Die ständische Gesellschaft des 16./17. Jahrhun
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Die ständische Gesellschaft des 16./17. Jahrhun
sondern bloße konsequente Erweiterungen der formellen Struktur oder methodischen Erfahrungsverarbeitung. Koselleck ordnet Methodengeschichte und Erfahrungsgeschichte einander zu, ohne sie jedoch zu identifizieren. Aus seinen Überlegungen folgert Koselleck, daß die historischen Erkenntnisgewinne — langfristig nur von den Besiegten stammten. Hanna Schissler untersucht die theoretischen Voraussetzungen der klassischen Erforschung historischer Schulbücher als zentraler Quelle für historisches Bewußtsein. Neben der theoretischen Engführung auf die bilateralen Beziehungen und der Ausblendung interessanter Kontroversen innerhalb der Geschichtswissenschaft, kritisiert sie vor allem die theoretische Rückständigkeit dieser Annahmen. Sie plädiert deshalb für die Aufnahme der gegenwärtigen pädagogischen Diskussion und für die Erweiterung der thematischen Orientierung von der bilateralen zur interkulturellen Verständigung. Die ständische Gesellschaft des 16./17. Jahrhunderts und die moderne historische Forschung Winfried Schulze (Bochum) In den Jahren 1504 bis 1513 wurde der vordere Teil des Rathauses von Basel durch einen spätgotischen Neubau ersetzt. Als der Bau beendet war, schmückte ihn ein unbekannter Meister mit einem Wandgemälde, das die drei Stände dieser Welt, also Wehrstand, Lehrstand und Nährstand, zum Inhalt hatte. Papst, Kaiser und Bauer wurden dargestellt, über ihnen auf einem Spruchband der klassische Spruch: „Tu supplex ora, tu protege tuque labora." Ein Jahrhundert später machte ein erneuter Umbau am Rathaus auch die Überarbeitung des Wandgemäldes notwendig. Aus dem Papst wurde ein Pfarrer, aus dem Kaiser ein Ratsherr, nur der Bauer blieb, ebenso wie das Spruchband. Weitere zwei Jahrhunderte später machte sich der aufgeklärte Basler Politiker Peter Ochs Gedanken über dieses nurmehr in einer Chronik überlieferte Bild und fand es seltsam, daß man damals geglaubt habe, nur der Bauer solle arbeiten, nicht aber der Stadtbürger. Er wunderte sich: „Was mag doch die Exegetik eines solchen Mannes gewesen sein."' Der Basler Peter Ochs lieferte mir das willkommene Stichwort für die folgenden Überlegungen zur „Exegetik" der ständischen Gesellschaft in der modernen historischen Forschung. Diese Veränderung und Kommentierung eines Wandbildes, das die ständische Gesellschaft in ihren Hauptvertretern darstellte, kann uns zu einem Thema hinführen, das in den letzten Jahren eher selten behandelt wurde. Zuweilen scheint es ganz nützlich zu sein, sich einmal jenen Begriffen intensiver zuzuwenden, die dem Historiker normalerweise leicht und ohne große Bedenken aus der Feder fließen. Ganz im Unterschied zu anderen Universalien unseres Faches — etwa dem Staatsbegriff — empfinden wir im allgemeinen keine Bedenken, den Begriff der ständischen Gesellschaft zu verwenden.' Dies geschieht für erstaunlich große 1 Die Geschichte der Rathausgemälde hier berichtet nach C. H. BAER: Die Kunstdenkmäler des Kantons Basel-Stadt. Bd. 1. Basel 1932 (unverän. Nachdruck 1971), S. 517 ff. 2 Ich greife im folgenden auf Gedanken und Formulierungen zurück, die ich in der Einlei- 50 51 Zeiträume, wenn wir den Begriff sowohl für das Hochmittelalter als auch noch für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert angewendet finden. Ständische Gesellschaft ist offensichtlich ein breiter Allgemeinbegriff für die lange Phase der vorrevolutionären Geschichte Europas geworden, ein neutraler Ersatz für die gewiß problematische Kategorie der feudalen Gesellschaft.' Mit ständischer Gesellschaft scheint ganz allgemein jene Gesellschaft gemeint zu sein, die wir seit dem Frühmittelalter in ihren Grundzügen als existent ansehen und deren Ende i. a. in dem sog. „Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft" gesehen wird.' Jürgen Kocka hat diese Schwellenphase der europäischen Geschichte als „Übergang von der Stände- zur Klassengesellschaft" angesprochen und dabei noch deutlicher auf die zentralen Kategorien von „Stand" und „Klasse" abgehoben, die uns den gesellschaftlichen Wandlungsprozeß Europas in hoher begrifflicher Verdichtung nahebringen.' Natürlich kann ich mich hier nicht mit einer tung des von mir herausgegebenen Sammelbandes gemacht habe: WINFRIED SCHULZE (Hrsg.): Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität. München 1988. S. 1 ff. 3 Der sich in Hand- und Lehrbüchern niedergeschlagene Begriffsgebrauch deutet darauf hin, daß die Verwendung des Begriffs der „ständischen Gesellschaft" zunimmt, während der der „feudalen Gesellschaft" im Vergleich zu älteren Phasen der deutschen Geschichtswissenschaft abgenommen hat. Ingrid Batori hat in ihrer Beschäftigung mit der Sozialstruktur städtischer Gesellschaften des 16. Jahrhunderts eine Klärung der Bedeutung von sozialer Mobilität in der ständischen Gesellschaft vorgenommen, die mir leider erst nach der Münchener Tagung zugänglich wurde. INGRID BATORI: „Soziale Schichtung und soziale Mobilität in der Gesellschaft Alteuropas: Methodische und theoretische Probleme". In: ILJA MIECK (Hrsg.): Soziale Schichtung und soziale Mobilität in der Gesellschaft Alteuropas. Protokoll eines Internationalen Expertengesprächs der Historischen Kommission zu Berlin 1982. Berlin 1984, S. 8— 28. 4 ZWI BATSCHA, JORN GARBER (Hrsg.): Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. Politisch-soziale Theorien im Deutschland der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1981. Die Herausgeber unterscheiden eine „korporative, hierarchisch strukturierte Sozial- und Herrschaftsordnung" von einer „modernen Privatrechtsgesellschaft, die vom Staat als Rechtsgaranten abgehoben ist". Sie folgen damit einer weitverbreiteten These über das „Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft" seit dem späten 18. Jahrhundert, die in dieser Form kaum mehr aufrechterhalten werden kann. Korrekturen an dieser These hat bislang allein HORST DREITZEL: Protestantischer- Aristotelismus und absoluter Staat. Die „Politica" des Henning A rnisaeus (ca. 1575— 1636). Wiesbaden 1970, 5. 336 ff., bes. S. 347 f., anzubringen versucht. 5 JÜRGEN KOCKA: „Stand-Klasse-Organisation. Strukturen sozialer Ungleichheit in Deutschland vorn späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Aufriß". In: HANSULRICH WEHLER (Hrsg.): Klassen in der europäischen Sozialgeschichte. Göttingen 52 Interpretation der ganzen Epoche auseinandersetzen. Angesichts der Tatsache, daß diese Phase der gesellschaftlichen Entwicklung am ehesten noch von ihrer früh- und hochmittelalterlichen Entstehungsphase und von ihrer wie immer bedingten Auflösung her gesehen und am intensivsten erforscht wurde, will ich mich auf den Zeitraum des 16./17. Jahrhunderts konzentrieren, eine m. E. besonders interessante Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, wie man kaum näher zu begründen braucht. Als ständische Gesellschaft können wir in einer ersten Annäherung jene Etappe der gesellschaftlichen Entwicklung verstehen, die die Existenz gesellschaftlicher Gruppen sieht, die durch ein spezifisches Recht, eine spezifische Form des Erwerbs und eine dadurch begründete Fähigkeit der Ausübung oder Nichtausübung von Herrschaft bestimmt werden!' Die i. a. durch Geburt erworbene Zugehörigkeit zu einem „Stand" verpflichtet zur Wahrung der standesspezifischen Erwerbsbeschränkung und Lebensführung, jeder lebt mit dem ständisch gebundenen „suurn cuique". Damit erscheint diese Gesellschaft prinzipiell als frei von sozialen Verteilungskämpfen und Konflikten, im scharfen Unterschied zu einer durch Marktbeziehungen konstituierten Gesellschaft. Daneben jedoch muß gesehen werden, daß die ständische Gesellschaft oft genug einfach nur als durch die formale Existenz von Ständen charakterisiert gesehen wird, eine wohl kaum zureichende Definition, ebenso wie die Statuszuweisung durch Geburt. Diese oft nur sehr vagen Bestimmungen des Begriffs der ständischen Gesellschaft mögen vielleicht ein Grund für die relativ häufige Verwendung des Begriffs sein. 1979, S. 137— 165. Zur methodischen Einordnung mit Literatur ebd., S. 9 ff. — Zum Klassenbegriff sind die verschiedenen Arbeiten von Horst Stuke heranzuziehen. Zum Begriff „Stand" demnächst HORST STUKE: Artikel „Stand". in: OTTO BRUNNER, WERNER CONZE, REINHART KOSELLECK (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6. Stuttgart 1990. Vorläufig dazu die Bemerkungen von HORST STUKE: „La signification du mot 'Stand' dans les pays de langue allemande". In: ROLAND MOUSNIER (Hrsg.): Problemes de stratification soziale. Actes du colloque international (1966). Paris 1968, S..37 — 49. Vom Standpunkt der DDR-Geschichtswissenschaft vgl. GUNTHER VOLLER: „Einheit und Vielfalt im Prozeß des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus". In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 34 (1986), S. 22— 39, hier S..30 ff. 6 Ausgangspunkt ist hier die von Kocka entwickelte Definition; KOCKA, „Stand" (Anm. 5), S. 138. Vgl. auch die Definition bei BATSCHA, GARBER (Hrsg.), Ständische Gesellschaft (Anm. 4), 5. 9. 53 Am ehesten gerät der Begriff immer noch dann ins Blickfeld, wenn es um negative Bestimmungen ging. Das ist einmal die schon erwähnte Phase der Auflösung der ständischen Gesellschaft, der erwähnte Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft,' und zum anderen ist dies der Fall, wenn Historiker feststellten, daß die ständische Gesellschaft eigentlich noch eine beachtliche Menge an vertikaler gesellschaftlicher Mobilität aufzuweisen habe.' Hier finden wir alle jene bemerkenswerten Beobachtungen über das Absterben des alten Turnieradels in Bayern,' über Äbte aus Handwerkerfamilien,'' über den Aufstieg der bürgerlichen Juristen in der adeligen Gesellschaft," 7 Ich kann hier pauschal auf die Arbeiten von Reinhart Koselleck, Eberhard Weis, Rudolf Vierhaus hinweisen, die sich vor allem auf diese Phase der deutschen Geschichte konzentrieren. Dazu liegen inzwischen eine Reihe von Sammelbänden vor, die diesen Übergang unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchten. So zum Beispiel KARL OTMAR FRHR. VON ARETIN (Hrsg.).: Der aufgeklärte Absolutismus. Köln 1974; FRANKLIN KOPITZSCH (Hrsg.): Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland. München 1976; HELMUT BERDING, HANS-PETER ULLMANN (Hrsg.): Deutschland zwischen Revolution und Restauration. Königstein/Ts. 1981; HELMUT BERDING (Hrsg.): „Napoleonische Herrschaft und Modernisierung". In: Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), Heft 4, und zuletzt EBERHARD WEIS (Hrsg.): Reformen in) rheinhündischen Deutschland. München 1984 (Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 4). 8 Vgl. die allgemeine Charakterisierung der Epoche durch JEAN-FRANCOIS BERGIER in: J. C. MARGOLIN (Hrsg.): „Uavnement des temps modernes. Paris 1977 (Peuples et civilisations, Bd. 11). S. 35- 41, der von der „grande mobilite sociale" spricht, die diese Epoche charakterisierte (S. 36). Diese Bemerkung kann freilich nur für die erste 1 Lilfte des 16. Jahrhunderts gelten, für unseren Zeitraum des 16. und 17. Jahrhunderts kommt es daher darauf an, den Übergang von einer vergleichsweise hohen Mobilität zu einer neuen Verfestigung zu erklären. - WOLFGANG ZORN faßte die Epoche zusammen in: „Beharrung und Bewegung in der konfessionellen Gesellschaft". In: HERMANN AUBIN, WOLFGANG ZORN (Hrsg.): Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. 1, Stuttgart 1971, S. 491 -- 494. Die evidente Überlagerung von Statik und Dynamik ist zu einem festen Topos der Forschung geworden. 9 Vgl. dazu die Arbeit von DAVID R. BEISEL: The Bavarian Nobilitv in the seventeenth Century: A Socio-political Study. Ph. D. New York 1969. 10 EDGAR KRAUSEN: „Die Herkunft der bayerischen Prälaten des 17. und 18. Jahrhunderts". In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27 (1964) , S. 259 - 285, hier S. 261. Über Korbinian v. Prielmair zuletzt die schöne Skizze von VOLKER PRESS: Korbinian v. Prielmair (1643 - 1707). Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen sozialen Aufstiegs im barocken Bayern. Ottenhofen 1978. Ein weiteres herausragendes Beispiel bietet GERI KOLLMER: Die Familie Palm - Soziale Mobilität in ständischer Gesellschaft. Ostfildern 1983 (Aufstieg einer bürgerlichen Familie in den Reichsfürstenstand). 11 HEINZ LIEBERICH: „Die gelehrten Käte. Staat und Juristen in der Frühzeit der Rezeption". In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27 (1964), S. 120- 183; MAX11\11- 54 über geadelte Bürger im 15. und 16. Jahrhundert» über neue funktionale Eliten.'" Man könnte aus der Summe dieser Einzelbeobachtungen von MoLIAN LANZINN ER: Fürst, Rate und Landstände. Die Entstehung der Zentralbehörden in Bayern 1511 - 1598. München 1980. Für Württemberg vgl. IRMGARD LANGEKOT HÜ „Zur Sozialgeschichte des fürstlichen Rates in Württemberg im 15. und 16. Jahrhundert". In: VSWG 34 (1941), S. 237 267, und zuletzt die Bochumer Dissertation von Cl 1RISTINE VAN DEN HEUVEL: Beamtenschaft und Territorialstaat. Behördenentwicklung und Sozialstruktur der Beamtenschaft im Hochstift Osnabrück 1550- 1800. Osnabrück 1984. Die Bedeutung des bürgerlichen Bemmentunis ist ein Vorzugsthema rechts-, sozial- und ideengeschichtlicher Forschungen. JULIA BRUCKNER: Staatswissenschalten, Kameralismus und Naturrecht. München 1977, bes. S. 104, und zuletzt Toi und Verwaltung im 17. Jahrhundert". BERND WUNDER: Daphnis 11 (1982), S.5 14. 12 GUSTAV ADOLF VON METNITZ: „Geadelte Bürgerin Kärnten".In: Carinthia 1 155 (1965). S. 437 - 503. 1.3 Von dun neuen Funktionseliten sind die gelehrten Juristen wohl zu Recht am intensivsten behandelt worden. Fine vorzügliche Gesamtanalyse bei WII.LIAM BOÜWSMA: „Lawyers und early modern culturi ji". In: American Historical Review 78 (1973), S. .303 - 327. Unter vergleichenden Aspekten auch wichtig WOLFRAM FISCHER: „Rekrutierung und Ausbildung von Personal für den modernen Staat in England, Frankreich und Preußen in der frühen Neuzeit". In: REINHART KOSELLECK (Hrsg.): Studien zum Beginn der modernen Welt. Stuttgart 1977, S. 194 217. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Tagungs- und Publikationsreihe „L)cutsche Führungsschichten der Neuzeit' hinzuweisen, die eine große Fülle von Einzelbeobachtungen zur sozialen Mobilität in der 11-i:ihen und späteren Neuzeit zusammengetragen hat. Über die Arbeit des Bensheimer Instituts zur Erforschung historischer Führungsschichten unterrichtet ein Vortrag von GUNTER FRANZ in: Herold Jahrbuch 2 (1973), S. 23- 30. An Einzelbänden sind bisher erschienen: Bd. 1: Deutscher Adel 1430 - 1555. Darmstadt 1965; Bd. 2: Deutscher Adel 1555 - 1740. Darmstadt 1965; Bei. 3: Deutsches Patriziat 1430 -1740. Limburg 1968; Bd. 4: Universität und Gelehrtensrand 1400 - 1800. Limburg 1970; Bd. 5: Beamtentum und Na/ erstand 1400- 1800. Limburg 1972; Bd. 6: Führungskräfte der Wirtschaft in Mittelalter und Neuzeit 1350 -- 1800. Limburg 1973; Bd. 7: Führungskräfte der Wirtschaft in der Neuzeit 1790-1918. 1918. Limburg 1973; Ed. 8: Bauernschaft und Bauernstand 1500- 1700. Limburg 1975; Ed. 9: Führende Kräfte und Gruppen in der deutschen .21 rbeit,:rbewegung. Limburg 1976; Bd. 10: Bankherren und Bankiers. Limburg 1977; Bd. I I: Das deutsche Offizierskorps 1860 - 1960. Boppard 1980. Zuletzt erschien Ed. 12: Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit. Eine Zwischenbilanz. Boppard 1980. Einen Überblick über diese und andere Forschungen gibt WOLFGANG ZORN: „Deutsche Führungsschichten des 17. und 18. Jahrhunderts. Forschungsergebnisse seit 1945". In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 6 (1981), S. 176 197. Es muß jedoch betont werden, daßBüdinger die n Gespräche bei aller realen Beobachtung von sozialer Mobilität vorrangig natürlich am Problem der Herausbildung von Führungsschichten und Eliten interessiert waren. Dafür sprechen auch die interessen der RankeGesellschaft und des Bensheimer Instituts zur Erforschung der historischen f i tihrungsschichten, die beide zusammen die IM (finger Gespräche getragen haben. 55 bilitätsprozessen beinahe den Schluß ziehen, daß schon das 15. und 16. Jahrhundert ein solches Ausmaß an Mobilität kannten, daß man schon nicht mehr von einer ständischen Gesellschaft sprechen dürfte. Die Tendenz der Forschung zielt jedenfalls darauf hin, solche Abweichungen von der scheinbaren Norm der ständischen Gesellschaft besonders zu betonen und die reale Mobilität dieser Epoche hervorzuheben. Auf der anderen Seite besteht auch kein Zweifel, daß wir erst seit der Durchführung der großen Reformen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts von der realen Auflösung der Ständegesellschaft sprechen können, wobei bestimmte Restbestände noch tief ins 19. Jahrhundert hineinreichen. „Erst diese (sc. 1789 — 1821) Reformphase" — so urteilte Eberhard Weis — „leitete Deutschland hinüber vom agrarisch- und feudalbestimmten Ständestaat, der in den meisten Territorien durch den Absolutismus schon weitgehend modifiziert worden war, zum modernen liberalen Verfassungsstaat und zur Freisetzung der wirtschaftlichen Kräfte im Zeitalter der Industrialisierung."" Diese Beobachtungen über ein beachtliches Mobilitätspotential in der ständischen Gesellschaft wie ihre offensichtlich lange Dauer bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts und schließlich der Hinweis auf Modifizierungsvorgänge im Absolutismus bilden den Hintergrund für meine Überlegungen zur ständischen Gesellschaft, wobei gemeint sein soll das gesellschaftliche Ordnungssystem, nicht aber die ihm adäquaten Formen der politischen Entscheidungsfindung, das politische Ständewesen.'' Dieses ist in den letzten Jahrzehnten bekanntlich mit großer Intensität — nicht zuletzt im Göttinger Max-Planck-Institut — bearbeitet worden, seine gesellschaftlichen Grundlagen dagegen weit weniger. Meiner Meinung kann auch die institutionengeschichtliche Ständeforschung von dieser Fragerichtung profitieren. 14 EBERHARD WEIS, in: BOSE, WEIS (Hrsg.): Die Gesellschaft in Deutschland 1. Von der fränkischen Zeit bis 1848. München 1976. S. 237. 15 Zum Verhältnis zwischen den beiden Ebenen hat zuletzt Hans Boldt die Vermutung ausgesprochen, daß zwischen beiden insofern ein Zusammenhang bestehe, als die korporative Verfaßtheit der politischen Stände Ausdruck der Zeittendenz sei, „die neue und zum Teil sehr weitgehende gesellschaftliche Differenzierung rechtlich durch korporative Ordnungen zu stabilisieren, die dem einzelnen einen sozialen Standort und Orientierung, eine bestimmte Rechtsordnung und Schutz geben." Dadurch erst sei die „Gesamtheit selbst als eine Einheit handlungsfähig" gemacht worden. Vgl. HANS BOLDT: Deutsche Verfassungsgeschichte. Politische Strukturen und ihr Wandel. Bd. 1. München 1984, S. 179. 56 Wenn man hierzulande Forschungslücken auf diesem Gebiet feststellt, fällt um so eher auf, daß in anderen europäischen Ländern relativ intensive Debatten über den Charakter der frühneuzeitlichen Gesellschaft geführt worden sind. Zu erinnern ist vor allem an die französische Debatte über die „sociäe des ordres ou des classes", die vor allem durch die Person von Roland Mousnier geprägt worden ist." Ähnliches läßt sich für England beobachten, wo seit dem Beginn der Gentrydebatte Ende der 40er Jahre ca. drei Jahrzehnte lang heftige Kontroversen über das Ausmaß sozialer und Besitzmobilität und über den Zusammenhang dieser Phänomene mit der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts geführt wurden.' 7 Erinnert sei auch an die Konzeptionen von Peter Laslett einer „one-class-society" bzw. E. P. Thompsons, die beide auf expliziten Interpretationen der englischen Gesamtgesellschaft aufbauten." Alle diese interessanten Forschungsbeiträge legen es nahe, die Frage unserer ständischen Gesellschaft erneut aufzugreifen. Dies soll jedoch nicht nur aus der Sicht der modernen Forschung geschehen, sondern auch aus der Perspektive der Selbstinterpretation der Phase der ständischen Gesellschaft. Der Politikwissenschaftler Eric Voegelin betonte schon 1952 den Wert dieser Fragestellung, wenn er die Selbstinterpretation einer 16 ROLAND MOUSNIER: La venalite des offices sous Henri IV et Louis XIII. Rauen 1945 (veränderte Neuauflage Paris 1971). Dazu heranzuziehen sind eine Reihe einschlägiger anderer Publikationen von Mousnier, wovon hier nur seine methodologische Grundlegung und seine Institutionengeschichte genannt sein sollen: ROLAND MOUSNIER: Les hierarchies sociales de 1450 nos jours. Paris 1969 und Les institutions de la France sous la monarchie absolue. Bd. 1. Paris 1974, vor allem S. 13 ft. Zu Mousniers Ansatz ausführlich und kritisch EMMANUEL ROTELII: „La structure sociale dans Eitineraire historiographiquc de R. Mousnier-. In: Revue d'Histoire Economiquc et Sociale 51 (1973), S. 145- 182 und ARMAND ARRIAZA: „Mousnier and Barbier: The theoretical underpinning of the ,society of orders' in early modern Europe". In: Past und Present 89 (1980), S. 39 57. 17 Guter Einblick in die Diskussion bei LAWRENCE STONE: Social Change und Revolution in England 1540- 1640. London 1965, und ders.: „Social Mobility in England 1500- 1700". In: Past and Present 33 (1966), S. 16- 55. Wichtig dazu auch das Korreferat von A1,AN EVERITT in: Past and Present 33 (1966). S. 56 - 73' mit Betonung der für seinen Forschungsansatz wichtigen regionalen Differenzierungen und der Warnung vor einer Uherschätzung der sozialen Mobilität dieser Epoche. 18 PETER LASLETT: The world we have lost. London 1965, 5. 22 ff., und EDWARD P. THOMPSON: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Berlin 1980, bes. S. 247 ff. 57 Gesellschaft als Teil der sozialen Realität selbst betrachtete,''' ein Gesichtspunkt, der leider zu oft vergessen wird. Ich hatte zu Beginn schon das klassische Modell der dreigeteilten ständischen Ordnung erwähnt, das Modell der societe tripartite, von der Georges Duby gesprochen hat. Fragen wir zunächst nach der Geltung dieses Modells, über dessen Entstehung wir inzwischen durch die mediävistische Forschung gut informiert sind. 2c Die Belege für seine weitere Verwendung reichen weit über das Mittelalter hinaus. Im 16. Jahrhundert finden wir geradezu eine Konzentration einschlägiger Belege, auch dies ein bemerkenswertes Zeichen für eine in Unordnung geratene Gesellschaft. Doch reichen die Belege noch viel weiter. Im Zedler'schen Universallexikon finden wir folgenden Versuch einer Systematik der Stände: „Die Stände derer Menschen sind nach ihren natürlichen Moral-Kräfften ferner sehr unterschiedlich und kan eine richtige Eintheilung von denen selben, ihrer Vielheit wegen, nicht wohl gegeben werden. Indessen werden gemeiniglich alle Stände bekanntermaßen in drey Haupt-Stände getheilet, in den Lehr- oder Geistlichen, Wehr- oder Obrigkeitlichen und Nähr- oder Bürgerlichen und Bauernstand."'' Wenn auch der Artikel noch weitere Differenzierungen anführte — „wer will sie alle erzehlen" —, so ist doch das Festhalten am Dreiständemodell insofern bemerkenswert, weil damit ein Ordnungssystem höherer Qualität vorgegeben scheint, das alle Berufs- oder Besteuerungskategorien in sich aufnimmt. Seine Bedeutung liegt auch noch im späten 18. Jahrhundert darin, daß hier noch immer existente Herrschaftsansprüche und -rechte direkt und in legitimatorischer Absicht zur Grundlage eines Gesellschaftsmodells gemacht werden. Es ist deshalb weniger von den vielen berufsständischen Kategorisierungssystemen bedroht, sondern vor allem von jenem neuen ökonomischen Kategoriensystem, wie es in Ansätzen im Kameralismus, vor 19 ERIC VOFGFLIN: The New Science of Polities. Chicago 1952, 5. 67. 20 GEORGES Min': Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus. Frankfurt a. M. 1981 (dt. Übersetzung von 1.es trois ordres ou l'imaginaire du f&fdalisme. Paris 1978), und OTTO GERHARD OEXLE: ,,Die funktionale Dreiteilung der ,Gesellschaft' bei Adalben) von 1 aon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen Mittelalter". In: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 1 54. 21 Großes vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. Bd. 39. 1744, Sp. 1093 ff., hier Sp. 1097. 58 allem aber von der Physiokratie entwickelt wurde. Dieses System, das die steuerliche Abschöpfung beim Landbesitzer vorsah und die Beschränkungen wirtschaftlicher Tätigkeit aufheben wollte, zielte naturgemäß auf den harten Kern staatlich geschützter adeliger und geistlicher Privilegien. Die Beobachtung zur Diskussion gestellter Privilegien deutet darauf hin, daß sich ein Wandel vollzogen hatte. Die der ständischen Gesellschaft definitorisch eigene Statik war von einer neuen wirtschaftlichen Dynamik überlagert worden. Mit dieser Gegenüberstellung von statischen und dynamischen Elementen soll der Versuch gemacht werden, die schwierig zu bezeichnende Weiterentwicklung der ständischen Gesellschaft zu kennzeichnen, die bislang nicht hinreichend gelöst wurde. Angesichts vielfältiger Diskussionen um die Mechanismen der Entwicklung ganzer Gesellschaften, den Begriff der Modernisierung, hat sich der Eindruck verfestigt, daß mit unilinearen Fortschrittskonzepten keine adäquate Erfassung gesellschaftlichen Wandels mehr gewährleistet ist. Die oftmalige Erfahrung der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" und der Möglichkeit regredierender Entwicklungen gerade in der Geschichte Europas seit dein Spätmittelalter zwingt uns zur parallelen Betrachtung statischer und dynamischer Elemente. Ihre oftmals enge Verbindung, ihre gegenseitige Aufhebung erschwert zwar die Analyse, doch ist nur so eine angemessene Erforschung historischer Wandlungsprozesse zu erwarten. Im folgenden will ich dieses Problem der Konkurrenz statischer und dynamischer Elemente vor allem am Ökonomiebegriff des 16. und 17. Jahrhunderts erörtern. Hier läßt sich zeigen, daß in einer Epoche, die — realhistorisch ohne Zweifel schon von frühkapitalistischen Formen der Wirtschaft beeinflußt — jedoch weiterhin agrarisch-grundherrschaftlich geprägt war,'' verschiedene Analysekonzepte bereitstanden bzw. neuformuliert wurden, um die gesellschaftliche Ordnung und ihre sich anbahnende Veränderung zu erfassen. Das Gesamtbild der alteuropäischen Gesellschaft in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung wird wesentlich durch Otto Brunners Bild der vorrevolutionären societas civilis bestimmt. Dies ist die alteuropäische Adelsge22 Vgl. dazu die Darstellung bei PETER KRIEDTE: Spätfeudalismus und Handelskapital. Grundlinien der europäischen Wirtschaitsgeschichte vom 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1980, S. 31 fl. 59 sellschaft, scheinbar noch nicht teilbar in die modernen Kategorien von Staat und Gesellschaft, charakterisiert durch die schützende Privilegienordnung der einzelnen Stände, ethisch orientiert an den Idealen einer christlich reformulierten aristotelischen Ökonomik, d. h. der Lehre vom „ganzen Haus" als dem Bezugssystem wirtschaftlichen Denkens." Brunner hat an einer unbeachtet gebliebenen Stelle selbst diese spezielle Ökonomik definiert: „Die Ökonomik, die alteuropäische Lehre vom Hause, spricht vom Verhältnis des Hausherrn zur Ehefrau, zu den Kindern und den anderen Hausangehörigen (Dienern, Sklaven), dann von der Hauswirtschaft, der Haushaltsführung und der mit dieser unter agrarischen Verhältnissen untrennbar verbundenen Landwirtschaft, wobei die gesamte Technik der Haus- und Landwirtschaft mit einbezogen wird. Marktwirtschaft, Handel und Gewerbe interessieren diese Ökonomik nur soweit, als sie der Ergänzung der Hauswirtschaft dienen. Gegenstand der Ökonomik ist das Haus als ganzes in allen seinen Beziehungen und Gliedern, die durch das maßgebende Prinzip des Hausherrn zu einer Ganzheit zusammengefügt wird. An wirtschaftlichen Einsichten enthält diese Ökonomik nur einige primitive, der Alltagserfahrung entnommene Sätze, die für die Vorgeschichte der modernen Wirtschaftswissenschaft ohne Belang sind, da sie jederzeit aus der Praxis gewonnen werden können, wohl aber eine Reihe von ethischen, psychologischen, soziologischen Erkenntnissen und technische Lehren mannigfaltiger Art, die man in einem modernen Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre vergeblich suchen würde. Die wesentlichen Einsichten wirtschaftswissenschaftlichen Inhalts, die für die Vorgeschichte der Nationalökonomie von Bedeutung sind, stehen daher nicht in der Ökonomik, sondern in der Ethik und in der Politik, dort, wo das Problem des erlaubten Maßes der Marktwirtschaft für den einzelnen oder den Staat erörtert wird."" Diese doppelte Möglichkeit, relevante Aussagen zum Problem wirtschaftlichen Verhaltens zu gewinnen, ist geradezu als der Beginn der modernen 23 Exemplifiziert von OTTO BRUNNER: Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Rohberg 1612— 1688. Salzburg 1949; die entsprechenden systematischen Überlegungen in ders.: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 2. verm. Auflage 1968, hier vor allem S. 80 ff. und S. 103 ff. 24 Leider sehe ich mich z.Z. nicht in der Lage, dieses Zitat Brunners nachzuweisen. 60 begriffshistorischen Forschung geworden. Brunner gewinnt aus dieser einmal „zeitgebundenen", zum andern aber „modernen" Verwertungsmöglichkeit der Quellen der alteuropäischen Gesellschaft die Einsicht, daß sich „die Verschiebungen im Bedeutungsfeld der Wörter" oft nur langsam und in einem komplizierten geschichtlichen Prozeß vollzogen haben. Brunners vorrangiges Interesse galt ohne Zweifel dem aus den zeitgenössischen Quellen der Hausväterliteratur zu ermittelnden Bild von Gesellschaft. Die für ihn hier sichtbare Aufhebung der liberalen Trennung von „Staat" und „Gesellschaft" kam ihm aus zeitspezifischen Gründen entgegen, über die noch zu sprechen sein wird. Mit sehr viel weniger Aufmerksamkeit hat Otto Brunner in seinen Arbeiten jenen Prozeß verfolgt, der in deutlichem Unterschied zu dieser „Ökonomik" wirklich zur Grundlage der modernen Wirtschaftsentwicklung wurde. Die hier entwickelten Einsichten begleiten in steigendem Maße den Vorgang, den wir als die Intervention des frühmodernen Staates in die Wirtschaft ansprechen können. Zwar erwähnt er — wenn auch flüchtig und offensichtlich ohne eigentliches Interesse — die „Kommerzien", die Förderung von Handel und Gewerbe, das Manufakturwesen, doch eigentlich eher, um diese Phänomene in ihrer für die Adelswelt destruktiven Funktion herauszustellen." Vor allem aber versucht Brunner nicht, die Anfänge dieser „Kommerzien" und ihrer Wissenschaften in gleicher Weise zu untersuchen wie den Weg der in seinem Sinne „ökonomischen" Literatur und sie in das Gesamtbild der Gesellschaft zu integrieren. So entsteht zwangsläufig das Bild einer harmonischen, alteuropäischen Kultur, die erst seit dem späten 18. Jahrhundert den finsteren Mächten „der Wirtschaft", der bislang so verpönten „Erwerbslehre" erlag?' Nun wäre es m. E. banal, das von Brunner entwickelte Bild damit kritisieren zu wollen, indem man auf die Phänomene frühkapitalistischer Wirtschaft im 16. Jahrhundert hinweist. Selbstverständlich war dies dem vorzüglichen Kenner auch städtischer Wirtschaft — wie wir oben gesehen haben — bekannt. Es würde auch nicht der Brillanz seines Ansatzes gerecht werden, der in der spezifischen Verbindung von realer Sozialgeschichte und der Geschichte des Denkens über Gesellschaft besteht. So liegt es nahe, Brun25 Ich beziehe mich hier vor allem auf BRUNNER, Adeliges Landleben (Anm. 23), S. und 5. 307 ff. 259 14 26 Ebd., 5. 320 ff. 61 ners Bild der alteuropäischen Gesellschaft mit Hilfe der Methode zu korrigieren, die er selbst verwendet hat, der Analyse nämlich des zeitgenössischen Denkens über Gesellschaft. Das bedeutet, jene Bereiche stärker zu gewichten, die Brunner notwendigerweise vernachlässigte. Brunner unterschätzte in seiner Orientierung auf die „Hausväterliteratur" jene Faktoren des Wirtschaftslebens und ihre gesellschaftlichen Folgewirkungen, die über den engen Rahmen des „Hauses" hinausweisen, also den Markt und seine eigene Gesetzlichkeit und die damit verbundenen Interventionsmöglichkeiten des frühmodernen Staates. Er verschloß sich damit auch den Einsichten, die schon im 16./17. Jahrhundert jenen Zusammenhang bezeichneten, den wir heute Gesellschaft nennen, den der Merkantilist Johann Joachim Becher „Civil societät" nannte und den Brunner eigentlich erst für einen Gegenstand des 19. Jahrhunderts hielt. Demgegenüber möchte ich behaupten, daß die Erkenntnis von gesellschaftlichen, d. h. über das „Haus" hinausreichenden Elementen des menschlichen Lebens einen Erkenntnisbereich darstellt, der sowohl in der zeitgenössischen beschreibenden Literatur wie in der Realität des politischen Lebens seinen Niederschlag fand. Es versteht sich dabei von selbst, daß hier nicht nur jene allgemeinsten Kategorien gemeint sind, die seit der Antike bereitstanden, um soziale Verbände verschiedener Größe zu benennen (societas, civitas, populus, politia etc.), sondern Begriffe, die neue, in die Zukunft weisende Konstellationen und Formen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Handelns benennen, dynamische Begriffe also. Dabei muß zunächst gesehen werden, daß auch die aristotelische „Ökonomik" nicht nur „Lehre vom ganzen Hause" war. Sie stellte in Form der Chrematistik, der Erwerbskunst, auch eine Kategorie für den richtigen Umgang mit dem Besitz bereit. Insofern kann es nicht darum gehen, etwa im Begriff der „acquisitio" — des Erwerbs — etwas schlechthin Neues, über den aristotelischen Rahmen Hinausgehendes zu erkennen. Sie ist Teil der „Ökonomik" nur insofern, als sie Regeln bereitstellt für den Erwerb der Güter, die im eigenen Haus nicht produziert werden können. Der Bedarf an diesen Gütern ist für Aristoteles freilich begrenzt, diese Güter sind nur Mittel zum guten Leben in rechtem Maß. Unbegrenztes Streben nach Gütern ist verwerflich, ein Gedanke, der seit Thomas von Aquin für lange Zeit die Wirtschaftsethik dominieren sollte. Deshalb ist die „acquisitio artificia6/ lis", also jenes Erwerben, das sich dem Kreislauf des Geldes anschließt, verwerflich, weil es nicht auf Gebrauchs-, sondern auf Tausch werte zielt, damit auf Gelderwerb und -vermehrung ohne Relation zu vernünftigen, d. h. begrenzten Bedürfnissen. Diese Wirtschaftslehre orientiert sich an einem Menschen, der Güter nur in dem durch seine leibliche Existenz gesetzten Maße produziert und verbraucht, eine Ausrichtung an der abstrakten Produktion von Gütern und ihrem Tausch widerspräche jedem Ideal menschlicher Ex istenz. Insofern muß ein Versuch, Überschreitungen des Aristotelischen Verständnisses von Wirtschaft zu eruieren, von der Tatsache ausgehen, daß zwar die Kategorien der Erwerbskunst formuliert, zugleich aber moralisch begrenzt werden. Innovative Schritte in diesem Bereich müssen daher nicht zuerst im kategorialen Bereich gesucht werden, sondern in der langsamen und zunächst unbemerkten Durchsetzung neuer Werte: der Ermöglichung eines unbegrenzten Erwerbs, also der Einsicht in den gesamtgesellschaftlichen Nutzen, den individuell-unbegrenztes Streben nach Gewinn haben kann, der Entwicklung einer abstrakten Güterlehre. Die Einsicht in den gesellschaftlichen Nutzen des Eigennutzes ist ja bekanntlich eine Einsicht, die wir zum einen der Anthropologie der Renaissance verdanken, zum andern aber dem praktischen Wirtschaftsdenken der oberdeutschen Städte, hier etwa einem Mann wie Conrad Peutinger.27 Es ist nun eine gesicherte Erkenntnis der historischen Forschung, daß es der Übergang zu geldwirtschaftlichen Formen des Warenaustauschs und die immer tiefer reichende Durchdringung der Wirtschaft mit Formen des Geldverkehrs war, der Europa veränderte. Diese Erkenntnis war schon Johann Georg Schlosser, dem Übersetzer der ersten deutschen Ausgabe der Politik des Aristoteles vertraut, wenn er 1798 schrieb, daß das Aufkommen der Geldwirtschaft und die allmähliche Schwächung der adeligen Grundbesitzer die „eigentliche Revolution" des Zeitalters verursacht habe.'` Gleich27 Vgl. dazu WINFRIED SCHULZE: „Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Nor- msenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit". In Historische Zeitschrift 243 (1987), S. 591 -- 626. 28 Der Begriff nach M. RIEDEL: „Aristoteles-Tradition am Ausgang des 18. Jahrhunderts". In: Alteuropa und die moderne Gesellschaft. Festschrift für Otto Brunner. Göttingen 1963, S. 278 —315, hier S. 306. 63 wohl ist mit einer solchen globalen Auskunft noch nicht viel gewonnen. Sie ist zu unspezifiziert, zu wenig in konkrete Abläufe differenziert, um Erklärungskraft für viele Fragen der modernen Forschung zu besitzen. Vor allem bringt sie nur wenig Aufschlüsse über die uns hier interessierende Frage, wann und wo im historischen Prozeß selbst traditionelle Grenzen überschritten wurden, wann es zum Konflikt oder gar zum Bruch zwischen Tradition und neuen Wertsetzungen kam. Bislang ist in der Forschung der bei Johann Joachim Becher (1635 — 1682) erstmals sichtbare Beginn einer neuen vertieften Einsicht in den Kreislauf der Wirtschaft nur unbefriedigend erklärt worden. Zwar weiß man, daß Becher in Kenntnis niederländischer Kommerzienliteratur schrieb, doch wurde der Einfluß anderer Faktoren und Einflüsse eher als problematisch hingestellt. Es ergibt sich daher das konkrete Problem einer Entwicklungsgeschichte der Vorstellungen über den Wirtschaftsprozeß im 16. und 17. Jahrhundert im deutschen Sprachraum.2' Dies gibt Anlaß zu der Frage, ob wir nicht schon frühere Konzeptionen einer durch Bedürfnisse konstituierten „Warengesellschaft" haben — wenn Sie mir diesen Begriff hier aus heuristischen Gründen einmal gestatten. Es scheint unzweifelhaft der Begriff des Bedürfnisses zu sein, an dem sich das auch von Brunner so charakterisierte moderne Gesellschaftsdenken entzündete. Bedürfnis dient darin als Kristallisationspunkt einer sich aus der alten societas civilis separierenden Wirtschaftsgesellschaft, in scharfem Gegensatz zu jener Gesellschaftskonzeption als der Summe autarker Häuser. Ich brauche hier kaum auf die besondere Bedeutung des Bedürfnisbegriffs für die Ausbildung bürgerlich-liberalen und sozialistischen Denkens im späten 18.Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verweisen. Bedürfnissteigerung wurde als fortschritterzeugende Kraft verstanden. Schon die kameralistische Literatur bedient sich dieses dynamischen Konzepts, wenn Justi zwischen „wirklichen" und „eingebildeten", Sonnenfels zwischen „wahren" und „eingebildeten" Bedürfnissen unterscheidet." Die ältere deutschsprachige Forschung auf diesem Gebiet hat sich der Frage vor allem unter der merkantilistischen Perspektive der Entstehung territorialer Wirtschaftspolitik gewidmet. Hier wurde die Frage zum Streitpunkt, zu welchem Zeitpunkt wir einen Übergang ansetzen können von einer Periode städtischer Wirtschaft zu einer neuen territorial ausgerichteten Wirtschaftspolitik, oder wie Georg v. Below im Gegensatz zu Gustav Schmoller lieber sagen wollte, einer „wirtschaftlichen Territorialpolitik". Daneben wurde im Zuge dogmenhistorischer Bemühungen vor allem die Originalität einzelner Schriftsteller, natürlich auch der Reformatoren, diskutiert, ohne doch die entscheidenden Fortschritte innerhalb der gewiß starken Kontinuitätslinien herausarbeiten zu können. Erst neuerdings hat der Lepenies-Schüler Wolf-Hagen Krauth in einer weiterführenden Arbeit den Versuch unternommen, die Reichweite wirtschaftspolitischer Begriffe vom Spätmittelalter bis in das 17. Jahrhundert hinein zu untersuchen. Diese von semantischen Befunden ausgehende Arbeit hat vor allem jene Phase aufhellen können, in der sich eine Erweiterung des klassischen Ökonomiebegriffs über das Hauswesen hinaus ergibt und die „Lands-Würthschafft" in den Mittelpunkt des Interesses gerät» Damit scheint ein wesentlicher Einwand der älteren Merkantilismus-Diskussion hinfällig geworden zu sein, der dem Merkantilismus eine theoretische Fundierung absprach. Die schon von Fritz Blaich erhobene Forderung, nach dem Ausmaß der Selbsttheoretisierung des Merkantilismus zu fragen," scheint hier ein wesentliches Stück verwirklicht worden zu sein. Ich habe schon auf den Begriff des Bedürfnisses verwiesen, der sich in dieser Frage als weiterführend erweist, zumindest insofern, als sich auf diesen Begriff ein notwendigerweise in Gang gesetzter Austauschprozeß gründen läßt. Ein wichtiges Verbindungsstück in dieser Geschichte scheint dabei das Werk des Löwener Professors für Politik, Nikolaus Vernulaeus (1583 — 1649), zu sein, der in Löwen Nachfolger auf dem Lehrstuhl des 29 Wichtige Hinweise natürlich bei BRUNNER, Adeliges Landleben (Anm. 23), S. 256 lt. Zuletzt dazu WOLF-HAGEN KRAUTH: Wirtschaftsstruktur und Semantik. Wissenssoziologische Studien zum wirtschaftlichen Denken in Deutschland zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert. Berlin 1984. 30 Vgl. dazu JOHANN BABTIST MULLER: Bedürfnis und Gesellschaft. Bedürfnis als Grundkategorie im Liberalismus, Konservativismus und Sozialismus. Stuttgart 1971, S. 13 ff., und UTA KIM-WAWRZINEK: Artikel „Bedürfnis I— II". In: Geschichtliche Grundbegriffe (Anm. 5), Bd. 1, 1972, S. 440-466. 31 KRAUTH, Wirtschaftsstruktur (Anm. 29), S. 148. 32 FRITZ BLAICH: Merkantilismus. Wiesbaden 1973, S. 10. 64 65 Justus Lipsius war." Das Thema seiner beiden „Libri institutionum oeconomicarum qui omnia domesticae doctrinae seu familiae regenda elementa continent" scheint der traditionellen aristotelischen Ökonomik zuzuordnen zu sein — es wäre dann für unsere Frage ohne weiterführende Bedeutung» Doch zeigt das 2. Buch ein deutliches Überschreiten dieser Lehre vom ganzen Haus insofern, als hier eine systematische Analyse des Wirtschaftsprozesses vorgelegt wird, die sich vom Haus nicht nur thematisch, sondern auch methodisch entfernt. Sie bedient sich dabei des Begriffs der „acquisitio", des Erwerbs also, der „in genere" und in seiner Anwendung auf agrarische Produktion und der künstlichen Produktion erörtert wird. Daneben findet sich ein Kapitel „De usu divitiorum", das sich als eine Erörterung über die gesellschaftliche Verwendbarkeit des Reichtums interpretieren läßt. Ausgangspunkt ist hier das Bedürfnis der Menschen: „Prima commutationis omnis causa est indigentia." Um die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen, wird auch der Hausvater angehalten, den Überschuß der Produkte zu verkaufen: „In forum mittat, quicquid superest, ut famelicam saepe civitatem iuvet." Diese Anweisung macht es erforderlich, die verschiedenen Arten des Erwerbs zu charakterisieren, die Vernulaeus in zwei Gruppen einteilt. Die „acquisitio naturalis" beruht auf der agrarischen Produktion (incl. Viehzucht, Fischzucht und Jagd), die andere ergibt sich aus der „mercatura rerum commutatio", ist also „acquisitio artificialis". Sie beruht auf dem Fleiß und der Mühe der Menschen. Beide Arten werden zur Oeconomia gerechnet, eine ohne Zweifel bemerkenswerte Erweiterung des Ökonomiebegriffs traditioneller Prägung. Während die Behandlung der agrarischen Produktion nur durch ihre systematische Behandlung und die Einbeziehung des Marktes von den traditionellen Ökonomiken abweicht, behandelt die „acquisitio artificialis", die dem natürlichen Erwerb nicht entgegengesetzt wird, weil sie Hilfe bewirkt 33 Vgl. dazu GERHARD OESTREICH: „Politischer Neustoizismus und Niederländische Bewegung in Europa und besonders in Brandenburg-Preußen". In: ders.: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Berlin 1968, S. 101 — 156, hier S. 122 f. mit weiterer Literatur. 34 NIKOLAUS VERNULAEUS: Libri institutionum oeconomicarum qui omnia domesticae doctrinae seu familiae regenda elementa continent. Löwen ed. secunda 1640. 66 („suppetias fert") und dem Mangel abhilft („inopiae succurrit"), was freilich in gewissen Grenzen erfolgen soll. Diese Form des Erwerbs wird unterteilt in Kauf und Verkauf der Dinge, die zum Leben benötigt werden, wodurch Geld geschaffen wird. Daneben gibt es die handwerklichen Tätigkeiten, die zwar „praeter naturam" wirken, weil sie die Dinge der von der Natur vorgesehenen Verwendung entziehen, dafür aber durch Kauf und Verkauf Geld schaffen, also nützlich sind. Von diesen Tätigkeiten zählt Vernulaeus insgesamt vier auf, nämlich Handel, Zinsnahme, Lohnarbeit und den Verkauf von Rohstoffen wie Holz und Erz. Bemerkenswert ist dabei sicherlich auch die Einbeziehung der Lohnarbeit in die Erwerbsformen. Der nächste Abschnitt verstärkt den Eindruck dieses zweiten Buchs, daß Vernulaeus dem künstlichen Erwerb besondere Bedeutung beimißt. Die Frage nach der natürlichen Bedingung des Handels beantwortet er mit dem schon erwähnten Hinweis auf die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse: „Naturae haec vox est, ut aliunde petas, quod tibi deest", eine Formulierung, die zusammen mit der schon erwähnten „digentia" die Vermutung bestätigt, daß Vernulaeus von einer naturgegebenen Veranlagung des Menschen zur Befriedigung seiner Bedürfnisse ausgeht. Die Suche nach dem, was man selbst nicht besitzt, ist eine Umschreibung der existierenden individuellen menschlichen Bedürfnisse und der natürlichen Neigung, diese zu befriedigen. Dies kann durch Tauschhandel, durch den Tausch Ware gegen Geld und den Erwerb von Geld durch Geld geschehen, wobei letzteres jedoch noch als contra naturam verdammt wird. Unzweifelhaft wird aber die Nützlichkeit jener Berufe hervorgehoben, die die Verfügbarkeit des Geldes an entfernten Plätzen sicherstellen. Noch ein weiterer Beleg für diese m. E. bislang übersehene Orientierung der frühen Kameralisten am Begriff des Bedürfnisses soll angeführt werden. Es geht hier nicht nur um eine der zahllosen zeitgenössischen Variationen des Satzes „pecunia nervus rerum", der als das Motto der finanzpolitischen Literatur gelten kann, die vor allem seit dem späten 16. Jahrhundert im Reich aufblüht." Darüber hinaus führt der Gedanke, daß der menschlichen Vergesellschaftung nicht allein der traditionelle Gedanke der Aufrecht35 Vgl. dazu MICHAEL STOLLEIS: Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1984, der auch (S. 130 ff.) den im folgenden erwähnten Bornitz in diesen Zusammenhang einordnet. 67 erhaltung der Ordnung und der Bestrafung des Bösen zugrunde liegt, sondern der Gedanke der gesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung. Wir finden diese Auffassung im Werk des in habsburgischen Diensten stehenden Jakob Bornitz, der nach 1600 eine Reihe politisch-ökonomischer Werke verfaßt. Aus diesen Arbeiten ragt zweifellos sein Traktat „De rerum sufficientia" von 1625 (geschrieben 1622) hervor, 36 eine — so könnten wir sagen — Güterlehre des frühen 17. Jahrhunderts. Güter („res") sind für Bornitz das andere Blut des Menschen, nicht nur notwendig zum Leben, sondern auch wichtig zur Annehmlichkeit und zum Wohlleben des Menschen. Gott wollte mit den Gütern dieser Welt dem Menschen nicht nur das Existieren ermöglichen, sondern auch das angenehme und behagliche Leben. Dieser breite Güterbegriff wird zur Grundlage einer differenzierten Produktion in Ackerbau, Handwerk, Handel und Dienstleistungen. Besonders der Handel wird als wesentliche Voraussetzung für die „sufficientia rerum" verstanden, keinesfalls nur als notwendiges Übel wie in der traditionellen christlich definierten Gesellschaftslehre. All dies wird von Bornitz in einer Weise beschrieben, die keinen Zweifel darüber zuläßt, daß hier im Gewand einer Güterlehre das Bedürfnis des Menschen und seine Befriedigung als zentrales Problem staatlichen Handelns verstanden wird. Ein ganz anderes Kategorien- und Wertsystem wird in Ansätzen sichtbar, wenn Bornitz von der „voluptas honesta" spricht.37 Schließlich aber können wir die Wirkung dieser Gedanken auch in Johann Joachim Bechers Interpretation der Gesellschaft wiederfinden, die Otto Brunner eher zurückhaltend als ein Deutlichwerden des „kommenden Umbruchs" gewürdigt hat. Er meinte damit die Tatsache, daß Becher in seinem „Politischen Diskurs" von 1668 zwar am Begriff der societas civilis festhält und die Begrifflichkeit der alten Ökonomik verwendet, tatsächlich aber bereits das „sceleton politicum" der „Wirtschaftsgesellschaft" freilegt. Dies wird deutlich in der Hauptunterscheidung zwischen den „Dienern der Gemeinde" (der Obrigkeit) und denen, die „essentialiter societatem civilem constituiern", also dem „Civilstand" oder „Nahrungsstand", also Bauern, Handwerker und Kaufleute. 36 J. BORNITZ: Tractatus Politicus de rerum sufficientia in republica et civitate procuranda. Frankfurt a. M. 1625. 37 Ebd., S. 57 und 189. 68 Diese drei „Classen" der Gesellschaft werden nun nicht nur in ihren unterschiedlichen Funktionen beschrieben, sondern sie werden in ihrem untrennbaren Zusammenhang gesehen, und dieser Zusammenhang ist es, der als das eigentliche Bindeglied der Gesellschaft verstanden wird: „Mit einem Wort, die Consumption erhält diese drey ständ/ die Consumption ist ihre Seel, die Consumption ist der einzige Bindschlüssel, welcher diese Stände aneinander bindet und hefftet, auch voneinander leben macht." Mir scheint, daß angesichts der realistischen Beschreibung der gegenseitigen Abhängigkeit von Bauern, Handwerkern und Kaufleuten man kaum wie Brunner davon sprechen kann, daß der „Begriff des ,wirtschaftlichen Kreislaufs' bei Becher noch ‚durchaus' fehle"." Vor allem, wenn man zum „Politischen Diskurs" noch seine „Psychosophia oder Seelen-Weisheit" von 1678 hinzunimm0 ergibt sich deutlich das Bild eines adelskritischen, aus wirtschaftlichen Gründen toleranten Analytikers, der ein divergierendes Bild der Gesellschaft entwirft. Sie besteht aus wirtschaftlich handelnden Individuen, deren Aktivität die Regierung nicht durch hinderliche Vorschriften und Eingriffe beeinträchtigen soll: „daß sich ein jeder mag ehrlich ernehren, wie er kan und weiß und daß er sich in Wohnung, Kleider und Tranck möge seinem Willen nach betragen, nur daß er sein Lassen und Thun obgemeldter allgemeiner politischer Staats-Regel nicht zum Schaden einrichte, nemlich nichts zur Verminderung der Volckreichheit, Nahrung und Gemeinschafft thue."41 Es zeigt sich in der Betrachtung der frühen Kameralwissenschaften, daß hier partiell Einsichten gewonnen werden konnten, die auf der anderen Seite im Bereich der naturrechtlichen Begründung des Gemeinwesens ebenfalls Anwendung finden. Samuel v. Pufendorf folgte in seinem Natur- und Völkerrecht von 1672 der von Hobbes entwickelten Einsicht in den Eigennutz des Menschen als eine von den wesentlichen „Ursachen, durch welche die Menschen zu Auffrichtung bürgerlicher Gesellschaft getrieben worden". 38 JOHANN-JOACHIM BECHER: Politischer Diskurs. Von den eigentlichen Ursachen des Auf- und Abnehmens der Städte, Länder und Republiken in specie. Frankfurt 1668, cap. II, 5. 6, cap. III, S. 17. 39 So die Kritik von BRUNNER, Adeliges Landleben (Anm. 23), S. 309. 40 JOHANN-JOACHIM BECHER: Psychosophia oder Seelen-Weisheit. 2. Auflage Hamburg 1705. 41 Ebd., S. 110. 69 Die Kommentierung Barbeyrac's formuliert zu dieser Feststellung von dem Vorherrschen des Eigennutzes: „Doch hat sich die Einrichtung bürgerlicher Gesellschaft nach dieser Unart des Menschen gerichtet und durch gewaltsame, einen jeden in Sonderheit beschwehrende Strafen von dem abhalten wollen, was allen insgesamt schaden kann; hingegen aber auch zu dem antreiben, was jeder zu aller anderen Erhaltung thun soll, damit also der Mensch, wo er kützlich ist, angegriffen und durch eigene Liebe zu äusserlicher Beförderung des gemeinen Nutzens angetrieben werden möchte."42 Brechen wir hier zunächst einmal ab und halten unser Ergebnis fest. Mir scheint, daß die oft behauptete scharfe Trennung einer alteuropäischen Gesellschaft einzelner Häuser und einer modernen Wirtschaftsgesellschaft seit dem späten 18. Jahrhundert weder der gesellschaftlichen Realität noch der hier aufgezeigten „anderen" Denktradition entspricht. In einem viel intensiveren Maße, als es solche Auffassungen für möglich halten, existieren in der ständischen Gesellschaft sich überlagernd und gegenseitig beeinflussend sowohl die Elemente traditioneller Ökonomik und moderner Wirtschaftsgesellschaft. Das „Wesen und Schema dieser Welt" — so eine Formulierung von Caspar Melissander von 1587 in anderem Zusammenhang (eines Ehebüchleins) — wurde nicht nur aus dem Blickwinkel des Hauswesens gesehen, sondern erschloß sich interessanterweise zuerst in einer Zeit offensichtlicher ökonomischer Expansion als neuer Zusammenhang von wirtschaftenden Individuen, Bedürfnisbefriedigung und daraus entstehender gesellschaftlicher Harmonie. Statik und Dynamik — so lautet ein vorläufiges Resümee — folgen nicht aufeinander, vielmehr koexistieren sie für einen sehr langen Zeitraum. Zur Verdeutlichung dieses Verhältnisses vom Nebeneinander von statischen und dynamischen Elementen kann man auf das — nun wieder realhistorische — Problem des Bevölkerungswachstums im sog. „langen" 16. Jahrhundert verweisen. Diese Phase des Wachstums ist für unsere Fragestellung deshalb von besonderem Interesse, weil hier die historische Ambivalenz von Wachstumsprozessen deutlich gemacht werden kann. Dem offensichtlichen Problem der Bewertung von Wachstumsprozessen soll an zwei Teilfragen nachgegangen werden: dem Bevölkerungswachstum und der Funktion des Denkens über die „potentia" der Staaten. Bevölkerungszunahme an sich ist noch kein besonders bemerkenswerter Vorgang. Solange genügend Land vorhanden ist, um einer wachsenden Bevölkerung Nahrung zu gewähren, solange ein Bevölkerungsüberschuß in Neusiedelgebiete abgegeben werden kann (Ostsiedlung) oder in die Städte abwandern kann, so lange ist dieses Wachstum relativ unproblematisch. Wir müssen jedoch für unsere Zeit annehmen, daß die Bevölkerungszunahme subjektiv schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts als bemerkenswert und zum Teil schon als bedrohlich wahrgenommen wurde. In der zweiten Jahrhunderthälfte läßt sich sogar ein ganzes Bündel von Auswirkungen feststellen, von denen das wichtigste wohl darin besteht, daß die wachsende Bevölkerungszahl die Inanspruchnahme neuer, wenn auch schon ungünstiger Bewirtschaftungsflächen erforderlich machte." Damit ist gemeint, daß in dieser Zeit nicht nur der alte Siedlungsraum wiederaufgefüllt wurde, sondern es setzte jetzt der Vorgang ein, den wir den zweiten Landesausbau nennen. Es ist der Zugriff auf Grenzböden in den Alpen, wo die Höhensiedlungen entstehen, oder auf Küstengebiet, wo Moore entwässert werden, wo Polder angelegt werden, um neues Ackerland zu gewinnen. Im Städtchen Balingen auf der Schwäbischen Alb — um nur dies eine Beispiel zu nennen — beobachtet der Stadtschreiber 1601, daß „rauhe und felsige, sowohl eigene als Gemeinäcker", die vorher ungenützt verblieben waren, „mehrenteils erst danach bei den angefallenen langwierigen Teuerungsjahren ausgereutet und umgerissen" worden waren. 44 Die in diesem Zitat erwähnte Teuerung des späten 16. Jahrhunderts ist ein deutlicher Hinweis auf das eingetretene Mißverhältnis zwischen den Nahrungsmittelressourcen und der Zahl der Menschen, die in diesem Rahmen ernährt werden mußten. Wenn uns die Bevölkerungs- und Siedlungsgeschichte und die Erschließung neuer Bewirtschaftungsflächen solcherart objektive Hinweise auf eine Bevölkerungsvermehrung geben, die unter den gegebenen Rahmenbedin43 44 42 70 Vgl. SAMUEL VON PUFENDORF: Von Natur- und Völkerrecht. Anderer Theil mit vielen nützlichen Anmerkungen. Frankfurt a. M. 1710, hier S. 424. Vgl. dazu die Darstellung bei KRIEDTE, Spätfeudalismus (Anm. 22), S. 28 ff. Hier zitiert nach WILHELM ABEL: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter. Hamburg, Berlin 1966, S. 100. 71 gungen als erheblich bezeichnet werden muß, können wir dem noch jene Quellen hinzufügen, die uns über die Bewertung dieses Vorgangs durch die Zeitgenossen Auskunft geben. Der Chronist Sebastian Franck schrieb um 1558 in seiner Deutschen Chronik, daß trotz des Verlustes von etwa 100 000 Toten im Bauernkrieg schon alles wieder „so voller Leute stecke, daß niemand bei ihnen einkommen kann." Das sollte wohl heißen, daß die Dörfer so überbesetzt waren, daß keine Zuwanderer mehr aufgenommen werden konnten. Es gibt auch Hinweise darauf, daß in einzelnen Gebieten Deutschlands — etwa in Oberschwaben, das zu den dichtbesiedeltsten Teilen des Reiches gehörte — der Druck der Bevölkerung auf das Land schon in den hundert Jahren vor dem deutschen Bauernkrieg so stark geworden war, daß sich die Kinderzahl von 5,5 auf 4,5 (pro Familie) verringert hatte, ein untrügliches Zeichen in einer vormodernen Gesellschaft, daß der Nahrungsmittelspielraum knapp wurde.45 Doch kehren wir zu den zeitgenössischen Berichten zurück, die uns nachhaltiger als Prozentzahlen belegen können, welchen Eindruck der Bevölkerungsanstieg auf die Menschen dieser Zeit machte. Der eben zitierte Sebastian Franck hielt den Anstieg für so bedeutend, daß er nur die Möglichkeit eines Krieges sah, der verhindern könne, daß ca. 100 000 Menschen „ausgemustert" werden müßten, um sich in Ungarn eine neue Heimat zu suchen. Ungarn bleibt übrigens im ganzen 16. Jahrhundert in den Köpfen deutscher Fürsten ein mögliches Kolonialland, und oft genug finden sich Vorschläge, Ungarn mit deutschen Kolonisten gegen die Türken zu verteidigen. Auch Ulrich von Hutten stellte schon eine Verbindung zwischen hoher Bevölkerungszahl und Teuerung her und empfahl deshalb sogar einen Krieg gegen die Türken. Eine sächsische Münzschrift sprach dagegen um 1548 erfreut darüber, daß „sich die menge des volcks in diesen Landen mergklich gemehret und das der werth der güther gestigen" sei. Dieser Autor ist bereits von dem merkantilistischen Gedankengang beflügelt, daß alleine eine Vermehrung der Bevölkerung diesen Wachstumsprozeß beschleunige.46 45 Vgl. dazu DAVID W. SABEAN: Landbesitz und Gesellschaft am Vorabend des Bauernkrieges. Eine Studie der sozialen Verhältnisse im südlichen Oberschwaben in den Jahren vor 1525. Stuttgart 1972, S. 36 ff. 46 Hier zitiert nach ABEL, Agrarkrisen (Anm. 44). 72 Damit können wir eine wichtige Beobachtung treffen. Es gibt im 16. Jahrhundert, vor allem gegen sein Ende hin, zwei Möglichkeiten der Interpretation des Bevölkerungswachstums. Die eine „statische" ist bestimmt von der Angst vor der Überbevölkerung und greift zu Vorschlägen wie Auswanderung und Krieg. Eine andere „dynamische" Richtung orientiert sich ganz neu. Sie begreift die Nachfrage nach Nahrung und Arbeit, nach Wohnraum und Land als willkommenen Anstoß einer Steigerung der Staatseinkünfte, als Initialzündung für das, was wir modern „Wirtschaftswachstum" nennen würden. Der Straßburger Politikprofessor Georg Obrecht entwickelte deshalb gegen Ende des 16. Jahrhunderts den Gedanken einer Bevölkerungsstatistik, und es tauchten — ganz auf dieser Linie — Vorschläge zur Besteuerung jener Männer auf, die keine Familie gegründet hatten, die sog. „Hagestolzensteuer". Für Veit-Ludwig von Seckendorff gilt es als ein Axiom territorialstaatlicher Politik: „So ist auch in einem regiment kein besserer schatz, als die menge vieler leute und unterthanen."47 Bei genauerer Untersuchung zeigt sich, daß diese Vorschläge zur Vermehrung der Bevölkerung zwar auf einer Linie liegen mit jenen der Reformatoren zu Eheführung und Heiratsalter, daß aber der wirtschaftstheoretische Hintergrund ein ganz anderer ist. Während Luther noch von der Überzeugung ausgeht, „Gott macht Kinder, der wird sie auch wohl ernähren", ist den Frühkameralisten Bevölkerungswachstum Voraussetzung des Wirtschaftswachstums. Unter Verweis auf die großen Städte wie Venedig wird erkannt, daß viele Bürger mehr Steuern zahlen, und deshalb legt man großes Gewicht auf eine Förderung der Geburten, ein Heranziehen von Einwanderern. Insgesamt sollen die Lebensbedingungen so gestaltet werden, sagt der schon erwähnte Jakob Bornitz zu Beginn des 17. Jahrhunderts, daß sowohl die Einwohner eines Landes als auch Einwanderer angereizt werden, die Bevölkerungszahl zu steigern. Es erscheint wichtig an dieser doppelten Diagnose, daß die Bevölkerungsvermehrung des 16. Jahrhunderts verschiedene Strategien in der Bevölkerungspolitik provozierte, eine skeptisch bewahrende und eine sich letztlich — trotz aller Hemmnisse — durchsetzende anti47 VEIT-LUDWIG VON SECKENDORFF: Teutscher Fürstenstaat, Neudruck der Ausgabe Jena 1737. Aalen 1972, S. 216. 73 ständische Bevölkerungspolitik, die unter dem Vorzeichen staatlicher Machtentfaltung — der „potentia" — steht. Staatliche Machtentfaltung wird deshalb zu einem der wichtigsten Motoren von Wachstums- und damit auch Mobilitätsprozessen in der frühen Neuzeit, zumal in Deutschland nach den Bevölkerungsverlusten des Dreißigjährigen Krieges. Steuertheorie und Besteuerungspraxis bemühen sich darum, die Länder „populös" zu machen, wohl wissend, daß damit erst die Voraussetzungen von politischer Macht geschaffen werden. Dieser spezifische Begriff von „potentia" findet sich in aller Klarheit entwickelt bei dem Jesuiten Adam Contzen, dem Beichtvater und Ratgeber Maximilians von Bayern zu Beginn des 17. Jahrhunderts: „Hinc ad principes, senatumque pertinet, de stabilienda, firmandaque et augenda potentia semper cogitare, idque agere, ut nulla dies sit, qua non adjiciatur aliquid potentiae rei publicae." Es sei Aufgabe des Fürsten und seiner Beamten, die potentia zu sichern, zu befestigen und zu vermehren. Kein Tag dürfe vergehen, an dem der potentia nicht etwas hinzugefügt werde. Diese potentia sei doppelt zu sehen, domestica und externa, zwischen beiden bestehe ein enger Zusammenhang.48 Contzens Menschenbild war — dies kann zu Beginn des 17., des „eisernen" Jahrhunderts auch gar nicht überraschen — ein pessimistisches. Nur ein starker Herrscher war für ihn in der Lage, das Chaos menschlicher Leidenschaften zu beherrschen. In dieser Sehweise wird staatliche Macht geradezu zu einem anthropologisch gebotenen Korrektiv menschlicher und das heißt zugleich zerstörerischer Leidenschaft. Macht aber muß erworben, sie muß entwickelt werden. Sie beruht auf der inneren Stärke des Staates, der wirtschaftlichen Kraft seiner Einwohner und der daraus ableitbaren Stärke des Staatsapparats nach innen und außen. Entscheidend scheint mir in Contzens Konzeption, daß hier nicht nur die Palette der bekannten fiskalistischen Maßnahmen angeboten wird, wie sie oft genug in der Politikliteratur der Zeit zu finden sind. Contzens Vorschläge setzen vielmehr an den Schwachpunkten der ständischen Ordnung an. Der Adel wird kritisiert wegen seiner unproduktiven Haltung, von fremdem Fleiß zu leben. Dadurch werde den Bauern die ganze Steuerlast aufgebürdet, die folglich ohne eigenes 48 ADAM CONTZEN: Politicorum libri decem, in quibus de perfectae reipublicae forma tractatur. Mainz 1620, VII. Buch, Kap. 11, 11 — 12. 74 Interesse ihr Land bebauten. Also müsse man die Bauern vor dem Adel schützen, ihr Besitzrecht garantieren, ihren Ehrgeiz anstacheln, sie durch besondere Gerichte vor dem Adel schützen. Nur so sei ein kräftiger Bauernstand zu schaffen und zu erhalten, der für die Macht des Staates unverzichtbar sei. 49 Nur an diesem einen Punkt wird die Funktion einer solchen Machttheorie erkennbar. Sie ist die Grundlage für ein regelndes Eingreifen des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft, die beginnende Einsicht in die Schädlichkeit adeliger Privilegien und die Nützlichkeit eines bislang verkannten wirtschaftlichen Individualismus, der zunehmend in seiner gesellschaftlich wohltätigen Funktion erkannt wird. Ich hoffe, daß mein Anliegen deutlich geworden ist. Ausgangspunkt der Überlegungen war ein bestimmtes, überwiegend statisches Bild der frühneuzeitlichen „societas civilis", wie es sich in den letzten Jahrzehnten etabliert hat und gegen die Fülle sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Einzelstudien erstaunlich gut behauptet hat. Ich habe es — wie ich meine aus guten Gründen — am Werk Otto Brunners festgemacht. Otto Brunners Werk ist in den 50er und 60er Jahren zum vielfältigen Bezugspunkt einer außerordentlich wirksamen Interpretation Alteuropas geworden. Inhaltlich bedeutet dies die zentrale Bedeutung des „ganzen Hauses" für unser Bild der frühneuzeitlichen Gesellschaft, methodisch betrifft dies seine oft zu Unrecht kanonisierte Anweisung zum Rückgriff auf die Sprache der Quellen, als sei dies der sichere Weg zu eindeutiger Erkenntnis. Mir scheint Brunners Ansatz aus zwei Gründen überprüfungsbedürftig zu sein. Unter inhaltlichen Gesichtspunkten glaube ich behaupten zu dürfen, daß die frühneuzeitliche Phase der Entwicklung des Wirtschaftens und des Reflektierens über wirtschaftliche Prozesse den Rahmen des „ganzen Hauses" weit überschreitet. Es ist die Dynamik des Nebeneinanders von autarker Hauswirtschaft und einer dadurch bedingten statischen Wirtschaftsauffassung einerseits und einer sich in neuen Großräumen organisierenden Verkehrswirtschaft mit Kapitaleinsatz und Lohnarbeit und einer damit verbundenen spezifischen Erwerbsgesinnung, die in der Sprache der Zeit noch als „Eigennutz" gebrandmarkt wurde, andererseits. Diesem Nebeneinander 49 Vgl. dazu die Interpretation von Contzens Werk bei ERNST-ALBERT SEILS: Die Staatslehre des Jesuiten Adam Contzen, Beichtvater Kurfürst Maximilians 1. von Bayern. Hamburg 1968, S. 139 f. 75 von „Verkrustung und dynamischen Elementen", von dem Rudolf Vierhaus gesprochen hat," muß die historische Forschung gerecht werden. Methodisch resultierte Brunners Vorgehen aus einer politisch bedingten Kritik an der liberalen Staatsauffassung des 19. Jahrhunderts und der für sie konstitutiven scharfen begrifflichen Trennung von Staat und Gesellschaft. Ebenso wie sich diese Auffassung später in der neueren begriffsgeschichtlichen Forschung als Produkt des späten 18. Jahrhunderts etabliert hat, hatte sich bei Brunner seit Beginn der dreißiger Jahre die Kritik an der liberalen Staatsauffassung verdichtet. Dies war gewiß verständlich angesichts der hypertrophen Staatsbegrifflichkeit eines Georg von Below. Sie basierte bei Brunner zudem auf dem festen Erfahrungshintergrund der österreichischen Landesgeschichte, griff aber auch Anregungen eines neuen Volksbegriffs auf, der in diesen Jahren allenthalben und keineswegs nur im Nationalsozialismus das historische und gesellschaftswissenschaftliche Denken affizierte. Gestützt auf die Anregungen Diltheys zur dualistischen Sehweise der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt, die Anregungen Theodor Litts und Max Webers über die Konstruktion von angemessenen „Individual- und Typenbegriffen" und begriffsgeschichtliche Anregungen des Soziologen Hans Freyer, 51 konnte sich Otto Brunner an die Destruktion der liberalen Begrifflichkeit heranmachen und sie mit dem historischen Schwung dieser Jahre attackieren: „Nicht politische Geschichte als bloße Machtgeschichte, nicht Rechtsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte usf., die in einem antipolitischen, liberalen Sinne im Sammelbegriff der Kulturgeschichte äußerlich zusammengefaßt wurden, sondern politische Volksgeschichte heißt das Gebot der Stunde. Volksgeschichte aber kann nicht geschrieben werden ohne Darstellung der inneren Volksordnung, durch die das Volk seine jeweilige geschichtliche Formung erfährt."" Die Tatsache, daß er nach 1945 den Begriff der politischen Volksgeschichte durch den der Sozialgeschichte ersetzte, sagt schließlich 50 RUDOLF VIERHAUS: Deutschland im Zeitalter des Absolutismus. Göttingen 1978, hier S. 49. 51 Vgl. vor allem den wichtigen Aufsatz von OTTO BRUNNER: „Sozialgeschichtliche Forschungsaufgaben, erörtert am Beispiel Niederösterreichs". In: Anzeiger der Phil.-hist. 1948, Nr. 23, S. 335 — 362. Klasse der österreichischen Akademie der Wissenschaften, 52. OTTO BRUNNER: Land und Herrschaft. Grundlagen der territorialen Verfassungsgeschichte Osterreichs im Mittelalter. 3. Auflage, Brünn 1943, S. 188. 76 einiges über die Genese dessen aus, was wir heute als die „moderne Sozialgeschichte" bezeichnen. Aber dieses gewiß interessante Problem kann uns hier nicht weiter beschäftigen." Wir werden heute solche Sätze nicht mehr deshalb anführen wollen, um uns zu Richtern über eine ältere Generation von Historikern zu machen. Wir wollen vielmehr lernen aus solchen Vorgängen, wollen einen Weg der historischen Arbeit finden, der uns dem tieferen Verständnis unserer Gegenstände ein Stück näherbringt. In diesem Sinne bin ich fest überzeugt davon, daß wir für die frühe Neuzeit eine Interpretation entwickeln müssen, die dem Signum dieser Epoche, der Überlagerung von statischen und dynamischen Elementen, gerecht wird. Nur dann wird sich weiterhin das hohe Interesse der europäischen Geschichtswissenschaft an der Geschichte der frühen Neuzeit, dieser faszinierenden „Inkubationszeit der Moderne"," aufrechterhalten lassen. 53 Vgl. dazu WINFRIED SCHULZE: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. München 1989, S. 289 ff. 54 Diese glückliche Formulierung nach PAUL MUNCH: Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der „bürgerlichen Tugenden". München 1984, Einleitung S. 15. 77