivübernahme im Wandel. München/Berlin 1999. 564 Einen kleinen Einblick in diese Untersuchungen gaben Jill Dunkerton und Luke Syson im April 2010 in Berlin. 565 Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Kat. Nr. 106A und 106B. Untersuchungen in Vorbereitung der Ausstellung „Gesichter der Renaissance“ 2011 in Berlin. 566 Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Kat. Nr. 1700. 567 Zum Beispiel auch an den Portraits von Kurfürst Joachim II. und Joachim I. sowie Markgraf Georg den Frommen von Lucas Cranach d.J. dargestellt von Mechthild Most et. al., Zur Maltechnik der beiden Cranach und ihrer Werkstatt – Ergebnisse der technologischen Untersuchung der Bildtafeln der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, Ausstellungskatalog „Cranach und die Kunst der Renaissance unter den Hohenzollern“, Berlin 2009, S. 91f. 563 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 196 - von einer Übertragung der Konturen und Binnenzeichnung auszugehen ist.568 Für Rogier van der Weyden's „Bildnis einer jungen Frau“ in Berlin und das traditionell dem Meister von Flémalle zugeschriebene Londoner Frauenportrait ist eine Schablone gespiegelt verwendet worden.569 Auch bei anderen Figurenkompositionen aus der „Rogier-Werkgruppe“ geht Kemperdick von einem „bewussten, flexiblen Umgang mit den Vorlagen“ aus. Er resümiert, dass sich „in der Verwendung von Pausen, Schablonen oder Ähnlichem […] eine noch mittelalterliche und ganz handwerkliche Herangehensweise“ zeige, „die indes in eigentümlicher Weise mit der Beobachtung und einem unmittelbar wirkenden Zugriff auf die Natur kombiniert ist.“570 Angesichts übereinstimmender Formgebungen stellt sich immer wieder die Frage nach den im Mittelalter gebräuchlichen Übertragungstechniken. Bei der Übertragung von Vorzeichnungen auf die Malfläche geht man bisher davon aus, dass in der Regel zwei Verfahrensweise benutzt wurden: zum einen die Übertragung mit Hilfe einer Lochpause mit einem mit Kreide-, Kohle- oder Farbpulver gefüllten Säckchen (ital. spolvero, engl. pouncing) oder zum anderen die Pause durch Durchgriffeln mit Hilfe eines „Kohlepapiers“, also eines geschwärzten Zwischenlegers oder einer geschwärzten Kartonrückseite (ital. calcho). Die Befunde am Barfüßerretabel geben Anlass, als drittes Verfahren die Verwendung ausgeschnittener Kontur- oder Gesichtsschablonen mit in die Erwägungen einzubeziehen, was die gleichzeitige Übertragung der Außen- und Binnenzeichnung durch „Durchgriffeln“ nicht ausschließt. Am Barfüßerretabel stimmen vor allem die äußeren Konturen zusammen mit den Nasen- oder Mundlinien überein. Mithilfe solcher Konturschablonen wäre das Variieren der Formen durch Verschieben leicht vorstellbar. Um diese Hypothese zu untermauern, sei auf das kleine, einem österreichischen Meister um 1420 zugeschriebene Täfelchen mit der Anbetung der heiligen drei Könige im Besitz Untersuchungen durch Stephan Kemperdick und Beatrix Graf: Umriss von Jacques Daret „Bildnis eines Mannes mit rotem Chaperon“ (SMB-Gemäldegalerie Kat. Nr. 537) auf Rogier van der Weyden, Bildnis eines Mannes, London National Gallery (die Nase und ein Auge decken sich, während das zweite Auge und das Ohr verschoben sind), AUSST.KAT. FRANKFURT/BERLIN 2008, S. 114 Abb. 80; sowie Umrisse der beiden Bildnisse eines feisten Mannes in Berlin und in Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza, ebenda, S. 270 Abb. 145. 569 Umrissvergleich Rogier van der Weyden , Bildnis einer jungen Frau , SMB-Gemäldegalerie, Kat. Nr. 545D und Meister von Flémalle, Bildnis einer Frau, London, National Gallery, AUSST.KAT. FRANKFURT/ BERLIN 2008, S. 280, Abb. 151, 570 KEMPERDICK 2008, S. 114. 568 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 197 - der Berliner Gemäldegalerie hingewiesen.571 In Erlangen hat sich eine Zeichnung mit derselben Darstellung erhalten, deren Figuren im Maßstab und in einigen Konturen verblüffend mit denen auf dem Täfelchen übereinstimmen, nicht aber in ihrer räumlichen Beziehung zueinander.572 Die Unterschiede seien so groß, dass das Blatt nicht als Entwurf für das Gemälde fungiert haben könne, dass vielmehr beide – so meinen Buck und Kemperdick übereinstimmend – auf ein gemeinsames Vorbild zurückgehen müssten. „Der übereinstimmende, auf mechanischer Übertragung basierende und in beiden Fällen mit leichten Verschiebungen der Einzelheiten einhergehende Rückgriff auf dasselbe Vorbild sind am ehesten innerhalb einer Werkstatt anzunehmen.“573 Es fällt nun aber auf, dass die einzelnen Figuren der Zeichnung ausgeschnitten waren und auf einem neuen „alten“ Papierträger wieder aufgeleimt sind, was Buck damit erklärt, dass „solche Silhouettierungen … unter Verwendung alten Papieres meist im 19. Jahrhundert vorgenommen“ wurden. Die Konturen der einzelnen Papierausschnitte sind stark konturiert und wirken wie nachgezogen. Außerdem beschreibt Buck, dass „ein Tintenspritzer auf der Bank darauf hinweist, dass das Blatt durch Werkstattgebrauch in Mitleidenschaft gezogen war“. Könnte es sich nicht – das sei hier als These formuliert – um genau solche figürlichen Schablonen handeln, die bereits in der Werkstatt ausgeschnitten zur Übertragung durch „Umfahren“ auf verschieden variierten Kompositionen mehrfach verwendet wurden? Der Grad an Übereinstimmungen bestimmter Figuren oder Konturen entspricht jedenfalls der am Barfüßerretabel vorgefundenen Deckungsgleichheit von Gesichtern, ohne dass uns hier eine Zeichnung oder ein anderer Hinweis auf die Art des Übertragungsverfahrens überliefert wäre. In Zeiten der Hochkonjunktur der Kunst haben sich Maler und Bildhauer immer wieder rationeller Verfahren bedient. Dies gilt für die Malerei des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden genauso wie für die Retabelproduktion in Antwerpen um 1500. In jüngster Zeit wurde auch darauf aufmerksam gemacht, dass gerade in dieser Zeit um 1500 Bildhauerwerke „massenhaft“ oder in den Dekorationselementen von Chorgestühlen 571 Nadelholz(?)täfelchen, 24,6 x 20,5 cm., Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Kat. Nr. 1887, BEST.KAT. BERLIN 2010, Kat. Nr. 21., S. 153 ff., Abb. S. 155. 572 Hans Dickel (Hg.), Zeichnen vor Dürer. Die Zeichnungen des 14. und 15. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Erlangen, bearb. von Stephanie Buck und Guido Messling, Köln 2010. 573 Kemperdick in BEST.KAT. BERLIN 2010, S. 154. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.2 Kontext: Bildvorbereitung - 198 - sogar „seriell“ produziert wurden. 574 Die Überlegungen zur Art der Übertragung von Figurenzeichnungen in Bildhauerwerkstätten durch Auflegen und Durchgriffeln auf den Schnitzblock machen deutlich, wie verbreitet dabei die Technik des Durchgriffelns gewesen sein muss.575 Dass diese Art rationeller Herstellungsverfahren sogar eine noch ältere Tradition hat, lässt sich aus Johannes Voss' Beobachtungen zu den Werken der in Rostock zwischen 1420 und 1460 tätigen Maler-und Bildhauerwerkstatt ableiten.576 Voss stellt die direkte Übernahme von Figuren wie auch die seitenverkehrte Wiederholung fest. Im übrigen hat man die „serielle“ Herstellung von Gesichtern bisher nur an Tonskulpturen aus der Zeit um 1430 feststellen können, aus einem Material also, das für die Verwendung von Modeln geradezu prädestiniert ist.577 Die Belege vom Barfüßerretabel über den flexiblen Einsatz von Kontur- oder Gesichtsschablonen in einer MalerWerkstatt, die eher effektiv als innovativ arbeitete, deuten darauf hin, dass die Verwendung von Schablonen auch für Figuren schon am Anfang des 15. Jahrhunderts in Nordeuropa allgemein Usus war und noch viel häufiger festgestellt werden könnte, wenn gezielte weitere Untersuchungen durchgeführt würden. 574 „Meisterwerke Massenhaft – Die Bildhauerwerkstatt Bildhauerwerkstatt des Niklaus Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500“, AUSST.KAT. STUTTGART 1993, sowie Barbara Rommé, Serielle oder nur massenhafte Produktion? In: Anna Morath-Fromm, Gerhardt Weilandt (Hg. ), Unter der Lupe. Neue Forschungen zu Skulptur und Malerei des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Hans Westhoff zum 60.Geburtstag. Stuttgart 2000, 269-276. 575 Claudia Lichte, Hans Westhoff, Mustergültig: Strichzeichnungen als Skulpturenvorlage. Zum Übertragungsverfahren in der Ulmer Weckmann-Werkstatt (1481-1528), in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 10/1996, Heft 2, S. 184, 576 VOSS 2000. 577 Auf dieses durch die technologischen Untersuchungen von Bodo Buczynski bekannte gewordene Beispiel bezieht Kemperdick die Annahme einer verbreiteteren Tradition, auf die die Rogier-Werkstatt zurückgreifen konnte. KEMPERDICK 2008, S. 114; Bodo Buczynski, die Lorcher Kreuztragung, in: Sophie Guillot (Hg.), Sculptures médiéfales allemandes. Conservation et restauration. Paris 1993, S. 41-62. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.3. Kontext: Metallauflagen und Punzierungen - 199 - 3.3 Blattmetallauflagen und Punzierungen Blattmetalle: Farben und Qualitäten In dem hier behandelten „sächsischen“ Raum sind blasse Blattgoldauflagen auf zeitgenössischen und früheren Werken häufig. Diese Farbbeobachtung stellt also noch kein technologisches Kriterium dar, das man zur Zuordnung an eine Werkstatt oder ein Kunstzentrum verwenden könnte. Die naturwissenschaftlichen Untersuchungen am Barfüßerretabel haben aber gezeigt, dass die Elementbestimmung an Polimentvergoldungen mit Hilfe der zerstörungsfreien µRF-Analyse schon heute ein vielversprechendes Verfahren darstellt, die Zusammensetzung von Blattgoldauflagen mit hoher Annäherung zu bestimmen und zu vergleichen. Hier ist der Schichtenaufbau überschaubar und der Eisengehalt meist der Bolusschicht zuzuordnen, so dass die für die Klassifizierung der Blattgoldqualitäten relevanten Kupfer- und Silberanteile eine Gruppierung von verwendeten Blattgoldsorten erlauben.578 Die nahe Übereinstimmung der Analyseergebnisse von den Polimentvergoldungen des Barfüßerretabels und der Reliquienbüste aus Uslar im Gegensatz zur Goldenen Tafel mit höherem Kupfergehalt weisen in die Richtung, in die weitere technologische Studien gehen könnten. Bei den Zwischgoldauflagen dagegen kommt eine enorme Variationsbreite in den oberflächlichen Farbwirkungen zwischen Silber und Gold vor. Die Ergebnisse vom Barfüßerretabel zeigen, dass verschiedene Zwischgoldqualitäten parallel verfügbar waren. Die Ausführung der Kreispolitur auf einer Zwischgoldauflage – ein bisher einmaliger Befund – setzt eine relativ dicke Goldschicht voraus. Die Untersuchungen am Ortenberger Altar im Hessischen Landesmuseum Darmstadt von um 1400 wiesen dagegen nach, dass die immer als Blattsilber angesehenen Flächen aus Zwischgold bestehen . 579 Es wurde bisher noch nie festgestellt, dass ein Zwischgoldblatt mit der Silberseite nach oben aufgelegt worden wäre. Der Umstand, dass Zwischgold – genau wie Silberauflagen – immer mit einem schützenden, häufig auch gefärbten, heute aber farblich veränderten Überzug versehen wurde und selbst nicht selten korrodiert ist, macht die Rekonstruktion des ursprünglichen Erscheinungsbildes so schwierig. Weil Zwischgold überdies vielfach auf Farb- und Anlegemittelschichten liegt, ist eine naturwissenschaftliche Bestimmung der unterschiedlichen Qualitäten mit den heute zur Verfügung stehenden 578 579 HARTWIEG/HERM 2005. Renate Kühnen, Untersuchungen zur Herstellungstechnik des Altares, in: VETTER 2000, S. 129 u. 137. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.3. Kontext: Metallauflagen und Punzierungen - 200 - Mitteln bisher nicht möglich. Weil sich der Materialwert unmittelbar im Preis niederschlägt, müssen die Zwischgoldqualitäten im Handel klassifiziert worden sein. In Literatur und Forschung ist Zwischgold bisher noch nie differenziert betrachtet worden. Punzierwerkzeuge Das an den Werken der Barfüßerwerkstatt vorgefundene Repertoire an Punzstempeln und -rädchen lässt sich nahtlos in den damals üblichen Gebrauch von Punzwerkzeugen einordnen, wie unten im genaueren Vergleich zu zeigen sein wird. Diese Befundsituation deutet auf einen fundamentalen Gegensatz zu Rang und Gebrauch der Punzen in der italienischen Tafelmalerei der Zeit. Hier wurden – wie der umfassende Katalog der Punzierungen an toskanischen Tafelbildern von 1330 bis 1430 belegt580 – die vielgestaltigen Musterpunzen als „brandmark“ einer Werkstatt gehütet und nur selten unter gleichzeitig tätigen Meistern ausgetauscht („primary diffusion“), mitunter aber nach dem Tod eines Meisters weitergegeben („secondary diffusion“). So mag zwar auch in Nordeuropa mit den Punzwerkzeugen selbst verfahren worden sein. Da sie sich aber so wenig voneinander unterscheiden, ist die Art der Weitergabe kaum erkennbar. Die in Nordeuropa verwendeten Werkzeuge sind von einfachster Machart. Für die Punktpunzen verschiedener Größe diente ein einfacher Metallstift mit meist vorn abgerundeter Spitze. Stifte mit glatter Spitze kamen am Barfüßerretabel und in seinem Umkreis nicht vor, jedoch kleine Kreispunzen. Strichpunzen wurden mit einem Werkzeug wie einem Flacheisen hergestellt. Sie kamen aber nie bei der Punzierung von Goldhintergründen zum Einsatz, sondern nur zur Strukturierung von Rüstungen oder Brokatstoffen.581 Die nicht nur am Göttinger Altar, sondern auch am Magdalenenretabel des Barfüßer-Meisters festgestellte gezahnte Kreispunze ist – nach den Beobachtungen der Autorin – ebenfalls von einfachster Bauart (Abb. 186, 187). Auf der Schreinrückwand des bereits ca. 50 Jahre älteren Coesfelder Altars geben die Kreispunzen in den Nimben beredtes Zeugnis, wie dieses Werkzeug hergestellt worden ist. Die Kreise sind hier teilweise offen oder überlappen sich an den Enden spiralförmig. Dies zeigt, dass sie aus einem gebogenen, gezahnten Blechstreifen bestehen (Abb. 185).582 Bei diesen 580 SKAUG 1994 Siehe unten Kap. 3.4, S. 210 f. 582 Coesfelder Altar aus Flandern, 1370-1380, in: Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte Münster (Hg.), Bildwerke der frühen und hohen Gotik, Münster 1974, Abb. 19. Mit dieser Herstellungs581 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.3. Kontext: Metallauflagen und Punzierungen - 201 - Kreispunzen sind die Punkte immer eckig. Deshalb ist der Begriff „gezahnter Kreis“ dem sonst meist verwendeten „Punktring“ vorzuziehen. Zusammen mit den Zahnrädchen, von denen weiter unten noch genauer die Rede sein wird, ist damit das Repertoire an Werkzeugen, das in der Werkstatt des Barfüßer-Meisters genutzt wurde, schon erschöpft. Sogar noch sparsamer ist die Werkzeugauswahl auf den Goldgründen am Peter- und Paul-Retabel (Abb. 171) und an der Goldenen Tafel, wie der Überblick zeigt: Objekt Partie Punzenform Durchmes. Körnung Dichte Mitteltafel, St. Lamberti HI Nimbus Christi Kreis 2,5 mm Peter-u.-Paul, re. Innenflügel, oben links, Auferstehung HAUM Braunschweig Nimben, Rüstungen Punkt Gürtel des re.Soldaten, Helme rechts oben: Kreis Modellierung mit Punzen an der beleuchteten Seite 2 mm 0,5mm 2,5 mm Peter-u.-Paul, lk. Innenflügel, u.re., Judaskuß RPM Hildesheim Gürtel, (Nimben ergänzt) Punkt am Unterschenkel des Soldaten, in Reihen entlang der Rüstung evtl. Zahnrädchen 2 mm, 0,5 mm Körnung oder Zahnrädchen 7/cm Punkt 2 mm 0,3-0,5 mm Körnung 15/cm Punkt rund 0,2-0,5 mm 1 mm Körnung 0,2-0,5 bei 13-15/cm Peter-u.-Paul-Retabel, aus St. Lamberti Hildesheim Peter-u.-Paul, re. Innenflügel, Nimben u.re., Weltgericht Abb. 172 WLM Münster/GNM Nürnbg. Goldene Tafel aus Lüneburg um 1400, NLMH Hannover Sonntagsseite Nimben Göttinger Barfüßerretabel 1424, NLMH Hannover Barfüßerretabel Sonn- und Festtagsseite Punktpunzen 2-2,5 (P1) ~1,3 (P2) ~0,75-1 (P3) 0,2-0,5 (P4) <0,2 (P5) Barfüßerretabel Sonn- und Festtagsseite Punktringe 19 Punkte, 5 Punkte Barfüßer Predella 5 mm 3 mm 3 2,5 (P1) Punktpunzen 1 (P3) 0,2-0,5 (P4) technik ließen sich die regelmäßigen Einkerbungen an der Blechkante leichter herstellen. Körnung P4 ca. 11/cm Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.3. Kontext: Metallauflagen und Punzierungen - 202 - In der Kölner Tafelmalerei des 14. und 15. Jahrhunderts, für die Willberg einen Katalog der Punzierungen erarbeitete, ist um 1400 eine Erweiterung des Werkzeugrepertoires zu beobachten.583 Zu den einfachen Punktpunzen kommen dort nun verschieden große Kreisstempel, ab dem zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts auch Zahnrädchen hinzu. Die kleine Tafel in der Berliner Gemäldegalerie mit „Maria auf Sonne und Mond“ vom Ende des 14. Jahrhunderts ist ein frühes Beispiel, das eine kleine Kreispunze, aber auch einen fünfzackigen Stern neben drei Punktstempeln zeigt. Willberg konnte einen gezahnten Kreis erstmals auf einer Tafel von 1460 feststellen.584 Dies ist für die historische Bewertung irreführend, wie wir angesichts des viel früheren Fundes auf der Schreinrückwand des Coesfelder Altars aus Flandern von 1370/80 gesehen haben. Ein gezahnter Kreis auf der Tafel mit „Maria und Kind“ des Meisters des Marienlebens in der Berliner Gemäldegalerie hat die mit der Punze vom Barfüßerretabel identische Anzahl von 19 Punkten bei einem gewissen Unterschied im Durchmesser. Dies zeigt nur, wie genau die Befundnahme bei diesen einfachen Werkzeugen sein muss, um die Zugehörigkeit zu einer Werkstatt oder Weitergabe an eine nachfolgende beweisen zu können. (Gezahnte) Kreispunzen im Vergleich Objekt Partie Kreispunze Durchmesser Coesfelder Altar WLM Münster 1370-80 Schreinrückwand Abb. 185 Gezahnter Kreis, 24 Punkte Kölnisch um 1390/1400 Gemäldegalerie SM Berlin Maria auf Sonne und Mond, Kat. 1205A Erstmals 4 mm kleiner Kreisstempel Göttinger Barfüßerretabel, 1424, NLM Hannover Nimben, Umrandung der Gezahnter Goldhintergründe Kreis, 19 Punkte, 5 Punkte 5 mm Kölnisch um 1460, WRM 11 Köln Maria mit Kind Erstmals „Punktring“ nach Willberg 6 mm Meister d. Marienlebens ca. 1470/74 Gemäldegalerie SM Berlin Maria mit Kind Kat. Nr. 1235B Gezahnter Kreis, 19 Punkte 6,5 mm 583 ? 3 mm WILLBERG 1997 Kölnisch um 1460, Maria mit Kind, Wallraf-Richartz-Museum Köln WRM 11, WILLBERG 1997, Kat. Nr. 46, S. 179ff. 584 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.3. Kontext: Metallauflagen und Punzierungen - 203 - Auch die Spuren der Punzierungsrädchen erkennt man an ihren eckigen Punkten. Sie werden häufig mit sehr exakt und routiniert mit der Einzelpunze gesetzten Punktreihen verwechselt. Die bisherigen Untersuchungen der mit Zahnrädchen hergestellten Punzierungslinien erlaubten die Bestimmung von Umfang und Durchmesser dieser runden Metallscheiben noch nicht. Die Zähne sind immer sehr regelmäßig ausgearbeitet. Die Anzahl der Punkte pro cm bietet ein Maß, das den Vergleich objektiviert. Punzier- oder Zahnrädchen Objekt Datierung Partie Punkte /cm Coesfelder Altar WRM Münster 1360-70 Schreinrückwand Abb. 185 ? Meister des Berswordt-Altars Marienaltar aus der Neustädter Marienkirche in Bielefeld, Um 1400 Darstellung im Tempel Gemäldegalerie SM Berlin Goldene Tafel aus Lüneburg NLMH Hannover Nimben von Maria und dem 24-25/cm Christuskind 8/cm* feine und gröbere Strahlen (*letztere evtl. auch aus einzelnen Punktpunzen hergestellt) Um 1400 Linker Innenflügel innen Vorhölle 11/cm Rechter Innenflügel, innen Auferstehung 11/cm Rechter Außenflügel, innen Mariae Himmelfahrt Älterer Meister der Hl. Sippe Marientriptychon, Kat. Nr. 1238585 Gemäldegalerie SM Berlin Randborte der Goldhintergründe, 9/cm Randborte gerädelte Linien 9/cm 1410/15 Madonna mit der Wickenblüte 585 11/cm Um 1410/20 Mitteltafel und Seitenflügel mit den Hll. Elisabeth und Agnes Meister der Hl. Veronika Triptychon, WRM 10 WRM Köln Strahlen aus den Wolken Siehe auch WILLBERG 1997, Kat. Nr. 21. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext Objekt Datierung 3.3. Kontext: Metallauflagen und Punzierungen - 204 - Partie Punkte /cm Rahmende Linie 10/cm lk. Flügel innen, o.lks., Abendmahl HAUM Braunschweig Schale und Kelch, an der Lichtseite modelliert Abb. 173 7/cm längsrechteckig lk. Flügel innen, u.re., Judaskuß RPM Hildesheim Entlang der geharnischten Unterschenkel d. Soldaten, in Reihen evtl. gerädelt, aber ungleichmäßig 7/cm Von den rahmenden gemalten Wolkenrändern ausgehende Strahlen, Abb. 138 10/cm Von den rahmenden gepunzten Wolkenbändern ausgehende Strahlen, Abb. 89 12/cm Kölnisch, um 1410/20 Das Leben Christi (32 Bildfelder) Gemäldegalerie SM Berlin Der zwölf-jährige Jesus im Tempel Peter-u.-Paul-Retabel, St. Lamberti Hildesheim Drei-Königs-Altar Offensen Um 1420, evtl. früher Um 1410-20 Verkündigung Göttinger Barfüßerretabel NLMH Hannover 1424 Kreuzigung, Heimsuchung, Marienkrönung, Festtagsseite Bildfeldränder Westfälischer Meister in Köln WRM Köln Kölner Meister, um 1430 Christus am Kreuz mit Heiligen Gemäldegalerie SM Berlin Stefan Lochner Kölner Dom 11/cm Um 1420/30 Der große Kalvarienberg WRM 353586 Gerädelte Linie am Rand 16/cm Rahmung des Goldhintergrundes 10/cm Um 1430 Um 1440/45 Altar der Stadtpatrone Rautenlinien im Goldhintergrund 587 586 ? Siehe WILLBERG 1997, Kat. Nr. 30. R. Lauer, Ch. Schulze-Senger., W. Hansmann, Der Altar der Stadtpatrone im Kölner Dom, in: Kölner Domblatt 52/1987, S. 9-80; siehe den Hinweis von Willberg 1997, S. 86. 587 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.3. Kontext: Metallauflagen und Punzierungen - 205 - Der Überblick zeigt, dass die verwendeten Zahnrädchen im Kölner und südniedersächsischen Raum sehr ähnlich dichte Punktreihen produzieren, wobei zur Verzierung der Goldgründe am Göttinger Barfüßerretabel wohl mindestens zwei Rädchen zur Verfügung standen. So grobe und weit auseinander liegende Punkte eines Zahnrädchens, wie es am linken Flügel des Peter- und Paul-Retabels aus St. Lamberti in Hildesheim zu finden ist (Abb. 173), ließen sich erst wieder ab 1470 feststellen.588 Die westfälischen Werke, insbesondere des Berswordt-Meisters, zeichnen sich dagegen mit einer extrem feinen Punktlinie eines Zahnrädchens aus, das so nur von einem Goldschmied hergestellt werden konnte. Im Werk Stefan Lochners ist das Punzierungsrädchen, wie es am Altar der Stadtpatrone im Kölner Dom nachgewiesen wurde, ein Sonderfall. Bei allen anderen untersuchten Werken waren Linien und Ornamente immer durch eine Folge von Einzelpunzen hergestellt. Lochner verwendete – wie der Meister des Peter- und Paul-Altars aus St. Lamberti – in der Regel nur maximal zwei verschieden große Punktstempel. Wenn in der Lochner-Nachfolge Abdrücke eines Punzierrädchens von 9-10 oder auch 17-18 Punkten pro cm vorkommen, dann ist die Maßzahl als Kriterium für die Nähe zu der Vorbild gebenden Werkstatt doch wichtig. Insgesamt ist die Ähnlichkeit der Werkzeuge nach ihren Formen und Größen in den Kölner wie in den südniedersächsischen Werkstätten auffallend. Die Punzen eignen sich deshalb nur bedingt als technologisches Kriterium für die Zuordnung zu einer Werkstatt.589 Die Zahl verwendeter Punzen und Motive sagt in der nordeuropäischen Tafelmalerei nichts aus über Aufwand und Qualität ihrer Verwendung. Für die Art und Weise, wie die Punzen eingesetzt sind, wie mit ihnen gestaltet und modelliert wurde, gibt es kein Maß außer der Anschauung. Danach ragen die Punzierarbeiten am Barfüßerretabel, besonders die punzierten Engel als besonders anspruchsvoll heraus. Werkzeuggebrauch Wie bei der Befundanalyse zum Barfüßerretabel bereits dargestellt, sind drei Arten des Umgangs mit den Punzwerkzeugen zu unterscheiden: (1) die einzeln oder in kleinen „Maria mit Kind und drei heiligen Jungfrauen im Rosenhag“, Meister des Bonner Diptychons, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie, Kat. Nr. 1235. 589 Immerhin zeichnete sich durch die Bestimmung eines wiederkehrend übereinstimmenden Repertoires an Punzstempeln eine homogene Gruppe der Werke des Sippenmeisters ab, während die Gruppe um Veronika- und Laurenzmeister nach den Punzierungen so uneinheitlich ausfällt, dass diese noch einmal neu kritisch gesichtet werden sollte. WILLBERG 1997, Tabelle I, Kat. Nr. 14 – 20. 588 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.3. Kontext: Metallauflagen und Punzierungen - 206 - Gruppen gesetzte Punze, (2) das schematische Körnen von Flächen (engl. granulation, oder stippling, nach Cennino Cennini granare a disteso) und (3) modellierendes Pointillieren (nach Cennino Cennini granare a rilievo).590 Beim gleichmäßig dichten Körnen einzelner Partien ergibt sich aus dem Arbeitsvorgang, dass die Punzen in der Regel reihenweise gesetzt sind. Um die Handschrift verschiedener Handwerker vergleichen zu können, kann es hilfreich sein, die Dichte der Punkte pro cm zu bestimmen. Dies kann aber, anders als bei den Punzierrädchen, nur ein Vehikel zur Annäherung sein, das die stilistische Betrachtung der Ausführung flankiert. In Ausnahmefällen wird auch ganz unregelmäßig gekörnt, wie zum Beispiel auf den Vergoldungen des Dornstadter Retabels von 1417 im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart.591 Gestaltung der Nimben Zur Gestaltung der Nimben verwendeten die Werkstätten offensichtlich Mustervorlagen, die eher Hinweise auf Abhängigkeiten und Austausch zwischen verschiedenen Werkstätten liefern. Der am Barfüßerretabel festgestellte Wechsel von positiv und negativ gepunzten Legenden in den Nimben, d.h. gekörnten oder vor gekörnten Hintergrund gestellten gotischen Minuskeln, begegnet uns erstmals an der um 1415 datierten Tafel mit „Christus am Kreuz mit Maria, Johannes und sieben Aposteln“ im WallrafRichartz-Museum Köln, möglicherweise das Mittelbild eines Flügelretabels (Abb. 188).592 Zehnder hält für diese Tafel die Mitarbeit der Werkstatt des Veronikameisters bzw. des Werkstattnachfolgers, des sogenannten Laurenz-Meisters, für gegeben.593 Betrachtet man die Punzierungen der Nimben genauer, unabhängig von dem Positiv-/ Negativ-Wechsel der Schriften, so stimmen die Nimben am Barfüßerretabel in ihrer Gestaltung erstaunlich überein mit denen an vier Altartafeln aus Köln: Neben der oben genannten Tafel aus dem Wallraf-Richartz-Museum sind es der Gereonsaltar in der Berliner Gemäldegalerie, um 1420 – beide schreibt Kemperdick derselben Hand zu594 –, Skaug weist auf diese Unterscheidung hin, Skaug 1994. AUSST.KAT. STUTTGART 2003, S. 43 Abb. 36. 592 Meister der Hl. Veronika, Christus am Kreuz mit Maria, Johannes und sieben Aposteln, Eichenholz 176 x 245 cm, WRM 14. Zehnder ergänzt auf beiden Seiten je einen Flügel mit zwei Aposteln. Angesichts der Breite der Tafel erscheint der Autorin wahrscheinlicher, dass die Flügel so breit waren, dass je drei oder sogar vier Apostel dargestellt waren, ähnlich wie am Großen Friedberger Altar in Darmstadt. AUSST.KAT. KÖLN 1993, S. 296f. 593 BEST.KAT. KÖLN 1986. 594 Kölner Meister, um 1410, Eichenholz, im geöffneten Zustand 194 x 362 cm, geschlossen 194 x 182 cm, Skulptur im Mittelrisalit verloren, Kat. Nr. 1627 A, BEST.KAT. BERLIN 2010, Kat. Nr. 29, S. 202. ff.. 590 591 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.3. Kontext: Metallauflagen und Punzierungen - 207 - außerdem die dem Meister des Gereon-Altars zugeschriebene Votivtafel der Familie Rost von Cassel, nach 1409, in Darmstadt (Abb. 189)595 sowie die zweite Berliner Tafel eines Kölner Meisters um 1430, die den Gekreuzigten zwischen Maria und Johannes und je zwei weiteren Heiligen zeigt (Abb. 190).596 Der Grundaufbau ist auffallend ähnlich: Die Nimben sind mit trassierten Zirkellinien angelegt, werden außen mit einer Reihe von Perlpunzen begrenzt und zeigen zwischen den Buchstaben charakteristische „Leerzeichen“ meist in Form von Blattmustern sowie nach innen Halbbogengirlanden mit kleinen Gehängen. Die nach außen gerichteten, sich abwechselnden Blattranken und Granatapfelmotive finden sich sehr fein so nur auf dem Gereonsaltar und der Tafel im Wallraf Richartz-Museum. Wie schon die Analyse der Punzierwerkzeuge gezeigt hat, ergibt sich für die Gruppe dieser Kölner Werke, für die die Namen Meister der Hl. Veronika oder dessen Nachfolge, Meister des Gereon-Altars und Meister von St. Laurenz je nach stilistischer Einschätzung und Datierung verschieden vergeben werden, noch ein uneinheitliches Bild.597 Aus der Übereinstimmung in der Gestaltung der Nimben lässt sich aber schließen, dass der Meister des Göttinger Barfüßerretabels auf Mustervorlagen aus der Kölner Werkstatt, in der die Votivtafel der Familie Rost von Cassel geschaffen wurde, zurückgreifen konnte oder er bzw. der Mitarbeiter, der für die Punzierungen am Barfüßerretabel verantwortlich zeichnet, hier gelernt hat. Pointillierte Figuren und Modellierungen auf Blattmetallauflagen Die Punzierungen von Engeln und rahmenden Wolkengirlanden sind am Barfüßerretabel von einer beeindruckenden Qualität (Abb. 88, 89). Sie sind mit ein oder zwei feinen Metallstiften nur durch unterschiedlichen Druck erzeugt (Abb. 82). Eine trassierte Vorzeichnung ist nicht erkennbar. Auf gemalte Elemente wird ganz und gar verzichtet. Conrad von Soest dahingegen kombiniert eine Schwarzlotzeichnung mit Punzierungen und fasst die Gesichter seiner Engel im Inkarnatton (Abb. 191).598 Die Engel der oben erwähnten Berliner Kreuzigungstafel eines Kölner Malers um 1430 wie auch auf der Votivtafel der Familie Rost von Cassel tragen farbige Gewänder (Abb. 189 a, 190 595 Meister des Gereon-Altars, Votivtafel mit Christus am Kreuz mit Maria und Johannes und acht Heiligen in je zwei Bildfeldern übereinander zu seiten der Kreuzigung, Darmstadt, Hessisches Landesmuseum; Gk 22, Eichenholz, 171,5 x 193,5 cm, in: BEST.KAT. DARMSTADT 1990, S. 82f.; Nimbenzeichnung vom Bildfeld rechts unten mit den Hll Antonius Abbas und Ursula, W ILLBERG 1997, Kat. 26 e. 596 Eichenholztafel, Maße 113,8 x 173,5 cm, Kat. Nr. 1627 B, BEST.KAT. BERLIN 2010, Kat. Nr. 30, S. 212ff., sowie Rainer Michaelis, Kat. 1989, S. 61f.. 597 Siehe oben Anm. 589. 598 Für die Überlassung des Fotos danke ich Herrn Dr. Christian von Heusinger, Braunschweig. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.3. Kontext: Metallauflagen und Punzierungen - 208 - a). Vergleicht man die pointillierten Engel aber mit den Punzierungen in den Goldgründen des Großen Friedberger Altars, die durch den Motivreichtum von Pflanzen, Tieren und Fabelwesen bestechen (Abb. 193), so beziehen sich die Arbeiten am Barfüßerretabel auf ein kleineres Repertoire an Mustervorlagen. Am nächsten liegt noch der Vergleich mit den Punzierungen in einer böhmischen Tafel der Zeit aus der Berliner Gemäldegalerie (Abb. 192). Heute sind die Punzen vielfach mit Schmutz und Firnisresten zugesetzt und wirken schwarz (Abb. 90). Dies verkehrt das ursprüngliche Erscheinungsbild. Cennino Cennini, dessen Handbuch von 1390/1400 bei aller Praxisorientierung begrifflich sehr exakt ist, beschreibt: „Dieses Körnen, von welchem ich spreche, ist eine der schönsten Arbeiten, die wir haben, du kannst flach körnen, wie ich schon gesagt habe, du kannst aber auch reliefartig körnen. Mit Hülfe der Phantasie und leichter Hand kannst du auf der Goldfläche Blätter, kleine Engelchen und andere Figuren machen, die aus dem Gold hervorleuchten. In den Falten und Schatten dagegen darf man gar nicht körnen, in den Halbschatten nur wenig, am meisten aber in den Lichtpartien, denn das Körnen hellt so zu sagen das Gold auf, denn an und für sich ist das Gold, dort wo es geglättet ist, dunkel.“599 Das Pointillieren erfordert ein klares Verständnis vom plastischen Modellieren durch Licht. Der flächige Charakter, der jeder Blattmetallauflage zu eigen ist, lässt sich nur durch Punzieren und Schwarzlot-Zeichnung für Licht- und Schattengebung brechen. Der Barfüßer-Meister beschränkt sich nur auf das Pointillieren auf den Goldgründen und auf die Schwarzlot-Zeichnung auf Silber (Abb. 79) und zeigt in der Malerei auch sonst keine konsequente Lichtführung. Nur an einer Stelle in den sonst flächigen Brokatgewändern, an dem reich gekleideten Mann unterm Kreuz, wird die Strichpunze verdichtet gesetzt, um zu einer Modellierung der Lichtseite beizutragen. Auf dem Peterund Paul-Retabel aus St. Lamberti, auf dem pointillierte Figuren oder Wolken fehlen, werden einige vergoldete und versilberte Partien sowohl mit Schwarzlot-Zeichnung schattiert wie auch mit dem Punzierrädchen gehöht. Dies ist auf Kelch und Schale auf dem Abendmahlstisch (Abb. 173) sowie auf den Rüstungen der Soldaten in der Gefangennahme Christi wegen der Firnisüberzüge nur noch in Nahsicht zu beobachten. 599 CENNINI 1916, Kap. 140, S. 106. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.3. Kontext: Metallauflagen und Punzierungen - 209 - Einer Quelle von 1434 zufolge, auf die Stroo verweist600, wurden Punzierungen ausdrücklich in Auftrag gegeben. Dies wirft einen Blick auf die Wertschätzung von Punzierungen, möglicherweise aber auch darauf, dass Handwerker hinzugezogen werden sollten, die auf das Punzieren spezialisiert waren. 600 Auftrag für Altar an Saladin de Stoevere 1434: „van fijnen ghebruneerden gaude ende wel ende reinlic ghepointsonnert”, nach Cyriel Stroo, Dominique Vanwijnsberghe, Glimpses of a Lost Splendour. An Introduction to Pre-Eyckian Panel Painting. In: STROO 2009, S. 19. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.4 3.4 Kontext: Brokatimitationen - 210 - Brokatimitationen Will man über den Vergleich von Brokatimitationen die Handschrift einer Werkstatt genauer bestimmen und einordnen, so sind mehrere Kriterien zu prüfen: (1) der Schichtenaufbau, (2) die verwendeten Blattmetallauflagen, (3) die Strukturierungen, (4) die Art der Übertragung der Muster und ihre Platzierung, (5) der Farbauftrag der Muster und Faltenmodellierungen sowie schließlich (6) die Form der Muster selbst. Bei der weiter unten unternommenen Überprüfung der Zuschreibungen an den Barfüßer-Meister sind diese Kriterien – soweit technisch möglich – vollständig angewandt worden. Hier sollen aber nur ein paar Aspekte herausgegriffen werden. Textilstrukturimitationen Anders als in der genauen Beschreibung des technischen Aufbaus des Göttinger Barfüßerretabels werden hier die technisch zu den Punzierungen gehörenden Strukturierungen nicht im Zusammenhang mit der Bearbeitung der mit Metallauflagen versehenen Flächen, sondern zusammen mit den Brokatimitationen behandelt, also vom angestrebten Erscheinungsbild her. Das Barfüßerretabel, das in selten konsequenter Weise demonstriert, wie auch im Dekor und in den technischen Mitteln Kategorien vom „Einfachen“ für die Werktagsseite bis zum „Feinsten“ für die Festtagsseite eingehalten werden, liefert einen deutlichen Beleg, dass Textilstrukturimitationen zum Elaboriertesten gehören, das man dem Auftraggeber und dem Publikum bieten kann. Die Brokatstoffe sind nämlich nur auf der Mitteltafel mit Strichpunzen versehen und hier auch nur auf ausgewählten Partien (Abb. 92). Dabei beschränkte sich der Meister sogar darauf, den kostbaren, mit Glocken besetzten Umhang des Mannes mit rotem Turban unterm Kreuz nur im Bereich des Oberkörpers zu strukturieren (Abb. 194). Nach Kenntnis der Autorin kommen solche Strukturierungen überhaupt nur auf vergoldeten oder goldenen, aber aus Zwischgold hergestellten Partien vor. Technik, Erscheinungsbild und Qualität der Strukturierungen variieren beträchtlich. Daher rührt sicher auch die Vielzahl der Begriffe, die in der technologischen Literatur dafür verwendet werden. Hier wurde die Bezeichnung Strichpunze gewählt. Im Corpusband der mittelalterlichen Holzskulptur und Tafelmalerei in Schleswig-Holstein ist in Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.4 Kontext: Brokatimitationen - 211 - diesem Zusammenhang von Stichelkerben die Rede. 601 Teilweise werden solche Textilimitationen auch als Ritzungen, Trassierungen602 oder Scharrierungen603 beschrieben. Diese Bezeichnungen gehen von einer anderen Herstellungstechnik aus, nämlich von in dichter Abfolge entweder mit einem dickeren Stichel oder mit einer feineren Reißnadel „gezogenen“ Strichen oder Linien, nicht von „geschlagenen“ Abdrücken. Seit den Begriffsklärungen von Straub ist es üblich, innerhalb der Vergoldungen bzw. Metallauflagen von „Ritzlinien“ zu sprechen, wenn sie vor dem Polimentauftrag ausgeführt wurden, also unter dem Gold liegen, von „Trassierungen“ analog der Goldschmiedetechnik dann, wenn Linien auf die Metallauflage gezeichnet sind.604 In dem hier behandelten Zeitraum kommen geritzte oder gravierte Linien für diesen Zweck noch nicht vor.605 Auch der Begriff „Trassierung“ eignet sich für diesen Sachverhalt nicht, auch wenn die Strukturierungen nach dem Vergolden vorgenommen wurden. Trassierungen werden analog der Goldschmiedetechnik mit einem weicheren Stift nur wenig tief in die Metalloberfläche „gezeichnet“. Die Strukturierungen orientieren sich in der Regel am Muster, zeigen also in den Goldbereichen die Fadenstruktur an, während die farbig gemalten, damit etwas erhabeneren Bereiche ursprünglich eine glatte (Samt-)Oberfläche imitieren sollen. Der Arbeitsgang ging aber immer dem Aufmalen des Musters voraus. Dies setzt eine Übertragung oder Vorzeichnung der Muster auf der Metallauflage voraus, bevor die Muster aufgemalt wurden. Eine Trassierung analog der Vorbereitung der Punzierungen ist an den hier untersuchten Beispielen nicht zu erkennen. Beim Wildunger Altar des Conrad von Soest waren die Muster teilweise „vorgeritzt“.606 Am Gereonsaltar in der Gemäldegalerie Berlin ist zu erkennen, dass die farbigen Musterbereiche zunächst mit dünnerem Pinsel konturiert und dann ausgemalt wurden. Aber auch diese farbige Kontur stammt nicht 601 ALBRECHT/ROSENFELD/SAUMWEBER 2005, S. 132, Kat. Nr. 28, Tafelgemälde von dem älteren Retabel der Bergenfahrer, Lübeck um 1410-1420. 602 „In einer Variante dieser Technik hat man die vertieften Strichlein nicht eingeschlagen, sondern mit freier Hand geritzt (wahrscheinlich in der Trassiertechnik)“. TÅNGEBERG 1986, S. 234. 603 „Bei der Scharriertechnik wurden die Ornamente als dichte Vertikalrillen in die Bildoberfläche geritzt.“ SCHERER 1998, S. 6. 604 STRAUB 1988, S. 189, 197. 605 Tångeberg weist auf das Flügelretabel in Sigtuna in Schweden, um 1470-80, hin, auf dessen Außenseite (!) die Brokate mit dicht gesetzten, diagonal verlaufenden eingravierten Linien strukturiert sind, dann allerdings in Öltechnik mit Zwischgold belegt, sowie auf St. Nikolai in Stockholm. T ÅNGEBERG 1986, Abb. 162, S. 215 und Abb. 214 b. 606 Möglicherweise ist trassiert gemeint. Vortrag über die Untersuchung und Restaurierung des Retabels, gehalten von der Restauratorin Uta Reinhold am 11.12.2000 im Landesmuseum Hannover. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.4 Kontext: Brokatimitationen - 212 - von der Übertragung. Anhand der Untersuchungen am Barfüßerretabel wird die These aufgestellt, dass die aufgepausten Musterzeichnungen wieder abgewischt oder Überzüge aufschabloniert worden sein könnten.607 An den drei großen, im Landesmuseum in Hannover aufbewahrten Retabeln – der Goldenen Tafel aus Lüneburg, dem Peter- und Paul-Retabel aus St. Lamberti Hildesheim und dem Barfüßerretabel – werden die Strichpunzen in den Brokaten genauer verglichen (s. Überblick S. 213). Dabei wird der Versuch unternommen, den Vergleich mit Maßzahlen zu objektivieren. Erst wenn man diese Strukturierungen in den Zusammenhang mit anderen Werken des weiteren Umkreises stellt, wird deutlich, wie sehr sich die Werkzeuge und die sorgfältige Ausführung ähneln. Die Liste verdeutlicht klarer als die Fotos die Unterschiede in der Handhabung der Punzwerkzeuge. An der Goldenen Tafel wurde ein Werkzeug mit besonders feiner und kurzer Spitze verwendet. Die Striche sind extrem dicht gesetzt. Wenn auf der Bettdecke im Marientod der Strichverlauf weiter wird, so kann das an der Größe der Fläche, an einer anderen Hand oder am Gestaltungswillen liegen.608 Dies werden erst die geplanten systematischen Befunderhebungen genauer zeigen. Am Peter- und Paul-Retabel wurden ebenfalls sehr kurze Striche gesetzt. Hier aber sind die Unterschiede in der Handhabung eines Werkzeuges zwischen dem linken und dem rechten Altarflügel besonders eklatant: Während die Striche in den Goldpartien des linken Flügels in weitem Abstand durchlaufend ohne Rücksicht auf das Muster angelegt wurden (Abb. 174 a, b), sind die Strichpunzen auf dem rechten Flügel überaus fein so gesetzt, dass das farbige Brokatmuster immer ausgespart bleibt (Abb. 175 a, b). Dies weist eindeutig auf die Ausführung durch zwei Werkstattmitarbeiter hin (und eine unzureichende Kontrolle durch den Meister). Am Barfüßerretabel kam dagegen ein etwas längeres Punzwerkzeug zum Einsatz, das – wie oben beschrieben – meist schräg gehalten wurde. Auf der Brust des Mannes mit rotem Turban verdichtet sich der Schlag zum Rand hin, um den Körper zu modellieren. Ein solcher Umgang mit den Strichpunzen ist eigentlich völlig unüblich, weil sonst eher mechanisch eine gleichmäßige Textilstruktur angegeben werden soll. Solch ein Gebrauch des Punzwerkzeuges ist jedoch vom Pointillieren der Figuren geläufig. 607 608 Siehe Kap. 2.5.3, S. 137. Vergleiche Abb. 18 in: PATRIMONIA-2007, S. 37. 3.4 Kontext: Brokatimitationen - 213 - Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext Brokatstrukturierungen Objekt Partie Strichlänge Breite Dichte/cm Bemerkungen Goldene Tafel aus Lüneburg, um 1400 Innen, linker Außenflügel, Brokathemd Mann unten Mitte, in Bildmitte Christus in der Rast Abb. V 75 ~0,25 mm 10 - 15 Brokatmuster Striche/cm aussparend Innen, linker Außenflügel, Kurzer Silbermantel 1,5 – 2 mm unten rechts, des Hauptmannes Kreuzigung rechts ~0,25 mm 10 - 15 Brokatmuster Striche/cm aussparend Innen, linker Innenflügel, unten Mitte, Grablegung 1,5 – 2 mm ~0,25 mm 10 - 15 Brokatmuster Striche/cm aussparend ~ 2 mm ~0,25 mm 9 - 12 Brokatmuster Striche/cm aussparend Mantel Joseph von Arimathia Innen, Rechter Bettdecke Außenflügel, unten Mitte, Marientod Abb. V 74 ~ 2 mm Peter-u.-Paul-Altar, um 1420, ehem. St. Lamberti, Hildesheim Innen, linker Flügel, o.lk., Apostel rechts und Abendmahl links vorn HAUM Braunschweig Abb. V 87 a 2-3 mm 0,5-1 mm 3-4 Durchlaufend, Striche/cm ohne Rücksicht auf Brokatmuster Innen, linker Flügel, o.re., Apostel rechts Fußwaschung Christi Apostel links neben HAUM Braunschweig Petrus, Abb. V 87 b 2-3 mm 2-3 mm 0,5-1 mm 5 - 8, dito 3-5 Striche/cm Innen, linker Flügel, u.re., Untergewand 2-3 mm Gefangennahme Christi Christi, Judasmantel RPM Hildesheim Soldaten rechts und links 0,5-1 mm 4 dito Striche/cm Innen, rechter Flügel, o.lk., Auferstehung HAUM Braunschweig Obergewand des Soldaten rechts unten 2-3 mm 0,5-1 mm 8-9 Weich eingedrückt, Striche/cm Gold weniger verletzt als bei Barfüßer, Brokatmuster aussparend Innen, rechter Flügel, o.lk., Pfingstwunder HAUM Braunschweig Untergewand Mariae und Gewänder zweier Apostel 2-3 mm 0,5-1 mm 8 - 11 Brokatmuster Striche/cm aussparend Göttinger Barfüßerretabel, 1424 Mitteltafel, Kreuzigung (BF 18) Hauptmann Gewand Hauptmann 4-5 mm nur am Oberkörper (mal 3, Abb. V 109 unten 7 mm) 0,2-0,5 5 - 9, mm meist 8 Striche/cm, links 5 Striche/ 0,5cm Mitteltafel, unten rechts (BF 19) Pilatus Pilatus Gewand, Scherge re. neben Christus Abb. 100 0,1-0,5 6 - 8, tw. an beiden Enden 0,2-0,5 5 - 8 spitz auslaufend, stark Striche/cm variierend; am Schergen meist ein Ende breiter, Brokatmuster aussparend 4-8 mm auch 3mm Eckige Kanten, etwas schräg eingesetzt, Modellierend:auf Brust lockerer, am Kragen dichter, Brokatmuster aussparend Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.4 Kontext: Brokatimitationen - 214 - Die Strichpunzen am Gereonsaltar und der Kreuzigungstafel aus Köln in der Gemäldegalerie in Berlin (Abb. 190 a), die oben bereits im Zusammenhang mit den Punzierungen zum Vergleich herangezogen wurden609, haben eher die Länge des am Barfüßerretabel verwendeten Werkzeugs, sind teilweise sogar länger und dicker. Ein genauerer Vergleich innerhalb der Werkgruppe auch mit der Tafel des Veronika-Meisters aus dem Wallraf-Richartz-Museum Köln (Abb. 188 a) und der Votivtafel der Familie Rost von Cassel (Abb. 189) steht noch aus. Übereinstimmend werden die Striche reihenweise gesetzt, was der Scharriertechnik in der Steinbildhauerei entspricht und so auch am effektivsten von der Hand geht. Oellermann liefert dagegen ein Beispiel aus Franken von um 1443, bei dem längere Striche im „wilden Verbund“ gesetzt werden.610 Diese Technik der Textilstrukturimitation hatte zwei Nachteile: Die Strichpunzen laufen vielfach in die farbig ausgemalten Muster hinein und ergeben damit unsaubere Konturen. Außerdem muss das Strukturieren ungeheuer zeitaufwändig gewesen sein. Insofern verwundert es nicht, wenn nach rationelleren Verfahren gesucht wurde. Dies fand man mit der Pressbrokatapplikationstechnik, die nach wie vor für besonders aufwendig gehalten wird. „Although made in sections from mold, press brocade required more work than if the decoration had been applied directly to the panel with gold leaf and brushes,“ urteilt Chapuis für Stefan Lochners Dombild.611 Diese Einschätzung trifft nur zu, wenn man die Wiedergabe der Fadenstruktur außer acht lässt. Die „Erfindung“ der Pressbrokatapplikationstechnik wird im Allgemeinen mit dem bisher frühesten Fund des heute etwa auf 1425 zu datierenden Kreuzigungstriptychons aus dem Wallraf-Richartz-Museum Köln (WRM 55) an den Anfang des 15. Jahrhunderts gesetzt. Durch die enge Fokussierung der Forschung auf die „Pressbrokat“-Technik geriet aus dem Blickfeld, in welchem anderen Funktionszusammenhang Dekorationselemente bereits viel früher aus Modeln, auch unter Verwendung von Zinnfolie geformt wurden, worauf unten in Zusammenhang mit den Zierbändern noch eingegangen wird. Dort, wo die Technik der Pressbrokatapplikation noch unbekannt ist oder wo den Werkstätten nicht die entsprechenden Model zur Verfügung standen, wurden verschiedene 609 Siehe Kap. 3.3, S. 206ff. Epitaph der Nonne Gerhaus Ferin, München Bayerisches Nationalmuseum, OELLERMANN 1978, S. 53, Abb. 49. 611 CHAPUIS 2004, S. 162. 610 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.4 Kontext: Brokatimitationen - 215 - Mittel und Wege gefunden, die Wiedergabe der Fadenstruktur technisch zu vereinfachen. Dazu gehört vor allem, dass die Strichpunzen ungeachtet der Muster durchlaufend eingeschlagen wurden, so wie am linken Flügel des Peter- und Paul-Retabels aus St. Lamberti (Abb. 174 a, b) oder auch – mit etwas dichter gesetzten, längeren Strichpunzen – am Flügelretabel in Frösunda, Schweden, Mitte des 15. Jahrhunderts (Abb. 195).612 Am Hochaltarretabel in St. Georgen haben die Strukturierungen eine sehr gleichmäßige, immer schräg geführte Struktur (Abb. 196 a). Sie veranlasste Mieth, ein Rädchen als Werkzeug anzunehmen, das breiter gearbeitet gewesen sein muss als die für die Punzierungen verwendeten Zahnrädchen (Abb. 196 b). Tångeberg verweist auch auf die erst nach der Mitte des 15. Jahrhunderts zu datierenden Werke Hermen Rodes und seines Kreises: “Die Strichlein sind bei einigen Stoffen senkrecht geordnet, bei anderen waagerecht; bei wiederum anderen wurden statt Striche Pünktchen eingeschlagen.“613 An anderen Werken werden schließlich mit Hilfe eines Lineals diagonal verlaufende, parallele Linien in einer Dichte in den Kreidegrund graviert, die den in die Pressbrokatmodel gravierten Linien entspricht. Der so vorbereitete Grund wurde erst dann in Öltechnik mit Blattgold oder Zwischgold belegt.614 In diesem Vergleich wird deutlich, dass die Strukturierungen an den Retabeln aus dem Gebiet des südlichen Niedersachsen, besonders an der Goldenen Tafel und am rechten Flügel des Peter- und Paul-Altars, mit ihrer Qualität hervorstechen.615 Der BarfüßerMeister geht ein weiteres Mal am effektivsten vor und beschränkt die Strukturierungen auf besonders auffällige Flächen auf der Mitteltafel. Man darf annehmen, dass er sich der Pressbrokatapplikationstechnik bedient hätte, hätte er sie gekannt. Motivschatz Die Diskussion, ob die Maler kostbare Stoffe selbst gesehen, studiert und unmittelbar abgebildet haben, wird weiterhin kontrovers geführt. Annemarie Stauffer geht davon aus, dass der Berswordt-Meister exotische Gewebe aus eigener Anschauung kannte, und 612 TÅNGEBERG 1986, S. 235, Abb. 184 und Farbtafel 21 a. Ebenda, S. 234. 614 Zum Beispiel an den Fragmenten eines Flügelretabels aus St. Nikolai in Stralsund, um 1440, heute im Kulturhistorischen Museum Stralsund sowie am Altar für die Stockholmer Hauptkirche St. Nikolai (1468) TÅNGEBERG 1986, S. 270 und Abb. 214 b. 615 Die feinen Strukturierungen am Flügelretabel aus Tjällmo, Östergotland, um 1430, reichen in ihrer Qualität an die der Goldenen Tafel oder des Lamberti-Meisters heran. Auch für dieses Retabel wird eine Herkunft aus Norddeutschland angenommen. 613 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.4 Kontext: Brokatimitationen - 216 - zwar nicht die italienischen „Imitate“ sondern die asiatische Seiden selbst, insbesondere solche aus dem zweiten und dritten Viertel des 14. Jahrhunderts. Sie sieht für ihre These eine Bestätigung darin, dass in den Paramentenbeständen in Lübeck, Danzig und Stralsund solche Gewebe noch erhalten sind und die Dortmunder Hansekaufleute engen Kontakt mit diesen Handelsorten hatten. Conrad von Soest habe sich dagegen an italienischen Seiden des ausgehenden 14. und beginnenden 15. Jahrhunderts orientiert.616 Die gemalten Brokatmuster am Barfüßerretabel mit den separat golden hervorgehobenen, gegenständigen Tierpaaren erlauben ebenfalls einen nahen Vergleich mit einem Seiden-/Leinengewebe mit Granatapfel, Greifvögel- und Löwenpaaren in Rapportornamentik aus dem 14. Jahrhundert, das aus Kloster Preetz in Schleswig-Holstein stammt (Abb. 197 a, b). In den Samt- und sogenannten Lampas-Geweben617 sind in der Zeit um 1420 ineinander verschlungene und einander durchdringende Ranken und Blätter sowie diagonal aufsteigende Wellenranken in Mode.618 Die Muster der Stoffe sind im frühen 15. Jahrhundert kleinteilig, die Rapporthöhe nimmt im Laufe des Jahrhunderts immer mehr zu. Der Musterschatz, der den Malern in den Gewändern der Zeit begegnete, ist riesig und vielfältig. Die am Barfüßerretabel vorkommenden, im Anhang mit Umzeichnungen vorgestellten Muster folgen dahingegen einem sich wiederholenden Schema.619 Sie bilden ein flächenfüllendes Netz und setzen sich damit zum Beispiel von den Brokatimitationen des Conrad von Soest ab, der – wie am Dortmunder Marienaltar – einzelne Mustermotive stärker freistellt und deutlich erkennbar lässt. Das am Barfüßerretabel vielfältig variierte Grundmotiv einer Blüte mit Kränzen runder, gefiederter und spitzer Blätter (Grafik 14, 15, 21, 22620) weist uns wiederum auf die oben genannte Werkgruppe um die Kölner Meister des Gereonsaltars, des Laurenz- und des Veronika-Meisters. Das Schema der sich abwechselnden Blattkränze findet sich am Brokatgewand des Hl. Marcellinus auf der Kreuzigungstafel von um 1430 in Berlin in sehr verwandter Weise wieder (Abb. 190 b). Der fächerförmige Blütenkern mit den typischen Bändern mit eingestellten Kreisen wird hier gern farbig hervorgehoben, wie Stauffer 2002, S. 136-137. Lampas = Bindungsart. 618 KOCH 1993, S. 150f., sowie Vortrag Dr. Michael Peter, Abegg-Stiftung Riggisberg, „Die Stoffe der Bilder“, gehalten in den Staatlichen Museen Berlin, Gemäldegalerie am 16.04.2009. 619 Siehe Anhang Kap. 7.2, S. 314-342. 620 Anhang S. 328, 331, 338, 339. 616 617 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 3.4 Kontext: Brokatimitationen - 217 - zum Beispiel auf der brokatenen Dalmatik des Petrus Exorsista rechts neben Johannes auf derselben Tafel (Abb. 190 c). Es ist unstrittig, dass hier völlig verschiedene Maler am Werk waren. Am Gereonsaltar wie auch auf der Votivtafel der Familie Rost von Cassel wurde ein reicheres Musterrepertoire raffinierter verwendet. Die Einzelmotive des Brokatmusters sind viel stärker freigestellt und dadurch auffallender, dabei häufig im Rapport diagonal aufsteigend – wie im Gewand des Hl. Gereon auf dem Gereonsaltar – oder sie folgen der leichten Neigung des Körpers, wie bei der Hl. Barbara ganz links außen. Die grafischen Umzeichnungen, die Klesse für das Rostsche Retabel in Darmstadt liefert, verdeutlichen dies noch klarer.621 Klesse hat anhand einzelner Muster Traditionen aufzeigen können, die sowohl zum Gereonsaltar wie auch zu Stefan Lochner's Weltgerichtsaltar in Frankfurt führen. Hier findet sich ein Musterschatz, der zu verschiedenen weiteren Werkstätten ausstrahlte. Es wird verschieden diskutiert, wie streng Muster in einer Werkstatt gehütet und in welcher Form die Weitergabe erfolgte. Durch den Vergleich von Pressbrokatmustern und im genauen Kehrbild vorkommenden gemalten Brokatmustern im Werk von Stefan Lochner deutet Levine schon an, dass in der Tradition mittelalterlicher Werkstätten entscheidender gewesen sein mag, welches Musterbuch mit welchem Musterkanon als Regelwerk und „Markenzeichen“ der Werkstatt galt. Ungeachtet dessen verfolgt er im weiteren doch die These, dass die Model vererbt wurden, hier möglicherweise nach Stefan Lochners Tod 1451 an den sogenannten Meister des Heisterbacher Altars.622 Im Vergleich zu den Beispielen aus Köln erscheint das vom Barfüßer-Meister verwendete Musterrepertoire kleiner. Die Auswahl und Musteranlage fallen damit einheitlicher aus. Es deutet viel darauf hin, dass dem Barfüßer-Meister einzelne Mustervorlagen aus Köln zur Verfügung standen, die dann in der Barfüßer-Werkstatt weiterentwickelt und variiert wurden. 621 KLESSE 1960. LEVINE 1993, S. 145. Das wohl von einem Metall- oder Holzschneider geschnittene Model wäre während eines Zeitraums von ca. 30 Jahren weiter benutzt worden, von der Entstehungszeit von Lochners Dombild 1440 bis zu der der Anbetung der Hl. Drei Könige des Meisters der Verherrlichung Mariae. 622 Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext 3.5 Kontext: Zierbänder - 218 - 3.5 Bildfeldteilende Zierbänder Zierbänder, die mehrere gemalte Bildszenen auf einer Altartafel voneinander trennen, haben sich weit weniger im Original erhalten als die Tafelbilder selbst. Zersägt, gespalten und neu gerahmt, werden viele einzelne Bildfelder heute nebeneinander hängend museal präsentiert. Spätestens bei diesen, vielfach im 19. Jahrhundert durchgeführten Maßnahmen sind gemalte Bänder beschädigt und plastische Zierbänder verloren gegangen.623 Gerade die erhabenen, plastischen Musterbänder sind häufig aufgrund von Spannungen abgeplatzt und wurden in der Folge grundlegend überarbeitet. Ob zum Beispiel die nach dem Vorbild des Buxtehuder Altars (um 1400) von Meister Bertram in Pastiglia-Technik ergänzten Bänder auf dem Petrikirchenaltar (1379-1383) desselben Meisters, die kleine aufgenagelte Beschläge mit Edelsteineinlage nachahmen, ein Abbild des Originalbefundes wiedergeben, lässt sich möglicherweise gar nicht mehr ermitteln.624 Oder es widerfuhr den Auflagen ein Schicksal wie am Göttinger Barfüßerretabel, wo die erhabenen Bänder bei der Änderung des Bildprogramms durch Aufnageln von Leinwandbildern in barocker Zeit vollständig entfernt wurden. Die noch erhaltenen Beispiele sagen uns, dass solche Zierbänder gerade in der Zeit von ca. 1370 bis 1440 mit einem nicht wieder kehrenden Reichtum an Dekor, Materialien und Techniken gestaltet worden sind. Vorläufer gab es in den fein gestalteten Zierbändern auf romanischen Tafeln, wofür das Soester Antependium in der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin aus dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts ein herausragendes Beispiel darstellt (Abb. 199 a, b).625 Die Bildfeldteilungen entwickelten sich aus mehreren Traditionssträngen, darunter natürlich aus der plastischen Architekturgliederung, die durch Herausarbeiten der Bildfläche oder durch Aufsetzen von Holzgliederungen geschaffen wurde („integrierte Rahmen“). Hierfür seien stellvertretend zwei Beispiele genannt: Vgl. die Tafeln des Magdalenenretabels vom Barfüßer-Meister, Kap. 7.2, oder die 14 Tafeln vom geöffneten und geschlossenen Zustand des Peter- und Paul-Retabels aus St. Lamberti Hildesheim im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover. Hartwieg 2005, S. 281-287. 624 Buxtehuder Altar siehe unten Anm. 26; Hochaltarretabel von St. Petri Hamburg oder früher „Grabower Altar“ in der Hamburger Kusnthalle, mittlerer Zustand, Bänder teilen die vier Flügel in je 6 Bildfelder mit Szenen aus dem Alten Testament und aus der Kindheit Jesu. AUSST.KAT. HAMBURG 1999, Kat. Nr. 1, S. 101-111. 625 Siehe unten S. sowie Untersuchungsbericht vgl. Lisa Monner, Das Soester Kreuzigungsretabel – Technologie und Zustand. In: SOESTER ANTEPENDIUM WESTFALEN 2002, S. 118. 623 Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext - 3.5 Kontext: Zierbänder - 219 - Der kleine Dom, kölnisch ca. 1355, Bayerisches Nationalmuseum München: Das aus der Bildtafel herausgeschnitzte Rahmenprofil gliedert die vier Flügel im geöffneten Zustand in je zwei bzw. mit den Giebelfeldern drei Bildfelder mit bogenförmigem Abschluss.626 - Das Hochaltarretabel der St. Jakobskirche in Nürnberg, 1360-1385: Die heute vorhandene Architekturgliederung ist nicht original, orientiert sich aber am Vorzustand und bildet mit seinen Arkaturen den Rahmen für die Darstellung von einzelnen Aposteln und den Bildszenen der Verkündigung, Auferstehung und Marienkrönung. Die Untersuchungen von Eike Oellermann haben ergeben, dass die ursprünglichen Architekturelemente wohl für den Vergolder in den Kreidegrund vorgerissen und erst nach Abschluss der Malerarbeiten aufgedübelt wurden.627 Es ist ein nur kleiner und nicht zuletzt technisch folgerichtiger Schritt, wenn auf den Außen- und Sonntagsseiten solche Architekturgliederungen nur aufgemalt wurden. Wie sich der Wechsel vollzieht, deutet sich auf dem Estouteville Triptychon, nordwestdeutsch, Ende 14. Jahrhundert, aus der Courtauld Gallery London an. Auf der Festtagsseite ist die obere Spitzbogenarchitektur aus einer Eichenholztafel herausgearbeitet, während die Bögen, die die unteren Bildfelder abschließen, nur aufgemalt sind.628 Bei den überlieferten Werken im hier behandelten geografischen Raum des südlichen Niedersachsen ist es vor allem der Meister des Göttinger Jacobikirchenaltars, der die gemalte Architekturgliederung zu einem wichtigen Element seiner Retabelgestaltung gemacht hat. Im folgenden Überblick werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einige Beispiele aufgeführt. 626 Cornelia Ringer, Technologische Untersuchung des Kleinen Domes und deren Ergebnisse. In: Bayerisches Nationalmuseum (Hg.), Der Kleine Dom, Bildführer 18, München 1990, S. 46 627 Eike Oellermann, Vordokumentation Chorretabel St. Jakobskirche Nürnberg, unveröffentlichtes Manuskript, April 2000, sowie Rainer Kahsnitz, Der Hochaltar der St. Jakobskirche in Nürnberg, in: KROHM/KRÜGER/WENIGER 2001, S. 87ff. und Farbtafeln. 628 VILLERS/HEEMSTRA/REYNOLDS 1997, S. 669-670, Abb. 3. Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext 3.5 Kontext: Zierbänder - 220 - Gemalte Architekturrahmen Objekt Datierung Lokalisierung Beschreibung Hochaltarretabel der St. Jacobikirche in Göttingen 1402 Bildfeldteilungen auf der Außenseite und der ersten Wandlung Außenseite: rote Kehlung in der Art einer Sandsteinrahmung, Maßwerkmuster mit Vierpässen zwischen zwei Bildfeldern, das auf der Rahmenfassung fortgesetzt wird. Erste Wandlung: schwere Pfeilerarchitektur in Grau mit roten Decken in Untersicht und im Grundton ockerfarbigen Fliesenböden mit Vierpassmotiven in Draufsicht. 629 Fragmente eines Retabels aus der Göttinger St. Marienkirche, Meister des Göttinger Jacobikirchenaltars, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover630 1400-1410 Auf Außen- und Innenseite der Flügelfragmente außen und innen in Farbe (rosagrau) und Gestaltung ähnliche architektonische Gliederung, jedoch innen mit einem Bündel von drei Säulen Zehn-Gebote-Tafel, um 1410 Mitteltafel eines Triptychons, Meister des Göttinger Jacobikirchenaltars, Werkstatt, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover631 Triptychon mit der „Einhornjagd“, niedersächsisch-thüringisch, Dom St. Marien Erfurt632 um 1420 Rahmung und gekehlte, dadurch dreigeteilte GlieAufteilung der Tafel derungselemente, die senkrechten in sechs Bildfelder gedoppelt Auf dem rechten Innenflügel um die Bildfelder mit Auferstehung und Vorhölle aufgemalte schlichte Rahmenleiste mit aufgesetzten Steinen: Durch Andeutung einer Licht- und einer Schattenseite bei Lichteinfall von rechts oben wird illusionistisch eine erhabene Gliederung dargestellt und das waagerechte Band zugleich dreigeteilt Die Übergänge zu den einfachen Musterbändern sind von hier fließend, was das Passionsretabel von Meister Bertram im Landesmuseum in Hannover zeigt. Dessen mit Vierpässen besetzte rote Streifen zwischen den 16 Bildfeldern der Festtagsseite werden nur an einer Seite von einem dunklen Begleitstrich gesäumt, der nur noch vage an eine plastische Leiste bei einem Lichteinfall von rechts oben erinnert. Siehe Stephan KEMPERDICK, Die gemalte Architektur der zweiten Schauseite des Jacobikirchenaltars. In: CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005, S. 397-413 630 WM XXVII, 11/12, BEST.KAT. HANNOVER 1992, S. 112 ff. 631 WM XXVII, 2, BEST.KAT. HANNOVER 1992, S. 114 ff.. 632 Frank Matthias KAMMEL, Niedersachsen in Thüringen. Das Erfurter Einhornretabel und die thüringische Tafelmalterei der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in KROHM/ALBRECHT/WENIGER 2004, S. 143-158. 629 Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext 3.5 Kontext: Zierbänder - 221 - Die anderen Traditionsstränge, von denen sich die Zierbänder auf den Tafelbildern ableiten lassen, fußen in der Goldschmiedetechnik und in der Skulpturenfassung. Auf Reliquiaren und Buchdeckeln finden sich in Metall getriebene Zierelemente, die zu Musterbändern zusammengesetzt sind. Als Beispiel sei auf ein Lektionar aus St. Petri in Hamburg hingewiesen, das dem in Hamburg seit 1378 als Goldschmiedemeister tätigen Hinrik Lamspring zugeschrieben werden kann. Hier sind die Ränder mit ca. 7 x 3,7 cm großen vergoldeten Silberblechen besetzt, die herzförmige Muster mit eingeschriebenen Blättern zeigen (Abb. 200). In der Skulpturenfassung waren besonders im 14. Jahrhundert schmale gemalte oder plastisch aufgesetzte Borten weit verbreitet. Als Beispiel herausgegriffen sei die „Pietà Röttgen“, mittelrheinisch um 1350/60, im Rheinischen Landesmuseum in Bonn (Abb. 203), weil die motivisch sehr ähnlichen Zierbänder zwischen den Bildfeldern des Großen Friedberger Altars, um 1370 (Abb. 204), den nahen Austausch zwischen Tafelmalerei und Skulpturenfassung so offenkundig machen: Die quadratische Bildmotive säumenden Bänder – mit den Musterborten an der Fritzlarer Pietà nah verwandt – müssen aus äußerst fein geschnittenen Modeln vorfabriziert und aufgeklebt worden sein.633 Zwischen die Bildfelder gesetzte Schriftbänder – neben Architekturrahmen und Schmuckborte als drittes vorkommendes Motiv – sollen hier nicht weiter behandelt werden, haben sie doch mehr didaktische, als ästhetische Funktion. Als Beispiele sei erinnert an die Heiligenlegenden auf den Außenseiten des Magdalenenretabels vom „Barfüßer-Meister“ (Abb. 126), an die Inschriften auf dem Triptychon mit der Apokalypse von Meister Bertram und Werkstatt im Victoria & Albert-Museum London634, die die Bildszenen kommentieren, oder an das durch seine Inschriften „SCHRI.KUNST.SCHRI...“ so berühmte Magdalenenretabel von Lucas Moser. Für die Rekonstruktion der verlorenen Zierbänder am Göttinger Barfüßerretabel ist nicht nur der Vergleich nach Material und Herstellungstechnik, sondern auch hinsicht633 An der Fritzlarer Pietà ist entlang der Mantelsäume ein mit ca. 6 cm relativ breites, dreigeteiltes plastisches Band appliziert. Es besteht aus sechs quadratischen Bildmotiven, die oben und unten von gemusterten Bändern mit Vierpassornamentik gesäumt sind. Das größte aufgesetzte Stück besteht aus fünf Bildchen. Reinhold 2000, S. 35 und Abb. 5. 634 Inv. Nr. 5940-1859, im geöffneten Zustand 123,5 x 334 cm, außen einzeilige Schriftbänder, auf den Innenseiten zweizeilige Schriftbänder Weiß auf Rot; vgl. Lara Wilson, Master Bertram attr., The Apocalypse, Interim Report, unveröffentlichtes Manuskript Juli 2006 Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext 3.5 Kontext: Zierbänder - 222 - lich der Musterformen von Interesse, weil das Altarwerk dahingehend keine Anhaltspunkte liefert. Man kann sich lediglich an den dreigeteilten, roten und mit Vierpässen besetzten rahmenden Bändern auf der Predellenfront , oder an der Querleiste auf den Außenflügeln orientieren, die das Schriftband seitlich mit schwarzen Kehlen und aufschablonierten hellgelben Vierpässen begleiten. Tatsächlich war das Profil der äußeren Querleisten in verkleinertem Maßstab letztendlich vorbildgebend für die „Rekonstruktion“ goldener Deckleisten auf der inneren Schauseite (Abb. 3 und 11-13). Für die Fortschreibung einer „Technikgeschichte der Künste“ müssen hier aber die technologischen Gesichtspunkte im Vordergrund stehen. Die schmalen Zierbänder, die sich auf Retabeln der Zeit von 1370 bis 1440 aus Norddeutschland – damit aus einem geografisch weiter gefassten Raum – zur Unterteilung gemalter Bildfelder erhalten haben, lassen sich nach ihrer Herstellungstechnik in vier Gruppen einteilen: (A) aufgemalte oder schablonierte Musterbänder, (B) in Pastigliatechnik erhaben aufgesetzte Zierstreifen, (C) aus in Modeln vorfabrizierten und aufgeklebten Elementen zusammengesetzte Musterbänder und (D) Zierbänder aus Metallapplikationen. Die im Folgenden gegebene Zusammenstellung kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, auch weil zum Teil genauere Untersuchungen zur Herstellungstechnik noch fehlen. Auffällig ist jedoch, dass die meisten Bänder in ihrer Gestaltung eine Dreiteilung aufweisen. Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext 3.5 Kontext: Zierbänder - 223 - A. Aufgemaltes und/oder schabloniertes Musterband Objekt Datierung Lokalisierung Beschreibung Meister Bertram, Passionsaltar Niedersächsisches Landesmuseum Hannover 635 um 1390/1400 geöffneter Zustand Auf ca. 2 cm breiten roten Streifen aufschablonierte Vierpässe mit Metallauflage, unten bzw. links mit einer dunkelroten Schattenlinie begleitet, damit ein plastisches Band bzw. eine Leiste vorstellend Goldene Tafel aus Lüneburg, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover 636 um 1400 mittlerer Zustand feinteiliges Blüten- und Blattmotiv in Gold auf grünem oder silbernen (? heute schwarzen) Streifen schabloniert (?), mit goldenem Begleitstrich eingefasst Bielefelder Marienaltar, Berswordt-Meister, Pfarrkirche St. Maria und Georg Bielefeld 637 1400 Mitteltafel, zwischen dreigeteilte Bänder ohne Muster, den je sechs BildQuadrat auf den Kreuzungspunkten feldern rechts und links des mittleren Marienbildes Fröndenberg Altar, Werkstatt des Conrad von Soest638 Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster 1410-21 Zwischen den je vier Bildfeldern der Seitenflügel farbiges Band mit schablonierten, quadratischen Mustern (evtl. mit Blattmetallauflage). Barbara-Altar, Meister Francke, Nationalmuseum Helsinki 639 1410-1415 Als waagerechte Teilung der vier Bildfelder auf den Innenflügeln Folge wiederkehrender Doldenblüten mit Blattansatz (ähnlich der Zierbänder der Goldenen Tafel) zwischen Bändern mit gemalter Kordel (ähnlich der plastischen Kordeln am Wildunger Altar des Konrad von Soest). Warendorfer Altar, St. Laurentius Warendorf 640 um 1420 Festtagsseite mit je zwei Bildfeldern rechts und links der Kreuzigung Mittelband gemustert mit Flechtband und sich in regelmäßigen Abständen wiederholenden Blüten. Daruper Passionsretabel, dem Meister des Warendorfer Altars zugeschrieben, Pfarrkirche Darup 641 um 1418 Mitteltafel, Bildfeldteilungen zwischen je zwei Passionsszenen rechts und links und der Kreuzigung in der Mitte Band gedrittelt, in der Mitte geometrisch abstrahierte Kordel bzw. mäandrierendes Band (Warendorfer Altar), wohl ebenfalls mit sich regelmäßig wiederholenden Blüten, großteils verloren 635 Inv. Nr. PAM 922 a-c, BEST.KAT. HANNOVER 1992, S. 40 ff. BEST.KAT. Hannover 1992, S. 117 ff. sowie PATRIMONIA 2007, Abb. 34, 35 auf S. 54 f. 637 HERPERS 2001 und CORLEY 1996, S. 216ff., SW-Abb.157. 638 CORLEY 1996, SW-Abb.154, S. 210 639 AUSST.KAT. HAMBURG 1969, Tafel 5, 7. 640 CORLEY 1996, S. 220ff., SW-Abb. 161. 641 AUSST.KAT. HAMBURG 1969, Tafel 34. 636 Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext 3.5 Kontext: Zierbänder - 224 - Objekt Datierung Lokalisierung Beschreibung Peter- und Paul-Altar, St. Lamberti Hildesheim 642 um 1420 Geschlossener Zustand: Zwischen den je vier Bildfeldern der Flügel außen. ursprünglich ca. 25 mm breites rotes Band mit aufschablonierten weißen und goldenen Blümchen mit aufgemalten grünen Blättchen im regelmäßigen Rhythmus, dazwischen orangene Ranken; die regelmäßige Segmentierung überwiegt die Dreiteilung (Abb. 170) Olaf-Schrein, Nikolaikirche Stralsund (1945 zersört) 643 um 1420 Linkes Flügelfragment, Innenseite, waagerechte Bänder zwischen den Bildszenen aufschablonierte „Fleur-de-lys“, auf rotem Band Isselhorster Altar, Westfälisches Landesmuseum Münster 644 um 1425 Mitteltafel, Teilung rotes Band mit einem Flechtband in zwischen Kreuzigung der Mitte, versilbert und vergoldet. und je zwei seitlichen Passionsszenen Doppelflügelretabel in Malchin, Norddeutscher Meister, Pfarrkirche Malchin 645 um 1430 Bildfeldteilungen auf dem mittleren Zustand (Sonntagsseite) rotes dreigeteiltes Band mit innen aufschabloniertem Rankenmuster, zusätzlich begleitet von Licht- und Schattenkanten (Licht von links oben) auf den Außenseiten der inneren Flügel je vier Szenen aus dem Marienleben und aus der Passion Christi durch Musterbänder geteilt relativ breites gemaltes Band mit Metallauflage, Rankenornament im Wechsel mit Vierpaß in einem auf der Spitze stehenden Quadrat, von glatten Streifen begleitet. 1 Hälfte 15. Geöffneter Zustand, Jahrhundert auf den Flügeln waagerechte Teilung, auf der Mitteltafel auch senkrecht fünfblättrige Blume in regelmäßigem Wechsel mit Rankenabschnitt aufschabloniert auf rotem Band, unterhalb erklärender Schriftbändern. Sog. Neustädter Altar, 1435, Lübischer Meister, bezeichnet (datiert) Ghotfrid Stenbeken, Coronatio-Altar aus der Kirche St. Jakobi zu Lübeck, Staatliches Museum Schwerin 646 Flügelretabel aus Lye, Stockhom Historiska Museet 647 HARTWIEG 2005, S. 285ff., Abb. 5. Durch das Zersägen der Flügel sind die Bänder weitgehend zerstört, erhalten ist nur ein Fragment auf der Tafel mit dem „Abschied des Saulus vor dem Hohen Rat“, Clemens Sels-Museum Neuss. Der Farbaufbau ist: zweischichtiges Rot (Farblack auf hellrotem Grund), pastoser weißer und grüner und oranger Farbauftrag, evtl. Verwendung von Zwischgold. 643 Historisches Foto in VOSS 2004, S. 80, Abb. 18. 644 Inv. 7LM, in der Ausstellung von der Autorin in Augenschein genommen. 645 AUSST.KAT. HAMBURG 1969, Seite 38. 646 ursprünglich Retabel mit doppeltem Flügelpaar, die Außenflügel heute verloren, Staatliches Museum Schwerin Inv. Nr. G 288 und Pl. 75, BEST.KAT. SCHWERIN 1979, S. 21,Kat. Nr. 20, Abb. 12, S. 58. 647 TÅNGEBERG 1989, s. 274, Abb. 217. 642 Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext 3.5 Kontext: Zierbänder - 225 - B. Erhabenes Musterband in Pastiglia-Technik Objekt Datierung Lokalisierung Beschreibung Kreuzaltar, Klosterkirche Doberan 1368 bemalte Flügel, Außenseite (stark fragmentiert) Edelsteinimitationen, Noppen und eingefasste Ovale (Carbochon) Abb. 202 648 Buxtehuder Altar, Meister Bertram, Hamburger Kunsthalle 649 um 1400 geöffneter Zustand Zierbänder teilen die Flügel in vier, die Mitteltafel in acht Bildfelder Noppen, gefasste Ovale (Edelsteinimitationen) und Schnörkel im Wechsel, Gold mit farbigem Lüster, genaue Untersuchung liegt nicht vor Niederwildunger Altar, Conrad von Soest, Evang.Kirche Bad Wildungen 1403 innerer Zustand blaues Band mit Blumen und quadratischen Mustern im Wechsel, begleitet von plastischer Kordel in Pastiglia mit Metallauflage Peter- und Paul-Altar, St. Lamberti Hildesheim und als Leihgabe im Landesmuseum Hannover um 1420 geöffneter Zustand, Mitteltafel separat gefertigte Gewebestreifen, grundiert, mit Pastiglia besetzt und auf orangem Bolus vergoldet, anschliessend in eine Grundierungsmasse als Klebemittel aufgesetzt. Flechtband, auf deren Kreuzungspunkten Kreise sitzen, dazwischen Vierpass aus erhabenen kleinen Punkten (Abb. 176, 177).651 Tempziner Altar, Wismarer Werkstatt, Staatliches Museum Schwerin/Güstrow (Abb. 205 a, b)652 1411 innerer Zustand und Edelsteinimitationen (Carbochon) in an den Predellentüren Pastiglia zwischen Pressmusterapplikationen (siehe auch C. und Abb. 205 c) 650 648 HARNISCH 1989, Abb. 8., siehe auch VOSS 2008, S. 72, Farbabb. Dauerleihgabe der Gemeinde St. Petri Buxtehude, AUSST.KAT. HAMBURG 1999, Kat. Nr. 4, S. 124-127. 650 CORLEY 1996, Farbabb. III, XVI (S. 96f.), SW-Abb.11, 135, 136 sowie REINHOLD 1998. 651 HAMM 2000, Abb. 83 und 101. Die Pastiglia-Masse besteht aus Kreide und tierischem Leim, ebendort Anlage 5, Kap. 3.2.1, Protokolle 1 und 2, Kap. 3.2.3 Protokolle 10-12. 652 BEST.KAT. SCHWERIN 1979, S., Kat. Nr. 14, Abb. 7, S. sowie HARNISCH 1989, S. 4ff., Abb. 10 und Bemerkungen zum Malschichtaufbau. 649 Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext 3.5 Kontext: Zierbänder - 226 - C. Erhabenes Musterband aus in Modeln geprägten, applizierten Elementen („Pressmusterapplikation“) Objekt Datierung Lokalisierung Beschreibung Großer Friedberger Altar, Hessisches Landesmuseum Darmstadt um 1370 innerer Zustand plastische Streifen mit dreigeteiltem Musterband, bestehend aus 9 cm langen und ca. 3 cm breiten Einzelelementen mit Innenstreifen aus Rauten und Kreisen im Wechsel, darin Adler und Pelikan, Noppen und Vierpässe in den äußeren Bändern (Abb. 204), außerdem Einzelmotive, Blüten und Quadrate, auf den Rahmen: Alle Applikationen aus Kreidemasse, teilweise blasig gegossen, Klebemittelschicht Kreide mit etwas Gips (wie Grundierung).653 Netzer Altar, westfälisch, Zisterzienserinnenkloster Marienthal 654 um 1370 innerer Zustand aufgeklebte, quadratische Vierpassmuster (nicht untersucht) Retabel aus Osnabrück, westfälisch, Wallraf-Richartz- Museum Köln, WRM 350 655 um 1380 innerer Zustand, Zierbänder teilen die Flügel in vier, die Mitteltafel in fünf Bildfelder ganz ähnlich wie Netzer Altar: quadratische Vierpassmuster Hochaltarretabel Arendsee, Klosterkirche um 1370/1380 innerer Zustand: Je vier Darstellungen auf den Flügeln werden durch horizontale u. vertikale Zierleisten unterteilt kurze, aneinander gesetzte Abschnitte in Modeln gepresst. Jeder Abschnitt zeigt zwei Sonnenräder, die ein Kreisornament mit Kleeblättern einschließen. Es ist eine vermutlich leimgebundene Masse, vergoldet und partiell rot und grün gelüstert (Abb. 206 a, b).656 Tempziner Altar, Wismarer Werkstatt, Staatliches Museum Schwerin/Güstrow (Abb. 205 a, b) 657 1411 innerer Zustand und zwei Rechtecke mit innenliegenden an den Rauten aus einem gemeinsamen Model Predellentüren gepresst, mal schmaler, mal breiter beschnitten, im Wechsel mit Edelsteinimitationen in Pastiglia (siehe oben B. und Abb. 205 c) Mühlenaltar, Bad Doberan 1410/20 innerer Zustand, plastisches Zierband aus horizontale Teilung aneinandergesetzten langen Rechtecken, der Seitenflügel in stark zerstört, Pressmuster (Pastiglia?).658 zwei Bildfelder Schoenberg 1999, S. 30, 31; GAST 1998, Abb. 15, 17, 18, GAST 1998, Abb. 32. 655 BEST.KAT. KÖLN 1990 sowie FRINTA 1977. 656 VOSS 1996, S. 50, Abb. 14-15 und Lambacher 1996, HARNISCH 1989, Abb. 9. 657 wie Anm. 652. 658 HARNISCH 1989, S. 4ff., Abb. 1. 653 654 Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext 3.5 Kontext: Zierbänder - 227 - Objekt Datierung Lokalisierung Beschreibung Flügelaltar in Järstad Schweden 1410-20 Auf den Seitenflügeln waagerechte Teilung durch Zierbänder Folge von Rechtecken mit innenliegender Raute. Die Borten setzen sich „aus in einem Model geprägten, 21,5 x 51 mm grossen Einzelstücken zusammen. Jedes Stück besteht aus zwei einander gleichen, aus Perlenlinien gebildeten Rektangeln, in die jeweils eine Raute eingeschrieben ist. Die Stücke sind auf die Grundierung geklebt und mattvergoldet.“659 Altarflügel, Meister von St. Laurenz, kölnisch, Wallraf-Richartz-Museum Köln, WRM 737 660 um 1420 Flügelinnenseite, Zierband teilt die Flügeltafel in vier Bildfelder dreigeteiltes rotes Band, innen flach mit schablonierten, vergoldeten Blüten, äußere Ränder und Rosetten erhaben, Rosetten auf Kreuzungspunkt und in regelmäßigen Abständen gesetzt. Altar der Zirkelbruderschaft, St. Annen-Museum Lübeck, Inv. Nr. 126/312 661 um 1430 Zierband teilt die dreigeteiltes Band, innen flach, außen Seitenflügel in vier erhaben, mit Rosetten in regelmäßigen Bildfelder Abständen, Gestaltung sehr ähnlich wie beim Meister von St. Laurenz, aber ohne schabloniertem Binnenmuster D. Musterband aus Metallapplikationen Objekt Datierung Lokalisierung Beschreibung Göttinger BarfüßerAltar, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover 1424 Festtagsseite, auf Mitteltafel und Flügel Auf der Mitteltafel winziger Rest eines Kupferplättchens, zu rekonstruieren sind mit jeweils 4 Messingnägeln aufgenagelte Metallplättchen von 77 bis 80 mm Länge, zwischen den Bildfeldern rechts und links der Kreuzigung waagerecht ehemals Elemente von 55 mm Länge, vergoldet und vermutlich farbig abgesetzt, Reste eines roten Begleitstrichs an der Kreuzigung rechts unten erkennbar (Abb. 107, 110) 662 Neustädter Retabel, um 1425/30 Das Zierband teilt Flügelfragmente aus Stadtden linken Flügel kirche in Neustadt/Holin vier Felder stein, niedersächsischer in Lübeck tätiger Maler, Schleswig, Schloss Gottorf kleine Metallreste und einige paarig gesetzte Nägel auf glattem roten Grund erhalten, die Nagelpunkte ergeben einen Rapport von 142 bis 145 mm Länge. Metall bisher nicht analysiert. Die ursprüngliche Form kaum erkennbar, wohl durchbrochen. (Abb. 130 a-d).663 TÅNGEBERG 1989, Abb. 195b, S. 252. AUSST.KAT. KÖLN 1993, S. 302f.. 661 ALBRECHT/ROSENFELD/SAUMWEBER 2005, Kat. Nr. 27, Abb. 27.1, S. 124. 662 Siehe oben Kap. 2.5.5, S. 152ff. 663 Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf, Inv. Nr. 1935/2534a-b. Die Malereien werden in Abhängigkeit vom „Meister des Göttinger Barfüsser-Altars“ gesetzt, in: BEST.KAT. SCHLESWIG 1994, S. 137f. Dr. Bernd Bünsche beschreibt das Erscheinungsbild wie folgt: Beidseitig je zwei kleine Wulsten umschließen „ein durchbrochenes Ornament, welches oben und unten nur von einer (?) Wulst begrenzt scheint“ (Brief an die Autorin vom 28.10.2004). Ihm ist für Beobachtungen und Herstellung der Detailaufnahmen herzlich zu danken. 659 660 Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext 3.5 Kontext: Zierbänder - 228 - Auswertung Folgende Schlussfolgerungen lassen sich aus diesem Überblick ziehen: - Die einzelnen Beschreibungen zeigen schon, dass die hier gewählten Gruppierungen nicht immer klar von einander zu trennen sind. Es gibt Mischformen, bei denen z.B. schablonierte Muster mit erhabenen Applikationen (z.B. Meister von St. Laurenz) oder ein Pastiglia-Auftrag mit „Stuck-Applikationen“ (z.B. Tempziner Retabel) kombiniert sind. In einigen Fällen ist durch eine genauere technologische Untersuchung noch zu überprüfen, wieweit applizierte Muster mit Pastiglialinien nachgearbeitet wurden. - Viele bisher als Pastiglia-Auflagen gesehene Musterbänder erwiesen sich als vorfabrizierte und später applizierte Auflagen, wobei die Herstellungstechnik in einigen Fällen noch genauer nachzuweisen und zu differenzieren ist. Zu klären wäre hier vor allem, wo die Füllmasse – wie beim Großen Friedberger Altar belegt – direkt in das Model gedrückt und wo eine Zinnfolie als Zwischenlage gewählt wurde. - Einige technische und gestalterische Verwandtschaften, die aus dem Vergleich dieses technischen Details offenkundig werden, bieten Ansätze für die weitergehende kunsthistorische Forschung. Vor allem geben die technologischen Befunde vom Peter-und-PaulAltar aus St. Lamberti – sowohl zu den Zierbändern, wie auch zu Retabelkonstruktion und Brokatmustern – Anlass, über eine frühere Datierung und über die künstlerischen Einflüsse neu nachzudenken. - Die hier aufgeführten Musterbänder sind sehr schmal. Auf eine Gruppe vor allem lübischer Retabel, an denen sich sehr breite Streifen waagerecht zwischen übereinander angeordneten Bildfeldern finden, wird hier nicht weiter eingegangen. Pastiglia-Auflagen und Musterapplikationen aus dieser Zeit sind nicht zu denken ohne den Blick auf die böhmische Malerei des Meister Theoderich. Auf der Burg Karlstein kommen um 1360 auf Wand- und Tafelmalerei (1) „traditionelle“ Pastigliamuster, (2) „stamped pastiglia“, d.h. in die aufgetragene Pastigliamasse mit Stempeln eingedrückte Muster, (3) in Modeln vorfabrizierte Elemente aus Zinnfolie und kreide- oder quarzhaltiger Füllmasse und (4) massive, gegossene und aufgenagelte Metallelemente neben- Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext 3.5 Kontext: Zierbänder - 229 - einander vor (Abb. 208, 209).664 Sie wurden nicht nur in rahmenden Musterbändern, sondern in vollflächiger Applikation in enormer Vielfalt angewandt. In der technologischen Literatur herrscht zu den oben zusammengefassten Gruppen große terminologische Unklarheit. Für die unter (2) beschriebene Technik des Meisters Theoderich gibt es im Deutschen zum Beispiel keinen Begriff, im Englischen wird „stamped pastiglia“ oder „stamped relief“ verwendet. In der technologischen Forschung in Deutschland lag der Schwerpunkt der Studien bisher besonders bei den sogenannten Pressbrokaten bzw. Pressbrokatapplikationen. Als frühestes Beispiel für dieses Verfahren wurde wiederholt auf die Hintergrundgestaltung des Tafelfragments mit dem Schlechten Schächer von Robert Campin im Städel in Frankfurt verwiesen. Noch 1993 setzt Levine das Aufkommen der Pressbrokattechnik an den Anfang des 15. Jahrhunderts mit Verweis auf den Fund von Pressbrokatauflagen am Kreuzigungstriptychon aus dem Wallraf-Richartz-Museum, das heute auf 1425/30 datiert wird.665 Durch die enge Fokussierung auf die Pressbrokattechnik geriet aus dem Blickfeld, aus welchem Traditionszusammenhang sich diese Technik entwickelt hat. Nadolny hat in ihrer umfassenden Dissertation „The techniques and use of gilded relief decoration by northern European painters, c. 1200-1500“ diese Traditionen aufgezeichnet und mit umfangreichen Befund- und Quellenmaterial untermauert.666 Für den englischen Sprachgebrauch unterscheidet sie zwischen den großen Gruppen pastiglia und cast relief, wobei sie letzteres als Überbegriff für (1) simple cast relief, wie beim Großen Friedberger Altar, und (2) tin relief, mit der Sonderform der tin relief textiles oder tin relief brocades für deutsch Pressbrokat definiert. Sie empfiehlt von dem etablierten Begriff des Pressbrokat ganz Abstand zu nehmen, weil die Masse nicht unbedingt eingedrückt, sondern eher ausgegossen wurde. Die englische Begriffsbezeichnung verdeutlicht aber den Unterschied zwischen dem Gebrauch von Zinnfolie und massivem Zinn nicht, das – wie unten noch zu zeigen sein wird – ebenfalls für plastische Applikationen verwendet wurde. Moijmír Hamsík, Master Theodoric – Technique (historical connotations) sowie Hana Blochová, The medieval art techniques of the painted decoration of Karlštejn, in: FAJT 1998, S. 506 und 536, FRINTA 1976. 665 Triptychon (WRM 55), Daniel Levine, Stefan Lochner und Preßbrokat. In: AUSST.KAT. KÖLN 1993, S. 143. 666 NADOLNY 2001. 664 Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext 3.5 Kontext: Zierbänder - 230 - Für die uns interessierenden, unter C. aufgelisteten Musterapplikationen führte Voss anlässlich seiner am Retabel in Arendsee gemachten Beobachtungen – in konsequenter Ableitung aus den Pressbrokaten – ergänzend den Begriff der Pressmuster ein. Da dieser technisch zwischen auf der Tafel gestempelten und vorfabrizierten Elementen nicht unterscheidet, ist der Begriff der Pressmusterapplikation für die in Modeln vorfabrizierten und aufgeklebten Elemente vorzuziehen. Ohne Zinnfolie hergestellte Elemente hatten beim Eindrücken in das Model sicher eine dickere, knetbare Konsistenz, womit der Begriff des „Pressens“ hier genau zutrifft. Pressmusterapplikation soll hier als Überbegriff verstanden werden, der Einsatz einer Zinnfolie als Sonderform dieser Technik. Metallapplikationen aus anderem Zusammenhang Die Vergleichslage zu bildfeldteilenden Zierbändern aus Metallapplikationen ist dünn. Deshalb müssen Metallapplikationen aus anderen Anwendungen zum Vergleich hinzugezogen werden, will man eine Vorstellung bekommen, wie die Metallbeschläge am Barfüßerretabel ausgesehen haben mögen. Bei weitem überwiegen Applikationen aus Weichmetall, besonders Blei-Zinn-Legierungen. Sie ließen sich leicht verarbeiten und wurden als Pilgerzeichen in großer Zahl hergestellt.667 Reine Kupferauflagen aber kommen eigentlich nur als großflächigerer Blechbeschlag vor: Emmenegger weist auf Metallapplikationen auf Wandmalerei hin, von denen nur noch wenige erhalten sind.668 Auf den Wandmalereien in der Kirche von St. Georg in Oberzell auf der Insel Reichenau, vor 1000, fanden sich Kupfernägel und Reste eines vergoldeten Kupferbleches, wohl mit Feuervergoldung, an den Nimben.669 Auch an einer Muttergottes aus Münster von 1470/80 handelt es sich um einen feuervergoldeten Kupferblechbeschlag, mit dem der gesamte Rock und die Borten von Mantel und Untergewand belegt sind.670 Ziernägel und Rosetten sind auf Skulpturenfassungen nicht selten, dazu kann man auch die originalen Rosetten aus Blei in der blauen Rahmenkehle von Meister Francke's 667 Hartmut Kühne (Hg.), Das Zeichen am Hut, Europäische Reisemarkierungen. Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum, Berlin 2006. 668 Oskar Emmenegger, Metallauflagen und Applikationen an Wandmalereien, Teil 1. In: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 3/1989, S. 152. 669 Helmut F. Reichwald, Die ottonischen Monumentalmalereien an den Hochschiffwänden in der St. Georgskirche Oberzell auf der Insel Reichenau. 670 DIETZEL 1997, S. 23. Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext 3.5 Kontext: Zierbänder - 231 - Christus als Schmerzensmann, um 1415/25, in Leipzig zählen.671 Hier interessieren aber vielmehr die flachen eckigen Metallbeschläge. Durchbrochene Metallapplikationen haben sich auf dem Triumphkruzifix in Öja, Gotland, aus dem 12. Jahrhundert erhalten. Tångeberg beschreibt sie der Anschauung nach als Arbeiten aus Zinn, Blei oder einer Legierung aus beiden Weichmetallen. Auf dem Kreuzbalken selbst sind 6 x 6 cm große Plättchen nebeneinander aufgenagelt.672 Die oben bereits erwähnten Metallapplikationen auf dem Hintergrund der Tafel mit dem Hl. Simon von Meister Theoderich sind ebenfalls durchbrochen und bestehen aus gegossenem, reinen Zinn (Abb. 208 a).673 Einer Gruppe von Altarwerken aus dem nordostdeutschen Raum mit aufwendiger Rahmenfassung mit durchbrochenen Metallapplikationen aus gegossenem Zinn hat sich Lauth intensiver gewidmet.674 In dem ca. 100 km von Göttingen entfernt, am nördlichen Harzrand gelegenen Wernigerode gibt es gleich zwei Beispiele dieser Art: das Hochaltarretabel aus St. Johannes, um 1420/25, und jenes aus St. Theobaldi, um 1425/30. Beide zeigen relativ große eckige Beschläge auf breiten Rahmenschenkeln und ebenso gestalteten breiten, waagerechten Bildfeldteilungen.675 Von der Gestaltung her haben sie nicht viel mit den schmalen Zierbändern auf dem Barfüßerretabel zu tun. Als Schmuck auf dem Rahmen wurden am bereits 1340 zu datierenden Warendorp-Altar im St. Annenmuseum in Lübeck Spuren von Metallapplikationen festgestellt, die auf dem vertieften Spiegel der 6 cm breiten Rahmen der inneren Schauseite aufgebracht waren. Im Bestandskatalog heißt es dazu: „Im Rot der Erstfassung kleine Metallnägel und Nagelspuren paarweise im Abstand von ca. 10 cm... möglicherweise hielten diese Nägel ehemals durchbrochene, aus Weichmetall gegossene Plättchen“. 676 Allen diesen Befunden gemein ist die durchbrochene Gestaltung, die einen farbig gefassten Grund voraussetzt. Dieser liegt am Barfüßerretabel aber nicht vor, die Applikationen auf der Festtagsseite des Retabels müssen die Streifen komplett abgedeckt haben. Denkbar wäre, dass – eventuell nur auf der Mitteltafel – Kupferblechbeschläge DIETZEL 1997, S. 22. Die Autorin konnte im Rahmen ihrer Diplomarbeit Applikationen in Form eines stilisierten Adlers in reinem Silber auf der Madonnenfigur aus Wienhausen um 1300 nachweisen, HARTWIEG 1988. 672 TÅNGEBERG 1986, S. 50-51, Abb. 40. 673 „massive cast tin appliqués...attached by means of small iron nails“, an anderer Stelle jedoch“ silver nails“ in: FAJT 1998, S. 519 und 507. 674 LAUTH 1997. 675 Ebenda S. 30f., Abb. 3-5. 676 Flügelretabel mit der Tugendenkreuzigung, für eine Langhauskapelle im Lübecker Dom geschaffen, St. Annenmuseum, Lübeck, ALBRECHT/ROSENFELD/SAUMWEBER 2005, S. 52. 671 Hartwieg – Göttinger Barfüßer-Retabel im Kontext 3.5 Kontext: Zierbänder - 232 - verwendet wurden, die für andere Zwecke von den Goldschmieden zu beziehen waren, wie zum Beispiel die oben bereits erwähnten Buchdeckelbeschläge (Abb. 200) – immerhin hatte das Barfüßerkloster ein Skriptorium – oder metallene Brakteaten, die am Anfang des 15. Jahrhunderts gern als Textilbesätze auf kostbare Gewänder und Marienkleidchen aufgenäht wurden (Abb. 201). Als Hintergrund für die Frage, welche Bezugsmöglichkeiten der Meister hatte, ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Braunschweig als Hauptsitz der Welfen in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein Zentrum des Kupfermarktes war, von dem aus Lübeck und auch Köln beliefert wurden.677 677 Zwischen 1384 und 1483 gehörten der Gilde in Braunschweig 361 Beckenschläger an, größere Lieferung nach Lübeck sind aus dem Jahr 1467 belegt. Ekkehard Westermann, Das Eislebener Garkupfer und seine Bedeutung für den europäsischen Kupfermarkt 1460-1560, Köln 1971, S. 37. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 233 - 4. Werke und Werkstatt des Barfüßer-Meisters Ausgehend vom Göttinger Barfüßer-Altar hat Behrens erstmals den Namen „Göttinger Barfüßer-Meister“ geprägt und diesem die getrennten und über Deutschland verstreuten Tafeln des Magdalenenaltars sowie den von ihm sogenannten „Kindheit Christi“-Altar in Offensen zugeordnet.678 Im Folgenden wird letzterer – wie unten ausführlicher begründet – zutreffender als „Drei-Königs-Retabel“ bezeichnet. Behrens sieht im Offensener Retabel erstmals den zunehmenden Einfluss der Kunst von Conrad von Soest auf den Barfüßer-Meister, während das Magdalenenretabel in seiner Formensprache noch ganz dem Stil des Meister Bertram verhaftet sei. Daraus leitet sich für ihn die Chronologie ab, in der die überlieferten Werke des Barfüßer-Meisters zu sehen seien: ~1416 Magdalenenretabel, ~1418-1422 Drei-Königs-Retabel, 1424 Göttinger Barfüßerretabel. Stange dagegen hält die Magdalenentafeln für „Werkstattarbeiten“ des Barfüßer-Meister.679 Aus stilkritischen Erwägungen stellte Deiters die Handschrift eines einzigen Meisters jüngst in Frage. Sie sieht Teile des Magdalenenretabels und die Passionszenen auf der Mitteltafel des Göttinger Barfüßeraltars als das Werk eines Meisters, von dem sich die Malerei auf den Flügeln der Festtagsseite deutlich absetze. Auf der Sonntagsseite des Göttinger Altars könne man diese Unterscheidung aber nicht fortführen. Die „lyrischeren“ Flügelbilder des Drei-Königs-Retabels seien – so Deiters – der Tafel mit der Himmelfahrt der Magdalena in Münster am nächsten verwandt.680 Diese Beobachtungen führen zu der Frage nach der Eigenständigkeit der an diesen Altaraufträgen beteiligten Maler und nach der Größe der Werkstatt des BarfüßerMeisters. Darüber hinaus ist die Frage zu stellen, welche anderen Arbeiten und Kunstgattungen in der Werkstatt des Meisters entstanden. Naheliegend sind Bildhauerei und Faßmalerei. Im Mittelschrein des Offensener Retabels ist die geschnitzte „Anbetung der Könige“ erhalten, für das Magdalenenretabel eine Skulpturengruppe im Innern wahrscheinlich. Von der Osten schlug vor, die auf um 1420 datierte, vollständig vergoldete weibliche 678 BEHRENS 1961 und 1965. STANGE 1938, Bd. 3, S. 188-189. 680 Maria Deiters, Vortrag gehalten am 30.09.2006 beim Kolloquium zum Göttinger Barfüßerretabel, s.o. Kap. 1.4, Anm. 22. 679 4. Barfüßer-Werkstatt - 234 - Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext Reliquienbüste im Besitz des Niedersächsischen Landesmuseums Hannover ebenfalls der Barfüßer-Werkstatt zuzuweisen.681 Die genannten Werke werden im Folgenden vorgestellt und die Zuschreibungen mit dem kunsttechnologischen Ansatz überprüft. Einbezogen wird ein weiteres Werk, die Gedächtnistafel für Heinrich den Löwen, Otto IV. und ihre Gemahlinnen im Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig. Technologische Kriterien erlauben, dieses Tafelgemälde von eher historischer als kunsthistorischer Bedeutung hier erstmals dem Barfüßer-Meister neu zuzuschreiben. 4.1 Das Magdalenenretabel aus Hildesheim682 Triptychon, Mittelschrein oder -tafel nicht erhalten, zwei Flügel, beidseitig mit je zwei Bildszenen bemalt, heute voneinander getrennt: Maße, Titel und Eigentum: Außenseite, linker Flügel: oben: Anbetung der Könige, Privatbesitz Schloss Wocklum Eichenholztafel H. 67 cm B. 79 cm T. ca. 5 mm unten: Drei stehende Heilige, Privatbesitz Schloss Wocklum Eichenholztafel H. 65,8 cm B. 79 cm T. ca. 3 mm Außenseite, rechter Flügel Sechs männliche Heilige, Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr. 370 Eichenholztafel 681 H. 133,3 (re.)-133,6 (lks.) cm B. 78,5 cm T. 3-6 mm BEST.KAT. HANNOVER 1957, S. 84. Diese Zusammenfassung beruht auf der ersten ausführlicheren Würdigung von Behrens (BEHRENS 1961), den Bestandskatalogen aus Hamburg, Münster und Stuttgart (BEST.KAT. HAMBURG 1966, S. 99f., BEST.KAT. MÜNSTER 1986, S. 431ff., BEST.KAT. STUTTGART 1992, S. 218f.), der Behandlung der Inschriften durch Christine Wulf (WULF 2003), im technologischen Teil wesentlich auf den Untersuchungen der Autorin im November 2000 in Stuttgart, am 13.07.2001 in Hamburg, am 9.09.2006 in Balve-Wocklum, sowie den Untersuchungen zur Münsteraner Tafel durch Iris Herpers und Prof. Dr. Elisabeth Jägers, die der Autorin freundlicherweise zur Verfügung standen. Die neuesten Erkenntnisse zur Provenienz erarbeitete Petra Marx für den Kolloquiumsband zum Göttinger Barfüßerretabel unter dem Titel „Das Magdalenenretabel aus dem Hildesheimer Reuerinnenkloster. Überlegungen zu seiner Herkunft anhand von Bildprogramm, Entstehungskontext und Sammlungsgeschichte“; das Manuskript konnte die Autorin freundlicherweise einsehen. 682 4. Barfüßer-Werkstatt - 235 - Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext Innenseite, linker Flügel oben: Auferweckung des Lazarus, Privatbesitz Schloss Wocklum Eichenholztafel H. 67 cm B. 79 cm T. ca. 5 mm unten: Gastmahl im Hause Simons, Privatbesitz Schloss Wocklum Eichenholztafel H. 65,6 cm B. 79,2 cm T. ca. 5 mm Innenseite, rechter Flügel oben: Himmelfahrt der Hl. Magdalena, Westf. Landesmuseum Münster, Inv.Nr. 856 LM Eichenholztafel H. 67 cm B. 79,5 cm T. ca. 8 mm unten: Noli me tangere, Staatsgalerie Stuttgart, Inv. Nr. L24 Eichenholztafel H. 66,4 (re.)-66,7 (lks.) cm Gesamt mit 10 cm Rahmen im geöffneten Zustand B. 77,4 cm H. ca. 152 cm B. ca. 394 cm Beschreibung und Rekonstruktion des Retabels Die voneinander getrennten Teile eines einfach wandelbaren Magdalenenretabels – heute in den Museen in Stuttgart, Münster und Hamburg sowie in Privatbesitz – zeigten in ihrem ursprünglichen Zustand in zwei Registern außen links oben die Anbetung der Könige (Abb. 111) sowie unten und auf dem rechten Flügel insgesamt neun stehende Heilige, darunter als einzige weibliche Heilige links unten Maria Magdalena, die die Reihe der stehenden Heiligen quasi anführt (Abb. 112). Die männlichen Heiligen sind links unten Augustinus und Levinus, rechts oben Paulus, Petrus und Johannes sowie unten Hermagoras, Godehard und Bernward (Abb. 113). Auf einem roten Band zwischen den oberen und unteren Bildfeldern waren die unten dargestellten Heiligen ursprünglich mit weißen gotischen Minuskeln zwischen schwarzen Vierpassmustern bezeichnet. Auf dem rechten Flügel ist dies gut erkennbar (Abb. 113), auf den beiden Tafeln vom linken Flügel sind Reste dieses Schriftbandes noch an den Kanten erhalten (Abb. 126). Wahrscheinlich sind ebensolche Beschriftungen analog auf einer Fase des oberen Rahmenschenkels über den beiden oberen Bildfeldern ergänzt zu denken. Eine rote Rahmenfassung liegt auf der Außenseite nahe. Auf den reicher gestalteten Flügelinnenseiten sind vor Goldhintergrund links oben die Auferweckung des Lazarus sowie seine Schwestern Martha und Maria Magdalena mit weiteren Schaulustigen dargestellt, letztere vor Christus kniend und seine Füße Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 236 - trocknend (Abb. 114), darunter das Gastmahl im Haus des Pharisäers Simon (Abb. 115). Hier wird Christus vom gastgebenden Ehepaar und acht Aposteln umringt. In auffälliger Parallelität besetzt Maria Magdalena im kostbaren Brokatkleid und roten Mantel auf Knien auch in diesem unteren Bildfeld, hier von links und nicht von rechts herankriechend, die vordere Bildmitte und trocknet mit ihren Haaren die zuvor gesalbten Füße Christi. Beide Szenen sind auf einer vorderen Bildebene von Figuren dicht gefüllt und zeigen wenig Raum. Auf dem rechten Flügel folgt rechts unten die Noli me tangere-Szene mit der Erscheinung der Maria Magdalena vor dem auferstandenen Christus (Abb. 117) sowie oben die von einem Einsiedler als Zuschauer verfolgte Auffahrt der Maria Magdalena, getragen von sieben Engeln (Abb. 116). Hier lässt die Gegenüberstellung von nur je zwei Figuren Raum zur Ausschmückung der Szenen mit einer Vielzahl botanisch bestimmbarer Pflanzen (Rittersporn, Männertreu, Akelei, Lilie, Erdbeere, Osterglocke, Lorbeerbäume) und Engeln. Außer in der letzten Bildszene werden die Kompositionen vom Gegenüber der knienden Magdalena vor dem aufrecht stehenden oder sitzenden Christus, beide durch ihre roten Mäntel herausgehoben, jeweils dominiert. Die Erzählfolge verläuft ebenso in absteigender und wieder aufsteigender Richtung, wie wir es von der Außenseite des Barfüßerretabels kennen.683 Als Zentrum der inneren Schauseite ist sowohl eine gemalte Mitteltafel wie auch ein geschnitzter Schrein denkbar, für die das ikonografische Programm allerdings ungewiss bleibt. Eine Predella ist nicht zwingend, aber doch wahrscheinlich zu rekonstruieren. 684 Entstehungsgeschichte und kunstgeschichtliche Einordnung Behrens begründete eine Herkunft des Magdalenenaltars aus dem Kloster der Hildesheimer Augustinerinnen, dem sogenannten Reuerinnenkloster, mit der Darstellung der Hildesheimer „Lokalheiligen“ Godehard und Bernward auf dem rechten Außenflügel und schlug im Zusammenhang mit einer Umbaumaßnahme der Klosterkirche das Jahr 683 Marx meint, dass eine Lesefolge gar nicht intendiert sei. Marx wie Anm. 682, Manuskript S. 10. Vorgeschlagen wurden bei der Rekonstruktion eines Mittelschreins mit Schnitzfiguren die Maria Magdalena, der Hl. Augustinus, die Hll. Godehard und Bernward als Standfiguren (evtl. auch gemalt) bzw. bei einer gemalten Mitteltafel ein Kalvarienberg mit der trauernden Maria Magdalena (wobei die übliche Komposition dann auch je zwei Nebenszenen z.B. aus der Passion zu beiden Seiten nahe legt), oder die Letzte Kommunion oder Grablegung der Hl. Magdalena. BEHRENS 1961, S. 163, Marx wie Anm. 682. Für die Bemalung der Predella zieht Lüdke aus ikonografischen Gründen eine Grablegung Christi in Erwägung, mündliche Auskunft März 2010. 684 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 237 - 1416 als mögliches Fertigstellungsdatum vor. Damit sah er den Magdalenenaltar als Frühwerk des „Barfüßermeisters“, das sich in seiner Formensprache eher Meister Bertram und seiner Kunst anschließe. Nachdem sich das Datum 1416 als falsch gelesen erwies685, hat Marx Datierung und Provenienz neu überdacht und mit entscheidenden Hinweisen die Herkunft des Retabels als Hochaltaraufsatz aus der Kirche des Hildesheimer Reuerinnenklosters begründen können. Sie hält eine Datierung auch noch nach 1420 für denkbar und erhofft sich von der weiteren Aufarbeitung der Hildesheimer Bischofsviten und des Wirkens der von 1424 bis 1448 amtierenden Priorin Hildegard von Hahnensee weiteren Aufschluss über den oder die möglichen Auftraggeber des Retabels.686 Weiteres Schicksal und Restaurierungsgeschichte Beim Umbau der Hildesheimer Magdalenenkirche zwischen 1794 und 1797 sei das Retabel aus dieser entfernt worden. Wann genau der Verkauf stattfand, ist nicht überliefert. Marx gelingt es aber durch ihre Recherchen, die Lücke zu der von Zehnder entdeckten Erwähnung der Tafeln im Inventar der Sammlung Werner Moritz Graf von Haxthausen im Jahr 1826 zu schließen.687 Sie vermutet, dass die Flügel schon am Ende des 18. Jahrhunderts in den Besitz der von Haxthausen gekommen sein könnten.688 1869 wird die erste Tafel mit der „Noli me tangere“-Szene für die Württembergische Altertumssammlung in Stuttgart erworben. Das Zersägen und Spalten der beiden doppelseitig bemalten Flügel ist also vor 1869 zu datieren. Dies entspricht einer auch an anderen Altarbildern beobachteten Praxis.689 Unmittelbar nach diesem Eingriff wurden hier rückseitig anscheinend keine Stabilisierungen aufgebracht, die Stuttgarter Tafel jedenfalls zeigt nur zwei später aufgebrachte, kleine Fugensicherungen mit Klötzchen. Sie ging 1902 in den Besitz der Staatsgalerie Stuttgart über. 1901 oder 1904 erwarb Alfred Lichtwark die beiden Teile des rechten Außenflügels für das Hamburger Museum, wo 685 Nach Marx nicht 1416, sondern 1446, Marx wie Anm. 682. Gemeint sind insbesondere die Bischöfe Johannes III. (1398-1424) und Magnus (1424-1452). Marx ebendort, Manuskript S. 20. 687 Hiltrud Kier, Frank Günther Zehnder (Hg.), Lust und Verlust. Kölner Sammler zwischen Trikolore und Preußenadler. Ausstellungskatalog Köln 1995, S. 572, nach Marx ebendort, S. 11. 688 Marx ebendort Manuskript S. 10 und 26 und Anm. 48. 689 Vgl. Peter-und Paul-Altar aus St. Lamberti Hildesheim: die Flügeltafeln wurden nach Erwerb 1828 durch Familie von Reinecke zunächst nur zersägt, Vorder- und Rückseite später, möglicherweise nach 1865 (Erwerb für Neuss) und 1868 (Schenkung an Braunschweig) gespalten. Hartwieg 2005, S. 281f. 686 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 238 - sie wieder zusammengefügt, mit einem Parkett versehen und restauriert wurden. Die anderen fünf Tafeln waren durch Heirat und Erbfolge aus dem Besitz der Familie von Brenken 1888 in den der Familie von und zu Guttenberg gelangt, die die Tafel mit der Auffahrt der Hl. Magdalena 1949/50 über den Kunsthändler Julius Böhler, München, an das Westfälische Landesmuseum Münster, die übrigen vier an Graf Landsberg in Schloss Wocklum veräußerte.690 Letzterer ließ – so seine Auskunft – seine Tafeln 1949 in München im Doerner-Institut gleich nach dem Erwerb restaurieren. Dabei wurden die Tafeln auf eine 1,3 cm dicke Sperrholzplatte aufgenagelt und geleimt, vermutlich nachdem sie nochmals glatt gehobelt worden waren. Bildträger und Bildvorbereitung Die Tafeln der beiden überlieferten Altarflügel bestehen aus Eichenholz mit senkrechtem Faserverlauf. Schon die ermittelten Brettbreiten belegen eindeutig, dass die Tafeln in der Weise Vorder- und Rückseite zweier Altarflügel bildeten, wie oben beschrieben. Die linke Flügeltafel ist aus drei Brettern mit Breiten von ca. 33,5 cm, 31,5 cm und 14 cm zusammengesetzt,691 die rechte aus vier Brettern mit Breiten von etwa 20 cm, 23 cm, 14,3 und 20,3 cm (jeweils Innenseite Unterkanten von links nach rechts). 692 Mit Hilfe der dendrochronologischen Untersuchungen, die an den Tafeln aus Hamburg und Münster vom rechten Altarflügel durchgeführt wurden, konnte der jüngste Kernholzjahrring in das Jahr 1396 datiert werden. Daraus ergibt sich rechnerisch ein frühestes Fälldatum des verwendeten Baumes ab 1403, bei einer durchschnittlichen Splintholzbreite von 17 Jahrringen und einer minimalen Lagerzeit des Holzes von zwei Jahren könnte das Retabel wahrscheinlich ab 1415 gefertigt worden sein. Eine spätere Entstehung ist bei einer längeren Lagerung möglich und auch noch Mitte der 1420er Jahre plausibel. Der Vergleichschronologie zufolge stammt das Holz aus dem Harzvorland. 693 BEST.KAT. MÜNSTER 1986, S. 432. Maße der Brettbreiten am linken Flügel, gemessen an der Unterkante der Außenseite v.r.n.l.: 33 cm, 31,5 cm, 14 cm; an der Oberkante der „Anbetung der Könige“ außen v.r.n.l. Bzw. der „Auferweckung des Lazarus“ innen v.l.n.r.: 32,5/32 cm, 32,3/32,5 cm, 14,4/14,3 cm. 692 Maße der Brettbreiten am rechten Flügel, gemessen jeweils unten an der Hamburger Tafel v.r.n.l./der Stuttgarter Tafel v.l.n.r.: 20/19,9 cm, 23,3/23 cm, 14,2/14,3 cm, 21/20,3 cm; an der Münsteraner Tafel v.l.n.r.: 19 cm, 23,4 cm, 14,4 cm, 23 cm; an der Oberkante der Hamburger Tafel: 18 cm, 24 cm, 14 cm, 22 cm. 693 Die Berichte über die dendrochronologischen Untersuchungen von Peter Klein vom 17.08.2006 bzw. 8.09.2006 stellte Iris Herpers der Autorin freundlicherweise zur Verfügung. 690 691 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 239 - Die ursprüngliche Stärke der Tafeln ist schwer zu ermitteln, da beide Flügeltafeln in der Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst in der Mitte, dann längs zersägt und später bei den unterschiedlichen Restaurierungen rückseitig auch noch einmal glatt gehobelt wurden. Bei einem angenommenen Verlust durch den Sägeschnitt von 3 mm muss man mindestens von einer Stärke von 20 mm ausgehen. Die Bretter sind wahrscheinlich auf Stoß verleimt. Auf der nicht parkettierten Tafel in Stuttgart sind rückseitig keine angeschnittenen Dübellöcher zu sehen und auch das von der Hamburger Tafel gemachte Röntgendetailbild lässt Dübel nicht erkennen. Alle Tafeln zeigen noch Malränder und Grundiergrate, die die Einrahmung in einem Nutrahmen vor dem Fassen belegen (Abb. 124). Auf der Stuttgarter Tafel sind die Malränder rechts 8-10 mm, unten 5-14 mm und links 14 mm breit. Hier hat die Malfläche eine Breite von 77,4 cm, die man, eine gewisse Schrumpfung der Holztafel quer zur Faser berücksichtigend, einer Rekonstruktion der gesamten Breite des Retabels zugrunde legen muss.694 Ob das Retabel auf einer Predella stand und mit einem Blattkamm oder Aufsatz bekrönt wurde, lässt sich heute technologisch nicht mehr nachweisen. Auf beiden Seiten wurden die Altarflügel zunächst mit Gewebe mit einfacher Leinenbindung überklebt. Als Fadendichte ließen sich auf der Tafel in Münster 9-11 Fäden/cm, auf der Stuttgarter Tafel 10-12 Fäden/cm in Kett- und Schuss-Richtung ermitteln. Die Leinwand reicht bis zum Malrand, könnte also auch über die Rahmen gelegt worden sein. Tafeln und Rahmen wurden dann dick weiß grundiert.695 Hinsichtlich der Unterzeichnung waren die Untersuchungen der „Auffahrt der Hl. Magdalena“ aus Münster besonders aufschlussreich. 696 Hier ließen sich zwei verschiedene Unterzeichnungen bzw. zwei Arbeitsphasen ausmachen: eine feine, grau wirkende Pinselunterzeichnung mit verdünntem Pflanzenschwarz und eine dunkler mit breiterem Pinsel ausgeführte mit Pflanzenschwarz in höherer Konzentration, die die 694 Bei einer angenommenen Rahmenbreite von 10 cm war ein Flügel ca. 98 cm breit, die Mitteltafel entsprechend 196 695 Da keine Analyse gemacht wurden, lässt sich nichts über die Klebeschicht unter der Leinwand oder über eine schwarze Pigmentierung in der Grundierung sagen. 696 IRR-Fotos werden im Kolloquiumsband veröffentlicht. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 240 - Hauptlinien noch einmal betont.697 Magdalena war in der Unterzeichnung als Akt angelegt, die Hand des oberen Engels greift ihr unter den Arm, der in der Malerei ganz vom Gewand umhüllt ist. Bei dem Einsiedler hat man den Eindruck, dass in der zweiten Pinselunterzeichnung noch einmal entschieden korrigierend eingegriffen wurde. Auch unter schlechteren Aufnahmebedingungen ließen sich ähnliche Beobachtungen an den Tafeln aus Privatbesitz machen.698 Neben der vor allem in den roten Gewändern deutlichen, freien Pinselunterzeichnung waren auch feinere Linien zu erkennen (Abb. 118 a, b). Charakteristisch ist hier, wie Faltenbildungen und Schattentiefen mit einer Folge von sichelförmigen Häkchen betont werden (Abb. 118 b, 119 a). Ritzlinien konturieren die mit Metallauflagen zu versehenden Partien, geben die wichtigsten Falten in den Brokatgewändern an und begrenzen das Zierband zwischen den Bildfeldern.699 Wie am Barfüßerretabel gibt es – nach den an der Tafel in Münster vorgenommenen Schichtenuntersuchungen – eine weiße Schicht auf der Grundierung und unter der Malerei in großen Partien, die hier als Imprimitur bezeichnet werden soll, auch wenn ihr sicher auch isolierende Funktion zukommt. Sie fehlt am Übergang zwischen Goldhintergrund und Engel sowie unter dem blauen Gewand eines Engels, sparte also wahrscheinlich die Goldhintergründe und ein paar wenige Farbpartien aus. In einer grünen Partie ist diese Imprimitur mit Zinnober rosa gefärbt, im Inkarnat dagegen weiß.700 Metallauflagen und Malschicht Auf den Goldhintergründen der Innenseiten ist das Blattgold auf dünnem, roten Bolus angeschossen. Das Blattgold enthält einen gewissen Anteil Silber.701 Die Nimben sind mit Zirkeln trassiert, 702 die Heiligenlegenden darauf – wie am Barfüßerretabel – mal 697 Laut Analysebericht von Frau Prof. Elisabeth Jägers vom 28.08.2006, den Iris Herpers der Autorin freundlicherweise zur Verfügung stellte. 698 Aufnahmen mit Digitalkamera Sony Cybershot 5.0 mit Nightshot Funktion und Filter Heliopan ES52 IR830, stichprobenhaft von der Verfasserin vor Ort im Sommer 2006 erstellt, erfassen einen Bereich von etwa 750-900 nm; die Farbschichten werden damit schlechter durchdrungen als bei den IRReflektografien durchdringen . 699 Eine Ritzlinie zur Begrenzung des Zierbandes war im Goldhintergrund am oberen Rand der Stuttgarter Tafel zu beobachten. Am unteren Rand der Auffahrt der Magdalena sei der Rand des Zierbandes erst in die Malerei eingeritzt (Beitrag Herpers für Kolloquiumsband). 700 Laut Jägers, Analysebericht wie Anm. 697. 701 Nachweis mit Rasterelektronenmikroskop, Jägers, ebendort. 702 Noli me tangere, Stuttgart: Christus Durchmesser 7,6 cm, Magdalena 7,1 cm; an den Heiligendarstellungen außen, Hamburg: 15-16 cm. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 241 - negativ mal positiv mit Punktpunzen granuliert (Abb. 127). Vier an allen Tafeln wiederkehrende Punzen wurden verwendet: eine Kreispunze, bestehend aus 19 kleinen rechteckigen Punzen im Durchmesser von knapp 5 mm, sowie drei verschiedene Rundpunzen im Durchmesser von ca. 0,5 mm, 1 und 2 mm. Die Kreispunze ist eine markante „Signatur“. Sie kommt am Nimbus der Magdalena in der Auffahrt genauso wie an ihrem Halsausschnitt auf der Noli me tangere-Szene vor (Abb. 128 a, b). Dazu kommt auf den Flügelinnenseiten die dicht gesetzte Strichpunze, die im Bereich der goldenen Brokatpartien mit meist 2-3 mm langen Strichen den Fadenverlauf imitieren soll (Abb. 129). Die Nimben auf der Außenseite wie einige Brokate auf der Innenseite sind etwas lichter im Goldton und an einigen Punkten verschwärzt. Analog zu den Analysen am Barfüßerretabel ist die Verwendung von Zwischgold hier wahrscheinlich. Auf den Außenseiten zeigen diese Nimben einen hellorange wirkenden Bolus, sie sind nur trassiert, nicht punziert (Abb. 125). Bei der Gestaltung des Kirchenmodells in der Hand des Hl. Godehard gab es eine Änderung: Die Silberauflage sah ursprünglich wohl die Angabe eines Seitenschiffes auch an der abgewandten Seite vor. Die meisten Brokate der Außenseite bestehen augenscheinlich aus Blattsilber mit einem Überzug. Besonders aufwendig sind die Gewänder der beiden Bischöfe Godehard und Bernward gestaltet. Ober- und Untergewänder imitieren Brokatstoffe: beim Hl. Godehard zeigt der Umhang einen grünen Lüster auf Silber mit roten Mustern, das Unterkleid ein türkisblaues Muster auf Zwischgold (?), die Falten sind jeweils mit rotem Farblack angegeben (Abb. 133). Die offenbar frei aufgemalten Mustermotive sind den am Göttinger Barfüßerretabel vorkommenden nah verwandt, vergleicht man nur die herz- und fächerförmigen inneren Blütenstände (Abb. 130-133, Anhang Kap. 7.2, Grafiken 17, 21, 22 auf S. 333, 338, 339). Ein weiteres, sehr charakteristisches Detail im Malereiauftrag sind am Magdalenenretabel die feinen, mit spitzem Pinsel ausgeführten, schraffierenden Malschichtvertreibungen entlang der Lichthöhungen, Schattentiefen und Konturen (Abb. 122, 123). Am gelben Gewand des Hl. Paulus oben links auf der Hamburger Tafel sind diese Striche zum Beispiel in einer Dichte von 8 Häkchen pro cm gesetzt, an der Unterlippe der Magdalena der Noli me tangere-Szene in Stuttgart in extrem feiner Manier in die frische Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 242 - Farbe. Das deutet darauf hin, dass die Unterzeichnung mit den an den Schattenlinien gesetzten Häkchen wie auch die Malerei die Handschrift desselben Meisters tragen (Abb. 120, 121). An der Stuttgarter Tafel wird die Feinheit der Ausführung sehr deutlich, wenn man die Ausführung der Vegetation und die mit feinsten Haarpinseln gezeichneten Haare der Magdalena betrachtet. Die Höhungen, für die Bleiweiß und Bleizinngelb nachgewiesen wurde,703 zeichnen sich teilweise pastos ab, sowohl in der Zeichnung der Gesichter wie in den Bäumen (Abb. 124). Möglicherweise mit einer anderen Bindemittelzusammensetzung, mindestens mit anderer Konsistenz, wurde weiße Farbe zur plastischen Darstellung von Perlen der Kronen, Gürtel, Mitren und anderen Schmuckbesätzen dick aufgesetzt (Abb. 125). Der hohe Bleiweißgehalt wird auch im Röntgenfoto sichtbar. Die dunklen, früher sicher eher blauen Hintergründe der Außenseiten sind mit 6-strahligen, inzwischen sehr verschwärzten Sternen vermutlich aus Zwischgold besetzt (Durchmesser 13-15 mm). Das rote Band zwischen dem oberen und unteren Register hat auf dem rechten Flügel nach der Zusammenfügung der zersägten Tafeln eine Breite von 30 mm (Abb. 113). Auf der Tafel mit der Anbetung der Könige vom linken Außenflügel sind von diesem Schriftband noch 15 bis 25 mm erhalten (Abb. 126), am oberen Rand des unteren Bildfeldes noch 5 bis 10 mm. Dieser Streifen war damit vermutlich ca. 30 mm breit. Wie oben erwähnt, ist wahrscheinlich ein genauso gestaltetes Schriftband zur Kennzeichnung der im oberen Register dargestellten Heiligen mindestens auf dem rechten Außenflügel auf der schrägen oder nur leicht gekehlten inneren Profilkante des Rahmens zu rekonstruieren, das sich – folgerichtig ergänzt - umlaufend rot mit schablonierten schwarzen Vierpässen fortgesetzt haben muss. Ein schlichtes Rahmenprofil mit breiter Platte, die sich farblich von dieser roten Schräge oder Kehle, z.B. mit gelben schablonierten Mustern auf schwarzem Grund, abgesetzt haben wird, ist aufgrund vergleichender Befunde anzunehmen.704 Für die Rahmenfassung der Flügelinnenseiten belegen Farbreste an den Rändern des Bildfeldes mit Maria Magdalena vor dem auferstandenen Christus wie auch des Bildfeldes mit der Auffahrt der Magdalena, dass mindestens die Innenkante der Rahmen 703 704 Analysebericht Jägers zur Tafel in Münster, wie Anm. 697. Siehe Rahmenprofil und -fassung der Außenseite am Barfüßerretabel Kap. 2.5.5., S. 150, Abb. 5. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 243 - auch auf der Festtagsseite rot gefasst gewesen sein muss,705 während sich daran entweder – wie beim Barfüßerretabel – ein vergoldetes Profil mit Rundstäben oder – altertümlicher – eine mehr oder weniger flach belassene Platte mit Innenkehle mit Vergoldung und eventuellen Mustern anschloss.706 Überwiegend golden, vielleicht farblich abgesetzt, muss man sich auch die früheren Zierbänder vorstellen, die die Bildfelder auch im geöffneten Zustand des Retabels trennten. Originale Reste dieser Bänder sind hier gar nicht mehr erhalten. Kreidegrundreste zeigen aber Grate in regelmäßigen Abständen von 7,1-7,2 cm, an der Tafel in Münster auch 6,7 cm (Abb. 134 a, b). Ergänzt man die am unteren Rand der Auferweckung des Lazarus bzw. oberen Rand des Gastmahls erhaltenen Kreidegrundstreifen von 13 mm und 12-14 mm um die Breite des verlorenen Sägeschnitts, dann wird der Streifen am linken Flügel, wie außen, ebenfalls ca. 30 mm breit gewesen sein. Teilweise zeichnen sich auch Abdrücke von Kratzern ab, als hätte man die Rückseiten dieser Applikationen für eine bessere Haftung aufgerauht. Die Befunde deuten darauf hin, dass wahrscheinlich ähnlich wie am Göttinger Barfüßeraltar einzelne rechteckige Musterelemente aufgeklebt waren. Dass Klebespuren und keine Nagellöcher vorhanden sind, spricht gegen Elemente aus Metall und eher für vorfabrizierte Stuckplättchen. 705 Mennige, Zinnober und Bleiweiß wurden hier als Pigment, Öl als Bindemittel bestimmt, Analysebericht Jägers, s.o. Anm. 697. 706 Vergleiche die Profile der inneren Zustände am Jacobikirchenaltar in Göttingen und am Trinitatisaltar in der Bernwardskirche in Hildesheim ohne Muster und am Passionsaltar von Meister Bertram im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover mit geschnitzten Mustern. 4. Barfüßer-Werkstatt - 244 - Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4.2 Drei-Königs-Retabel in Offensen707 Triptychon, Evangelisch-lutherische Kirche in Offensen, Stadt Uslar, Kreis Northeim Maße: Gesamt geöffnet ohne Predella H. 105,5 cm B. 242 cm T. 13,5 cm Mittelschrein H. 90,5 cm B. 120,5 cm T. 13,5 cm Aufsatz/Kamm H. 15 cm B. 122,5 cm T. 1 cm Linker und rechter Flügel je: H. 90,5 cm B. 60,5 cm T. 3,5 cm Predella, unterer Sockel: H. 34 cm B. 130 cm T. 34,5 cm Predella, oberer Kasten mit S-förmigem seitlichen Abschluss: H. 39,5 cm B. 130 cm T. 13 cm Rekonstruiertes Maß geöffnet mit Predella H. 124,5 cm B. 242 cm T. 13,5 cm Beschreibung Das mit einer Breite von ca. 122 cm im geschlossenen Zustand relativ kleine Altartriptychon steht heute auf dem Hauptaltar der wohl um 1300 errichteten Dorfkirche zu Uslar-Offensen (Abb. 136).708 Es besteht aus einem Mittelschrein mit geschnitzten Reliefs und zwei dünnen, bemalten Flügeln. Die Malereien der Außenseite sind nicht mehr erhalten. In seinem Innern sind das Marienleben und die Kindheit Jesu in drei Szenen thematisiert.709 707 Diese Zusammenfassung beruht auf der ersten ausführlicheren Würdigung von Behrens (BEHRENS 1965), im technologischen Teil wesentlich auf der durch die Autorin angeregte, aber nicht betreute Diplomarbeit von Katharina-L. Saalbach (SAALBACH 2003), die eine erste Bestandsaufnahme, jedoch kaum zielführende Rückschlüsse bietet, sowie auf eigenen Beobachtungen. Neue Anregungen lieferte auch Deiters, der für die Überlassung des Manuskriptes zu ihrem Kolloquiumsbeitrag zu danken ist; Maria Deiters, Das Barfüßerretabel und die 'mitteldeutsche Kunst' – zum kunsthistorischen Beziehungsgefüge im spätmittelalterlichen 'Sachsen', Veröffentlichung in Vorbereitung. 708 Georg Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Bremen/Niedersachsen, bearbeitet von Gottfried Kiesow u.a., München/Berlin 1977, S. 919. Die Kirche wird als „Ev. Kirche Hl. Drei Könige (?)“ geführt, vermutlich aufgrund des hier beschriebenen, erst zwischen 1873 und 1902 hierher gebrachten Retabels. Der Choranbau wird um 1437 datiert, der Kirchturm 1886, nach: Kirchlicher Dienst in Freizeit, Erholung und Tourismus (Hg.), Kirchen in der Umgebung von Uslar, Holzminden, Bodenwerder. Rinteln 1992. 709 Behrens bezeichnet das Retabel als „Kindheit Christi“-Altar nicht ganz zutreffend, da hierzu die Szenen von der Geburt bis zum Zwölfjährigen Jesus im Tempel zu zählen sind, nicht aber die Verkündigung an Maria. BEHRENS 1965, S. 89. Diese Bezeichnung wird seitdem immer wieder übernommen. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 245 - Die auf dem ursprünglich vermutlich linken, heute rechten Flügel gemalte Szene der Verkündigung an Maria bildet den Auftakt (Abb. 138). Sie findet räumlich verdichtet innerhalb einer Thronarchitektur statt, vor einem von Engeln gehaltenen Ehrentuch und unter dem von Gottvater und sechs Engeln besetzten Baldachin. Rechts des Throns ist ein Pultschrank platziert, in und auf dem Bücher liegen. Seine ockerbraune Farbe steht formelhaft für Holz, so wie das Rosagrau der Thronarchitektur Stein bezeichnet. In dem aufgeschlagenen Buch ist eine Weissagung aus dem Alten Testament zu lesen.710 Das vom „sanctus gabriel archan[gelus]“ – so die Bezeichnung auf dem Nimbus – gehaltene Schriftband trennt die beiden, nah zueinander gerückten Figuren des Engels und der Maria. Es verkündet: „Ave gracia plena dominus tecum“. Auf dem zweiten Flügel ist die Geburt Christi oder, genauer, die Anbetung des Kindes durch Maria nach der Vision der Hl. Birgitta dargestellt (Abb. 137). Ein streng konstruiertes Strohdach überfängt die Szene. Die Bindungen an den Dachsparren zeigen realitätsnahes Detailinteresse. Die als gerade Baumstämme gegebenen Stützen rahmen die Maria, die wiederum von einem von Engeln gehaltenen, kostbaren Brokattuch hinterfangen wird. Sieben Engel umschweben das Kind links. Joseph fehlt, nur die Köpfe von Ochs und Esel sind am rechten Rand über einer Krippe hinter einem Flechtzaun wiedergegeben. Im Mittelschrein wird die Geschichte der Anbetung des Jesuskindes durch die heiligen Drei Könige in fünf geschnitzten und farbig gefassten Figurenreliefs erzählt. Maria präsentiert auf ihrem Schoss das stehende Kind. Ihre thronende Haltung geht mit dem mit einem geflochtenen Polster belegten Bett, auf dem sie sitzt, räumlich nicht zusammen. Joseph kauert am linken Rand, den linken Arm auf das Knie gestützt. Die drei Könige, der älteste links knieend, die anderen stehend, sind als Einzelreliefs mit erdschollenartigen Sockeln dargestellt. Die Köpfe von Ochs und Esel hinter einem Flechtzaun sind – der Darstellung auf dem Flügel sehr verwandt – in einem kleinen Relief zwischen Maria und den knieenden König auf die Schreinrückwand gesetzt. Die Figuren stehen vor Goldgrund mit gemalten Engeln einer späteren Überarbeitung und werden von einem vergoldeten Rankenbrett am Sockel und einem bekrönenden Schleierbrett mit drei gedrückten, mit Kreuzblumen besetzten, an den unteren Bogenenden beschnittenen gotischen Kielbögen gerahmt. Auf dem unteren Rankenbrett wechseln sich Eichenranken und Rundmedaillons, in die Vierpässe und Rosen eingestellt sind, ab. 710 Jesaja 7, Vers 14: „Ecce virgo-etfacie filio-et vocabis“, nach BEHRENS 1965, S. 91. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 246 - Das mittlere Medaillon trägt ein heute übermaltes Wappen, das auf eine Stiftung hindeutet.711 Die Neufassung des geschnitzten Mittelschreins ist auf 1907/08 zu datieren, das Schnitzwerk aber sicher zeitgleich mit der Malerei der Flügel entstanden.712 Das für die Brokatimitation des mittleren Königs gewählte Muster zeigt das aus dem Musterkanon der Barfüßer-Werkstatt bekannte große Blütenmotiv mit dreieckigem Kern, das darauf hindeutet, dass originale Fassungsreste der Neufassung als Vorlage dienten (Abb. 143). Auf der neu vergoldeten Schreinrückwand sind noch Abdrücke älterer Punzierungen zu erkennen. Die heute aus zwei Sockeln zusammengesetzte Predella hat einen neueren, grauen Anstrich Der untere Predellenkasten gehört vermutlich zum Originalbestand. Er war über Türen an den beiden Schmalseiten zur Aufbewahrung liturgischer Geräte nutzbar. In einem rechteckigen Rahmen ist heute ein auf die Feier des Abendmahls Bezug nehmender neutestamentlicher Spruch auf blauem Fond zu lesen. Die Sockelzone darüber ist ebenfalls mit einem Bibelspruch in einem Medaillon geschmückt.713 Der aufgesetzte Kamm mit gemaltem Blütenfries über Ranken ist nach Form und malerischer Gestaltung eine spätere Zutat. Die ursprüngliche Form des Altarretabels ist also in einfacher rechteckiger Form vorzustellen (Abb. 135). Entstehungsgeschichte und kunstgeschichtliche Einordnung Die Größe des Retabels und der materielle und dekorative Aufwand, den allein schon die Malereien auf den Flügeln zeigen, lassen vermuten, dass der Altaraufsatz eine repräsentative Stiftung für einen Nebenaltar war. Behrens vermutet die ursprüngliche Herkunft des Retabels nach einer mündlichen Überlieferung aus dem Benediktinerinnenkloster in Lippoldsberg.714 Angesichts der im Rahmen dieser Arbeit neu zu Tage Es könnte sich hier dann um das welfische Wappen handeln, wenn das Retabel wirklich aus der nahen Kirche in Uslar stammen sollte, dazu siehe unten. 712 Saalbach lässt offen, ob Mittelschrein und Flügel zusammengehören. Sie hält das Retabel für ein „Pasticcio aus unterschiedlichen Altären“, SAALBACH 2003, S. 56. 713 Jeweils in gotischer Schrift im Medaillon oben: „Joh: Kap: 14 v 6. Jesus sprach, Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich“, unten: „Joh. Kap: 6 v 54 Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am jüngsten Tag auferwecken.“ 714 BEHRENS 1965, S. 92 711 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 247 - getretenen engen Beziehungen der Barfüßer-Werkstatt zu den welfischen Fürsten wäre genauer zu prüfen, ob nicht Uslar als Bestimmungsort und ebenfalls Otto der Quade als Stifter oder – angesichts seiner Schulden – als Initiator des Auftrags für die Kirche seines dortigen Stammsitzes in Frage käme.715 Seit Reinhold Behrens‘ Veröffentlichung 1965 werden die Malereien der Flügelbilder dem Meister des Göttinger Barfüßer-Altars zugeschrieben. 716 Er datiert das Offensener Retabel zwischen 1418 und 1422 und konstruiert damit eine Entwicklungslinie des Barfüßermeisters vom frühen Magdalenenretabel (um 1416), das noch der Formensprache des Meisters Bertram verpflichtet sei, über die Verkündigung und Geburt in Offensen, an den sich der zunehmende Einfluss der Malerei des Conrad von Soest deutlich zeige, bis hin zum Göttinger Barfüßerretabel als Alterswerk. 717 Deiters versucht dagegen, die Eigenständigkeit der sich in den Magdalenentafeln und dem Offensener Retabel offenbarenden künstlerischen Leistungen herauszuarbeiten und Hände zu scheiden. Die Malereien des Offenser Altaraufsatzes schlössen sich besonders nah an die Handschrift des Malers der Auffahrt der Hl. Magdalena aus Münster an.718 Die Schreinfiguren rückt Behrens in die Nähe des ca. 10 Jahre später anzusetzenden Reliefs mit dem Marientod aus der Gegend um Holzminden sowie des Mariae Wochenbett-Altars aus Müden an der Aller, beide heute im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover. Letzteres lässt sich nach der dendrochronologischen Untersuchung wahrscheinlich ab 1450 datieren.719 Behrens schließt nicht aus, dass Bildschnitzer und Maler der drei genannten Werke identisch gewesen sein können. 720 Deiters sieht jedoch nähere 715 Dazu unten ausführlicher Kap. 4.6, S. 276 ff.. BEHRENS 1965; die bei Behrens angegebenen geringeren Maße wurden durch SAALBACH 2003, S. 39, überprüft und wie oben genannt korrigiert. 717 Auf dem erst 1425-30 zu datierenden Jacobiretabel in der Soester Wiesenkirche zeigt der Marientod eine so ähnliche Baldachinarchitektur wie auf der Verkündigung des Offensener Retabels, dass man von einer gemeinsamen Vorlage ausgehen muss. Corley stellt den eher schlichten, bäuerlichen Maler dieses Marientodes in die Abhängigkeit derselben Szene, die Conrad von Soest für die Marienkirche in Dortmund schuf, wobei die Bezüge allenfalls in der Haltung der Maria und der sie umgebenden Engel ablesbar sind. Brigitte Corley, Conrad von Soest und die Hanse. Ein Beitrag zur Frage der Nachfolge, in: KROHM/ALBRECHT/WENIGER 2004, S. 116.f., Abb. 1. 718 Deiters wie Anm. 29, Manuskript S. 5. 719 Fälljahr des verwendeten Holzes 1448 bei einem Median von 17 Splintholzringen, zuzüglich mind. 2 Jahre Lagerzeit. Dendrochronologische Untersuchung durchgeführt von Peter Klein, Hamburg, anlässlich der Bearbeitung des Retabels von Anke Geyken als Diplomarbeit (betreut durch die Autorin), GEYKEN 1995. 720 BEHRENS 1965, S. 94-96 716 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 248 - Verwandtschaften des Schnitzwerks zu dem Retabel aus St. Godehard in Hildesheim, heute in Gronau, sowie weitere Bezüge zu dem wohl um 1430 in Magdeburg entstandenen Hochaltarretabel in der Nicolaikirche in Jüterbog und den Werken seines stilistischen Umkreises. Analog der Ikonografie des Mariae Wochenbett-Altar aus Müden an der Aller könnte man sich fragen, ob die ähnliche Darstellung der Maria auf dem Wochenbett im Mittelschrein nicht auch für das kleine Offensener Retabel auf einen vergleichbaren Stiftungsanlass, etwa eine glücklich verlaufene, schwierige Geburt hindeuten könnte. Marx weist darauf hin, dass die Drei-Königs-Verehrung seit einer Reliquienschenkung Rainald von Dassels im 12. Jahrhundert in Hildesheim besonders ausgeprägt war.721 Restaurierungsgeschichte Die Umgestaltung und Überarbeitung der Predella ist mit ihren Inschriften protestantisch konnotiert, entstammt also frühestens dem 16. Jahrhundert oder einer Barockisierung (Abb. 136). Der zweite gravierende Eingriff ist für die Zeit von 1907 bis 1908 belegt, als Restaurator Schiele im Provinzialmuseum Hannover für 450-500 Reichsmark die Figuren des Schreins neu fasste und die Malereien der Flügel „eingehend instand“ setzte.722 1956 wird das Ehepaar Uhlworm aus Berlin-Wannsee beauftragt, eine erneute Restaurierung durchzuführen. Ihrem Kostenvoranschlag zufolge mussten die Malereien auf den Flügeln gefestigt, „gereinigt“ und von einigen Übermalungen befreit, sodann gekittet und retuschiert werden. Die angedachte Freilegung der überfassten Goldhintergründe wurde nicht realisiert. Außerdem waren die Außenseiten der Flügel von ihren Übermalungen mit braunroter Ölfarbe zu befreien, die Rahmen der Flügelbilder zu überfassen und die Fassung im Mittelschrein zu festigen. Nach der Freilegung der Kreidegrundreste auf den Außenseiten hat man diese damals mit einer grauen, gestupften Lasur abgetönt.723 Erst nachträglich erging der Auftrag zur Neufassung der Predella nach Befund, für die zu den angebotenen 1000 Mark zusätzlich noch 200 Mark benötigt 721 Marx, Das Magdalenenretabel aus dem Hildesheimer Reuerinnenkloster. Beitrag zum Barfüßerkolloquiumsband, Manuskript S. 12. 722 Aus der Kopie eines mit „Kp“, wahrscheinlich von Landeskonservator Karpa gezeichneten Schreibens an Vikar Kutscher vom 5.11.1953, Archiv Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege, NLD 53/11/05, SAALBACH 2003, Anhang. 723 Eine derartige graue Lasur wurde meistens als „aqua sporca“ (schmutziges Wasser) umschrieben. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 249 - wurden.724 Im Jahr 1985 führte Diederichs eine Wachsfestigung aus, nahm eine Pestizidbehandlung vor und führte Kittungen, Retuschen und einen Wachsüberzug aus. Bildträger und Bildvorbereitung Schreinkasten, Rahmen der Flügel, beide Predellenkästen und Aufsatz bestehen aus Eichenholz, die Blätter der Flügel dagegen aus Nadelholz. Die Holzart des oberen Schleierbrettes und des unteren Rankenbrettes im Schreinkasten ist weder erkennbar noch analytisch bestimmbar. Die dendrochronologische Untersuchung war ohne Ergebnis.725 Wie beschrieben, deuten die über den Schreinkasten hinausragende Breite des Kamms und seine Form wie auch der geschwungene seitliche Abschluss der oberen Predellenzone darauf hin, dass diese beiden Teile nicht zum Originalbestand gehören (Abb. 135). Die Schreinrückwand ist auf die mit Schlitz und Zapfen ineinander gefügten Seitenbretter neu aufgenagelt, aber nicht – wie von Behrens vermutet – später ergänzt.726 Die Flügeltafeln bestehen aus je zwei bis zu 2 cm dicken Nadelholzbrettern, die so gewählt sind, dass die Äste in den Randbereichen sitzen. Ringsum haben sie eine Fase. Die Rahmen sind, wie der Schreinkasten, einfach mit Schlitz und Zapfen gefügt, Gehrungen gibt es nicht. Senkrechte Stoßfugen zeichnen sich in der Regel in Verlängerung der Innenkanten ab, mit einer Ausnahme: Am Flügel mit der Verkündigung springt die Fuge an der rechten (von außen linken) oberen Ecke auf die Höhe der ausgearbeiteten Nut – ähnlich der Unregelmäßigkeiten am Göttinger Altar.727 Die Rahmen der Flügel sind an den zum Schrein gerichteten Innenseiten abgearbeitet, eventuell auch auseinander genommen, um die Tafeln zu tauschen. Durch die Überfassung sind diese Veränderungen schwer zu beurteilen. 724 Kostenvoranschlag W. Uhlworm, Berlin-Wannsee, Friedenstr. 21, vom 28.05.1956. Zuvor hatte schon Bildhauer und Restaurator Christian Buhmann, Hannover, mit Datum vom 30.08.1954 einen Kostenvoranschlag über insgesamt 1730,- DM vorgelegt. Archiv Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege, SAALBACH 2003, Anhang. 725 Tafeln und Schreinrückwand sind durch die Einrahmung bzw. ihre Bemalung für eine Jahrringzählung nicht zugänglich. Im Rahmen der Diplomarbeit wurde die Figur des rechten Königs herausgenommen. Sie zeigte aber zu wenig Jahrringe für eine dendrochronologische Untersuchung. 726 Der bei Behrens wiedergegebene Bericht von Schiele besagt: „Die Untersuchung des Holzes hat ergeben, daß der Kasten des Schreines kein Eichenholz sondern helles Weichholz ist.“ Behrens folgert, es handele sich um eine Neuanfertigung von 1907/08. Auch die hellere Farbigkeit des Holzes, die Art der Befestigung und andere Kriterien könnten belegen, dass das bekrönende Schleierbrett neu sei. Behrens folgert: „Da der Rahmen neu ist, muß die Bekrönung 1908 als fremder Teil eingefügt sein.“ BEHRENS 1965, S. 98-99, Anm. 8. Nach der technologischen Untersuchung von Saalbach ist davon auszugehen, dass der Schreinkasten original ist. 727 Vgl. Kap. 2.5.1, S. 97. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 250 - Der Schreinkasten ist sehr simpel konstruiert. Die Schreinrückwand besteht aus vier 2,7 cm dicken, ca. 26 bis 33 cm breiten Eichenbrettern mit senkrechtem Faserverlauf, die den aufgesetzten Seitenbrettern Halt geben.728 Ob die Bretter untereinander und die rahmenden Seitenteile auf der Rückwand nur auf Stoß verleimt oder auch verdübelt sind, lässt sich nicht bestimmen. Die Skulpturen wurden aus 8 bis 10 cm dicken Holzblöcken geschnitzt und nicht ausgehöhlt.729 Auch die 38,5 cm breite Mariengruppe mit Josef besteht aus einem einzigen Holzblock. Die Reliefs zeigen jeweils Bohrungen an den Köpfen und an ihrer Unterseite, der rechte König dort zwei Bohrungen mit einem Dübelrest. Sie dienten zum Einspannen des Schnitzblocks beim Fassen, was dadurch belegt ist, dass keinerlei Farbe in die Löcher eingelaufen ist. Am Kopf der Maria wurde das Bohrloch mit einem Dübel verschlossen. Die Skulpturen sind heute mit Schrauben an der Rückwand befestigt. Behrens nimmt aus kompositorischen Gründen an, dass das Schleierbrett mit den Kielbogen nicht ursprünglich in den Altar gehörte. Er begründet: „Das Holz ist heller, die Ornamentik zeigt neuzeitliche Schnitt- und Kerbweisen.“730 Saalbach stellte fest, dass das Brett in der Breite etwas zu kurz war, was rechts und links aufgesetzte Leisten überdecken.731Außerdem sind die nach unten hängenden Bogenenden wie auch die darin eingeschriebene Dreipass-Gliederung unten abgeschnitten. Die Flügel waren auf beiden Seiten mit Leinwand bezogen, was in der Verkündigungsszene an Rissbildungen in der Malschicht und auf der Außenseite der Tafel mit der Geburt an einem negativen Gewebeabdruck in Grundierungsresten ablesbar ist. Die Leinwand wurde demzufolge – wie auf dem Barfüßerretabel – auf eine dünne Grundierungsschicht aufgelegt732 und wiederum mit gebrochen weißer Kreide-Leim-Grundierung überzogen. Die Grundierung fehlt auf dem mit Fries geschmückten Kamm, was ein weiteres Indiz dafür ist, dass dieser nicht zum Originalbestand gehört. 728 Die Bretter der Rückwand sind (von links nach rechts) 29 cm, 33,3 cm, 32 cm, 26,2 cm breit, die Rahmenschenkel ca. 5,5 cm breit und 11 cm tief. 729 Nur das kleine Relief mit Ochs und Esel hat lediglich eine Dicke von 6 cm, Maße siehe SAALBACH 2003, S. 41. 730 BEHRENS 1965, S. 98-99, Anm. 8. Zu den Veränderungen siehe genauer unten S. 254. 731 Allerdings muss man den Schrumpfungsgrad berücksichtigen. 732 Auf eine Beimengung von schwarzem Pigment nicht untersucht. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 251 - Mit der Infrarotreflektografie ließ sich eine in den Gewändern sichere und ausführliche, in den Gesichtern schnell und knappe, eher andeutende Pinselunterzeichnung sichtbar machen.733 Gegenüber dem Magdalenenretabel und dem Barfüßerretabel ist die Unterzeichnung sorgfältiger und dichter ausgeführt (Abb. 139 a, b). Sie modelliert das Gewand der Maria der Verkündigung plastischer als in der Malerei später umgesetzt. Die Schattentiefen werden mit kleinen, entlang der Pinsellinie aufgereihten Häkchen betont – eine Eigenart der Zeichnung, die hier in frappanter Ähnlichkeit wie am Magdalenen- und am Barfüßerretabel vorkommt, sogar häufiger, ergänzt allerdings noch durch parallele gerade Schraffuren (Abb. 139 a).734 Die doppelte oder sogar dreifache Konturlinie am Ohr der Maria der Anbetung weist möglicherweise auch auf die Verwendung einer Schablone hin (Abb. 140 b). Die sich von rechts über das Kind beugenden Engel haben ebenfalls eine auffallende, sich wiederholende Linienführung. Auf dieser Tafel zeigte die IR-Untersuchung auch, dass die rechte dünne Stütze des Krippendaches, die die Maria rechts rahmt, weder vorgezeichnet noch in der Malerei ausgespart war, sondern erst später hinzugefügt wurde. Im Bereich der Brokatgewänder sind die Faltenangaben nachgeritzt. Auch die Nimben sind mit Zirkel und Ritzung konstruiert und Einstichlöcher teilweise noch erkennbar. Am Offensener Retabel konnten nur je eine Probe aus den Goldhintergründen beider Flügelbilder sowie eine aus dem roten Gewand der Maria der Verkündigung für die Herstellung von Querschliffen entnommen werden. Eine dichte weiße Isolierung oder Imprimitur befindet sich auch unter dem roten Gewand735, nicht aber im Bereich der Goldhintergründe.736 Verwendet wurde hier die IR- Kamera der HAWK Hildesheim, Fa. Grundig, die in einem Wellenlängenbereich zwischen 750 und 1000 nm arbeitet. 734 Frau Katharina-Luise Saalbach sei für die Bereitstellung der IR-Fotos gedankt. Auch wenn sich die Innenseiten des Gewandes in den Röhrenfalten dunkler grau abzeichnen, wäre es sehr ungewöhnlich, wenn diese Partien flächig laviert worden wären. Es ist anzunehmen, dass sich die blaugrün ausgemalten Partien wegen der Aufnahme im niedrigen Wellenlängenbereich abzeichnen. 735 Weiße Imprimitur auf Schwarz, das eventuell von der Unterzeichnung stammt (Probe 6). SAALBACH 2003, Anhang S. MS15-MS17. 736 Probe 1 und 2, SAALBACH 2003, Anhang S. MS3-MS5. 733 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 252 - Malschicht und Fassung Auf den beiden Flügelgemälden zeigte sich nach Saalbach in den Goldhintergründen und Nimben kein Bolus.737 Der Energiedispersiven Röntgenanalyse zufolge liegen jedoch unter der Blattgoldauflage auch Eisenelemente vor. Für das verwendete Blattgold konnte in dem Zusammenhang auch ein gewisser Silberanteil festgestellt werden.738 Das Gold ist poliert, aber an vielen Stellen direkt bis auf die Grundierung durchgerieben. Auf der Schreinrückwand ist die originale Vergoldung zwar abgewaschen, in den Aussparungen hinter den Skulpturen findet sich jedoch originaler rot-ockerfarbener Bolus (sic!). Für die Farblüster und Brokatimitationen auf den Flügeltafeln wurden außerdem Blattgold oder Zwischgold sowie Blattsilber relativ großflächig aufgelegt, vor allem für die Ehrentücher und das Brokatgewand des Verkündigungsengels. Nach dem guten Erhaltungszustand zu urteilen, könnte das Ehrentuch auf der Verkündigungstafel und die zwei goldenen Engelsgewänder auf der Geburtsszene auch auf reinem Blattgold (Abb. 141), das Kissen vermutlich aber in Zwischgold ausgeführt sein. Damit wäre der Zwischgoldanteil im Vergleich zum Barfüßerretabel relativ gering. Die Silberpartien im Ehrentuch auf der Geburtsszene und im Engelsgewand sind heute vollständig verschwärzt (Abb. 137). Die reinen Vergoldungen sind vor allem im Bereich der Nimben mit Punzen verziert. Einfache Punktpunzen im Durchmesser von >0,5 mm, 0,75 mm, 1 mm, 2 mm, 2,5 mm und 3 mm wurden festgestellt. Von den umlaufenden Wolkenrändern gehen mit gezahntem Rad gepunzte Strahlen aus (10 Punkte/cm), die man auch im neu vergoldeten Hintergrund der Anbetung des Kindes rekonstruieren muss. Auch der Strahlenkranz hinter dem Kind ist auf diese Weise verziert. Auf der Schreinrückwand kann man unter der Neuvergoldung noch Punzierungen erahnen. Für die weitere Gestaltung der Nimben wurden auf der Vergoldung zunächst, wiederum mit Hilfe eines Zirkels, Hilfslinien trassiert. Die Figurenbezeichnungen sind dann entweder – bei den Marien auf beiden Tafeln – erhaben, „positiv“ ausgearbeitet oder – beim Verkündigungsengel – 737 SAALBACH 2003, S.59 und 63. In den Querschliffen ist der Kreidegrund an seiner Oberseite jedoch dunkler und durchtränkt. 738 Energiedispersive Röntgenanalyse (EDX), im Rahmen der Diplomarbeit ausgeführt von Sophie Martyna, Universität Oldenburg, Institut für Geobiologie. SAALBACH 2003, Anhang S. EDX 4f. und EDX 13. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 253 - durch Punzierungen vertieft, „negativ“, je nachdem ob der Hintergrund oder die Buchstaben selbst mit den Rundpunzen „gekörnt“ bzw. „granuliert“ wurden (Abb. 141).739 Besonders prachtvoll sind die brokatenen Untergewänder gestaltet. Auf den oben beschriebenen verschiedenen Blattmetallauflagen wurden die Muster frei oder auf einer nicht mehr erkennbaren Vorzeichnung mit dem Pinsel angelegt. Es gibt keine Farbwülste an den Konturen oder einen wiederkehrenden Rapport, der die Verwendung einer Schablone nahe legen würde. Als Farbvariationen wurden für die Ehrentücher rote Muster auf Silber (Geburt) oder Gold (Verkündigung), für die Gewänder Weiß auf Silber (Verkündigungsengel, Engel vor dem Christuskind), Weiß auf Gold (Engel zu Füßen des Christuskindes) und Rot auf Gold (linker Engel) und für das Kissen auf dem Thron der Verkündigungsmaria wohl Grün auf Zwischgold gewählt. Die Falten auf den Mustern sind beim Verkündigungsengel in dunklem Blau gehalten, alle anderen Faltenmodellierungen mit rotem Farblack ausgeführt. Interessant ist, dass jeder Flügel ein Hauptmustermotiv hat. Der dreieckige, im Inneren noch einmal rautierte Kern eines Blütenmusters ist in der Verkündigung zweifach verwendet, im Ehrentuch wie auch im Engelsgewand (Abb. 141). Dieses Motiv kehrt auch in der Neufassung auf dem mittleren König des Mittelschreins wieder, so dass davon auszugehen ist, dass die Originalfassung dieses Muster auch hier vorgab (Abb. 143). Auf der Tafel mit der Geburt entwickelt sich das Rankenmuster des Ehrentuches aus einem mandorlenförmigen Kern, der gerade über den Händen der Maria mit einer Krone gefasst ist (Abb. 137). Ein ähnliches Muster erscheint in der Neufassung der Maria im Schrein wieder. Nur einmal ist ein Tier in das Muster integriert: Ein feuerspeiender Löwe sitzt an prominenter Stelle genau zwischen den Nimben des Engels und der Maria der Verkündigung (Abb. 141). Die Art der Platzierung der Muster macht deutlich, dass die Flächen nicht schematisch mustriert sind, sondern bedeutungshaft, wie es die Forschung zu Textildarstellungen erst der Erfindung eines van Eyck zuschreibt.740 Anders als bei den Mustern des Magdalenen- oder Barfüßerretabels, sind 739 Siehe dazu auch Kap. 3.3, S. 206 ff.; analog des engl. „granulation“ oder „stippling“ wird der Begriff „Granulation“ auch im Deutschen für mit Punzen dicht geprägte Flächen vorgeschlagen. In der Goldschmiedetechnik steht er für mit Kügelchen dicht besetzten Flächen. Vgl. HARTWIEG 2008, S. 101. 740 Michael Peter, Vortrag vom 16.04.2009, wie Kap. 1.4, Einführung, S. 30, Anm. 101. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 254 - die Musterranken hier noch einmal in sich differenziert, indem einige Ranken mit der Musterfarbe schraffiert wurden (Abb. 142). Innerhalb der reinen Farbflächen ist der Schichtenaufbau dünn und lässt die Unterzeichnung teilweise durchscheinen. Die Baldachinarchitektur ist in genau dem rosagrauen Ton gehalten, wie sie auch auf den Innenflügeln der Apostelseite des Barfüßerretabels erscheint. Die Mariengewänder sind auf beiden Flügelbildern in schlichten, großen, ruhigen Farbflächen angelegt: bei der Verkündigung in wenig ablasiertem Zinnoberrot mit grünen Mantelinnenseiten; auf der Geburtstafel ist das Blaugrün des Mantels vom Blaugrau des Unterkleides mit seinen farblackroten Schattierungen heute kaum zu unterscheiden. Interessanterweise wurden in der zinnoberroten Farbe wie am Göttinger Retabel Quarz und Calcit als Begleitmineral nachgewiesen.741 Das strichelnde Vertreiben der Pinselzüge, das im Farbauftrag auf den Tafeln des Magdalenenretabels auffällt, lässt sich auch hier an einigen Stellen ablesen, zum Beispiel am Ärmel des Engels der Verkündigung, an dem die dunkelblaue Faltenlinie auf diese Weise aufgebrochen wurde (Abb. 142). Diese Art der Vertreibung funktioniert nur bei einem langsam trocknenden Bindemittel mit öliger Komponente. Erhaben aufgesetzte weiße Perlen kehren als ein vom Meister des Göttinger Barfüßeraltars gern benutztes gestalterisches Motiv in den Haarkränzen des Engels und der Maria der Verkündigung wieder. Möglicherweise hatte das hierfür benutzte Bindemittel am Offensener Altar aber eine etwas dünnflüssigere Konsistenz. Veränderungen Die Befunde und die Vergleiche mit zeitgenössischen Predellen sprechen dafür, dass der untere Predellenkasten noch zum Originalbestand gehört (Abb. 135). Die einfache Kastenbauweise, die Bearbeitungsspuren im Inneren des Kastens, die seitlichen Türen, die denen am Eldinger Retabel entsprechen, deuten daraufhin. Diese über die Jahre in Vergessenheit geratene Erkenntnis scheint aber dem Denkmalpfleger Dr. Wesenberg bewusst gewesen zu sein, als er 1954 schrieb: „Der Schrein steht auf einer Predella, die 741 Analyse am Querschliff Probe 6, SAALBACH 2003, Anhang, S. MS 15-17. Nachweis von Zinnober, Quarz und Calcit als Begleitmineral mit PLM, SAALBACH 2003, Anhang, S. PLM 6f. Vergleiche den Befund am Barfüßerretabel Kap. 2.5.4, S. 143 und Anm. 408. Die Modellierungsschicht des Mariengewandes in Offensen ist sicher durch frühere Reinigungsmaßnahmen zusätzlich gedünnt. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 255 - durch ein Zwischenstück in jüngster Zeit erhöht worden ist.“742 Gemalte Darstellungen sind auf der Vorderfront anzunehmen. Die komplette Abnahme der Fassung und Neufassung auf der Predella wahrscheinlich schon in der Barockzeit und auf dem Mittelschrein mit seinen Schnitzfiguren Anfang des 20. Jahrhunderts waren ein gravierender Eingriff. Das den Mittelschrein oben abschließende Schleierbrett ist ebenfalls an den Bogenenden der gotischen Kielbögen beschnitten und neu eingesetzt, wobei links eine kleine Leiste angefügt wurde. Ergänzt man die Bogenspitzen und eventuell seitlich eine kleine Säule, dann hätten die Figuren in der jetzigen Aufstellung zu wenig Platz. Dietmar Lüdke stellte deshalb zur Diskussion, ob Sockel- und unteres Rankenbrett ursprünglich fehlten, so dass die Figuren eine Stufe tiefer standen und ihre Köpfe damit eher mit der Höhe der gemalten Figuren auf den Flügelbildern übereinstimmten.743 Das Rankenbrett wäre – so der Vorschlag von Lüdke – als Verzierung des unteren Predellenkastens denkbar. Ein Rankenbrett am Fuß des Mittelschreins ist an sich nichts Ungewöhnliches, man denke zum Beispiel an den inneren Zustand des Trinitatisretabels in der St. Bernward-Kirche Hildesheim (um 1420, Abb. 181 b), des Retabels aus der Minoritenklosterkirche St. Marien in Hannover (um 1410/20) oder an den Kreuzaltar in Bad Doberan (um 1380). Jedoch steht dem unteren Rankenbrett eine im Verhältnis meist viel höhere Baldachinzone gegenüber. Die tiefere Position der Figurenreliefs müsste technologisch anhand der Dübellöcher und der Abdrücke von Punzierungen in der Schreinrückwand überprüfbar sein; diese Überprüfung steht noch aus. Dass das Rankenbrett die Predellenvorderseite schmückte, ist schwerer vorstellbar, da das vordere Brett der Predella keinen Ausschnitt vorweist, gaben doch solche durchbrochenen Schnitzarbeiten in der Regel den Blick auf in der Predella aufbewahrte Reliquien frei. Verwiesen sei hier auf die Predellen des Göttinger Jacobikirchenaltars von 1402 (Abb. 162) und des Retabels in der Brüdernkirche in Braunschweig, die beide eine Spitzbogenarkatur aufweisen, sowie auf die Staffel des Hochaltarretabels aus der Domkirche im dänischen Lund, Aktenvermerk vom 26.01.1954 nach Besichtigung Wesenbergs am 22.01.1954. Archiv Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege, NLD 54/01/26; SAALBACH 2003, Anhang. Saalbach meint dennoch „auch die untere Stufe der Predella könnte zweitverwendet sein. […] Vermutlich ist der Altar ein Pasticcio aus unterschiedlichen Altären“, ebenda, S. 54 u. 56. 743 Dr. Dietmar Lüdke sei herzlich für diesen Rekonstruktionsvorschlag und die Diskussion gedankt. 742 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 256 - fertiggestellt 1398, an der sich auf zwei Rankenbrettern kreisförmige Maßwerkfenster mit Spitzbögen abwechseln.744 Der auf den Mittelschrein aufgesetzte Kamm ist seitlich beschnitten und im 19. Jahrhundert neu gefasst. Saalbach nimmt an, dass es sich um einen zweitverwendeten historischen Aufsatz handelt, dessen Originalfassung entfernt und danach am Offenser Schrein montiert wurde. Es ist überliefert, dass das Kruzifix, das nun im Kirchenraum an der Wand hängt, früher oben auf dem Schreinkasten montiert war. Die beiden Flügel wurden offensichtlich ausgetauscht, entweder indem die Scharniere versetzt oder die Bildtafeln aus den ursprünglichen Rahmen genommen wurden. Wegen der Überfassung der Rahmen Anfang des 20. Jahrhunderts sind die Manipulationen schwer abzulesen. Die Rahmenaußenseiten sind teilweise behobelt. 744 Vergleiche Ebbe Nyborg, Bertramwerke und Bertramstil im mittelalterlichen Dänemark, in: ALBRECHT/BÜNSCHE 2008, S. 76, Abb. 1. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 257 - 4.3 Gedächtnistafel für Heinrich den Löwen und Mathilde, Otto IV. und Beatrix Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, Inv. Nr. MA L, Dauerleihgabe der Domkirche St. Blasius, ausgestellt in der Burg Dankwarderode 745 Maße: Höhe: 85,7 cm; Breite: 70 cm746 Originaler Rahmen nicht erhalten. Beschreibung Die Einzeltafel ist streng gegliedert in eine ca. 37 cm hohe, durch Arkadenbögen zweigeteilte obere Bildzone und ein großes, durch goldene Lettern hervorgehobenes Textfeld (Abb. 144). Unter den Arkadenbögen sitzen auf einer gemeinsamen Thronbank zwei einander zugewandte Paare. Es sind die welfischen Herrscher Heinrich der Löwe (um 1130-1195) und seine Gattin Mathilde (1156-1189) links sowie deren Sohn Otto IV. (1175/76-1218) und seine junge Gemahlin Beatrix (1198-1212) rechts (Abb. 145 und 146). Auf den Stützen der grauen, steinernen Arkadenarchitektur sind die Heiligen St. Blasius, Johannes der Täufer und Thomas Becket als monochrom rosabraun, also sandsteinfarbene Statuetten dargestellt, Hauptpatrone der Braunschweiger Stiftskirche, aus der die Tafel stammt. Die lateinischen Verse auf der Tafel verweisen auf die Grablege der vier Persönlichkeiten in der Stiftskirche und zugleich in drastischer Weise auf die Vergänglichkeit des Lebens: „Hier liegt Heinrich, einst Herzog, Erbauer dieser Kirche, von hohem Adel, fromm. Mit ihm vereint ist seine Gemahlin, sittsam, mildtätig den Armen, die durch ihre edle Schlichtheit berühmte Mechthild, Tochter des englischen Königs. Gott möge beide 745 Die Burg Dankwarderode am Burgplatz beherbergt die Mittelalterabteilung des Herzog Anton UlrichMuseums. Die Gedächtnistafel wird im Rahmen der Ausstellung „Epochal! Meisterwerke des Herzog Anton Ulrich-Museums von der Antike bis zur Gegenwart“ vom 11.12.2009 bis Mitte 2012 im Rittersaal im 1. Obergeschoss der Burg gezeigt. Hier konnte die Autorin sie auch am 16.11.2009 vor Ort untersuchen. Zuvor war die Tafel im Erdgeschoss ausgestellt. 746 Diese Maße wurden von Frau Kaul, Ltd. Restauratorin des Herzog Anton Ulrich-Museums, dankenswerter Weise übermittelt, e-mail vom 30.11.2009. Bei der Untersuchung der Tafel durch die Autorin konnte die Tafel nicht entrahmt werden. Es ließ sich lediglich die Breite ohne Malränder von oben 68,3 cm, unten 68 cm bestimmen (zuzüglich der Malränder mit ca. 8-10 mm). Die im AUSST.KAT. BRAUN SCHWEIG 2009, S. 474, angegebenen Maße von 93 cm in der Höhe und 78 cm in der Breite meinen wahrscheinlich die Maße mit Rahmen. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 258 - mit Engelsspeisen nähren. Bei ihnen liegt als gewählter und gekrönter König der von ihnen abstammende Otto, den Würmern zur Speise gegeben. Seine Gemahlin war die schöne Tochter aus Philipps edlem Geschlecht, nun ist sie Asche, die einst eine Rose war. Der du diese Verse liest, gedenke ihrer und beherzige bitte: was ist die menschliche Gestalt, was Leben, was Besitz anderes als Tod, Asche und Schatten.“747 Auf der als Epitaph bezeichneten Hinweistafel findet man keine bildlichen Darstellungsdetails, Totenkopf oder andere Vergänglichkeitssymbole und Wappen, die auf den Text unmittelbar Bezug nehmen. Möglicherweise gehen die Darstellungen der beiden Paare auf frühere Vorlagen zurück. Alle vier welfischen Herrscher tragen brokatene Untergewänder, darüber einfarbige Mäntel mit kontrastierendem Innenfutter, Mathilde sogar einen hermelingefütterten roten Umhang (Abb. 145). Heinrich der Löwe ist mit Federbuschkappe mit besonders kostbarem Schmuckband dargestellt, Mathilde trägt eine Krone und hält einen goldenen Ring, der ihr nach alter Sage zum Erkennungszeichen ihres Gemahls wurde. Die Bügelkronen weisen Kaiser Otto IV. und Beatrix als Herrscherpaar aus. Ihr darunter angedeuteter weißer Schleier erinnert wahrscheinlich an die erst drei Wochen vor Beatrix' frühem Tod vollzogene Hochzeit der Beiden. Otto dagegen ist als alter bärtiger Mann dargestellt, er trägt zusätzlich ein Zepter. Die fließenden Gewänder mit in Schlaufen gelegten Falten und die spitz auslaufenden Schuhformen sind noch ganz dem Stil der internationalen Gotik verpflichtet.748 Ungewöhnlich ornamental verbreitern sich die Säulenbasen der Arkaden, die die Figurengruppen rahmen. Ihre mit herzförmigen Krabben besetzten Bögen sind sattelförmig breit gelagert, die Zwickelflächen mit einer Rundbogengliederung verblendet. Hinter der mit einem Lilienfries und Eckwimpergen geschmückten Thronrückwand deuten wenige gelbliche Licht- und blauschwarze Schattenlinien auf dem dunkelgrünen Grund eine weitere Bogenarkatur an. Der zur Andeutung einer Perspektive diagonal gesetzte Bodenbelag zeigt rautenförmige Fliesen mit dunkelgrünen Vierpässen auf hellgrünem Grund. Er ist gewiß ein zeittypisches Motiv und kommt fast identisch, wenn auch farbiger ebenso am Barfüßerretabel vor. Übersetzung nach Andrea Boockmann, Die Inschriften der Stadt Braunschweig bis 1528 (Die deutschen Inschriften). Göttinger Reihe 35,59 Wiesbaden 1993, S. 81 f. und Nr. 72. 748 Die langen Schuhe findet man schon beim Netzer Altar von 1370, beim Wildunger Altar von 1402, aber auch noch am Barfüßeraltar vor allem auf der sich an älteren Vorbildern orientierenden Mitteltafel. CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005, S. 425 Abb. 3, S. 466 Abb. 6. 747 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 259 - Die Tafel hat nach einer Quelle des frühen 18. Jahrhunderts wohl am ersten Arkadenpfeiler des Langhauses gehangen.749 Die erhaltenen Reproduktionsstiche, Kupferstichplatte und Zeichnung des Nikolaus Seeländer verweisen darauf, welche besondere Aufmerksamkeit der Tafel zuteil wurde. Bildträger und Bildvorbereitung Es handelt sich um eine Eichenholztafel, die aus einem ca. 44 cm und einem ca. 26 cm breiten Brett mit senkrechter Maserung gefügt ist.750 Die Tafel steht heute noch fast plan, was auf einen radialen Schnitt aus dem Stamm mit stehenden Jahrringen verweist. Bearbeitungsspuren einer Säge und eines schmalen Flacheisens (eventuell später) sind auf der Tafelrückseite erkennbar. Die unruhige Oberflächenstruktur und Craquelébildung, Schäden und Retuschen deuten darauf hin, dass die Fuge in einem Streifen von 4 bis 5 cm Breite mit Werg gesichert wurde. Eine Leinwandabklebung fehlt, die Jahrringstruktur zeichnet sich heute deutlich an der Oberfläche ab. Eine helle Grundierung ist dünn aufgetragen. Der umlaufend erhaltene Grundiergrat beweist, dass die wahrscheinlich in einen Nutrahmen gesetzte Tafel im gerahmten Zustand grundiert wurde. Eine Imprimitur ließ sich ohne Probenentnahme nicht nachweisen. Die exakte Aufteilung des Bildfeldes in vier 17 cm breite Kompartimente am oberen Rand deutet daraufhin, dass die Arkadengliederung mit Konstruktionslinien auf der Grundierung vorbereitet wurde.751 Am unteren Schaft der Mittelsäule zeichnet sich m.E. eine senkrechte Ritzlinie ab, die die Mitte der Bildfläche angibt. Auch die Linien zwischen den Schriftzeilen sind offensichtlich exakt ausgemessen und vorgezeichnet. Sie haben gleichmäßige Abstände von 4,8 bis 4,9 cm. Mit der einfachen Infrarotfotografie im Bereich zwischen ca. 750 und 900 nm ließen sich keine Unterzeichnungslinien sichtbar machen. Eine Röntgenaufnahme zur Überprüfung von Ritzlinien liegt nicht vor. 749 AUSST. KAT. BRAUNSCHWEIG 2009, Kat. Nr. 161, 162, S. 468-469 und 474. Die Maße ohne Malränder sind: linkes Brett oben 43,1 cm, unten 43,7 cm; rechtes Brett oben 25,2 cm, unten 24,3 cm, s. auch oben Anm. 746. 751 Nur der Abstand zwischen linkem Grundiergrat und linker Bogenspitze beträgt 17,5 cm. 750 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 260 - Malschicht Im Bereich des Textfeldes wurde zunächst ganzflächig ein intensiv rotfarbiger, deckender Anstrich aufgebracht, der mit einer dünnen rot-schwarzen Lasur abgetönt ist. Ein rosabraunes Anlegemittel bereitete im Bereich der Schriftzeilen, der gotischen Minuskeln und der ornamentalen Zeilenfüller am rechten Bildrand die Blattgoldauflage vor. Zwischen jedem Wort sind mit blau-schwarzer Farbe, vermutlich Azurit752 und schwarzem Pigment, Ranken- und Blütenembleme frei aufgemalt. Diese haben eine nahe Verwandtschaft mit gepunzten oder durch Punzierungen freigestellten Ornamenten, die als „Leerzeichen“ zwischen den Wörtern der Inschriften auf den Nimben des Barfüßerretabels stehen (Abb. 147-149). An zwei Stellen in der fünften und neunten Zeile von oben zeichnen sich im Bereich der Fuge quadratische, verschwärzte Partien ab, die auf eine Silberauflage hindeuten, aber auch Folge späterer Restaurierungen sein können. Im Bereich der Figurenfelder ist der Farbauftrag deckend mit deutlich erkennbaren Pinselstrukturen. Zu Beginn erfolgte die Anlage des architektonischen Rahmens, wobei die Figuren nur grob ausgespart wurden. Die Pinselstrukturen der Architekturmalerei laufen in den Bereich der Figuren hinein.753 Die Figuren sind in klaren Grundfarben flächig vorgelegt, die Modellierung der Flächen erfolgte mit Weißausmischungen an den Höhungen und Schattierungen mit Beimischungen von Schwarz und Farblack. Am roten Mantel der Mathilde ist die obere Modellierungsschicht im Bereich von Brust und Schulter großflächig vom zinnoberroten Untergrund abgeplatzt (Abb. 145). Das deutet darauf hin, dass die Untermalung schon gut durchgetrocknet war, bevor die Modellierungen aufgebracht wurden. Besonders prachtvoll sind die brokatenen Untergewänder gestaltet. Sie sind auf verschiedenen Blattmetallauflagen aufgebaut, die sich hier nur im Vergleich des Erscheinungsbildes der analysierten Metallauflagen am Barfüßerretabel phänomenologisch bestimmen ließen. Die Blattmetallauflagen waren mit ehemals sicher deutlicher unterscheidbaren, transparenten oder farbigen Lacken überzogen. Darauf liegen flächig und 752 Vermutung aufgrund der bei großer Vergrößerung erkennbaren Pigmentform und -farbe. Sie zeichnen sich am oberen Rand der Thronlehne an der Schulter Heinrichs des Löwen, in Fortsetzung der Sitzbank im Gewand Ottos rechts neben der Mittelsäule und an der Sockelkante durch seinen rechten Fuß sowie am aufgebauschten Hermelinbesatz des Mantels Mathildes ab. 753 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 261 - deckend aufgemalte Muster, die meist einen charakteristischen Blütenstand zeigen, aus der sich ein Blütenmotiv entwickelt. Die Modellierung mit Schatten und Faltentiefen erfolgte abschließend überwiegend mit dunkelrotem Farblack. Die Metallauflage am Untergewand Heinrichs des Löwen wirkt sehr golden, jedoch matter als die Schriftzeichen, und ähnelt damit dem qualitätvollen Zwischgold der Metallauflagen zum Beispiel im Gewand des Hauptmanns von der Kreuzigung des Göttinger Barfüßerretabels. Das Muster ist deckend gelb-weißlich aufgemalt, jedoch durch Retuschen so verunklärt, dass es sich nur mit Hilfe von UV-Licht entschlüsseln lässt (Abb. 150 a-c).754 Mathildes Unterkleid ist auf einer heute verschwärzten Blattsilberauflage mit weißen Mustern und darauf – im Unterschied zu den drei anderen Figuren – mit blauen Falten und Schattentiefen versehen (Abb. 145). Das Brokatkleid Ottos ist stark zerstört und retuschiert, so dass Metallauflage und Muster schwer bestimmbar sind. Ein Zwischgold ist wahrscheinlich, Farbreste deuten auf ein grünes Muster hin. Das Gewand der Beatrix ist mit Blattsilber unterlegt, hat aber aufgrund eines farbigen Lacküberzugs einen goldenen Schimmer, das Muster ist leicht transparent ockerfarben angelegt (Abb. 151 a). Auch wenn alle Figuren außer Mathilde mit farblackroten Schattierungen modelliert sind, wiederholt sich die Kombination aus Blattmetall, Überzug und Musterfarbe nicht ein einziges Mal. Die Analyse der Muster ergibt, dass das Doppelband mit eingestellten Kreisen sowohl in dem spitzen Blütenkern bei Heinrich dem Löwen wie auch in dem fächerförmigen Blütenstand im Gewand der Beatrix vorkommt (Abb. 151 b). Dies Motiv belegt, dass der Maler aus den Mustervorlagen schöpfen konnte, die auch bei der Herstellung des Magdalenenretabels und des Barfüßerretabels zur Verfügung standen. Die erhaben aufgesetzten weißen Perlen sind ein weiteres, vom Meister des Göttinger Barfüßeraltars gern benutztes gestalterisches Motiv. Hier findet man sie am Halsausschnitt der Beatrix, als kugelförmige Knöpfe ihres Mantels (Abb. 154) sowie auf dem Schmuckband der Federbuschkappe Heinrichs des Löwen (Abb. 152). Das Hutband ist vermutlich mit Zwischgoldauflage auf einem Anlegemittel unterlegt, mit grünem Lack abgetönt, bevor das gewundene Perlenband mit Mittelrosette in dicker Konsistenz erhaben aufgetupft wurde. Das gewundene Perlenband ist vom Kopfschmuck des guten 754 Eventuell auch Weiß mit ockerfarbener Lasur (?). Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 262 - Hauptmannes auf der Kreuzigung des Barfüßerretabels wohl bekannt (Abb. 153). Die Kronen und Bünde an den Kissenecken sind durch Zwischgoldauflage verziert. Die Konturen sind blauschwarz verstärkt. Veränderungen Die Tafel befindet sich in einem relativ guten Zustand und ist nur geringfügig verwölbt. Die Fuge ist zu einem späteren Zeitpunkt rückseitig mit Zahnhobel überarbeitet und mit Klötzchen gesichert worden. Auf der Vorderseite sind entlang der Fuge allerdings große geschädigte Partien gekittet und retuschiert, die Krone Ottos ist weitgehend neu. Auch im Bereich der Texttafel sind die beriebenen Buchstaben mit Muschelgold stark retuschiert. Die Tafel ist neu gefirnist, wobei am linken Rand und in der Ecke rechts oben ältere Firnisreste verblieben.755 Anlässlich dieser letzten Restaurierung wurde ein schmaler rot gefasster Leistenrahmen mit kleiner blauer Kehle neu angefertigt. 755 Nach Auskunft von Hildegard Kaul, Chefrestauratorin des Herzog Anton Ulrich-Museums, wurde die Tafel von Knut Nicolaus wahrscheinlich zwischen 1980 und 1985 vor der Ausstellung „Stadt im Wandel“ restauriert, Dokumentationsunterlagen liegen aber nicht vor. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 263 - 4.4 Weibliche Reliquienbüste um 1420756 Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, WM XXIII, 7 Maße: Höhe: 38,5 cm; Breite: 33 cm; Tiefe: 18 cm, Höhe Plinthe 1,5 cm Beschreibung Das Büstenreliquiar zeigt eine unbekannte weibliche Heilige. Ihr Kopf neigt sich leicht nach links aus der Achse (Abb. 155). Ein Kopftuch mit gewelltem Saum ist mit weichen Faltenbildungen um ihre rechte Schulter geworfen und endet auch auf der Rückseite in Schulterhöhe (Abb. 156). Es lässt das lange gewellte Haar nur rechts und links des Halses und in zwei sich überkreuzenden Strähnen auf der Brust zum Vorschein kommen, wo es gewissermaßen das Reliquiensepulcrum, das als rechteckiges Fach mit einem Falz ausgearbeitet ist, rahmt. Nagellöcher stammen wahrscheinlich von der Befestigung einer ursprünglichen Glasabdeckung. Ein weiteres Reliquienbehältnis ist in der Schädeldecke eingearbeitet. Das Reliquiar ist vollrund geschnitzt und vergoldet, nur die Augen sind darauf mit grünlicher Iris, schwarzer Pupille und weißem Augapfel und der Mund transparent rot, also als Lüster auf goldenen Grund gefasst. Das Sepulcrum auf der Brust und die Vertiefung auf dem Kopf wurden deckend rot ausgestrichen. Das Untergewand ist mit fein punziertem Rankenwerk dekoriert. Das Sepulcrum auf der Brust wird mit einem punzierten Rahmen nochmals betont, Punzierungen finden sich auch in der Kehle des Sockelbrettes (Abb. 157). Entstehungsgeschichte und kunstgeschichtliche Einordnung Die Reliquienbüste wurde 1861/63 für das Welfenmuseum erworben. Dass sie aus der Kirche in Uslar stammt, ist sehr wahrscheinlich, da Mithoff 1865, also als Zeitzeuge, im Rahmen der Beschreibung der Kirche in Uslar erwähnt: „Eine vergoldete, aus der Diese Zusammenfassung beruht auf dem Restaurierungsbericht von Sandra Stelzig vom September 2000, ergänzt um die 2005 durchgeführten Maßnahmen von Brigitte Schröder im September 2005, auf eigenen Beobachtungen sowie auf den Messungen mit dern µRFA-Spektrometer im November 2004. Proben wurden nicht entnommen und ausgewertet. Restaurierungsbericht siehe Archiv Gemälderestaurierung Niedersächsisches Landesmuseum Hannover. 756 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 264 - Kirche stammende weibliche Holzbüste von guter Arbeit, einst wohl ein Reliquiarium, bewahrt jetzt das Welfenmuseum“.757 Von der Osten bezieht diese Erwähnung auf das hier behandelte Stück, „da sonst im Welfenmuseum eine vergoldete Reliquienbüste nicht vorhanden ist.“758 Historisch ergibt sich damit eine überraschende Koinzidenz mit dem Wirken von Otto Cocles, der auf der Burg in Uslar residierte und die Fürstenkapelle stiftete, die – durch den erhaltenen Grundstein vom 20. Mai 1428 belegt – im Chor der dortigen St. Johanniskirche aufging. In ihrer vollrunden Ausarbeitung wurden solche Büsten typischerweise als Reliquiengefäß genutzt und in Prozessionen mitgeführt. Die Fassung zeigt allerdings weniger Abnutzungsspuren durch ihren liturgischen Gebrauch als durch Klimaschäden. Das Schnitzwerk trägt deutliche Züge einer niedersächsischen Werkstatt. Charakteristisch ist die Gestaltung des Gesichtes mit der hohen Stirn, den markant herausgearbeiteten Ober- und Unterlidern, dem kleinen Mund und runden Kinn sowie den Querfalten am Hals.759 Von der Osten schlug deshalb eine Entstehung in der Werkstatt des Göttinger Barfüßeraltars vor, wobei er auch auf „die am Göttinger Altar vorkommende Technik der feinpunktierten Rankenmuster auf dem Gewand“ verwies.760 Im Vergleich mit böhmischen Büsten der Zeit um 1400 wirkt unsere Reliquienbüste wegen der Strenge in der Kopfhaltung und Blickrichtung und einer gewissen “Härte“ der Gesichtszüge altertümlich.761 Holzkern und Fassungsvorbereitung Die Büste ist aus einem Weichholzstamm762 vollrund ohne Aushöhlung geschnitzt und vor dem Fassen auf eine ca. 1,5 cm starke Sockelplatte gleicher Holzart aufgeleimt und gedübelt.763 Der Holzblock war offensichtlich beim Schnitzen in eine Werkbank eingeHector Wilhelm Heinrich Mithoff, Kirchen und Kapellen im Königreiche Hannover, Bd. II, S. 196 und BEST.KAT. HANNOVER 1957, S. 84. 758 Ebenda S. 84. 759 So die Argumentation von Cornelia Aman und Thomas Hirthe, Pressetext vom 2.11.2004 vor der Restaurierung. 760 BEST.KAT. HANNOVER 1957, S. 84. 761 Für die Diskussion der Stilmerkmale, insbesondere möglicher böhmischer Stileinflüsse danke ich Dietmar Lüdke und Maria Deiters. 762 Eine Bestimmung der Holzart wurde nicht durchgeführt, möglicherweise handelt es sich um Linde, nach von der Osten um Erlenholz, BEST.KAT. HANNOVER 1957, S. 84. 763 Das Sockelbrett ist an seiner Unterseite grundiert und rotbraun überfasst. Diverse Löcher stammen wohl von späteren Befestigungen. Der an der Unterseite zur Rückseite hin erkennbare Dübel wird nicht der einzige gewesen sein, der zur Befestigung des Sockelbrettes eingesetzt wurde. 757 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 265 - spannt. In der zur Aufnahme einer Reliquie auf der Kopfoberseite vergrößerten, runden Aushöhlung befindet sich, leicht versetzt zur Mitte, ein dicker Zapfen, der sicher von der Einspannung beim Schnitzen stammt. Das entsprechende Einspannloch an der Unterseite wäre allerdings nur durch eine Röntgenuntersuchung sichtbar zu machen. Eine ursprüngliche Abdeckung des Sepulcrum auf der Kopfoberseite fehlt, auf den später hinzugefügten bronzierten Deckel aus Gips wird seit der Restaurierung 2005 in der Ausstellung verzichtet. Zwei kleine wohl originale Metallstifte am Kopf könnten von der Befestigung einer Krone stammen. An den großen holzsichtigen Fehlstellen vor allem auf der Rückseite sind die Bearbeitungsspuren eines 10-12 mm breiten, leicht konkaven Schnitzeisens erkennbar. Die Saumkante des Kopftuches ist einfach, scharfkantig gekerbt. Auf der Rückseite ist der Holzkern durch Schwund stark gerissen und original, d.h. vor dem weiteren Aufbau der Fassung mit einem bis zu 14 mm breiten Keil ausgespant worden. Der Riss hat sich seitdem nochmals verbreitert. Der Holzkern zeigt starken Wurmbefall. An der Plinthe kam es dadurch vorn rechts zu Holzverlust (Abb. 157, 158 mit Ergänzung). Risse und Fugen wurden vor dem Grundieren mit Leinwandstreifen gesichert. Eine Abklebung mit Gewebe in einfacher Leinenbindung zeichnet sich über dem originalen Span ab, der Abdruck eines weiteren Streifens negativ in den Resten einer Grundierungsschicht. Diese kann demnach als Klebemittel gedient haben, wenn nicht eine dünnflüssig aufgetragene Grundierung die Leinwand durchdrungen hat. An anderer Stelle finden sich braune Leimreste entlang der Leinwandstreifen. Deshalb nimmt Stelzig an, dass der Riss sich nach dem Grundieren weiter geöffnet hat, so dass er noch einmal mit Leinwand überklebt werden musste.764 Fassung Der Holzkern ist mit einer weißen, wässrig gebundenen und relativ dicken Grundierschicht überzogen. Die Büste wurde auf einem dünnen, dunkelroten Poliment vollflächig vergoldet. Dabei fand ein sehr reines Blattgold Verwendung, das nach der vergleichenden Untersuchung mit der Mikroröntgenfluoreszenzanalyse eine sehr ähnliche 764 Restaurierungsbericht von Sandra Stelzig wie Anm. 756. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 266 - Zusammensetzung von Gold- und Kupferanteilen wie beim Barfüßerretabel aufweist. 765 Das Gold ist auf allen glatten Partien poliert, nicht auf den Haaren. Hier zeigt die Oberfläche eine „kriselige“ Struktur, obwohl augenscheinlich dasselbe Poliment vorliegt. Die stoffliche Differenzierung zwischen polierten und unpolierten Partien war sicher beabsichtigt. Wegen der starken Verluste und Bereibungen sind keine originalen Überzüge oder sogar gefärbte Differenzierungen auf der Goldfassung mehr erkennbar. Für die Verzierung des Brustbereichs und des Sockels wurden einfache runde Punziereisen in drei verschiedenen Stärken verwendet: Bei der Umrandung des Reliquienbehältnisses alternieren Punzen von 1 und 2 mm Durchmesser in regelmäßigen Abständen von 1 bis 2 mm. Auf den Fassungsresten in der Kehle der Plinthe sind nur die 1 mm breiten Punzen zu erkennen (Abb. 157). Die feinen floralen Ornamente auf Brust und Schultern sind mit noch feinerem Punzeisen dicht gepunzt (Abb. 159). Die kleinen Fassungsreste, die auf der Rückseite im Bereich des Gewandes noch erhalten sind, zeigen keinerlei punzierte Verzierungen. Die rote Fassung des Mundes ist transparent, quasi als Lüster, gehalten. Die Iris ist grünlich transparent mit einer schwarzen Pupille angelegt und wird von deckenderem Weiß auf dem Augapfel umgeben. Veränderungen Reliquie, Glas- (oder Kristall-) abdeckung, eine Krone und eventuell eine originale Abdeckung der Öffnung am Kopf sind verloren. Der Holzkern ist durch den Wurmbefall geschwächt, zu größeren Ausbrüchen kam es infolgedessen an der Plinthe vorn rechts wie auch auf der Rückseite rechtsseitig. Große Fassungsverluste sind vor allem auf der Rückseite der Büste festzustellen. Die Vergoldung ist auf den Höhen des Schnitzwerks und besonders im Bereich des Gewandes stark, teilweise bis auf den Bolus, teilweise bis auf die Grundierung berieben. Die Fassung war großzügig überbronziert, bevor sie 2000 und 2005 freigelegt wurde. 765 Die halbquantitative Analyse mit dem µRFA-Spektrometer mit Wolfram-Target ergab hinsichtlich der Intensität der Anregung in % einen Anteil von 96,4-96,7% Au und 3,3 % Cu bei einer Spur von Silber, die sich nur an der Ag KĮ-Linie bemerkbar macht; siehe Kap. 2.5.3, S. 116 sowie HARTWIEG/HERM 2005, Tab. 1; der Line-Scan über eine Beschabung des Blattgoldes zeigt zu vernachlässigende Pb-Werte im Vergleich zur Messung an der Blattgoldauflage auf der Goldenen Tafel (Keine Bleiweißimprimitur, siehe Christoph Herm, Untersuchungsbericht Nr. 94/NLMH_X1E vom 24.09.2006, S. 8 und S. 37. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 267 - 4.5 Zusammenfassung und Revision der Zuschreibungen Die technologischen Befunde der in den vorangegangenen Kapiteln vorgestellten vier Werke sollen im folgenden zusammengefasst und auf der Basis der Ergebnisse vom Göttinger Retabel kritisch ausgewertet werden. Die kunsthistorischen Zuschreibungen lassen sich somit mit dem technologischen Ansatz neu bewerten. Magdalenenretabel aus Hildesheim Werktechnik Von dem im geöffneten Zustand ca. 1,5 m hohen und 4 m breiten, einfach wandelbaren Retabel sind Mitteltafel bzw. -schrein, Rahmen und gegebenenfalls die Predella verloren. Wegen dieses fragmentarischen Zustands ist eine werktechnische Bewertung kaum möglich. Die beiden Flügeltafeln sind aus drei bzw. vier Eichenholzbrettern einfach senkrecht gefügt. Das Holz stammt aus dem Harzvorland. Diese Lokalisierung und die Datierung der Herstellung des Retabels ab 1415 ergaben sich aus den dendrochronologischen Untersuchungen. Die Befunde sind insgesamt so wenig charakteristisch, dass man zur Urheberschaft und Vergabe der Schreinerarbeit im Verhältnis zu den Merkmalen des Göttinger Retabels nicht mehr sagen kann, als dass sie im Wirkungsbereich des Barfüßer-Meisters entstand. Bildvorbereitung Die Flügel waren auf Innen- und Außenseite mit Gewebe beklebt. Ob die Leinwand – wie am Barfüßerretabel – in eine Grundierungsschicht gedrückt wurde, war bisher nicht erkennbar. Die Unterzeichnung ist in zwei Phasen mit Pinsel ausgeführt, wobei die zweite, mit breiterem Pinsel und dunklerer Farbe sicher gesetzte Zeichnung teilweise korrigierend eingreift. Sie zeigt große Verwandtschaft mit der des Barfüßerretabels. Die fischgrätähnlichen, parallelen Häkchen entlang von Faltentiefen – sozusagen das „Kennzeichen“ des Meisters – sind hier sogar häufiger und dichter gesetzt als am Barfüßerretabel. Sie werden durch parallele Schraffuren ergänzt, die am Göttinger Altar selten sind. Auf den Tafeln in Wocklum und Münster sind suchende Linienbündel zudem ein wiederkehrendes Motiv. Gegenüber der ausführlicheren Unterzeichnung der Tafeln des Magdalenen- Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 268 - retabels trägt die Zeichnung am Göttinger Altarwerk die Merkmale einer Vereinfachung, Fortentwicklung und größeren Routine. Wie am Barfüßerretabel ist auch eine weiße Imprimitur unter einigen Farbpartien vorhanden, die unter einer grünen Partie mit Zinnober rosa getönt, im Inkarnat aber weiß ist. Wie die technologischen Vergleiche zeigen konnten, entspricht dies einer zur damaligen Zeit üblichen handwerklichen Praxis. Verwendung von Schablonen Die Überprüfung der Übereinstimmung von Gesichtszeichnungen nur an Abbildungen lässt vermuten, dass auch am Magdalenenretabel Gesichtsschablonen Verwendung fanden. Auf der Außenseite stimmen die Gesichter der Bischöfe Levinus (linker Flügel unten rechts), Godehard und Bernward (rechter Flügel unten) untereinander sowie seitenverkehrt mit Augustinus (linker Flügel unten Mitte), Petrus und Hermagoras auffällig genau überein (Abb. 112 und 113). Auch die Gewänder der fünf Bischöfe in der unteren Reihe des geschlossenen Zustands sind so nah verwandt, dass man von einer Mustervorlage ausgehen musse. Im Bildfeld mit dem Gastmahl im Hause Simons auf der inneren Schauseite ist die Spiegelung der Profilköpfe am rechten und linken Bildrand offensichtlich. Hier sind sich auch die Apostelköpfe links oben und, gespiegelt, Simon und der zweite Apostel von rechts „wie aus dem Gesicht geschnitten“. Metallauflagen und ihre Oberflächengestaltung Punzierungen sind am Magdalenenaltar weniger ausführlich zu finden. Sie haben – betrachtet man z.B. die Nimben – auch nicht die Feinheit, die uns am Barfüßerretabel begegnet. Das Werkzeugrepertoire umfasst nur vier verschiedene Punzen, drei Punktpunzen und eine gezahnte Kreispunze. Diese aber ist mit der Kreispunze am Göttinger Barfüßerretabel identisch: Sie weist 19 eckige Zähnchen auf und hat einen Durchmesser von knapp 5 mm (Abb. 128). Dies ist ein „fingerprint“, der die Entstehung der beiden Altarwerke in einer Werkstatt zweifelsfrei beweist. Brokatmuster Die Brokatmuster zeigen am Magdalenenretabel genau denselben Formenkanon, d.h. die Verwendung derselben Mustervorlagen. Dies betrifft die Blüten- und Blattmotive Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 269 - mit unterschiedlichem Kern, die aufwendigeren Tiermotive kommen nicht vor. Allerdings ist kurios, dass sich die charakteristischen fächer- und granatapfelförmigen Kerne auf dem Gewand des Godehard nicht – wie am Barfüßerretabel üblich – gleichförmig rapportartig wiederholen, sondern hier auch in Kombination vorkommen. Die Strukturierung weniger Brokatpartien mit Strichpunzen ist etwas summarischer ausgeführt, auch wenn sie sich grob an die goldenen Flächen zwischen den Farbmustern hält. Farbauftrag und Verzierungstechniken Die Farbe ist in fließender, aber pastoser Konsistenz aufgetragen und vielfach naß-innaß vertrieben. Besonders charakteristisch sind die feinen, mit spitzem Pinsel ausgeführten, schraffierenden Malschichtvertreibungen entlang der Lichthöhungen, Schattentiefen und Konturen. Am Barfüßerretabel findet man sie nicht. Die mit aufgestupfter weißer Farbe erreichten Effekte zur plastischen Darstellung von Perlen der Kronen, Gürtel, Mitren und anderen Schmuckbesätzen sind aber mit entsprechenden Imitationen am Barfüßerretabel nah verwandt. Anhand ihrer Abdrücke sind für die Flügelinnenseiten applizierte plastische Elemente zwischen den Bildfeldern zu rekonstruieren. Sie sind nicht genagelt, ca. 30 mm breit und haben vom Barfüßerretabel abweichende Längen von 7,1 bis 7,2 cm, in einem Fall auch 6,7 cm, wie an in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Graten erkennbar wird. Sie müssen hart und rückseitig mit Kratzern für eine bessere Haftung versehen gewesen sein. Dass sie wie am Göttinger Altar aus massivem Kupfer bestanden, ist unwahrscheinlich, weil das Kleben für Metallelemente eine wenig materialgerechte Applikationstechnik ist.766 Fazit: Es fällt auf, dass die Komposition und Figurenzeichnung auf den Tafeln des Magdalenenretabels in der Unterzeichnung auf dem Malgrund stärker entwickelt sind. Die feinen strichelnden Farbvertreibungen korrespondieren mit den an den Schattenlinien gesetzten Häkchen in der Unterzeichnung. Dies spricht für die Handschrift eines Meisters, der sowohl die Unterzeichnung wie auch die Malerei ausführte. Jedoch fallen auf der Außenseite wie auf dem linken Flügel auch innen stereotype FigurengestaltunFür diesen Hinweis danke ich Hans-Werner Pape, Chefrestaurator am Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin. 766 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 270 - gen auf, die sich mit der Verwendung von Schablonen erklären lassen. Die Schablonen dienten sicher dazu, die Ebenmäßigkeit der Figuren sicher zu stellen oder die Handschriften weiterer Werkstatt-Mitarbeiter zu vereinheitlichen. Im Verhältnis zum Barfüsserretabel sind die Gesichter breiter geschnitten und die Körper gedrungener. Die beiden Szenen mit dem „Noli me tangere“ und der „Auffahrt der Magdalena“ auf dem rechten Flügel innen setzen sich insofern ab, dass neben den beiden Hauptfiguren viel Platz für die Ausschmückung mit kleinteiligem Pflanzenwerk und, oben, Engeln ist, die besonders fein gemalt sind. Angesichts dieser Unterschiede und der Größe des Retabels ist wahrscheinlich, dass mindestens zwei Maler beteiligt waren. Für die Zuschreibung aber ist entscheidend, dass nicht nur die identische Kreispunze, sondern auch die zwar nicht schablonierten, aber auf selbe Mustervorlagen zurückgehenden Brokatmuster die Entstehung der Magdalenentafeln in derselben Werkstatt wie das Göttinger Barfüßerretabel beweisen. Drei-Königs-Retabel in Offensen Werktechnik Das mit Predella ursprünglich ca. 1,25 m hohe und im geöffneten Zustand 2,40 m breite Triptychon mit geschnitztem Mittelschrein zeigt wie das Barfüßerretabel einen Wechsel der Holzarten: Mittelschrein, Skulpturen und Predella sind aus Eichenholz gearbeitet, die Flügel des Offensener Retabels bestehen aus Nadelholztafeln, die von Nutrahmen aus Eichenholz eingefasst werden. Kurioserweise erscheinen ähnliche Fehler bei der Ausführung der Eckverbindungen wie am Göttinger Altarwerk. 767 Bildvorbereitung Die Flügeltafeln waren ursprünglich ebenfalls beidseitig mit Leinwand beklebt, wobei unter dem Gewebe wie am Barfüßerretabel eine Kreideschicht auszumachen ist. Die Unterzeichnung auf dem weißen Malgrund mit Pinsel ist in den Gewändern sicher und ausführlich angelegt, in den Gesichtern eher sparsam. Sie ähnelt der Unterzeichnung auf den beiden anderen Werken des Barfüßer-Meisters, ist aber etwas sorgfältiger und dichter ausgeführt. Die Schattentiefen werden mit genau den gleichen kleinen, entlang der Pinsellinie aufgereihten Häkchen betont, die auch am Magdalenen- und Barfüßerretabel 767 Siehe Kap. 2.5.1., S. 97 und Kap. 4.2, S. 249. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 271 - vorkommen, und als Kennzeichen des Meisters anzusehen sind. Die sorgfältigere Ausarbeitung der Unterzeichnung am Drei-Königs-Retabel kann durch die kleineren Formate oder die frühere Entstehung begründet sein. Das Figurenrepertoire, an dem die Verwendung von Schablonen zu überprüfen ist, ist hier klein. Es fällt aber auf, dass die Ohr-, Hals- und Nackenlinie der Marien auf beiden Flügeln deckungsgleich ist. Metallauflagen und ihre Oberflächengestaltung Die Punzarbeiten auf den Goldgründen und im Strahlenkranz des Christuskindes sind aufwendiger und kunstvoller als an den Magdalenentafeln. Neben fünf oder sechs einfachen Punktpunzen wurde ein Zahnrädchen verwendet, das aber mit den am Barfüßerretabel benutzten Punzierrädchen nicht identisch ist. Der Wechsel von positiv und negativ gekörnten Legenden in den Nimben wiederholt sich an allen drei Retabeln. Brokatmuster Die Brokatmuster folgen denselben Grundmustern wie am Magdalenen- und Barfüßerretabel und zeigen neben den Blüten mit dreieckigem Kern auch Kronen und den feierspeienden Löwen. Motivvorlagen sind aber phantasievoller variiert und vor allem mit mehr Bedacht bedeutungsvoll platziert: So erscheint der Löwe genau zwischen den Nimben des Engels und der Maria der Verkündigung und auf der Anbetung des Kindes umfasst die Maria mit ihren Händen ein Muster wie einen bekrönten Fruchtkern, was so weder am Magdalenen- noch am Barfüßerretabel vorkommt. Eine Strukturierung mit Strichpunzen fehlt. Die Imitation eines realen Textils wird gar nicht erst angestrebt, so kommen die Muster viel klarer zur Geltung. Hierin ist die Gestaltung überaus qualitätvoll und modern. Farbauftrag und Verzierungstechniken Der Farbauftrag, besonders der Inkarnate, ist fein vertrieben. Nur an untergeordneter Stelle erkennt man die kurzen strichelnden Vertreibungen wieder, die an den Magdalenentafeln so charakteristisch sind (Abb. 142). Mit weißen Farbstupfen werden – wie an allen Werken der Barfüßer-Werkstatt – Perlen imitiert. Fazit: Das Werkstück trägt Merkmale, die nahe legen, dass hier derselbe Schreiner wie am Barfüßerretabel tätig war. Unterzeichnung und Malerei sind von besonderer Qualität Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 272 - und Eigenständigkeit. Anzeichen einer Schematisierung und Delegation von Arbeitsschritten sind in Unterzeichnung und Malerei nicht erkennbar. Die strichelnden Vertreibungen der Farbe treten kaum in Erscheinung, sind aber an wenigen Stellen wiederzuerkennen. So altertümlich die Thronarchitektur als Rahmen für die Verkündigungsszene wirkt, so fortschrittlich ist der Umgang mit den Brokatmustern. Möglicherweise nimmt die verworfene Unterzeichnung in der Verkündigung des Barfüßerretabels auf die Verkündigung des Drei-Königs-Retabels Bezug, was dafür spricht, dass das kleine Retabel in Offensen dem großen Auftrag in Göttingen vorausging. Die Punzierungsarbeiten haben hier dieselbe hohe Qualität wie am Barfüßerretabel. Neuzuschreibung: Gedächtnistafel aus Braunschweig Die für den Dom zu Braunschweig geschaffene, nur ca. 86 x 70 cm große Gedächtnistafel für die welfischen Herrscher und ihre Gemahlinnen Heinrich der Löwe und Mathilde, Otto IV. und Beatrix ist vor allem eine Inschrifttafel, die auf die Grablegen der vier Personen im Dom verweist und insofern von anderem Anspruch als die drei Retabel. Werktechnik: Die Tafel besteht aus zwei senkrecht gefügten Eichenholzbrettern. Eine dendrochronologische Untersuchung steht noch aus. Die Fuge ist partiell mit Werg gesichert, eine ganzflächige Leinwandbeklebung gibt es nicht. Bildvorbereitung, Metallauflagen: Eine IR-Untersuchung zur Aufdeckung der Unterzeichnung war bisher noch nicht möglich. Die exakte Aufteilung der Bildfläche und eingedrückte Konstruktionslinien lassen auf eine Konstruktionszeichnung mit Stift rückschließen. Eine Polimentvergoldung mit Punzierungen liegt nicht vor, so dass die Übereinstimmungen mit den anderen Werken der Barfüßer-Werkstatt hier nicht zu prüfen sind. Das Erscheinungsbild der in den Brokatgewändern unterlegten Metallauflagen ist dem am Barfüßerretabel aber sehr nah verwandt. Farbauftrag und Brokatmuster: Der Farbauftrag ist deckend-pastos. Erhabene Perlenimitationen aus weißer Farbe sind besonders am Hut Heinrichs des Löwen so gestaltet, dass die Verwandtschaft mit Schmuckbesätzen am Göttinger Retabel eindeutig ist. Die „Leerzeichen“ zwischen den in Mordantvergoldung ausgeführten Wörtern des Schrift- Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 273 - feldes zeigen Ähnlichkeiten mit den punzierten „Leerzeichen“ in den Nimben des Barfüßerretabels. Die Brokatpartien befinden sich in schlechtem Zustand. Schichtenaufbau, verwendete Metallauflagen und die Muster liefern aber den wichtigsten technologischen Beleg für die Entstehung der Tafel in der Barfüßer-Werkstatt. Die spitzen und die fächerförmigen Kerne des Blütenmotivs und die typischen mit Kreisen gefüllten Bänder sind ablesbar. Fazit: Die technologischen Indizien belegen die Zuschreibung der Gedächtnistafel aus Braunschweig an den „Barfüßer-Meister“ und seine Werkstatt. Ebenso wichtig ist aber die stilistische Prüfung der Malerei. Die Gesichter der über 200 Jahre nach ihrem Ableben gemalten welfischen Herrscher tragen keinerlei individuelle Züge. Die Gesichtstypen sind uns vor allem von der Außenseite des Barfüßerretabels bekannt. Die Darstellung von Otto IV. hat – seitenverkehrt – große Ähnlichkeit mit dem Kaiser mit Bügelkrone rechts der Pietà im unteren rechten Bildfeld des Göttinger Altars. Die Verwendung von Schablonen wurde nicht geprüft. In der Gestaltung der Gesichter der Frauen mit ihren schmalen Physiognomien zeigt sich aber eine größere Nähe zu dem Maler, der am Barfüßerretabel die Szenen des Marienlebens gestaltete.768 Bildwerke aus der Barfüßer-Werkstatt? Als einziges Schnitzwerk, dass man der Barfüßerwerkstatt zuordnen kann, sind die Figuren des Mittelschreins vom Retabel aus Offensen überliefert. Da sich die Originalfassung nicht mehr erhalten hat und die Holzkerne von der Neufassung vom Anfang des. 20. Jahrhunderts überdeckt werden, ist ein Vergleich unter kunsttechnologischen Aspekten kaum möglich. Die in der Neufassung der Gewänder gewählten Brokatmuster haben allerdings beim mittleren König eine auffällige Nähe mit dem aus der BarfüßerWerkstatt bekannten Musterkanon und spiegeln möglicherweise das Erscheinungsbild originaler Fassungsreste. Hauptsächlich obliegt es hier aber der stilkritischen Analyse, bildhauerische Merkmale herauszuarbeiten und die skulpturalen Fähigkeiten des Künstlers zu bewerten. Die fünf 8 bis 10 cm dicken Skulpturenreliefs sind nicht ausgehöhlt und haben jeweils – außer das an die Schreinrückwand montierte Relief mit Ochs und 768 Die Architektursprache mit den ausschwingenden Säulenbasen hat ältere Bezüge. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 274 - Esel – einen eigenen Sockel. Sie können also auch von der Barfüßer-Werkstatt „bestellt“ und an anderem Ort geschaffen worden sein. Die um 1420 datierte, vollständig vergoldete weibliche Reliquienbüste im Besitz des Niedersächsischen Landesmuseums wird hier ebenfalls in die Betrachtung einbezogen, da von der Osten vorschlug, sie der Barfüßer-Werkstatt zuzuweisen. Nicht nur ihre besondere Qualität, sondern auch ihre Provenienz macht sie in unserem Zusammenhang interessant. Sie stammt aus der Kirche in Uslar, der Residenz des Hauptauftraggebers des Barfüßerretabels, Otto Cocles. Die von der Autorin angeregte, jüngste Restaurierung brachte feinste Punzierungen zum Vorschein. Drei einfache Punktpunzen wurden benutzt, um das Reliquiendepositorium zu rahmen, den gekehlten Sockel zu verzieren und das Gewand mit sehr feinen Ranken zu schmücken. Die jetzt erkennbaren feinen Punzierungen von Blattranken könnte zwar ein Werkstattmitarbeiter, der für die Punzierungen des Barfüßerretabels verantwortlich zeichnete, geschaffen haben. Die Verwandtschaft der Formen – zum Beispiel mit den kleinen Ranken in einigen Nimben am Barfüßerretabel – ist indes für einen Beweis nicht überzeugend genug. Interessanter ist das Ergebnis der naturwissenschaftlichen Analyse, nach dem das für die Fasssung verwendete Blattgold eine mit dem am Barfüßerretabel verwendeten Gold übereinstimmende Zusammensetzung hat.769 Bei dem nah beieinander liegenden Bestimmungsort der Werke ist aber eine übereinstimmede Bezugsquelle des Blattgoldes wahrscheinlich. Letztendlich ist die technologische Überprüfung hier nicht zielführend. Vielsprechender ist die historische Recherche zu Bestimmungsort und Auftraggeber und die stilkritische Analyse, die noch ausstehen. Weitere Zuschreibungen an den Barfüßer-Meister Im Zusammenhang mit der Werkstatt des Barfüßer-Meisters nennt Stange einige zeitgenössische Missale, die aus dem Braunschweiger Dom stammen und sich im Staatsarchiv in Wolfenbüttel bzw. in der Landesbibliothek in Hannover befinden. Laut Stange seien 769 Siehe Kap. 4.4, S. 266, Anm. 765. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 275 - sie „flott“ gemalt.770 Der Vergleich mit Unterzeichnung und Malweise der hier behandelten Werke wäre sicher aufschlussreich. Marx und Deiters stellen das ca. 1420 zu datierende Altarkreuz aus St. Magdalenen in Hildesheim als weiteres Werk des Barfüßermeisters oder seines Umkreises neu zur Diskussion.771 Es ist ein in einen pyramidalen Fuß mit bemalten trapezförmigen Seitenflächen eingestecktes etwa 1 m hohes Kruzifix mit vierpassförmigen Enden und einem runden Mittelfeld. Auf der Rückseite sind auf den Vierpässen Evangelistensymbole in einer Art Schwarzlotmalerei und in der Mitte eine Madonna mit Kind auf der Mondsichel dargestellt.772 Die Darstellungen auf dem Fuß – die drei Marien am Grabe und rückseitig die Hl. Magdalena – befinden sich in einem schlechten Erhaltungszustand und sind schlichter in der Figurengestaltung. Auch wenn die Kopfbedeckungen der drei Marien eine der Magdalena vom linken Predellenfragment des Barfüßerretabels sehr verwandte Form haben, liefern die sehr einfachen Punzierungen am Nimbus der Madonna auf der Rückseite keine technologischen Argumente, die diese These erhärten könnten. Weitere Tafeln schließen sich weniger eng an die Malereien des Barfüßer-Meisters an. Die Fragmente eines Altarretabels im Schloss Gottorf in Schleswig wurden in der Nachfolge der Barfüßer-Werkstatt gesehen. Sie liefern das einzige Beispiel, auf dem sich ebenfalls massive Metallapplikationen auf den Zierbänder zwischen den Bildfeldern befinden. Ihre Malereien sind aber viel „trockener“ als die des Barfüßer-Meisters. Ähnlich verhält es sich mit den Malereien eines Altarretabels aus Lye in Gotland, heute im Statens Historika Museet in Stockholm, die einer jüngsten Entdeckung von Johannes Tripps zufolge auch im Zusammenhang mit der Barfüßer-Werkstatt gesehen werden sollten. Es handelt sich hier um ein rein gemaltes Triptychon aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, das Tångeberg für norddeutsch hält. 770 STANGE 1938, S. 194f. Maria Deiters, Vortrag gehalten am 30.09.2006 beim Kolloquium zum Göttinger Barfüßerretabel, s.o. Kap. 1.4, S. 15, Anm. 22. 772 Diese Angaben beruhen auf der Dokumentation, die Annette Berg 2002 zur Restaurierung erstellte. 771 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 276 - Die weiteren, von Behrens und Stange laut kunsthistorischer Stilanalyse in Abhängigkeit vom Barfüßer-Meister gesehenen Arbeiten, geben nur noch lose Anknüpfungspunkte und sollen deshalb hier nicht weiter behandelt werden.773 4.6 Zum Werkstattstandort oder: War der Barfüßer-Meister ein welfischer Hofmaler? Bisher führte das anspruchsvolle theologische Programm des Barfüßerretabels zu der Annahme, der Maler sei selbst Franziskaner gewesen. Der in franziskanischem Habit unter dem Kreuz dargestellte Heinrich von Duderstadt wurde als der Maler gesehen und die Werkstatt in enger Anbindung an das Barfüßerkloster.774 Gmelin fragt „ob es sich nicht um einen weitgereisten geistlichen Maler handeln kann“.775 Franziskaner konnten viel reisen. Nach den Ausgrabungen gab es in Göttingen eine Schreibwerkstatt, eine Malerwerkstatt ist nicht belegt. Dass Mönche Malerwerkstätten führten, wissen wir zum Beispiel von Frater oder Meister Francke, der früh dem Dominikanerkloster St. Johannis in Hamburg beitrat und nach 1424 den Thomas- oder Englandfahrer-Altar für die dortige Kirche schuf, oder später von Frater Martinus Schwarz, der von 1485 bis 1506 Guardian des Franziskanerkonvents zu Rothenburg o. T., zugleich Faßmaler der von Riemenschneider geschnitzten frühen Werke des Wiblinger Altars und des Rothenburger Franziskus-Altars sowie Maler weiterer in Nürnberg und Karlsruhe aufbewahrter Tafeln war.776 Behrens lokalisiert die Werkstatt dieses Meisters nach Göttingen, „schon weil dort der größte seiner Altäre entstanden ist“, aber auch weil er hier eine seit Anfang des 15. Jahrhunderts bestehende, durch den Jacobikirchenaltar dokumentierte Tradition sah.777 Hiermit bezieht er sich auf Stange, der die bedeutsamere „ältere Göttinger Werkstatt“ 773 Nach Stange keine Werkstattarbeiten, aber ausgehend vom Barfüßer-Altar: Triptychon im Goslarer Museum, ehemals Dom, 1440er Jahre, nach Behrens 1939 Schulzusammenhang; Altar in der Quedlinburger Ägidienkirche, 1430er Jahre; Kanonbild eines Missale aus Fritzlar, Landesbibliothek Kassel, nach Behrens 1939 Schulzusammenhang, Stange DMG III S. 190. Heise sieht im Altar aus der St. Petri Kirche in Müden an. D. Aller (Kat. Hannover 1992, Nr. 57) um 1460/79, „späte Nachwirkungen dieser Schule auf bäurisch derben Malereien“, HEISE 1918, S. 56 774 Siehe Einführung Kap. 1.4, S. 20. 775 AUSST.KAT. BRAUNSCHWEIG 1985, Bd. IV. S. 421. 776 Verkündigung, Geburt Christi, Anbetung der hl. Drei Könige vom Rothenburger Liebfrauenaltar, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, sowie Marienkrönung, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. Vgl. Tilman Riemenschneider – Frühe Werke. Ausstellungskatalog Würzburg 1981, S. 28-32 (Hartmut Krohm) und 285-302 (Eike Oellermann). 777 BEHRENS 1939, S. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 277 - um den Meister des Göttinger Jacobikirchenaltars definiert. Zum Barfüßer-Retabel von 1424 stellt er in Frage, „ob man dabei von einer jüngeren Göttinger Werkstatt sprechen darf […] Vielleicht handelte es sich um einen Wandermeister, der mit einigen Gehilfen zwischen den Städten dieses Gebietes, Aufträgen nachgehend, wanderte.“778 Angesichts des Denkmälerbestandes ist Stanges Resumee: „Vielmehr macht der erhaltene Bestand deutlich, daß Maler und Werkstätten zwischen Göttingen, Braunschweig, Hildesheim und Halberstadt hin und her gewandert sind.“779 Unabhängig von diesen stilistisch begründeten Überlegungen stellt sich auch praktisch die Frage, ob die Werkstattstrukturen und -einrichtungen so beschaffen waren, dass sie einen festen Standort voraussetzten. Angesichts der Größe des Auftrags für das Barfüßerretabel muss in Erwägung gezogen werden, dass ein Hauptauftragnehmer projekt- und zeitgebunden „Wanderhandwerker“ als Spezialisten hinzuzog. Für Kammel kommt Göttingen aufgrund von Quellen jüngst wieder neu als künstlerisches Zentrum in Betracht.780 Die Provenienz des Magdalenenretabels kann Marx inzwischen mit entscheidenden historische Nachweisen für das sogenannte Reuerinnenkloster in Hildesheim belegen.781 Hierauf basierend vermutet Deiters den Standort der Malerwerkstatt in Hildesheim. Sie begründet dies anhand einander nahe stehender Werke der Glas- und der Tafelmalerei und belegt die engen wechselseitigen Beziehungen zwischen Hildesheim, Lübeck und Halberstadt.782 Ausgehend von der hier zum Werkkomplex des Barfüßermeisters neu hinzu zunehmenden Gedächtnistafel muss man allerdings auch Braunschweig als wichtiges Kunstzentrum mit in Erwägung ziehen. Das welfische Herzoghaus ist als Auftraggeber sicher von größerer Bedeutung, als es nach den gravierenden Zerstörungen heute noch ablesbar ist. Die Gedächtnistafel bildet möglicherweise einen „missing link“. Sie bietet eine späte Ehrung der welfischen Vorfahren. Die enge Verbindung des Malers zum welfischen Herzoghaus wird offensichtlich. 778 STANGE 1938, S. 186. STANGE 1938, S. 162. 780 Aus Anlass der Behandlung des Erfurter Einhorntriptychons bezieht er dies aus Rechnungen aus den Jahren 1444 bis 1446 bezogen werden, in denen ein bisher nicht einzuordnender Meister Michel Wispach und ein „Maler aus Göttingen“ genannt sind“, Kammel in: KROHM/WENIGER/ALBRECHT 2004 S. 151. Außerdem spricht er „von dem wohl in Göttingen tätigen Meister der Goldenen Tafel aus Lüneburg“, ebenda S. 150. 781 Petra Marx, siehe Kap. 4.1, S. 234, Anm. 682. 782 Maria Deiters, Kap. 1.4, Anm. 22. 779 4. Barfüßer-Werkstatt - 278 - Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext Für eine Einschätzung, ob und wo ein Hofmaler angesiedelt gewesen sein könnte, ist eine Schilderung des historischen Hintergrundes erforderlich. Als „Hauptsponsor“ des Göttinger Barfüßerretabels gilt der welfische Herzog von Braunschweig-Lüneburg Otto Cocles, der „Einäugige“, mit seinem Wappen an prominenter Stelle auf der Apostelseite gekennzeichnet. Von 1394 bis 1435 regierte er das Teilfürstentum Göttingen, das überhaupt erst 1345 zugunsten seines Großvaters, Fürst Ernst, von den anderen welfischen Territorien abgetrennt worden war. Nachdem dessen Sohn Otto, genannt der „Quade“ (der „Streitsüchtige“), zahlreiche Fehden und einen aufwendigen Lebensstil geführt hatte – zwischen 1368 und 1376 veranstaltete er allein fünf glanzvolle Turniere783 –, übernahm Otto Cocles ein völlig verschuldetes Land. Wiederholt musste er sich Geld von seinen Vettern, den Herzögen in Braunschweig-Wolfenbüttel leihen.784 Angesichts der finanziellen Lage und seines schlechten Gesundheitszustandes besiegelte er 1435 in einem berühmt gewordenen Vertrag die Übergabe der Regierung an einen ständischen Ausschuss, dem ein Landvogt sowie vier ritterliche und fünf städtische Vertreter angehörten. Mit diesem Vertrag sicherte er sich von ihnen einen angemessenen Lebensunterhalt, der nicht schlecht bestellt war.785 Dies duldeten Ottos Vettern bzw. deren Nachkommen, die Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttel wie auch die Herzöge von Lüneburg, nicht, da sie ihr Erbrecht bedroht sahen. Mit 10.000 Gulden tilgte Herzog Wilhelm von Braunschweig-Wolfenbüttel die Schulden und gewährte Herzog Otto Cocles einen jährlichen Unterhalt von 300 rheinischen Gulden. Otto Cocles residierte bis zu seinem Tod 1463 auf der nicht mehr erhaltenen Burg in Uslar. Hier ließ er 1428 eine „Fürstenkapelle“ errichten, von der nur der hochaufragende Chor verwirklicht wurde. Er geht in der heutigen St. Johanniskirche auf und beweist in seinen Maßen und Baudetails den Rang, der diesem Bauprojekt beigemessen war.786 Erhalten ist noch der Grundstein, der die Grundsteinlegung am 20. Mai 1428 belegt,787 783 MINDERMANN 2005, S. 140. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 24, Neudruck der 1. Aufl. von 1887, Berlin 1970, S. 685f.; Otto von Heinemann, Geschichte von Braunschweig und Hannover, Bd. II, Gotha 1892, S. 81ff. 785 Ernst Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, München ²2006, S. 36f. 786 „Einzelheiten in der architektonischen Durchbildung weisen auf späten Schulzusammenhang mit der durch die Hussitenunruhen aufgelösten Parler-Dombauhütte zu Prag.“ DEHIO 1977, S. 917. 787 Der Grundstein ist am äußeren Chorpfeiler der Kirche noch erhalten. Erhabene gotische Minuskeln stehen in vier vertieft ausgehauenen Zeilen. Die Inschrift lautet: 784 . . . . . . „anno d(omi)ni M° / cccc° xxviii° p(rese)ns / opus est i(n)cept(um) fe(r)ia va an(te) pe(n)thec(ostes)“, transkribiert: „Im Jahr des Herrn 1428 ist das gegenwärtige Werk begonnen worden am Donnerstag vor Pfingsten (20. Mai).“ Frau Dr. Christine Wulf, Inschriftenkommission der Akademie der Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 279 - sowie beachtliche Büstenkonsolen für verloren gegangene Statuen und eine Sakramentsnische mit einer Marienkrönung im Tympanon und kniender Trägerfigur (vielleicht des Stifters?), um 1430 (Abb. 161 a-c) .788 Die Koinzidenz der Daten lässt aufmerken: Schon ein Erbvertrag Ottos mit den Vettern des braunschweigischen Herzoghauses datiert vom 20. Mai 1401, nun wird am vierten Jahrestag der Weihe des Barfüßeraltars die Grundsteinlegung begangen.789 Eine Erklärung dafür gibt es bisher nicht. Aber die von Tripps aufgespürten Übereinstimmungen mit dem franziskanischen Kalender treten daneben in den Hintergrund.790 Aus der Uslarer Kirche stammt auch die weibliche Reliquienbüste. Gemeinsam mit seiner Gemahlin, Agnes von Hessen, die er um 1408 geheiratet hatte, stiftete Otto Cocles um 1435/40 auch den Ahnaberger Altar, was durch die beiden Wappen auf der Predella belegt ist (Abb. 183). Offensichtlich war hier nicht mehr der Maler des Offensener Altars und des Barfüßerretabels am Werk, aber seine Einflüsse werden doch durch die über den Auftraggeber vermittelten Vorbilder plausibel. Das Paar hatte zwei Töchter, Elisabeth, welche früh starb und Margarethe, die 1425 Herzog Heinrich von Schleswig heiratete. Insofern wäre noch einmal interessant, der Stiftung der in den Schulzusammenhang des Barfüßermeisters gestellten Retabelfragmente in Schleswig genauer nachzugehen. Angesichts der hohen Schulden wundert man sich über Herzog Ottos zahlreiche Stiftungen. Vielleicht aber gehörten gerade sie zu der aufwendigen Hofhaltung, die den Herzog tiefer in finanzielle Nöte trieben und letztendlich zu der Abgabe seiner Regierungsgeschäfte zwangen. Die Gedächtnistafel für den Braunschweiger Dom wäre vor diesen historischen Hintergründen auch als politisch oder Dankesgabe des Otto Cocles an seine Wissenschaften Göttingen, danke ich für die Überprüfung der Inschrift. Zum Vergleich mit der Inschrift auf der Außenseite des Barfüßerretabels schreibt sie: „Die Schriftarten beider Inschriften stimmen überein, es ist in beiden Fällen eine gotische Minuskel. Die gotische Minuskel ist zu der Zeit allerdings die einzig gebräuchliche epigraphische Schriftart, d. h. das Argument, daß in beiden Fällen diese Schriftart verwendet wurde, ist nicht belastbar. E-mail an die Autorin vom 20.01.2010. Abb. In: Gertrud WittKrakow, 1000 Jahre Uslar, Göttingen 1961, Abb. S. 62. und Karin Hahn, Evang.-Luth. St. Johanniskirche Uslar, Schnell&Steiner Kunstführer Nr. 2012, Regensburg 1994. 788 DEHIO 1977, S. 918. Außen am Chor, in einer Nische unter dem Osterfenster befindet sich das qualitätvolle, „leider beschädigte Kreuzigungsrelief mit Assistenzfiguren aus Sandstein, um 1430“ 789 Datum des Erbvertrags nach Allg. Deutsche Biographie, wie Anm. 704, S. 685. Zu der Übereinstimmung von Daten weist Wulf auf Baudaten Braunschweiger Häuser hin: „Die dortigen Hausinschriften hatten oft bestimmte Sonntage in verschiedenen Jahren als Fertigstellungsdaten.“ Eine Erklärung dafür hat sie nicht. E-mail wie oben. 790 Siehe Kap. 2.2, S. 54. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 280 - braunschweigischen Vettern denkbar, mit denen er den gemeinsamen Vorfahren huldigte. Mehrere Gründe sprechen also für die „Verortung“ des Meisters und seiner Werkstatt im südniedersächsischen Raum mit seinem Zentrum in Göttingen. 4.7 Resumee und Ausblick für die weitere Forschung Die neue Zuschreibung der Gedächtnistafel an die Werkstatt des Barfüßer-Meisters eröffnet einen neuen Blick auf Aufträge und Auftraggeber des Meisters. Herzog Cocles als letzter Regent des nach seinem Tod 1463 wieder an das Haus Braunschweig-Lüneburg angegliederten Teilfürstentums Göttingen gerät in das Zentrum der Betrachtung. Die Frage der ihm zur Verfügung stehenden Mittel ist durch die historische Forschung genauer zu überprüfen. Die Analyse des Göttinger Barfüßerretabels hat die Größe der Werkstatt und die Routine der Ausführung gerade in den dekorativen Elementen aufgedeckt. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen: Wo erwarb sich die Werkstatt des Barfüßer-Meisters diese Routine? Zur Diskussion gestellt sei die These, dass die Barfüßer-Werkstatt bei der Ausstattung der Burg in Uslar beteiligt war und sich vielleicht auch bei ephemeren Festdekorationen für den Fürsten größere Verdienste erworben hatte. Die Verwendung von Schablonen ist in der Wandmalerei länger bekannt. Neu zu fragen wäre, ob nicht das kleine, heute in Offensen aufbewahrte Drei-Königs-Retabel ursprünglich von Otto Cocles für seine Residenz in Auftrag gegeben worden war. Ausgehend vom geschnitzten Mittelschrein des Offensener Retabels wurde schon auf mögliche Bildschnitzereien aus der Barfüßer-Werkstatt hingewiesen. Die Frage ist noch dahingehend auszuweiten, welche anderen Materialgattungen in der Werkstatt darüber hinaus geschaffen worden sein könnten? In die zukünftigen kunstgeschichtlichen Betrachtungen sollten die in Uslar erhaltenen Bildhauerarbeiten aus Stein – neben dem Grundstein an St. Johannes das Sakramentshäuschen und ein Kreuzigungsrelief außen am Chor der Kirche – mit einbezogen werden. Bei der Sakramentsnische handelt es sich um ein hochrechteckiges, in die Chorwand eingelassenes Häuschen, das seitlich von schmalen Pfeilern mit Wimpergen eingefasst wird (Abb. 161). Innerhalb eines mit Krabben besetzten Spitzbogens ist über dem Fach die Marienkrönung dargestellt. Zwei gefiederte Engel sind zwischen seitlichen Pfeilern und Kreuzblume ähnlich eingeschrie- Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 281 - ben wie die Propheten in der Baldachinzone der Sonntagsseite. Die Baldachinarchitektur der Apostelseite des Göttinger Barfüßerretabels schöpft aus zeittypischem Formenrepertoire, doch lohnte der nahe Vergleich mit Denkmälern der Region. Auf die Notwendigkeit der Prüfung einiger noch erhaltener Buchmalereien wie des Missale aus dem Braunschweiger Dom wurde oben bereits hingewiesen.791 Dies gilt auch für Werke der Glasmalerei. An den drei Retabeln aus der Barfüßer-Werkstatt lässt sich ein arbeitsteiliges Arbeiten in unterschiedlichem Maße feststellen, das mit der verschiedenen Größe der Altarwerke in Einklang steht. Es spricht aber Einiges dafür, die Werke als Produkte einer zunehmend prosperierenden und effektiver arbeitenden Werkstatt zu sehen und in eine Chronologie vom Drei-Königs-Retabel über das Magdalenenretabel zum großen Barfüßeraltar zu stellen. Für das Magdalenenretabel wären die Beziehungen des Reuerinnenklosters in Hildesheim zum welfischen Herzoghaus genauer zu überprüfen. Die Malereien an den drei erhaltenen Retabeln zeigen sehr deutlich, dass die Qualität und die Bedeutung des Barfüßer-Meisters weit über die regionale Wirkung hinausgeht. Göttingen war über die Handelswege in Nord-Süd- wie in Ost-West-Richtung gut vernetzt.792 Es war Teil des seit 1384 bestehenden hansischen „Sächsischen Städtebundes“. Das Göttinger Franziskanerkloster gehörte nach der strengen franziskanischen Ordensstruktur zur hessischen Kustodie, die wiederum Teil der Kölner Ordensprovinz war. Es unterstand also dem Provinzialminister in Köln.793 Die historischen Hintergründe machen plausibel, was die technologischen Befunde nahelegen: Der Barfüßer-Meister hat seine künstlerisch-handwerkliche Bildung und Einflüsse aus anderen Kunstzentren bezogen. Die Kunstgeschichtsschreibung hat bisher, wie einführend beschrieben, immer die Nähe des Göttinger Barfüßerretabels, insbesondere seiner innersten Schauseite, zum Wildunger Altar von Conrad von Soest (um 1403) in Komposition und Figurengestaltung besonders betont. Diese Übernahme geht jedoch nicht über das Formale hinaus, 791 Siehe oben S. 239 Anm. 690. Dieter Neitzert, Göttingen als Handelsstadt um 1400, in: CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005, S. 156ff. 793 Peter Aufgebauter, Die Bettelordensklöster im mittelalterlichen Göttingen. In: AUSST.KAT. GÖTTINGEN 1994, S. 10. 792 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 282 - so dass hier nicht zwingend die direkte Anschauung, sondern auch eine Vermittlung über die Druckgraphik vorausgesetzt werden kann. Ein weiteres für westfälische Einflüsse geltend gemachtes Motiv ist die wellenförmige Wolkengestaltung, die entweder weiß auf dunkelblauem Grund gemalt oder mit Punktpunzen punziert meist als Rahmenelement eingesetzt ist, wie am Barfüßerretabel in beiderlei Form in mehreren Bildfeldern, vor allem der Festtagsseite. Kommt sie vor, so wird – wie beim Erfurter Einhornretabel von um 1430 im Erfurter Dom St. Marien – vom „Einfluss der konradischen Welle“ gesprochen.794 Jedoch findet man sie zum Beispiel auch an Tafeln des kölnischen Meisters von St. Laurenz.795 Aus technologischer Sicht weisen mehrere Detailbeobachtungen nach Köln. Sie betreffen die Punzierungen der Nimben und den Kanon der Brokatmuster und weisen auf die Gruppe Kölner Werke hin, für die die Namen Meister der Hl. Veronika oder dessen Nachfolge, Meister des Gereon-Altars und Meister von St. Laurenz je nach stilistischer Einschätzung und Datierung verschieden vergeben werden. Die Nimben mit ihrem Wechsel von positiv und negativ gekörnten Legenden und den typischen blattförmigen „Leerzeichen“ zwischen den Wörtern stellen – wie oben dargestellt – einen engen Bezug zum Gereonsaltar in Berlin und zu der demselben Meister zugeschriebenen Tafel mit „Christus am Kreuz mit Maria, Johannes und sieben Aposteln“ im Wallraf-Richartz-Museums Köln (Abb. 188 a) sowie näher noch zu der Votivtafel der Familie Rost von Cassel in Darmstadt (Abb. 189 a) sowie der zweiten Berliner Tafel eines Kölner Meisters um 1430 mit dem Gekreuzigten zwischen Maria und Johannes und je zwei weiteren Heiligen (Abb. 190 a) her.796 Auch die Brokatmuster lassen sich aus dieser Werkgruppe ableiten. Die Apostelseite bezieht hier auch kompositorisch ihre nächsten Anregungen her. Auf beiden erst genannten Retabeln stehen ganzfigurige Apostel auf einer Rasenfläche und werden von einem geschnitzten spitzbogigen Blendmaßwerk überfangen. Während auf den Flügeln des Gereonsaltars zwei Apostel 794 Auf diese von Werner Kloos stammende Formulierung verweist Frank Matthias Kammel in seinem Beitrag „Niedersachsen in Thüringen. Das Erfurter Einhornretabel und die thüringische Tafelmalerei der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts“ in: KROHM/ALBRECHT/WENIGER 2004, S. 143 f. 795 Tafel mit Tod und Krönung Mariae sowie Auferstehung und Himmelfahrt Christi Köln WallrafRichartz-Museum WRM 737 um 1420. 796 Die Zuschreibungen an den MS der Hl. Veronika, MS von St. Laurenz und Gereonsmeister verschieben sich in der Literatur wiederholt. Zuschreibung der Kölner Tafel WRM14 an den Gereonsmeister nach Kemperdick, BEST.KAT. BERLIN 2010, siehe Kap. 3.3 S. 206f. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 4. Barfüßer-Werkstatt - 283 - dargestellt sind, muss man angesichts der Breite der Kölner Tafel – darauf sei hier abweichend von der Rekonstruktion Zehnders hingewiesen797 – eher je drei Apostel auf den Flügeln ergänzen. Im Unterschied zu der sich daraus ergebenden imposanten Aufreihung ganzfiguriger Heiligen zu Seiten der Kreuzigung, erscheinen am Barfüßerretabel zunächst nur die Apostel auf der sogenannten Sonntagsseite, die Kreuzigung wird jedoch erst in der Mitte nach der letzten Wandlung sichtbar. Die Einflüsse aus Köln sind unverkennbar. Es obliegt der weiteren kunsthistorischen Forschung zu begründen, ob der Barfüßer-Meister selbst in Köln ausgebildet wurde und Mustervorlagen für die Gestaltung der Nimben und der Brokate mitbrachte oder ob für den großen Auftrag zur Herstellung des Göttinger Barfüßerretabels ein Mitarbeiter aus Köln „angeheuert“ wurde, der dann am Göttinger Retabel vor allem für die Punzierungen und die Brokate zuständig war. Ebenso sind die Einflüsse aus dem Osten, die sich – aus technologischer Sicht – in der Technik und Gestalt der Pressmuster- und Metallapplikationen spiegeln, auch stilistisch zu überprüfen. Mehrere Ansätze für weitere Forschungen werden damit gewiesen. Christus am Kreuz mit Maria, Johannes und sieben Aposteln, Eichenholz 176 x 245 cm, AUSST.KAT. KÖLN 1993, S. 296f. 797 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 5. Zusammenfassung - 284 - 5. Zusammenfassung Stichwortartig seien die drei übergreifenden Fragestellungen in Erinnerung gerufen, die den Ausgangspunkt dieser Arbeit bilden: (1) Wie lässt sich das bisher mangelhafte Bild vom Göttinger Barfüßerretabel in der Forschung mit Hilfe des kunsttechnologischen Ansatzes erweitern und neu begründen? (2) In welchem Verhältnis steht die systematische technologische Befundanalyse an einem Kunstwerk in ihrem Ertrag für eine präziser zu schreibende bzw. breit zu fundierende Technikgeschichte der Künste? (3) Wie tragfähig und notwendig ist der kunsttechnologische Ansatz innerhalb des methodischen Repertoires der Kunstgeschichtsforschung? Der gewählte kunsttechnologische Ansatz war nur durch die Auffächerung in vier verschiedene Dimensionen zielführend: der systematischen Befundanalyse, der kontextorientierten Schichtenanalyse, der Restaurierung als Dimension kunsttechnologischer Analyse und der vergleichenden Methode. Häufig entwickelten sich die Ergebnisse aus der Koppelung zweier Dimensionen, wie etwa Befundanalyse und Restaurierung, Befundanalyse und vergleichende Methode, kontextorientierte Schichtenanalyse und Restaurierung. Die Herangehensweise soll jeweils mit den im Folgenden zusammengefassten Ergebnissen reflektiert werden. Ad (1) Erträge zum Göttinger Barfüßerretabel Die Restaurierung begleitete die Befundanalyse. Sie beinhaltete die Abnahme von vergilbten Firnisüberzügen und interpretierenden grauen Patinaschichten, die bei der Befunderhebung nicht in ihrer flächigen Ausdehnung erfasst werden konnten. Modellierungen der großen Farbflächen – wie z.B. in den Gewändern der Frauengruppe links unter dem Kreuz – kamen neu zum Vorschein. Dadurch gewinnt die Behandlung der Körperlichkeit der Figuren im Detail, nicht jedoch die Komposition an sich wesentlich an Raumverständnis. Aufgrund kleinster wiedergewonnener Farbreste ließ sich auch am rechten Rand der Szene der „Verkündigung an Maria“ eine Säule rekonstruieren, die die Komposition seitlich abschließt und damit auch Maria räumlich anders umfängt. 798 Gerade dieses Bildfeld erscheine zusammen mit der Ölbergszene „ausgesprochen 798 Siehe Abb. 55 a (nach der Freilegung). Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 5. Zusammenfassung - 285 - flächenhaft“ – so begründete Behrens unter anderem seine grundlegende Kritik an der künstlerischen Qualität des Retabels.799 Die Restaurierung bietet eine größtmögliche Annäherung an den ursprünglichen Zustand, die intensive Farbwirkung war jedoch vor allem auf der Außenseite nicht wiederherstellbar. Erst die Befundanalyse ermittelte die teilweise gravierenden farblichen Veränderungen der transparenten und gefärbten Überzüge auf den Blattmetallauflagen der Brokate auf den inneren beiden Schauseiten. Vor allem die Grüntöne haben sich verändert, auf den Metallauflagen wirken sie gelb-bräunlich, auf den deckenden Farbbereichen verbräunt. Als bemerkenswerteste technologische Befunde zum Barfüßerretabel sind zu erwähnen: Der Wechsel der Holzarten Eiche für die Hauptelemente und konstruktiven Teile und – aufgedeckt durch die Restaurierung – Fichtenholz für die Außenflügel und die Predella hat offensichtlich statische Gründe. Das verwendete Holz stammt aus der Harzregion. Holzart und Qualität sprechen dafür, dass am Herstellungsort des Retabels lockerere Zunftbedingungen galten, als sie aus Lübeck überliefert sind. Ebenfalls nur durch die Restaurierung wurde erkennbar, dass die Tafelfugen beidseitig zunächst partiell mit Werg oder Pergamentstücken gesichert sind, bevor eine vollflächige Leinwandabklebung auf einer schwarz pigmentierten Grundierschicht aufgebracht wurde. Dies ist ein Schichtenaufbau, der bisher so nur in Südeuropa belegt ist. Ein vielfältiger Einsatz weniger Schablonen für die Anlage der Figuren, insbesondere der Gesichter, ließ sich durch eine systematische Überprüfung am Objekt nachweisen. Kartons und möglicherweise Konturschablonen wurden dabei verschoben, gedreht und seitenverkehrt eingesetzt. Die Frage ist, ob dies aufgrund der Arbeitsökonomie geschah oder, um ein zuvor bis zur Musterreife entwickeltes, ideales Figurenbild zu kopieren und einen möglichst ebenmäßigen Gesichtstyp auf dem großen Altarwerk immer maßstabsgleich abzubilden. Die Verwendung der Schablonen an sich ist von entscheidender Bedeutung für die Bewertung der künstlerischen Qualität des verantwortlichen Meisters. Die Art der Schablonen und ihrer Verwendung sowie Differenzen im Farbauftrag machen die Handschriften verschiedener Werkstattmitarbeiter erkennbar. Die Passions799 BEHRENS 1939, S. 51. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 5. Zusammenfassung - 286 - szenen und die Darstellung des hl. Franziskus auf der Mitteltafel unterscheiden sich von den Bildfeldern auf den Flügeln der Festtagsseite durch die verwendeten breiteren Gesichtsschablonen und den warmtonigeren, feiner vertriebenen Farbauftrag. Sie sind offensichtlich von verschiedenen Mitarbeitern ausgeführt. Weder für das Kreuzigungsbild mit seinen größeren und variantenreicheren Gesichtern konnten Schablonen bisher festgestellt werden, noch für die Darstellung des Hl. Georg, die sich aber näher an die Malereien auf den Flügeln anschließt. Auf dem mittleren Zustand, der Apostelseite, zeigen sich ebenfalls unterschiedliche Handschriften in den Gesichtern und der Farbgebung der Architekturdarstellung. Danach lag die Ausführung der Innenflügel in anderer Hand als die der Außenflügel, wobei die Brokate und die grüne Wiese allerdings durchlaufend sehr einheitlich ausfallen. Diese Differenzierungen geben einen Einblick in die Arbeitsteilung und Werkstattstruktur bei der Herstellung des großen Altarwerks. Nur durch die systematische Erfassung der mit Blattmetallauflagen versehenen Flächen und der Punzierungen wurde deutlich, dass der materielle und der dekorative Aufwand von der Festtags- über die sogenannte Sonntagsseite bis zum geschlossenen Zustand sehr klar, fast kategorisch abgestuft ist. Dies deutet auf klare vertragliche Vorgaben durch die Auftraggeber – den Landesherrn und das Konsortiums von Vertretern der elf weiteren adligen Familien – wie auch auf eine gute Planung und Organisation durch den Auftragnehmer hin. Nach den gewählten Punzierungsmustern müssen die Predellenfragmente der Festtagsseite zugeordnet werden. Diese Beobachtung wirft weitere Fragen hinsichtlich der ursprünglichen Gestalt der Predella bei geschlossener Präsentation des Retabels auf. Der Werkstatt ist das ganze Repertoire an Verzierungstechniken unter Einsatz von Blattgold, Blattsilber und Zwischgold sowie von verschiedenen transparenten und farbigen Überzügen geläufig. Die Kreispolitur wird mit besonderer Perfektion auf Zwischgold angewendet. Mit Hilfe einer kleinen Auswahl einfacher Punzen gelingen fein „gekörnte“, modellierende figürliche Punzierungen im Goldhintergrund . Die Brokatmuster sind nicht unmittelbares Abbild kostbarer Textilien, sondern anscheinend von Mustervorlagen tradiert. Die farbigen Muster wurden routiniert frei aufgemalt, Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 5. Zusammenfassung - 287 - einzelne Motive sind – analog realer Textilmuster – in doppelter Metallauflage besonders hervorgehoben. Befundanalyse und Vergleich deckten auf, dass sowohl die punzierten Nimben wie auch die Brokatmuster auf Mustervorlagen zurückgehen, die auf Retabeln kölnischer Herkunft wiederzuerkennen sind. Dies wirft die Frage auf, ob die Ursprünge des BarfüßerMeisters selbst oder eines seiner Mitarbeiter in Köln zu suchen sind. Mit Messing- bzw. Tombaknägeln applizierte Beschläge aus reinem Kupfer als Zierbänder zwischen den Bildszenen sind ein bislang einzigartiger Befund. Sie ließen sich anhand eines winzigen Fragments auf der Mitteltafel mit Hilfe zerstörungsfreier naturwissenschaftlicher Elementbestimmung nachweisen. In den senkrechten Streifen rechts und links des Kreuzigungsbildes wurden längere Elemente benutzt als auf der übrigen Festtagsseite. Trotz umfassender vergleichender Studien ist eine annähernde Rekonstruktion des ursprünglichen Erscheinungsbildes nicht gelungen. Die von den viel geläufigeren Zinn- oder Blei-Zinn-Beschlägen abweichende Herstellung aus Kupfer steht möglicherweise in Zusammenhang mit Kupfervorkommen im Harz und Weserraum und dem bedeutenden Kupferhandelsplatz in Braunschweig. Die technologischen Vergleiche machen aber deutlich, dass sich der Barfüßer-Meister in diesem technischen Detail näher an künstlerisch-technischen Gepflogenheiten aus Nordostdeutschland orientiert. Plastische Zierbänder in Köln und Westfalen haben einen anderen Aufbau und andere Gestaltungselemente. Auf der Basis umfangreichen Vergleichsmaterials lässt sich eine über Türen zugängliche Predella mit seitlich geschweiftem Abschluss und vorderseitig mit Halbfiguren bemaltem Brett rekonstruieren, deren Mitte in Form eines Sakramentsfachs oder eines gemalten Christus als Auferstandener oder Weltenrichter besonders betont gewesen sein wird. Sie ist mit größter Wahrscheinlichkeit um Einiges breiter als die Mitteltafel. Der Forschungsansatz, auch alle weiteren Schichten, Übermalungen und Überzüge als Quelle zu nutzen und parallel mit den archivalisch überlieferten Daten auszuwerten, hat zu weiteren Erkenntnissen über die Rezeption und den Umgang mit mittelalterlicher Malerei im 19. Jahrhundert geführt. Es wurde deutlich, dass – analog zum Galerieton Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 5. Zusammenfassung - 288 - auf Gemälden des 17. Jahrhunderts – erst im Museum (!) nach 1882 eine graue Patina auf die Malereien des Retabels aufgebracht wurde, um die Buntfarbigkeit der Malerei zu dämpfen. Dies wirft einen Blick auf den „musealen Umgang“ mit Kunstwerken, der eine für das Museum – im Gegensatz zum kirchlichen Gebrauch – häufig reklamierte größere Akzeptanz geschichtlich überlieferter und fragmentierter Zustände tatsächlich nicht unbedingt beinhaltet. Die Schichtenanalyse im Kontext archivalischer Geschichtsdaten zu betrachten, funktioniert nur insoweit die Archivlage nicht zu dünn ist. Nach Abnahme der analysierten Überzüge ist sie – außer an zwei ca. 100 cm² großen, als Primärdokumentation erhaltenen Partien – nun nicht mehr durchführbar. Umso wichtiger ist es, diese Analyse vor dem Entfernen von Schichten auszuführen und zu dokumentieren. Ergebnisse zur Werkstatt des Barfüßer-Meisters Über das Barfüßerretabel hinaus wurden auch die anderen dem Barfüßer-Meister zugeschriebenen Werke in die technologische Analyse mit einbezogen: die an mehreren Orten verteilten Flügelfragmente eines Magdalenenretabels aus dem Kloster der Augustinerinnen in Hildesheim sowie das heute in Offensen/Kreis Uslar befindliche DreiKönigs-Retabel. Aufgrund technologischer Kriterien war es möglich, auch die Gedächtnistafel für Heinrich den Löwen, Otto IV. und ihre Gemahlinnen aus dem Braunschweiger Dom dem Barfüßer-Meister neu zuzuschreiben. Als viertes Werk wurde die weibliche Reliquienbüste von 1420 aus Uslar mit in die technologische Überprüfung aufgenommen, die als mögliches Bildwerk aus der Barfüßer-Werkstatt benannt worden war. Der Fund einer identischen Kreispunze beweist die Herkunft des Magdalenen- und des Barfüßerretabels aus derselben Werkstatt. Im übrigen sind die nicht schablonierten, aber an allen drei Retabeln und dem Gedächtnisbild nah verwandten Brokatmuster ein Zeichen für die Verwendung derselben Mustervorlagen. Soweit die Unterzeichnung sichtbar gemacht werden konnte, ist sie von derselben „flotten“ Handschrift. Dennoch lassen sich Unterschiede in der Ausführlichkeit der Ausarbeitung sowohl der Unterzeichnung wie auch des Farbauftrags im Detail ausmachen. Diese Beobachtungen lassen wieder Rückschlüsse auf das Barfüßerretabel zu. Im Kontrast zu der suchenden Unterzeichnung am Magdalenenretabel und der überaus Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 5. Zusammenfassung - 289 - feinen malerischen Ausführung des Drei-Königs-Retabels wird die effektive Malweise und die Beteiligung mehrerer Mitarbeiter am Barfüßerretabel umso deutlicher. Entsprechend der Entwicklung einer größer werdenden Werkstatt liegt es auf der Hand, die Retabel in eine neue chronologische Reihenfolge zu stellen: Am Retabel aus Offensen als frühestem Werk sind die Brokatmuster, bei Rückgriff auf dieselben Mustervorlagen, in überaus qualitätvoller und moderner Weise bedeutungsvoll platziert. Am Magdalenenretabel wird der Darstellung von Pflanzen auf dem rechten Flügel innen mehr Raum gegeben, auf den übrigen Seiten weisen stereotype Figurendarstellungen und Unterschiede in der Malweise auf die Beteiligung eines zweiten Malers hin. Mit einem Retabel wie diesem konnte sich der Meister für die Übernahme des noch ambitionierteren Auftrags für das Barfüßerretabel qualifizieren. Die am Barfüßerretabel ablesbare Effektivität und Routine in der Ausführung führt zu der Frage nach dem weiteren Aufgabenspektrum dieser Werkstatt. Über die Neuzuschreibung der Gedächtnistafel gerät dabei das welfische Herzoghaus, insbesondere der in Uslar residierende Regent des Teilfürstentums Göttingen, Herzog Otto Cocles, in das Blickfeld. Für die weitere historische und kunsthistorische Forschung ergeben sich mehrere neue Fragen. Zum Beispiel ist archivalisch zu prüfen, welche finanziellen Möglichkeiten Otto Cocles für Altarstiftungen, Bau und Ausstattung der Kirche und Residenz in Uslar trotz seiner ererbten Schulden besaß. In die weiteren kunsthistorischen Betrachtungen des Wirkens des Barfüßer-Meisters und seiner Werkstatt sind zukünftig auch das aus Stein gehauene Sakramentshaus und das Kreuzigungsrelief am Chor der Uslarer Kirche einzubeziehen. Zu fragen ist, welche Bedeutung der 20. Mai (Fertigstellung des Barfüßerretabels 1424, Gründungsdatum St. Johannis Uslar 1428) für die welfischen Fürsten hatte. Einen kleinen, vielleicht historisch interessanten Hinweis liefert die Entdeckung des übermalten und verschobenen Wappens der Familie von Kerstlingerode darauf, das möglicherweise zeigt, dass sie in der Gunst des Herzogs aufgestiegen war. Ad (2) Beiträge zur Technikgeschichte der Tafelmalerei Vor allem die systematische Befundanalyse hat zu wesentlichen, neuen Beiträgen zur Technikgeschichte der Malerei im späten Mittelalter geführt: Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 5. Zusammenfassung - 290 - Das Aufkommen einer Fugensicherung mit Werg wird bisher in Nordeuropa erst ab etwa 1500 angesetzt. Die Befunde am Barfüßerretabel und an der Gedächtnistafel belegen eine viel längere Tradition dieser Technik. Die Entdeckung einer konsequenten Verwendung von Schablonen zur Anlage von Gesichtern und Figuren liefert einen wichtigen, neuen Beitrag zur Technikgeschichte der bildenden Künste. Die Nutzung von Schablonen ist bisher nur für zwei große italienische Künstlerwerkstätten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nachgewiesen. Nun erscheinen Werkstattgepflogenheiten auch in Nordeuropa bereits zu Anfang des 15. Jahrhunderts in anderem Licht. Das Barfüßerretabel gibt ein Beispiel als Produkt einer arbeitsteilig arbeitenden, großen Werkstatt weit vor Lucas Cranach d.Ä. mit seiner Malerfabrik. Neue Erkenntnisse liefern die Untersuchungen auch zur Art der Anwendung von Konturschablonen. Für die Übertragung von Schablonen auf den Bildträger werden bisher immer zwei Verfahren genannt: die Verwendung einer Lochpause und das Durchgriffeln mit Hilfe eines geschwärzten Zwischenlegers oder über eine geschwärzte Kartonrückseite. Hier spricht Einiges dafür, dass Konturschablonen verschoben, gedreht und seitenverkehrt eingesetzt wurden. Somit sind nun ausgeschnittene Teilschablonen als dritte Möglichkeit der Übertragung in die Erwägungen einzubeziehen. Die Auswertung der Schichtenanalysen am Barfüßerretabel im Vergleich mit zeitgenössischen Beispielen aus Köln erweitert das Wissen über weiße und getönte Imprimituren. Analog zu den Quellen wird Imprimitur hier nicht mehr generell als ganzflächiger, mit Farbmitteln getönter Anstrich auf der Grundierung verstanden, sondern als durchaus auch partiell angelegter Auftrag mit der Funktion eines Lichtreflektors. Offenkundig wurden nur in einem begrenzten Zeitraum der Malereigeschichte Farb- und Bindemittel der Imprimitur je nach Farbpartie differenziert und optimiert. Am Barfüßerretabel sind diverse Farbpartien auf der mittleren und inneren Schauseite mit einer weißen oder leicht rosafarbigen, öligen Isolier- und Reflektorschicht unterlegt, die Außenseite dagegen komplett mit einer orangefarbene Imprimitur. Über die Befundanalyse und die vergleichenden Studien ließ sich das Kapitel der Pressmuster- und Metallapplikationen ergänzen und erweitern sowie die Entwicklungslinie Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 5. Zusammenfassung - 291 - nachzeichnen, die schließlich zur Entwicklung der Pressbrokatapplikationen führte. Pressmuster sind hier als aus Modeln geprägte Stuckelemente zu verstehen, die gelegentlich auf einem Träger aus Zinnfolie hergestellt sind. Neu hinzukommen aufgenagelte Metallapplikationen aus massiven Kupferplättchen für die Dekoration von Zierbändern, die die verschiedenen Bildfelder auf Altartafeln voneinander trennen. Ad (3) Zur Tragfähigkeit des kunsttechnologischen Ansatzes Die Identifizierung einer charakteristischen Punze, die die Herkunft des Magdalenenund des Barfüßerretabels aus derselben Werkstatt belegt, ist angesichts des einfachen, sich in der nordeuropäischen Malerei wiederholenden Punzenrepertoires der Zeit ein Glücksfall, der der Frage nach dem Nutzen kunsttechnologischer Analyse in die Hände spielt. Die Erkenntnis, dass die Gestaltung der Nimben und die Brokatmuster einerseits nach Köln verweisen, die plastischen Zierbänder andererseits eher den speziellen, in Nordostdeutschland entwickelten Formen verwandt sind, liefert der kunsthistorischen Einordnung neue Impulse. Die Neuzuschreibung des Gedächtnisbildes für Heinrich den Löwen, Otto IV. und ihre Gemahlinnen belegt vor allem die Tragfähigkeit des Ansatzes. Die technologischen Merkmale im Farbauftrag, in der Darstellung von Perlen, im technischen Aufbau und in der Form der Brokatimitationen bilden belastbare Argumente, die für eine Entstehung der Tafel in der Barfüßer-Werkstatt sprechen. Diese Neuzuschreibung sollte natürlich mit dem methodischen Instrumentarium der Kunstgeschichte untermauert werden. Eine solche Überprüfung steht noch aus. Dies zeigt, dass im Bereich der werkbezogenen Kunstwissenschaft die interdisziplinäre Herangehensweise letztlich am gewinnbringendsten ist. Bei der Identifizierung der weiblichen Reliquienbüste als Werk der Barfüßer-Werkstatt reichte dahingegen der kunsttechnologische Ansatz einschließlich der Mittel naturwissenschaftlicher Analysen nicht aus. Zu allgemein sind die Übereinstimmungen technischer Details. Hier sind die anderen methodischen Möglichkeiten der Kunstgeschichte gefragt. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 5. Zusammenfassung - 292 - Die Entdeckung der Verwendung von Schablonen hat nicht nur fundamental neue Einsichten in die Herstellung des Göttinger Barfüßerretabels im Besonderen gebracht, sondern stellt die bisherige – durch Warncke schon methodenkritisch betrachtete 800 – rein stilkritische Bewertung durch die Kunstgeschichte in Frage. Sie liefert schließlich eine Erklärung für das Unbehagen und die abwertenden Meinungen zur künstlerischen Qualität des Barfüßerretabels, die die Kunstgeschichte bisher formulierte.801 Die hier erstmals für die Herstellung spätmittelalterlicher Tafelmalerei in Nordeuropa bestätigte Verwendung von Gesichts- oder Konturschablonen sollte auch auf andere Altarwerke übertragen werden. Der kunsttechnologische Ansatz trägt damit zur innerhalb der Kunstgeschichtsdisziplin geführten Diskussion über die Sinnhaftigkeit von Fragen der „Händescheidung“ bei. Eine „Händescheidung“ ist unter technologischen Gesichtspunkten möglich. Sie kann aber für die mittelalterliche Tafelmalerei nicht mehr im bisher üblichen Sinn als Unterscheidung verschiedener individueller Künstlerhandschriften eigenständiger Meister gemeint sein. Vielmehr gibt die genaue Differenzierung – wie am Beispiel des Göttinger Barfüßerretabels gezeigt – einen Einblick in die Struktur einer großen mittelalterlichen Malerwerkstatt. Die Analysen der Naturwissenschaftler und die der Restauratoren sind heute eng zusammengerückt. Ohne die vorausgehende Befundanalyse, die technologischen Fragestellungen der Restauratoren und die interdisziplinäre Auswertung sind Materialanalysen nicht durchzuführen, müssen sie doch bei kleinst möglichem Eingriff größtmöglichen Erkenntnisgewinn bringen. Schichtenanalysen sind heute Sache der Restauratoren. Die Auswertung mit Hilfe der Mikroröntgenfluoreszenzanalyse zerstörungsfrei durchgeführter Elementbestimmungen braucht – mehr als der Begriff „zerstörungsfreies Untersuchungsverfahren“ suggeriert – die Kenntnis vom Schichtenaufbau, die teilweise durch die mikroskopische Betrachtung, oft aber nur anhand von Querschliffen gewonnen werden kann.802 Analyseergebnisse bestimmen Materialien nach ihrer chemischen Zusammensetzung, unabhängig von ihrer Provenienz. Restauratoren müssen die Kennt800 Siehe Einführung Kap. 1.4, S. 19 und Anm. 40. Siehe Einführung Kap. 1.4, S. 15. 802 Es wird allerdings versucht, die Technik der µRFA dahingehend weiter zu entwickeln, dass eine schichtenaufgelöste Elementbestimmung möglich wird (3D-Mikro-RFA-Methode ). Diese Entwicklung steckt hinsichtlich der Anwendung an Tafelbildern noch in den Anfängen (Prof. Dr. Birgit Kanngießer, TU Berlin). Siehe: B. Kanngießer, W. Malzer, A. Fuentes Rodriguez, I. Reiche, 3D micro-XRF Investigations of Paint Layers with a tabletop set-up, Spectrochimica Acta B, B 60, 41-47, (2005). 801 Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 5. Zusammenfassung - 293 - nisse der Restaurierungsgeschichte und der dabei verwendeten Materialien einer Auswertung naturwissenschaftlicher Analyseergebnisse beisteuern. Nicht zuletzt tragen die vergleichenden kunsttechnologischen Studien und die Analysen von technischem Aufwand und Qualität der Retabelkunst dazu bei, eine Neubewertung der Tafelmalerei in der Region des heutigen südlichen Niedersachsens in der Forschung anzustoßen. Impulse zur Erforschung weiterer Retabel werden gegeben. Das Peter und Paul-Retabel aus Hildesheim zum Beispiel verdient eine neuerliche, interdisziplinäre Betrachtung, nachdem kunsttechnologische Merkmale eine Korrektur der Datierung und Einflüsse aus Lübeck und Hamburg mit der Kunst Meister Bertrams nahelegen. Vor allem aber belegt die Werkstatt des Barfüßer-Meisters, ohne dass ihre künstlerische Leistung und Wirkung hier überbewertet werden sollen, eine florierende Kunstproduktion in einer Region, die in der Kunstgeschichtsschreibung nicht als künstlerisches Zentrum hervorgetreten ist. Hartwieg – Barfüßer-Retabel im Kontext 6. Literatur - 294 - 6. Literatur ALBRECHT 2005 Uwe Albrecht, Zur Schreintypologie norddeutscher Hochaltarretabel. Die Entwicklung ihrer konstruktiven und architektonischen Gestalt in den Jahren um 1400. In: CARQUÉ/RÖCKELEIN 2005, S. 305-330. ALBRECHT/ALBRECHT 1998 Anna Elisabeth Albrecht, Stephan Albrecht, Die mittelalterlichen Flügelaltäre der Hansestadt Wismar. Kiel 1998. ALBRECHT/V. BONSDORFF 1994 Uwe Albrecht, Jan von Bonsdorff (Hg.), Figur und Raum - Mittelalterliche Holzbildwerke im historischen und kunstgeographischen Kontext. Berlin 1994. 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