Dominik Schrage - Integration durch Attraktion

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Dominik Schrage - Integration durch Attraktion
Dominik Schrage
Integration durch Attraktion
Konsumismus als massenkulturelles Weltverhältnis
I.
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Das Spezifische am Konsum in modernen, industriekapitalistischen
wie »postindustriellen« Gesellschaften ist weder die Tatsache, daß Güter
zur Befriedigung überlebensnotwendiger Bedürfnisse verbraucht werden,
noch daß durch ihren Verbrauch konventionellen Anforderungen nach
standesgemäßen Lebensweisen Genüge geleistet wird oder daß Distinktionskalküle sich offensiv des Luxus und der Verfeinerung bedienen und
als demonstrativer Konsum zum Tragen kommen – all dies hat es früher
schon gegeben.1 Spezifisch für den modernen Konsum ist vielmehr, daß
er gerade nicht an fixierbare Grundbedürfnisse, klassen- oder schichtengebundene Standards oder Absetzbewegungen der Oberschichten von
aufstrebenden Schichten gebunden ist, sondern sich von vornherein
durch den nur qua Ressourcenbesitz beschränkten Zugang zu einem
»allgemeinen« Markt manifestiert – jede Ware steht damit im Horizont
des Erwerbbaren, und sei man auch einen Lottogewinn weit von ihr
entfernt. Das heißt keineswegs, daß Wirkungen von Ressourceneinschränkungen, von mehr oder weniger stabilen Mentalitätsstrukturen oder
Distinktionsmechanismen nicht zu beobachten wären – nur: diese entfalten ihre Wirkung erst auf der Grundlage eines solchermaßen geldförmig versachlichten Zugangs zum Markt, dessen Konsumgüter der
Möglichkeit nach vollständig disponibel sind.
»Consumers are simply the general public«, schreibt die Ökonomin
Hazel Kyrk 1923. Diese Beobachtung macht die Besonderheit des modernen Massenkonsums in Miniaturform deutlich: die Ausdehnung des
Zugangs zu einem verallgemeinerten Markt auf alle Schichten – »for
consumers are all of us«.2 Der Verweis auf das allgemeine, wohl allgemeinstmögliche Publikum deutet zudem auf die besondere Form dieses
1 Die Unterscheidung von Notwendigkeit (physiologisches Minimum), Bequemlichkeit
(Standesgemäßheit) und Üppigkeit (Luxus) geht, wie auch die von wirklichen und eingebildeten Bedürfnissen, auf das 18. Jahrhundert zurück, vgl. Utta Kim-Wawrzinek, Art. ›Bedürfnis‹ in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 440 – 466. Das Konzept des demonstrativen Konsums
(conspicuous consumption) geht auf Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute. Eine
ökonomische Untersuchung der Institutionen (1899), Frankfurt am Main 1986, zurück. Die
Herausbildung des Luxuskonsums schildert, mit deutlichem Akzent auf den Adel, Werner
Sombart, Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über die Entstehung der modernen Welt aus dem
Geiste der Verschwendung (1922), Berlin 1996.
2 Hazel Kyrk, A Theory of Consumption, London 1923, S. 1.
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Marktes hin, der keineswegs nur ein Treffpunkt ist, an dem sich solitäre
Produzenten und Konsumenten zum Tausch einfinden. Denn mit »general public« ist ein ganzes Bedeutungsfeld von der publicité (Werbung) bis
zur politischen Öffentlichkeit abgesteckt, und die Masse der Konsumenten rückt in eine geradezu gesellschaftstheoretische Funktion ein, da sie
mit Gesellschaft koextensiv wird: Konsum ist ein gesellschaftsweiter
Prozeß. Der Konsum erscheint nicht bloß als die der Produktion nachgeordnete Sphäre des Verbrauchs, sondern wird zu einem Ort, an dem
sich die individuierte Masse der Konsumenten in nicht vorhersehbarer
Weise durch ihre Kaufakte artikuliert und damit immer auch Gesellschaft, respektive ihre kulturellen Klassifikationsmerkmale, (re-)konstitutiert. Denn soziale Klassifikationen sind weder als traditional – und
das heißt unhinterfragbar – gegeben anzusehen noch ausschließlich auf
den Besitz oder Nichtbesitz von Produktionsmitteln zurückzuführen,
sondern werden als Differenzkriterien über das Medium des Konsums
beständig reproduziert und modifiziert. »Statt eine präexistente soziale
Klassifikation widerzuspiegeln«, so Paul Dumouchel, »wird der Tausch
selbst, über den Umweg des Reichtums, zum Motor der sozialen Klassifikation.« Dies besagt letztlich bereits das Konzept der Distinktion, wie
es etwa in den Arbeiten Pierre Bourdieus entfaltet wird, denn es betrifft
gerade nicht fraglos gegebene, nach Herkunft differenzierte Horizonte
des Erwerbbaren, sondern bezeichnet die Strategie, der Auflösung solch
starrer und dann nicht mehr fraglos gültiger Milieugrenzen – durch soziale Aufsteiger – von »oben« her zu begegnen und sie mittels spezifischer Konsumtionsmuster zu restrukturieren.3
»Masse« kann das »allgemeine Publikum« der Massenkonsumenten
dabei nur in einem Sinn sein, der streng von den Konzepten der Massenpsychologie zu unterscheiden ist, für deren »Masse« viele an einem Ort versammelte Menschen standen, die ihre Individualität ablegen und zu einer
substantiellen »psychischen« Einheit verschmelzen.4 Nicht nur ist kein
3 Paul Dumouchel, Emotions, échange et la différentiation sociale, in: Axel T. Paul
(Hrsg.), Ökonomie und Anthropologie, Berlin 1999, S. 37–47, hier: S. 44, (Übers. D.S.), Pierre
Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (1979), Frankfurt
am Main 1987.
4 Diese Begriffstradition geht von den populären Schriften Gustave Le Bons und Gabriel
de Tardes aus und schlägt sich im deutschsprachigen Kontext vor allem in den massenpsychologischen Schriften Freuds sowie Elias Canettis nieder. Gustave Le Bon, Psychologie
der Massen (1895), Stuttgart 1962, Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse
(1921), in: Ders., Studienausgabe, Bd. IX, S. 61 – 134, Frankfurt am Main 1974; Elias Canetti,
Masse und Macht (1960), Frankfurt am Main 1992. Zur französischen Massenpsychologie
vgl. Serge Moscovici, Das Zeitalter der Massen. Eine historische Abhandlung über die Massenpsychologie, Frankfurt am Main 1986. Vgl. dazu auch Dominik Schrage, Psychotechnik und
Radiophonie. Subjektkonstruktionen in artifiziellen Wirklichkeiten 1918 –1932, München
2001, S. 58 – 61. – Anschlußfähig für sich als emanzipativ verstehende Massenkulturkritiken
wird die Theorielinie Le Bons dadurch, daß der massenkulturellen bzw. massenmedialen
Vergesellschaftung eine Vorstellung nichtmedialer, reziproker Kommunikation entgegenge-
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Der Bazar, eine orientalistische Phantasie aus der Mitte des 19. Jahrhunderts
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Ort vorstellbar, an dem sich ein ›allgemeines Publikum‹ in der von Kyrk
angesprochenen gesellschaftsweiten Dimension versammeln könnte –
das von der Massenpsychologie vorgesehene Abstreifen der Individualitäten und die Verschmelzung zu einem einheitlichen Block »Massenpsyche«
würde auch jegliches Marktgeschehen dementieren, welches doch auf der
Unterscheidbarkeit von Rollenträgern (Käufer, Verkäufer) basiert. Nicht
zuletzt bliebe bei einer einfachen Übertragung der massenpsychologischen
Theoreme die umfassende massenmediale Infrastruktur, die das Massenpublikum erst technisch ermöglicht, unberücksichtigt.
Das Problem, das sich im 20. Jahrhundert in den Begriffen Massenkonsum, Massenkommunikation, Massendemokratie und Massenkultur
niederschlägt, ist ein anderes: Es geht nunmehr darum, die Tatsache zu
bezeichnen, daß Massenphänomene, die weder in räumlicher Präsenz
statthaben noch als face-to-face-Kommunikationen beschreibbar sind,
nicht auf herkömmliche sozialtheoretische Kategorien zurückgeführt
werden können: Individuum, Klasse und Stand erscheinen nicht mehr
als letzte Ursache sozialer Prozesse, sondern werden selbst zu Effekten
sozialer Prozesse. Damit steht »Masse« nicht mehr für die unproblematisch-distanzierte Wahrnehmung der niedrigen Stände durch die höheren, in der, wie Georg Simmel beobachtet, »vermöge der sozialen Distanz die ersteren den letzteren nicht nach Individuen, sondern nur als
einheitliche Masse erscheinen«.5 Vielmehr wird die Etablierung der
Massenkultur darin sichtbar, daß sich ein neuartiger Publikumstyp herausbildet, welcher den Kriterien der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht
entspricht, aber auf der Grundlage ihrer Verbreitungsmedien und der
marktförmigen Zirkulation funktioniert. Siegfried Kracauer entdeckt
diesen, weder den Stilidealen bürgerlicher Bildung noch den volkstümlichen Formen traditioneller Unterschichtkultur entsprechenden Öffentlichkeitstyp in der Kultur der Angestellten, deren »Leben unbekannter
[ist] als das der primitiven Volksstämme, deren Sitten die Angestellten
in den Filmen bewundern«.6 Ihre Kultur finde in aller Öffentlichkeit
statt, werde aber weder – aufgrund ihrer banalen Alltäglichkeit – von
den Intellektuellen noch – wegen ihres mangelnden Interesses an der
»Konstruktion der Gesellschaft« – von den Angestellten selbst erfaßt.
halten wird, so daß nicht mehr die sich artikulierende Masse – wie es in der konservativen
Linie Le Bons naheliegt –, sondern der falsche, nämlich entfremdend-manipulative und
eindimensionale Zusammenschluß der Leute zur »Masse« zum Gegenstand der Kritik wird.
Vgl. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947), in: Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt am Main 1984,
sowie auch Jean Baudrillard, La société de consommation. Ses mythes, ses structures, Paris 1970.
5 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung (1908), Frankfurt am Main 1992, S. 13.
6 Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland (1929), Frankfurt am
Main 1971, S. 11.
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Diese Kultur der Angestellten ist weder Gegenkultur noch Subkultur,
sondern funktioniert ohne Bezug auf normative Kulturideale – sie ist
schlichtweg die Kultur, die »von Angestellten für Angestellte gemacht
und von den meisten Angestellten für Kultur gehalten wird«.7
Das Angestelltenpublikum Kracauers resultiert gewissermaßen aus
der Verallgemeinerung der bürgerlichen Öffentlichkeit unter Abzug ihrer
normativen Voraussetzungen. In den Versuchen einer »Hebung« des Bildungsniveaus der »Massen« durch pädagogisierende Indienstnahme von
Massenmedien (Radio, Zeitschriften, Kino) und des Kultur-Warenmarktes
(Billigausgaben von Klassikern etc.) wird sehr deutlich, wie sich auch
selbstbewußt-bürgerliche Kulturideale durch die Konfrontation mit und
das Agieren in der Massen-Allgemeinkultur sukzessive hinterfragen, experimentell werden oder in bürokratisierten Formen erstarren.8 Der
Soziologe Leopold von Wiese benennt das Problem des den Stilidealen
bürgerlicher Provenienz entgleitenden Massenpublikums anläßlich eines
Vortrags über das Radiopublikum: »Das Publikum . . . soll sich als bildsame, beeinflußbare Substanz erweisen, entscheidet aber auch wieder in
einer geheimnisvollen Aktivität durch sein Verhalten über den Erfolg der
Tat.«9 Aus der Sicht kulturpädagogischer Ansprüche (»Hebung«) erscheint
der »Eigenwille« des Massenpublikums tatsächlich als etwas außerhalb
der Reichweite normativer Kulturvorstellungen Stehendes.
Versteht man Massenkultur in diesem Sinne als einen Kulturtyp, der
auf ein unspezifisches, da allgemeinstmögliches, individuiertes, klassenund schichtübergreifendes Publikum hin organisiert ist, welches dann
als Konsument, als Wähler oder als massenmediale Öffentlichkeit angesprochen werden kann, so wird der Funktionswandel deutlich, dem der
Kulturbegriff unterliegt: Durch die Freisetzung des Kulturellen aus bis
dato unverfügbaren Wertsphären – seien es kultische, religiöse oder deren
bürgerliche Säkularisate der Kunstautonomie oder der Bildung – und
die damit verbundene schichtenübergreifende Verfügbarkeit entsteht eine
»gemeinsame«, nämlich integrierte Kultur, die, wie Raymond Williams
betont, zuallererst als »etwas Gewöhnliches« anzusehen ist – denn mit
dieser Bezeichnung soll in seiner Perspektive auch die »Lebensform eines
Volkes« als Kultur begriffen werden.10 Die »Gewöhnlichkeit« des von
Williams angestrebten Kulturbegriffs ermöglicht dabei insbesondere die
7 Ebenda, S. 15.
8 Vgl. dazu am Beispiel des Hörspiels: Schrage, Psychotechnik und Radiophonie, a. a. O.,
S. 221– 266.
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9 Leopold von Wiese, Die Auswirkung des Rundfunks auf die soziologische Struktur unserer
Zeit (1930), in: Hans Bredow (Hrsg.), Aus meinem Archiv. Probleme des Rundfunks, Heidelberg 1950, S. 98 –111, hier: S. 106 –107.
10 Vgl. Raymond Williams, Was heißt »gemeinsame Kultur«? (1967), in: Ders., Innovationen.
Über den Prozeßcharakter von Literatur und Kultur, Frankfurt am Main 1977, S. 74 – 81, hier:
S. 76 – 77.
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Abkehr von normativen Kulturidealen und die Hinwendung zu einer
ethnographischen Kulturauffassung. Allerdings versteht Williams diese
gemeinsame Kultur als einfache Addition der bürgerlichen und der proletarischen Kultur, sein Konzept der »gemeinsamen Kultur« hat deswegen vornehmlich den Charakter eines Appells, diese beiden bislang getrennt verhandelten Kulturen einer integrativen Beschreibung zuzuführen –
die spezifizierenden Kriterien dieser gemeinsamen Kultur bleiben auf
ethnographische Befunde beschränkt. Das an dieser Stelle herauszuarbeitende Konzept der Massenkultur ist dagegen als Versuch zu verstehen,
die von Williams ins Auge gefaßte Gemeinsamkeit verschiedener Kulturformen über ethnographische Koinzidenzen oder Distinktionen hinaus als soziales Integrationsmedium zu verstehen. Dabei sind nicht nur
die bezüglich der bürgerlichen Kultur oft beklagten Transformationen
(Nivellierung etc.) zu verzeichnen, sondern auch die entscheidenden
Modifikationen proletarischer oder volkstümlicher Kulturen müssen
betont werden: Sie, die viel stärker als die bürgerliche Kultur von vornherein lokale Angelegenheiten waren, legen eben diesen lokalen Charakter
in der Massenkultur ab. Die überragende Bedeutung des Alltäglichen,
Gewöhnlichen oder Profanen, welches mit dem Begriff der Populärkultur hervorgehoben werden soll, wäre somit von vornherein auf die Dominanz von Massenmedien und Massenkultur und damit eines großen
Publikums zurückzuführen.
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II.
Fragt man nach der Spezifik jenes Kulturtyps, der aus unterschiedlichen Perspektiven als Massenkultur, als Kulturindustrie oder als Populärkultur bezeichnet worden ist, unterstellt man also unabhängig von
wertenden Gesichtspunkten, daß allen drei Bezeichnungen wenigstens
die gemeinsame Beobachtung zugrunde liegt, es gäbe einen solchen
signifikant modernen Typus von Kultur, so lassen sich ganz allgemein
folgende, sozialhistorische und kulturanalytische Befunde aufführen:
(1) Ein neuer Typ kultureller Produkte löst sich spätestens im Verlauf des 19. Jahrhunderts aus ständischen und religiösen Herstellungsund Aneignungskontexten und zirkuliert statt dessen auf einem »Kultur-Warenmarkt«.11 Diese Ökonomisierung des Kulturellen kann als
Verdinglichung, aber auch als Versachlichung verstanden werden, je nachdem, ob die warenförmige Disponibilisierung als Verlust oder als Zuwachs
an Weltverfügung akzentuiert wird. Mit Blick auf die Herstellungsweisen
massenkultureller Güter ist außerdem zu beobachten, daß handwerksähnliche Produktionsarten gegenüber arbeitsteiligen, kapitalintensiven,
eben industriellen, zurücktreten, die Marxsche These bezüglich der Ent11 Vgl. Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850 –1970,
Frankfurt am Main 1997, S. 17 passim.
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fremdung des Arbeiters von seinem Produkt auch auf Kulturgüter und
ihre Produzenten zutrifft.12 Das Theorem der Verdinglichung erscheint
vor allem dann plausibel, wenn die für den Materialismus des 19. Jahrhunderts kennzeichnende Furcht vor dem Übermächtigwerden der technischen Artefakte auf die Kultur-Waren übertragen wird. Betont man
dagegen die spezifische Attraktivität massenkultureller Warenangebote,
also gerade nicht ihre potentielle Unverfügbarkeit, so kann die Ökonomisierung des Kulturellen als Versachlichung des Zugangs bzw. der Aneignungsweisen verstanden werden.
(2) Voraussetzung für die sukzessive Erweiterung der Partizipation
an der Massenkultur ist nicht nur die Kommerzialisierung der KulturWaren und ihre mit der Massenproduktion einhergehende Verbilligung,
sondern zugleich auch, daß wachsende Bevölkerungsgruppen über Ressourcen verfügen, die das übersteigen, was zur Deckung unmittelbar überlebensnotwendiger Güter nötig ist; dies betrifft sowohl Geldmittel als
auch (Frei-)Zeit. Diese Voraussetzung ist zunehmend dann gegeben, wenn
die Forderungen der Arbeiterbewegung (Lohnkämpfe und Kämpfe um
die Verkürzung des Arbeitstages) gesellschaftspolitisch umgesetzt werden
– dies allein schon zur politischen Stabilisierung der »sozialen Frage«.
Der daraus resultierende Massenkonsum kann als manipulative Strategie
verstanden werden, soziale Revolutionen durch massenkulturelle Beglückungen zu verhindern, oder aber als Erweiterung der Weltteilhabe
und -prägung durch die Unterschichten, als Emanzipation.13
(3) Kulturelle Gehalte der Massenkultur (oder Kulturindustrie bzw.
Populärkultur) sind bedingt durch die Erweiterung des Zugangs über
Schichten- und Klassengrenzen hinweg auch substantiell verschieden von
bürgerlichen, volkstümlichen oder aristokratischen, denn ihre mediale
und warenförmige – und daher per se kontextübergreifende – Verbrei12 Zur Verdinglichung vgl. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1
(1867), Berlin 1988 (MEW 23), Kapitel 1.4., S. 89: »Ihre [der Tauschenden] eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren
Kontrolle sie stehen«; vgl. daraus das »verdinglichte Bewußtsein« ableitend: Georg Lukács,
Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), in: Georg Lukács, Werke, Frühschriften II., Bd. 2,
Darmstadt/Neuwied 1977, S. 161 – 517, insbes. das Kapitel »Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats«. – Vgl. zur Versachlichung: Georg Simmel, Philosophie des Geldes
(1900), Frankfurt am Main 1989, S. 263: »Das Geld ist die reinste Form des Werkzeugs . . .
eine Institution, in die der Einzelne sein Tun oder Haben einmünden läßt, um durch diesen
Durchgangspunkt hindurch Ziele zu erreichen, die seiner auf sie direkt gerichteten Bemühung unzugänglich wären.« – Sehr instruktiv zu Hegels Rechtsphilosophie unter dem
Aspekt der Versachlichung: Joachim Ritter, Subjektivität und industrielle Gesellschaft. Zu
Hegels Theorie der Subjektivität (1961), in: Ders., Subjektivität, Frankfurt am Main 1989,
S. 11– 35.
13 Vgl. zur entpolitisierenden Integration: Dieter Prokop, Versuch über Massenkultur und
Spontaneität, in: Ders., Massenkultur und Spontaneität. Zur veränderten Warenform der
Massenkommunikation im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main 1974, S. 44–101, hier: S. 44.
Vgl. zur Emanzipation durch Teilhabe an der Massenkultur: Maase, a. a. O., S. 16 – 37.
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tungsweise läßt normative oder rituell gebundene Kulturvorstellungen
gegenüber situativen, erlebnisbezogenen Rezeptionsvorlieben zurücktreten, dies gerade weil der kommerzielle Charakter eine kaufentscheidende Konsumentenrolle vorsieht, die durch ihre geldförmige Sachlichkeit
ungebunden von Gemeinschafts- oder Stilnormen ist. Die daraus resultierende Profanierung – gleichsam der Ausgang aus der Sakralität des
Kulturellen – kann als Nivellierung normativer oder authentischer Gehalte, aber auch als Demokratisierung nicht nur des Zugangs, sondern
auch der »Inhalte« verstanden werden, dergestalt, daß der bislang aus der
Kultursphäre ausgeschlossene Alltag großer Bevölkerungsgruppen nunmehr als kulturwürdig erscheint.14
(4) In engem Zusammenhang damit steht die Beobachtung, daß die
Massenkultur (respektive Kulturindustrie oder Populärkultur) nicht nur
traditionelle kulturelle Normensysteme relativiert, sondern zugleich auch
ein eigenes Orientierungsgefüge etabliert, das gerade nicht auf gegebenen,
unverfügbaren Stilen oder Gewohnheiten basiert, die auf Substantielles
zielen und jedes neue Kulturgut auf einen kanonischen Rahmen beziehen. Dieses Orientierungsgefüge richtet sich nicht auf die Normativität
(Angemessenheit) von Inhalt und Form, sondern auf die Normalität des
Gebrauchs, auf das, was gegenwärtig akzeptabel, anschlußfähig oder
trendy ist. Es trifft somit kein »inhaltliches« Urteil über Kulturgüter, sondern repräsentiert aktuelle Nutzungen und Akzeptanzen eines großen
Publikums, dessen Einzelteilnehmer qua Konsumentenrolle Kaufentscheidungen treffen, deren Gesamt als Normalität, als common sense erscheint.
Die Effekte dessen können als Konformismus – nämlich als Anpassung
an eine große Mehrheit – gebrandmarkt werden, aber auch als Errungenschaft demokratischer Teilhabe bzw. als Ausdruck einer öffentlichen Meinung erscheinen.15 Zugleich aber kann die Normalität als unhintergehbare Abhebungsfolie für Strategien subversiver Authentifizierung gelten,
die das Motiv der antikommerziellen Authentizität durch eine avantgardistische Wendung aus dem bürgerlich-ästhetischen Kontext in einen
massenkulturellen Kontext übertragen.16
Unabhängig von kritischen oder affirmativen Haltungen gegenüber
der Massenkultur wird deutlich, daß mit den vier aufgeführten Befunden
keine partielle Kultur einer Schicht, Klasse oder Gruppe in den Blick
14 Vgl. zu der für das Projekt der Cultural Studies maßgeblichen Perspektive auf eine »demo-
kratische« respektive »gemeinsame Kultur«: Raymond Williams, a. a. O., S. 74 – 81.
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15 Vgl. für einen frühen soziologischen Versuch, die aus der Perspektive der Konsumkritik
der 1950er Jahre als »Konformismus« aufgefaßten Phänomene differenzierter zu fassen,
das Konzept des »außengeleiteten Charakters« in: David Riesman / Reuel Denney / Nathan
Glazer, Die einsame Masse. Eine Untersuchung über den Wandel des amerikanischen Charakters (1950), Reinbek 1963, bes. S. 137 – 174.
16 Vgl. dazu: Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt am Main
1999.
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Der Passagenraum in Neapels Galleria Umberto I, erbaut 1887 – 1891
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kommt, sondern ein Kulturtyp, der sich gerade dadurch auszeichnet,
daß er in seiner faktischen Verbreitung und strukturellen Verbreitungsfähigkeit eine gesellschaftliche Funktion erhält. Die angeführten Befunde,
so kann gesellschaftstheoretisch argumentiert werden, lassen Massenkultur als die kulturelle Seite der gesellschaftlichen Integrationsprozesse
in der Moderne erscheinen:
(1) Ob als Verdinglichung oder als Versachlichung perspektiviert,
Massenkultur ist in jedem Falle gekennzeichnet durch den Kultur-Warenmarkt, auf dem warenförmige Kulturgüter kontextunabhängig und damit gesellschaftsweit zirkulieren. Der Markt, die ökonomische Integration bringt einen eigenen Kulturtypus hervor – »Kultur« wäre dann nicht
nur als das schlechthin Unkommerzielle oder Vormoderne, sondern
auch in einer genuin marktförmigen Variante zu verstehen.
(2) Die politische Seite dieser Integration des Kulturellen – sei sie
als kompensatorische Verhinderung einer möglichen Revolution, als
kulturelle Entwurzelung oder als kulturelle Demokratisierung verstanden – verdeutlicht, daß Massenkultur zu einer Dimension sozialer Ordnung, genauer: sozialer Organisation wird: Dies hieße, daß »(Massen-)
Kultur« nicht auf ein ordnungsindifferentes »Beiwerk« reduziert werden
dürfte, sondern eine soziale Bindefunktion aufwiese, die signifikant
anders funktioniert als traditionelle Bindungsformen: Die kulturkritisch
beklagte Indifferenz wie auch die als Emanzipation hervorgehobene –
wie auch immer bedingte oder eingeschränkte – Optionenoffenheit massenkultureller Integration verschiebt den Modus der Ordnungsgeltung
von einer latent passivisch verstandenen Legitimität (im Sinne der
Weberschen Definition der Chance, Befehle ohne Einsatz von Zwangsmitteln befolgt zu sehen) hin zu einer Attraktivität, die sich in manifester, wenn auch formalisierter Zustimmung (Wahlen und Konsum) zu
zeigen hat.
(3) Was die Transformationen der kulturellen Gehalte in der Massenkultur angeht, unabhängig von Nivellierungsängsten und Partizipationspostulaten, ist offensichtlich, daß massenkulturelle Güter nicht auf
präskriptive ästhetische Normen (Form oder Inhalt betreffend) oder extraökonomische Wertsphären zu beziehen, sondern von vornherein auf Wertpluralität eingestellt sind. Differenzierungskriterien erwachsen vielmehr
aus den je aktuellen Gebrauchsweisen und damit gewissermaßen aus der
gesellschaftlichen Positivität ihres veröffentlichten Gebrauchs.
(4) Die spezifische Verbindlichkeit der Massenkultur ist deshalb
nicht auf Gehalte (Form oder Inhalt) zurückzuführen, sondern Effekt
einer massenkulturellen Öffentlichkeit – egal, ob dies als Konformismus
oder als begrüßenswerte Aufwertung des Alltäglichen verstanden wird.
Die Tatsache, daß Massenkonsumenten und Massenmedienrezipienten
gerade kein von vornherein emphatisches, da authentisches Verhältnis zu
den Kulturgütern unterhalten, nicht mit den Produzenten oder Sendern
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in personale Kommunikation treten, sondern vielmehr nur wissen, daß
andere das gleiche wissen, macht die spezifische Form massenkultureller Öffentlichkeit aus.
Die hier eingenommene Perspektive sucht die von Umberto Eco
als »Apokalyptiker und Integrierte« bezeichneten Positionen von Kritiken
und Affirmationen der Massenkultur als Indizien zu betrachten, die die
Konturen eines neuartigen Kulturtyps nachzuzeichnen ermöglichen.17
Die kontroversen Beobachtungen beider Positionen lassen, fragt man
nach ihren strukturellen Gemeinsamkeiten unterhalb der Ebene gegnerischer Bewertungen, zum einen Rückschlüsse auf die Charakteristika
der modernen Massenkultur zu, wie oben skizziert wurde. Zum anderen
werden die normativen Grundlagen beider Positionen nicht als Kriterien
für eine Bewertung der Massenkultur fraglos übernommen, sondern als
Bestandteile der Massenkultur selbst angesehen: Die »apokalyptische«
Sicht auf die Massenkultur ist, gerade auch in ihren vulgarisierten Formen, ein maßgebliches Strukturmoment massenkultureller Prozesse, sei
es, daß sie selbst zu einem konsumierbaren Gut wird, sei es, daß aus ihr
subversive Praktiken erwachsen, die das Repertoire massenkultureller Darstellungsformen anreichern. Die »integrierte« Sicht auf die Massenkultur ist, wie Eco betont, weniger innovativ hinsichtlich der Entwicklung
neuer Formen oder Haltungen als die kritisch indizierten Positionen;
sie vermag aber gerade insofern sie die Kommerzialisierung neuer, auch
zunächst dissidenter Kultur-Waren in einer großen Öffentlichkeit betreibt, jene Kommunizierbarkeit zu gewährleisten, die für das Funktionieren der Massenkultur unabdingbar ist. Eben diese Kommunikativität scheint dann auch das Moment zu sein, das im Zentrum aller
dediziert auf Wirksamkeit setzenden Beschreibungs- und Aktionsformen in der Massenkultur steht, verstehen sie sich als dissident oder als
kommerziell – gestritten wird dann, in Wiederauflage der älteren Diskursopposition von »wahren« und »falschen« Bedürfnissen, um die »wahre«
oder »falsche« Form der Kommunikation.18
III.
Versteht man Massenkultur also nicht als einen partiellen oder auch
hegemonialen Aspekt moderner Kultur, sondern als Vergesellschaftungstyp, so geben die vier dargestellten sozialhistorischen und kulturanalytischen Befunde den Rahmen ab für eine weitergehende Frage: Unter
welchen Bedingungen erscheint die massenkulturelle Vergesellschaftung
17 Umberto Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur (1964),
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Frankfurt am Main 1986, S. 15 – 35.
18 Vgl. als Versuche, »wahre« gegen »falsche« Kommunikation auszuspielen, etwa Jean
Baudrillard, Requiem für die Medien, in: Ders., Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen,
Berlin 1978, S. 83 –118, oder auch Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels (1967/1992),
Berlin 1996, v. a. S. 157 – 177.
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für Individuen als attraktiv? Diese Frage ist zentral, denn welche Gesellschaft hat sich je in so starkem Maße wie die massenkulturell geprägte
von der aktiven Partizipation ihrer Mitglieder abhängig gemacht und
sich auch darauf verlassen können? Jede Manipulationsthese könnte
strenggenommen als Versuch gelten, diesen Befund mittels bewährter
Herrschaftskonzepte ungesehen zu machen. Was keinesfalls besagt, daß
soziale Ungleichheit – verstanden als Strukturierung in »oben« und
»unten« – nicht existierte, nur: diese Tatsache mindert die Attraktivität
der jeweils situativen Partizipation offenkundig nicht (aller handlungsentlastenden Rede vom »anonymen System« zum Trotz). Im Gegenteil,
die starken Beobachtungen Pierre Bourdieus lassen keinen Zweifel daran,
daß ebendiese Existenz von Ungleichheit die Bedingung der Möglichkeit »sozialer Felder« darstellt und somit Vergesellschaftung aus seiner
Perspektive in all ihren ernüchternden Erscheinungsformen nicht nur
per se eine konkurrenzielle ist, sondern daß auch ihr aufklärerisch motiviertes Aufdecken kaum anderes vermag, als diese Tatsache besser, d. h.
distanzierter, zu beschreiben als die Akteure es vermöchten.19 Aber ist
die Motivation für den Vollzug der von Bourdieu beschriebenen Distinktionen restlos auf die in den Habitus eingeschriebene soziale Klassenstruktur zurückzuführen?20 Ist das, was die Partizipation an der Massenkultur attraktiv erscheinen läßt, eine Funktion des Aufstiegs- oder
Behauptungswillens innerhalb des Gefüges »sozialer Felder«? Ein Manko
der Kulturtheorie Bourdieus liegt darin, daß den detailgenauen Rekonstruktionen synchroner Distinktionsprozesse keine historisch-genealogische Perspektive auf die Herausbildung der modernen Klassifikationssysteme an die Seite gestellt ist. Das hier in Frage stehende Problem der
Plausibilitätsbedingungen massenkultureller Vergesellschaftung bleibt
schlichtweg ausgeblendet.21
Eine These Jean Baudrillards, die die Dynamik des Wachstums, anders als Bourdieus Feldtheorie, strukturell mitein bezieht, greift an dieser
Stelle systematisch weiter: »Die Notwendigkeit der ›ungleichen‹ sozialen
Ordnung, der Sozialstruktur der Privilegien, sich zu erhalten, produziert
und reproduziert das Wachstum als ihr strategisches Element.« Diese
These betont nicht weniger als diejenige Bourdieus die Dominanz sozialer, ungleicher Strukturen, führt aber die Wachstumsdynamik und
die Partizipation an ihr als »Korrektiv der sozialen Disparität« ein: Das
Wachstum ermöglicht es, die Teilhabe für alle – die Integration – attraktiv zu machen, ohne die differentielle Funktionsweise der Distinktion
19 Vgl. etwa Bourdieu, a. a. O., S. 281.
20 Ebenda, S. 277 ff.
21 Nicht zuletzt ermöglicht die Ausblendung der historischen Perspektive aus der
Bourdieuschen Theorie die offenbar meist als unproblematisch erachtete Übertragung des
im Kontext der frühen ethnologischen Kabylei-Studien entwickelten Habitus-Konzepts auf
moderne Gesellschaften.
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in Frage zu stellen; Ansprüche werden so nicht versagt oder vertagt,
sondern angespornt und in Erwartungshaltungen verwandelt, die nicht
per se, sondern nur in ihrer permanenten Steigerbarkeit stabil sind und
sich gewissermaßen nicht auf die Realität einer Interaktion oder eines
Verbrauchsaktes, sondern im Modus des Wunsches auf Mögliches richten.22 So ist zwar bei Baudrillard, im Vergleich zu Bourdieu, das Moment
der Dynamisierung durch Wachstum nicht auf Aufstiegsprozesse (Akteure)
und Mentalitätenwandel (soziale Felder) beschränkt, sondern Initialvoraussetzung der massenkulturellen Vergesellschaftung und ihr integraler
Bestandteil. Den durch die Marktvergesellschaftung sukzessive freigesetzten Erwartungen kommt so eine entscheidende systematische Stelle
zu: Möglichkeiten – auf nichts anderes richten sich Erwartungen –
werden Bestandteil sozialer Wirklichkeit, sie werden sozialbindungsrelevant. Das Argument Baudrillards ist allerdings dadurch eingeschränkt,
daß er zwar auf die Notwendigkeit der Differenzialität für die Ausweitung der Partizipation am Konsum hinweist, dabei aber eine erkenntnisleitende und normative Vorstellung nichtdifferentieller Vergesellschaftung mitzuführen scheint: Die Logik des Begehrens kommt zwar in den
Blick, wird aber als systemeigene Scheindynamik angesprochen.
Aber damit ist die Frage letztlich noch verschärft: Es geht nicht
nur darum, wie Individuen die gegebenen Strukturen sozialer Felder
inkorporieren, sondern unter welchen Voraussetzungen eine derart lose,
nur über Erwartungserwartungen stabilisierte Integration möglich wird –
die noch zudem auf Erwartungen aus ist, die gar nicht erfüllbar sein
müssen. Denn bei der Massenkultur handelt es sich um einen Typ universaler (im Sinne nichtsegmentärer), aber unvollständiger Integration.
Universal ist diese Integration insofern, als die Disponibilität der Waren
und kulturellen Manifestationen eine umfassende ist – im Gegensatz zu
vormodernen Gesellschaften Beschränkungen nur relativ von Ressourcenbesitz abhängig sind und nicht in absoluter Weise unzugänglich –; unvollständig dagegen deshalb, weil es sich gerade nicht um die Integration
in eine geschlossene Sozialordnung handelt, sondern Kaufakte, Nutzungsweisen und Bedeutungszuschreibungen nicht normativ oder rituell geregelt sind. Diese Unvollständigkeit manifestiert sich in der Wahlfreiheit der Konsumenten, die zwar strukturell darauf basiert, daß diese
über einen Ressourcenüberschuß verfügen, zugleich aber auch davon
abhängig ist, daß dieser auch realisiert wird, daß man sich also nicht
mit dem Nötigsten bescheidet.
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22 »C’est la nécessité pour l’ordre social ›inégalitaire‹, pour la structure sociale de privilège,
de se maintenir, qui produit et reproduit la croissance comme son élément stratégique«,
Jean Baudrillard, La société de consommation, a. a. O., S. 67, 75 (Übers. D. S.), vgl. zu
diesem Argument aber bereits John Kenneth Galbraith, Gesellschaft im Überfluß (1958),
München/Zürich 1963, S. 74 – 91.
69 Integration durch Attraktion
Sicherlich sorgt die Allgemeinheit des Marktes dafür, daß in modernen Gesellschaften eine vollständige Marktabstinenz – sowohl was
Lebensmittel als auch was Kulturgüter angeht – kaum vorstellbar ist;
tatsächlich maßgeblich ist aber die seit den 1950er Jahren verbreitete
Beobachtung, daß das entscheidend Neue am Massenkonsum die – wie
es oft genannt wurde – »Unersättlichkeit« oder »Pleonexie« der Konsumenten sei.23 Konsumenten verlieren die untere Bedürfnisgrenze aus
dem Blick und lassen sich willig Wünsche nahebringen, auf die sie vorher
nie gekommen wären: Sie orientieren sich an Wünschbarem, als dessen
Zeichen die Konsumgüter fungieren.24 Statt an der Deckung eines überlebensnotwendigen oder durch kulturelle Standards vorgegebenen, fixen
Bedarfs orientieren sie sich an schlechthin nicht definitiv zu befriedigenden, da immer weiter steigerbaren und erneuerbaren Wünschen.
Es ist deutlich, daß diese verbreitete Beobachtung – wie auch die
oben aufgeführten Befunde – ein Zentralmoment der Funktionsweise
massenkultureller Dynamiken erfaßt, nicht zuletzt, weil »Unersättlichkeit« oder »Pleonexie« auf eine individuelle Geisteshaltung verweist, die
(1) vollständig auf den Rahmen eingestellt ist, den ein massenkulturelles
Konsumentenpublikum bereitstellt und ebendieser Rahmen das Realisierungsmedium dieser Haltung ist, zugleich aber auch (2) die Integration
in – und das heißt in wie auch immer lockerer Weise Bindung an –
diesen Rahmen ohne die Voraussetzung einer solchen Disposition nicht
funktionieren würde. Anders formuliert: Prägt sich eine normative Integration in »geschlossene Sozialsysteme« gewissermaßen vollständig von
außen auf und bleibt statisch oder begrenzend, so ermöglicht eine derartige, strukturell von normativen Vorgaben entkoppelte Disposition eine
weit lockerere, da rein formale Bindung; ein wichtiges Stabilisierungselement erscheint somit als dem gesellschaftlichen Normenbestand ausgelagert in eine individuelle Disposition, die Integration in ihrer Autonomie sicherstellt. Es ist aber zugleich festzuhalten, daß Psychologismen
wie »Unersättlichkeit« und »Pleonexie«, aber auch verschiedene andere
mit dem Triebkonzept operierende Konzepte wie der Simmelsche »Nachahmungstrieb« manche Effekte dieses Phänomens zwar bezeichnen, es
selbst aber nicht problematisieren: Sie stellen nicht die Frage, wie es dazu
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23 Vgl. symptomatisch: Jürgen Habermas, Notizen zum Mißverhältnis von Kultur und Kon-
sum, in: Merkur 97 /1956, S. 212 – 228; vgl. auch kritisch zur »Unersättlichkeit«: Colin
Campbell, The romantic ethic and the spirit of modern consumerism, London 1987, S. 32.
24 Dies sieht sehr genau: Wolfgang Fritz Haug, Zur Kritik der Warenästhetik, in: Ders.,
Warenästhetik, Sexualität und Herrschaft. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt am Main 1972,
S. 11– 30. Vgl. zu dieser Frage auch die hochinteressante Rekonstruktion der Wunschfabrikation in dem sozialwissenschaftlichen Tavistock-Institute der 1950er Jahre, in dem die
kulturkritisch meist in nur oberflächlicher Kenntnis gebrandmarkte »Bedürfnisproduktion« tatsächlich praktiziert wurde, Peter Miller / Nikolas Rose, Mobilizing the Consumer.
Assembling the Subject of Consumption, in: Theory, Culture & Society 14, 1 (1997), S.1–36.
70 Integration durch Attraktion
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Die Galleria Vittorio Emanuele II in Mailand, entstanden in unmittelbarer Nachbarschaft zum Dom in den Jahren
von 1865 bis 1867
71 Integration durch Attraktion
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Mittelweg 36
kommt, daß sich eine solche Haltung als notwendiger Bestandteil massenkultureller Vergesellschaftung herausbilden kann, die – in historischer Perspektive – keineswegs selbstverständlich ist.
Unter der Bezeichnung »consumerism« ist diese Haltung in der
britischen Diskussion hervorgehoben worden, wobei damit vor allem
über die enge ökonomische Perspektive auf den Erwerb und Verbrauch
von Gütern (consumption) hinausgewiesen wird.25 Wie auch der deutsche
Begriff Konsumismus hat consumerism ursprünglich eine kulturkritische
Bedeutung, die in dem Moment analytisch – d.h. ohne normativen bias –
verwendet werden kann, wo produktivistische Perspektiven auf die Sphäre
des Konsums solchen Forschungsinteressen weichen, die die umfassende
kulturelle Bedeutung eines konsumbezogenen Weltverhältnisses von Individuen in den Blick nehmen – nicht Austauschprozesse betrachten, sondern die Dispositionen, die sie überhaupt erst anleiten und motivieren.
Konsumismus kann so als das Verhältnis zu einer Welt bezeichnet werden,
die sich weder durch den Bezug auf Sitten oder traditionelle Ordnung
noch auf Religion oder kodifizierte Moralität, noch auf fixierbare anthropologische Bestände oder Bedürfnislagen, noch auf eine Autonomie
des Ästhetischen erschließen läßt. Konsumismus ist das Weltverhältnis,
das die Aneignung von Kultur ohne Rekurs auf allgemeingültige, emphatisch verstandene oder überlieferte Verständnisse von Unverfügbarkeit
anleitet, sondern vielmehr eine situativ bestimmte, immanente Glückserwartung im Medium eines massenkulturellen Publikums an die Disponibilität des Marktes bindet, der als Erwartungshorizont fungiert. Es
ist deutlich, daß Konsumismus in dieser Perspektive nicht in kulturkritischem Sinne als eine im Kern fragwürdige, gleichwohl aber weitverbreitete Geisteshaltung verstanden wird, sondern als eine Disposition,
deren Vorhandensein für die Teilhabe an der Massenkultur als notwendig
vorausgesetzt werden muß, wobei »notwendig« hier weder eine ethische
noch eine entfremdungstheoretische Nebenbedeutung hat, sondern auf
die Funktion eines konsumistischen Weltverhältnisses in einer soziologischen Beschreibung der massenkulturellen Vergesellschaftungsweise abzielt. Konsumismus kann in dieser Perspektive als ein soziale Schichten
übergreifendes Weltverhältnis verstanden werden, das die Integration in
die Massenkultur attraktiv erscheinen läßt – ganz unabhängig davon, ob
marktförmige Integration als »Entpolitisierung« verstanden wird oder
als Partizipation.
Es ist auch deutlich, daß Konsumismus – als Weltverhältnis verstanden – eine Haltung bezeichnet und so etwas weitaus Allgemeineres als
etwa Verhaltensmuster des Erwerbs, der Auswahl oder der Aneignung von
Gütern oder Dienstleistungen; vielmehr geht es um eine zentral durch
25 Vgl. etwa bereits Campbell, a. a. O., sowie Steven Miles, Consumerism – as a Way of Life,
London 1998, S. 4.
72 Integration durch Attraktion
den Bezug auf den Markt gekennzeichnete Disposition, die aber eher
ein Verhältnis zu einer marktförmigen Welt ist, als daß sie in den Marktvorgängen aufginge. Denn bereits im Vorfeld von Kaufakten muß
schließlich ein Kaufwunsch vorhanden sein, der selbst nicht ökonomisch erklärbar ist, sondern sich lediglich ökonomisch realisiert.26 Diese
extraökonomische Motivation kann zwar in Terms der Nutzenmaximierung entproblematisiert werden: Sieht man den Erweis von nutzenmaximierenden Kalkülen als zureichende Erklärung solcher Phänomene an,
so wird der Kaufwunsch auf einem Set von »Präferenzen« abgebildet, die
der Psyche des Käufers inhärent sind; damit wird die für den modernen
Konsum entscheidende Dynamik der permanenten Steigerbarkeit und
damit Veränderbarkeit ebendieser »Präferenzen« verkannt – statt als apriorische Grundausstattung der Käuferpsyche erschienen »Präferenzen« vor
dem Hintergrund einer Logik des Begehrens vielmehr als post hocRationalisierungen.27 Aber auch mit der Rückführung auf das Konzept
der Distinktion schriebe man das, was erklärt werden soll, nur in eine
soziologisch erweiterte Konzeption des nutzenmaximierenden Akteurs
ein: Daß dieser seinen Status mit den ihm zur Verfügung stehenden
Mitteln verbessern oder behaupten will, ist nicht erklärt, sondern vorausgesetzt. Das Konzept des Konsumismus als Weltverhältnis dagegen
problematisiert diese Voraussetzung: Die Verbreitung einer Geisteshaltung, die auf eine unvollständige Integration eingestellt und in dieser
Einstellung nicht durch Selbsterhaltung, sondern durch permanent steigerungsfähige und -willige Selbstentfaltung gekennzeichnet ist, kann keinesfalls als selbstverständlich gelten.
Colin Campbell weist diesbezüglich auf den »modernen, autonomen, imaginativen Hedonismus« hin, dessen historische Herkunft er mit
Hilfe einer von Max Webers Protestantismus-These inspirierten Argumentation in der (britischen) Romantik verortet. Zentrales Kennzeichen des
modernen im Vergleich zum traditionellen Hedonismus sei, daß die
Suche nach Glück sich nicht mehr auf die sinnlichen Stimuli der Genüsse, sondern vielmehr auf die emotionale und damit dauerhaftere, zudem autonom kontrollierbare Erlebnisqualität, auf das Genießen richtet.
Statt sinnliche Stimuli aus der kontrollierten Konfrontation mit mate-
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26 »Alle Brauchbarkeit ist nämlich nicht imstande, zu wirtschaftlichen Operationen mit dem
Gegenstande zu veranlassen, wenn sie nicht Begehrtheit desselben zur Folge hat«, so bereits
Simmel, a. a. O., S. 75.
27 In bezug auf die Funktionsweise der Werbung verdeutlicht Jean Baudrillard diese nachträgliche Rationalisierung mit Hilfe der »Logik des Weihnachtsmannes«: Das Kind schließt
nicht von der Existenz des Weihnachtsmannes auf die Geschenke, die er bringen wird; vielmehr ist der Weihnachtsmann eine im Grunde belanglose, »rationalisierende Erfindung«,
welche den Wunsch nach der Beziehung des Schenkens und Beschenktwerdens, der Fürsorge
nachträglich (und arbiträr) auf einen Urheber zurückführt. Vgl. Jean Baudrillard, Das
System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen (1968), Frankfurt
am Main 2001, S. 205 – 207.
73 Integration durch Attraktion
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Mittelweg 36
riellen Gegenständen oder Reizen zu beziehen, wird mit dem Übergang
zur emotionalen, autonomen Stimulation die Manipulation von Bedeutungen und nicht von Sinnesreizen zentral.28 Diese Umstellung im
Modus der Glückserwartung ermöglicht es überhaupt, derart selbstbezügliche Steuerungsmechanismen herauszubilden, die eine unvollständige, konsumistische Integration erfordert. Massenkultur setzt diese Disposition voraus, auch dann, wenn massenkulturelle Phänomene in Frage
stehen, die vorausschauenden, akkumulativen Kalkülen widersprechen,
und auch dann, wenn kein Geld im Spiel ist. Auch die »hedonistische«
Aneignung massenkultureller Güter gehorcht in diesem Sinn einem
Steigerungskalkül, das auf »Lustgewinn« oder Erlebnisfülle ausgerichtet
ist, und dies gilt auch dann, wenn explizit antikommerzielle Intentionen
ins Spiel kommen – hier wird gemeinhin ein Selbstverwirklichungsideal
gegen ökonomische Effizienzkriterien ausgespielt.
Die von Campbell herausgearbeitete Umstellung im Modus der
Glückserwartung ist aufgrund ihrer Entkopplung von realitätsbezogenen Reizen in starkem Maße enttäuschungsresistent; man könnte durchaus von einer Virtualisierung sprechen. Die im Gegensatz zu einem
substantiell bestimmten Bedürfniskonzept offene Konstitution des »hedonistischen« Begehrens unterläuft den rational und realitätsgerichtet kalkulierenden Handlungstyp der Nutzenmaximierung, insofern nicht (realistisch betrachtet) Mögliches von (unerreichbar) Unmöglichem geschieden
wird, sondern (präsentisches) Wirkliches von (wünschbarem, zukünftigem)
Möglichem zumindest in der Erwartung übertroffen werden kann. Die
Brisanz dieser Verschiebung wird deutlich, wenn im Kontrast dazu Émile
Durkheims Ausführungen in Der Selbstmord zur Gefährlichkeit des normenentbundenen Begehrens herangezogen werden. In dem Maße, wie
die Ökonomie gegenüber dem Staat an Gewicht erlangt, wird – so Durkheim – sowohl für konservative wie für sozialistische Sichtweisen »die
Industrie das erhabenste Ziel des einzelnen und der Gesellschaft«. Damit kommt es dazu, daß »jede Autorität« entfällt, »die die neuen Begierden hätte im Zaum halten können«, welche die moderne Gesellschaft
ständig hervorbringt. Anomie ist in dieser Perspektive, daß »von oben
bis unten in der Stufenleiter . . . die Begehrlichkeit entfacht [ist], ohne
daß man weiß, wo sie zur Ruhe kommen soll. . . . Vor dem, was die
erhitzte Phantasie als realisierbar ansieht, verblaßt jeder Wert der echten
Realität. Man löst sich von ihr, und löst sich schließlich auch vom
Möglichen, wenn dies einmal Wirklichkeit wird.«29 Diese Ausführunge
Durkheims sind eine sehr präzise Illustration der Dynamik, die die von
der modernen Markwirtschaft freigesetzten Erwartungen und Begehrungen entfalten können. Symptomatisch für Durkheim ist dabei die Voraus28 Campbell, a. a. O., S. 69.
29 Émile Durkheim, Der Selbstmord (1897), Frankfurt am Main 1983, S. 292 – 293.
74 Integration durch Attraktion
setzung eines Gleichgewichtszustandes, eines stabilen Normengefüges,
welches in nicht pathologischen Gesellschaftszuständen die anarchischen
Strebungen der Individuen im Zaum zu halten hat: »Sobald man von
nichts in Grenzen gehalten wird, kann man selbst keine Grenzen einhalten. . . . Wenn man den ganzen Bereich der Möglichkeiten ausgekostet
hat, träumt man vom Unmöglichen, das es nicht gibt.«30
Geht man von Jean Baudrillards These zur zentralen Funktion des
Wachstums für den Zusammenhalt moderner Konsumgesellschaften aus,
müßte die permanente Innovationsoffenheit und Fiktionsbereitschaft
des Konsumenten, die Durkheim als anomisch kennzeichnet, ganz im
Gegensatz gerade als die notwendige Disposition für die unvollständige,
konsumistische Integration hervorgehoben werden: Die bei Campbell
historisch situierte Fähigkeit, die erwartungsleitende Unterscheidung
von Möglichkeit und Unmöglichkeit hin zum Gegensatz von Wirklichkeit und Möglichkeit zu verschieben, mit dem affektiven Akzent auf die
noch nicht wirklich gewordene, aber erwünschte Möglichkeit, wäre im Kern jene
Disposition zur Selbststeigerung, die als Anspruch gegen die Wirklichkeit gestellt werden kann. Sie ist weit über »realistische« Nutzenkalküle
hinaus imstande, Erwartungen freizusetzen, die fiktionalen Charakter
haben, somit normgeleiteten Regulierungen immer schon entgehen und
Wachstum überhaupt erst plausibel – und damit möglich – zu machen.
Die unvollständige Integration in die Massenkultur, so die Argumentation bis hierher, ist historisch gebunden an die Herausbildung
und soziale Ausbreitung eines konsumistischen Weltverhältnisses, das
auf die selbstbezügliche Steigerung von Erlebnisqualitäten und den Markt
als ihr Realisierungsmedium eingestellt ist. Erst vor dem Hintergrund
einer solchen Disposition, die starre, auf Beständigkeit ausgerichtete
soziale Rahmensetzungen zugunsten von innerweltlich angelegten Selbstverwirklichungsidealen relativiert – in Innovationen keine Bedrohung,
sondern auch eine Chance zur Selbstanreicherung sieht –, kann die unvollständige Integration in die Massenkultur dauerhaft bestehen. Dies
gerade deshalb, weil statt normativer Festlegung und politischer Legitimität, nunmehr innovatorische Bedeutungsangebote und als selbstgetätigt
erfahrene, kombinatorische »Rezeptionen« ineinandergreifen. Die Erwartbarkeit letzteres macht Attraktivität und damit den Kopplungsmodus von Massenkultur und konsumistischem Weltverhältnis aus.
Mittelweg 36
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IV.
Der historische Entstehungskontext des konsumistischen Weltverhältnisses, so die Ausgangsüberlegung der folgenden rekonstruktiven
Argumentation, ist zunächst die Universalisierung des kapitalistischen
Marktes, in deren Verlauf hergebrachte Sozialverhältnisse durch die Inte30 Ebenda, S. 312.
75 Integration durch Attraktion
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Mittelweg 36
gration ganzer Bevölkerungen in den (Arbeits-)Markt abgebaut wurden.
Karl Polanyi hat in The Great Transformation diese erste Phase der Ökonomisierung des Sozialen – die Durchsetzung des kapitalistischen Arbeitsmarktes durch die Auflösung traditioneller Sozialität – als tiefgreifende
Umgestaltung nicht nur der institutionellen Formen von Arbeitsteilung
und Ressourcenallokation beschrieben, sondern besonders die weitgehenden Konsequenzen hervorgehoben, welche diese Ökonomisierung des
Sozialen für das Weltverhältnis aller als Lohnarbeiter in das Marktsystem
integrierten Menschen bedeutete. In der Organisation der früheren lokalen Märkte wurden traditionelle Sozialbeziehungen durch Reglements,
Riten und Zeremonielle vor der Ausbreitung des Marktkalküls geschützt;
lokaler und Fernhandel waren zudem streng voneinander geschieden.
Entscheidendes Moment für die Entbindung der Marktökonomie aus
dieser sozialen Einbettung ist, so Polanyi, das Eingreifen des merkantilistischen Staates. Dieser hob das Nebeneinander der beiden konkurrenzfreien Märkte – des örtlichen und interurbanen – auf und schuf so die
Voraussetzungen für einen nationalen Markt, in dem die Unterschiede
zwischen Stadt und Land sowie zwischen den verschiedenen Städten und
Provinzen zunehmend bedeutungslos wurden.31
Aber auch für den Merkantilismus blieben die Märkte bloß ein Teilaspekt innerhalb des nationalen, staatlich kontrollierten und regulierten
Rahmens. Einen entscheidenden zusätzlichen Faktor sieht Polanyi in
der technischen Entwicklung, d.h. in der zunehmenden Verwendung von
immer komplexeren, kapitalintensiveren Maschinen: Die Produktionsprozesse werden immer abhängiger von der Sicherstellung der kontinuierlichen Bedienung der Maschinen, ihrer Beschickung mit Rohmaterialien
sowie einer Verstetigung des Produktenabsatzes; dies führt zu einer von
den technischen Erfordernissen der Maschinen ausgehenden Forderung
nach Permanenz der Verfügbarkeit aller produktionswichtigen Faktoren:
Arbeitskraft, Boden, Kapital. Diese Verstetigung ist dann nur durch die
Kommerzialisierung von Arbeit und Boden erreichbar, die sie aus den
traditionellen, ständisch geprägten Nutzungsweisen herauslöst und als
Waren in Permanenz disponibel macht.
Die gezielte Intervention des merkantilistischen Staates, maschinenbedingte Erfordernisse der Produktion und die sich aus ihnen ergebende
Kommerzialisierung von Boden und Arbeit konvergieren, in der Perspektive Polanyis, in einem universalisierten Marktsystem. Seine Durchsetzung
hatte die Entwertung der traditionellen Sozialsysteme zur Bedingung,
und zwar nicht nur im Sinne einer Abschaffung von gesellschaftlichen
Institutionen, sondern auch im Sinne der Suspendierung des auf sie eingestellten Weltverhältnisses – der sozialen Stellung, der Familie, ständischer
31 Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Ge-
sellschaften und Wirtschaftssystemen (1944), Frankfurt am Main 1997, S. 95 – 99.
76 Integration durch Attraktion
Birmingham, die zwischen 1897 und 1899 errichtete
City Arcade
Strukturen und der Formen der Selbsterhaltung. Die Integration der unteren
Schichten in das Marktsystem erfolgte
dabei durch den Entzug der traditionellen Lebensgrundlagen und die Abhängigmachung der Subsistenz vom Markt. An
die Stelle von traditionalen, auf transzendente Regeln, Moralen und Normen aufgebaute Sozialbeziehungen tritt ein Vergesellschaftungstyp, der auf immanenten,
rational zu verfolgenden Strategien der
Selbsterhaltung basiert: das Marktsystem
beruht auf der »Erwartung, der Mensch
werde sich so verhalten, daß er einen
maximalen Geldgewinn erzielt«.32 Statusdifferenzen werden in der Konsequenz
als Eigentumsdifferenzen und damit als
Effekte individuellen Handelns am Markt
begriffen.
Mit dem durch den Entzug der Lebensgrundlagen der unteren Schichten
durchgesetzten neuen Vergesellschaftungsprinzip, dessen Disziplinierungswerkzeug
vor allem die Abhängigkeit von Lohnzahlungen für das nackte Überleben wird,
etabliert sich der verallgemeinerte Markt
als Medium einer – für diese Schichten –
vor allem an die Notdurft gebundenen
Integration in den Markt. Diese Strategie der Marktintegration, die Polanyi
insbesondere in den Auseinandersetzungen um die Armengesetze in England untersucht, wird exemplarisch deutlich an der Dissertation on the Poor Laws
von Joseph Townsend. In dieser radikalen, die Mensch-Tier-Differenz und
das Politische vollständig aufhebenden,
gleichsam physiologischen Fundierung
wird der nackte Hunger zum Grund für
die Voraussagbarkeit und Steuerung
selbsterhaltenden Verhaltens – er zwingt
zur Lohnarbeit und zu marktrationalem
32 Ebenda, S. 102.
Moskau, der mittlere Passagenarm des Staatlichen
Universal-Kaufhauses GUM
77 Integration durch Attraktion
Verhalten. Townsend sieht im Hunger das einzig geeignete Mittel zur
Durchsetzung eines umfassenden gesellschaftlichen Produktivitätsimperativs, der gerade aufgrund seiner auf optimaler Nutzung basierenden
Disposition auf unmittelbare körperliche Gewaltmittel verzichten soll:
»[H]unger is not only a peaceable, silent, unremitted pressure, but, as the
most natural motive to industry and labour, it calls forth the most powerful exertions«.33
Diese, bei Townsend radikal zugespitzte, Strategie der Integration
der unteren Schichten in das Marktsystem sucht den utilitaristischen
Handlungsmodus, der bis dato für das Weltverhältnis des kapitalistisch
wirtschaftenden Bürgertums kennzeichnend war, gesamtgesellschaftlich zu
verallgemeinern und unhintergehbar zu machen. Albert O. Hirschman
zeigt in Leidenschaften und Interessen, wie diese innere Disposition des
profitmaximierenden Bürgers sich im Vorfeld der Entstehung des Industriekapitalismus diskursiv von religiösen Moralvorstellungen emanzipiert
und einen neuartigen innerweltlichen Bezugspunkt etabliert hatte, der
die politische Theorie aus dem ökonomischen Handlungsrahmen heraus
zu stabilisieren verspricht: Aus der Leidenschaft Habgier wird so das
rational zu verfolgende Interesse, welches auf Immanenz gegründete
Sozialität überhaupt erst voraussagbar und beständig macht; diese semantische Transformation stellt, in Hirschmans Perspektive, die Plausibilitätsbedingung dafür dar, daß die eigennützige Verfolgung von Interessen
als gesellschaftsstabilisierend angesehen wurde und sich als eine Antwort auf das neuzeitliche Ordnungsproblem durchsetzen konnte.34 Die
Etablierung des allgemeinen Marktes – zunächst semantisch als Ablösung
von moralischen Maximen, dann sozial in der Durchsetzung der Marktintegration – führt dazu, daß das rationale, innerweltliche Kalkül, das
für die auf Profitmaximierung zielende kapitalistische Geisteshaltung
kennzeichnend ist, zum unhintergehbaren Handlungsmodus für alle
Schichten wird.
Die Entwertung von moralischen Imperativen für das Wirtschaftshandeln führt zum einen aufgrund der neuartigen Legitimität selbstbezüglicher Interessenverfolgung zu einer Ausweitung der gesellschaftlich
akzeptablen Handlungsoptionen, wie dies etwa im wirtschaftsliberalen
Freiheitsverständnis deutlich wird, dessen Beschränkungen nicht mehr
in moralischen Geboten oder Verboten liegen, sondern sich praktisch aus
der Konkurrenzsituation der Handelnden ergeben. Dies betrifft im Zuge
der Durchsetzung des Marktsystems nicht nur kapitalistisches Wirtschaftshandeln, sondern ebenso die handlungsleitenden Orientierungen, die
Mittelweg 36
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33 Vgl. Polanyi, a.a. O., S.161, sowie Joseph Townsend, A Dissertation on the Poor Laws,
(anonym 1786), sect. III., zit. nach: http://melbecon.unimelb.edu.au/het/townsend/
poorlaw.html [15. 2. 2003].
34 Albert O. Hirschmann, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg (1977), Frankfurt am Main 1987.
78 Integration durch Attraktion
sich die lohnabhängig Tätigen zwangsläufig zu eigen zu machen haben;
in der Marxschen Konzeption der doppelten Freiheit der Arbeiter am
Markt wird dies polemisch verdeutlicht.35 Bürgerliches und proletarisches
Handeln unterscheiden sich so zwar hinsichtlich ihrer Zielhorizonte –
nämlich Maximierung des Profits einerseits und Subsistenz unter den
Bedingungen des Marktes andererseits – sowie hinsichtlich dessen, was
überhaupt qua Ressourcenbesitz in den Bereich des Verfügbaren tritt.
Subsistenzorientierung wie Profitmaximierung sind jedoch gleichermaßen alternativlos an den Markt verwiesen; Konkurrenz und Notdurft
sind die Formen, in denen die Beschränkungen des Handelns nunmehr
auftreten – sie sind, im Unterschied zu moralischen Handlungsnormen,
eminent praktische Sachverhalte.
V.
Mittelweg 36
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Die semantische Transformation von »Leidenschaften« zu »Interessen« zieht die Entmoralisierung der Handlungsmaximen nach sich. Handlungsbeschränkungen resultieren nunmehr entweder aus den sozialen Bedingungen der Konkurrenz oder aus der physiologischen Abhängigkeit
des Überlebens vom Markt. Beide, Konkurrenz wie Überlebensnotwendigkeit von der Lohnarbeit, werden jeweils im Unterschied zu den tradierten Normensystemen als dynamisierende, gleichsam motivierende
und so dem Ganzen nützende Beschränkungen individueller Irrationalitäten legitimiert – siehe etwa Townsends strategische Nutzung des
Hungers. Handlungsbeschränkungen erscheinen somit als praktische
Einschränkungen des Handlungsspielraums ohne die Notwendigkeit
transzendenter Verweishorizonte: Sie sind auf Mögliches ausgerichtet und
scheiden es vom Unmöglichen. Während nun der Begriff der Interessen
solche praktischen Handlungsbeschränkungen in der Form des legitimen
Konflikts widerstreitender Interessen faßt – also vornehmlich konkurrenzielle Prozesse abdeckt –, tritt in dem vor allem im Verlauf des 18.
Jahrhunderts an Profil gewinnenden Begriff der Bedürfnisse ein komplementärer Sachverhalt zutage: Mit dem Bedürfnisbegriff wird der
Motivations- und Rechtfertigungsgrund von Erwerbshandlungen und
-orientierungen problematisiert.
Individuelle Bedürfnisse waren im Rahmen gewohnheitsmäßig oder
kodifiziert geregelter Sozialverhältnisse bislang unproblematisch geblieben, jedenfalls nicht zu einem sozialtheoretischen Thema geworden, da
Handlungsmaximen wie die Weise der Ressourcenverteilung weitgehend
vorgegeben waren. Sie werden nun problematisch und müssen als auf
Individuen bezogene und von ihnen ausgehende Ansprüche und damit
35 Marx, a. a. O., S. 189 –191; in der Perspektive von Marx ist das »Geheimnis der Plus-
macherei« in der »verborgene[n] Stätte der Produktion« zu suchen: Erst die Analyse der
Mehrwertproduktion vermag die faktischen Ungleichheiten zu erklären, welche ohne Bruch
der Verträge zur Entstehung der Arbeiterklasse führen.
79 Integration durch Attraktion
als soziales Problem reformuliert werden. Denn mit der Entmoralisierung
des Wirtschaftshandelns und seiner Verwandlung in ein generalisiertes
Handlungsprinzip stellt sich das Problem der unteren Bedürfnisschwelle
– der Notdurft – in ganz neuartiger Weise: Die Reaktionen auf sie sind
nicht, wie etwa im religiösen Gebot des Almosengebens, innerhalb ständischer oder religiöser Normen an caritatives Handeln gebunden, sondern es stellt sich, sobald der Markt mit Gesellschaft koextensiv wird,
ein überhaupt erst zu formulierendes Regulierungsproblem der Versorgung. So postuliert etwa Adam Smith den Konsum – womit er die Versorgung mit Gütern meint, im Gegensatz zum Handel mit ihnen – als
eigentliches Ziel der Ökonomie, wobei die »bestmögliche« Erreichung
dieses Ziels vertrauensvoll der unsichtbaren Hand überlassen wird.36
Smiths’ Konzeption ist dabei vor allem in Abgrenzung von den kameralistischen Entwürfen der Wohlfahrt zu verstehen, die, vor allem in der
deutschen politischen Theorie des 16. bis 18. Jahrhunderts, dem Staat
die Aufgabe zugewiesen hatten, Lebensunterhalt, Ruhe und Sicherheit
der Untertanen zu gewährleisten und zu mehren.37
Während in der Interessensemantik die Umstellung des Handlungsmodus von Transzendenz auf Immanenz sichtbar wird, geht es mit dem
Bedürfnisbegriff darum, den Grund des Handelns von transzendenten –
d. h. von religiösen oder traditionellen Mustern – auf immanente Begründungsfiguren umzustellen. Sei es als existentiell gemeinter Interventionspunkt Hunger, sei es in der kritischen Form eines auf die Freisetzung »wahrer« Bedürfnisse ausgerichteten Emanzipationsstrebens, die
Bedürfnisse sind mit der Durchsetzung der Marktgesellschaft Adressat
innerweltlicher Begründungen oder Kritiken des Gegenwärtigen. Sie
fungieren entweder, wie bei Townsend, als naturale Steuerungsgröße,
die bewirken kann, was tradierte Moralen gerade nicht mehr bewirken
sollen, oder aber dienen als Legitimation bzw. Delegitimation des Anspruchs eines auf Immanenz gestellten, artifiziellen Sozialitätstyps Marktwirtschaft, die Verteilung von Arbeit und Gütern in rationaler Weise zu
bewerkstelligen.38 Das zugrundeliegende Problem ist folgendes: Wie kann
36 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner
Ursachen (1789), München 1978, S. 558.
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37 Vgl. Mohammed Rassem, Art. ›Wohlfahrt, Wohltat, Wohltätigkeit, Caritas‹, in: Otto
Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7,
Stuttgart 1992, S. 595–636. Vgl. auch Johann Baptist Müller, der als Abgrenzungskriterium kameralistischer und liberaler Bedürfnissemantiken die in ersteren verbreitete Rede von den »Bedürfnissen des Staates« anführt, Johann Baptist Müller, Art. ›Bedürfnis‹, Kap. V., in: Brunner,
Conze, Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, a.a.O., S. 467–489, hier: S. 471.
38 Adam Smith macht sehr deutlich, wie diese Adressierung ohne Transzendenzbezug zu
funktionieren hat: »Der Verbrauch allein ist Ziel und Zweck einer jeden Produktion. [. . .]
Diese Maxime leuchtet ohne weiteres ein, so daß es töricht wäre, sie noch beweisen zu
wollen«, Smith, a. a. O., S. 558. Was ist diese Adressierung an den common sense anderes als
ein Versuch innerweltlicher Begründung?
80 Integration durch Attraktion
eine rational kalkulierende Ökonomie mit menschlichen Lebenslagen
in Einklang gebracht werden? Oder anders ausgedrückt: Wie können
menschliche Strebungen ökonomisch reformuliert werden, was nötig ist,
wenn der ökonomisch-rationale Handlungstyp umfassende Geltung beansprucht?
In den sozialtechnisch-utilitaristischen Strategien, die die Verfolgung
des Eigeninteresses als »anthropologische« und moralunabhängige Kalkulationsgrundlage für das Gesellschafts- und Marktgeschehen durchsetzen
wie auch in utilitarismuskritischen Entwürfen hat die Berufung auf den
Bedürfnisbegriff die zentrale Aufgabe, die Natur des Menschen ohne
Rückgriff auf Moral ins Spiel zu bringen. Während in der utilitaristischen Perspektive alles Handeln dem Ziel der Nutzenmaximierung folgt
und das Individuum mechanisch nach der Verminderung des Schmerzes
und der Vermehrung der Lust strebt, weswegen seine Bedürfnisbefriedigung rational kalkulierbar sei,39 ist es die Berufung auf die »wahren Bedürfnisse«, die den kritischen Perspektiven einen normativen Dreh- und
Angelpunkt verschafft, der ohne Rekurs auf tradierte Moralvorstellungen
auskommt, und zugleich den utilitaristischen Entwürfen ein auf Selbstentfaltung ausgerichtetes Bedürfniskonzept entgegenstellt.40
Dabei geht es nicht mehr um die rationalistische Deduktion einer
Mechanik menschlichen Strebens, sondern um die Artikulation menschlicher Möglichkeiten, die gegen die Wirklichkeit in Anschlag gebracht
werden. Das semantische Potential des Bedürfnisbegriffs liegt dabei keineswegs darin, daß er auf natural gedachte notwendige Grundbedürfnisse zurückgeführt werden kann, sondern darin, daß er diesen Aspekt
immer als eine von vielen möglichen Kategorisierungen mitführt, neben
gegenläufigen, die gerade die Disponibilität und Offenheit der Bedürfnisse hervorheben. »Bedürfnis« ist somit weit davon entfernt, ein klarer
oder definitorisch umreißbarer Begriff zu sein, sondern verweist vielmehr auf ein mit der Formierung moderner Sozialität aufgekommenes
Problem: »Bedürfnis indiziert,« so Hans Blumenberg, »wie Geschichte zur
Dimension der Erfüllung des menschlichen Glücksanspruchs wird.« 41
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39 Vgl. paradigmatisch: Jeremy Bentham, Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und
der Gesetzgebung (1789), in: Ottfried, Höffe (Hrsg.), Einführung in die utilitaristische Ethik.
Klassische und zeitgenössische Texte, Tübingen 1992, S. 55 – 83.
40 Vgl. etwa Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und Grundlagen der
Ungleichheit (1754), in: Ders., Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Henning Ritter, Frankfurt am Main,
Berlin, Wien 1981, S. 165 – 302. Rousseau sieht hier sehr genau, daß »wahre Bedürfnisse«
sich kulturgeschichtlich durchaus wandeln: ». . . die Bequemlichkeiten selbst verloren durch
die Gewohnheit ihre Annehmlichkeit und schlugen zu gleicher Zeit in wahre Bedürfnisse
aus.« S. 235.
41 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt am Main
1996, S. 521.
81 Integration durch Attraktion
VI.
Die Herauslösung der Handlungsmaximen aus religiös-moralischem
Rahmen betrifft nicht nur das wirtschaftliche Kalkül der Profitmaximierung, sondern zugleich auch das traditionelle moralische Verdikt gegen
den Luxuskonsum. Bereits Werner Sombart hat auf die für Herausbildung des Kapitalismus maßgebliche, in Max Webers Konzeption nicht
erfaßte Dynamik des Luxuskonsums verwiesen, dessen Ausbreitung überhaupt erst für die steigende Nachfrage nach jenen Fernhandelsgütern
verantwortlich gewesen sei, die durch die wachsenden internationalen
Handelsverflechtungen auf dem Markt präsent waren. Im Gegensatz zu
Thorstein Veblen sieht Sombart allerdings den Willen zur distinktiven
Abhebung von den aufstrebenden Schichten nicht als zureichenden
Grund für die historisch einmalige Erscheinungsform des neuzeitlichen
Luxuskonsums als einer Form der Lebensführung an. Entscheidend und
erklärungsbedürftig sei vielmehr die spezifisch neuzeitliche Form der
luxurierenden und fortlaufenden Verfeinerung der Luxusgüter aus »selbstsüchtigen Motiven«. Sie ist von rituellen Formen zu unterscheiden, da
sie weder periodisch wiederkehrt (Feste) oder überpersönlichen Zwecken
gewidmet ist (Opfergaben), sondern als eine auf Dauer gestellte Einrichtung strikt auf die selbstbezogene »sinnliche Freude am Genuß«
ausgerichtet ist, in der sich für Sombart die Entmoralisierung der Erotik und der »Sieg des Weibchens« seit der Renaissance zeigt. So ist einerseits eine »Versachlichung« der Luxusaufwendungen zu beobachten –
das heißt die früheren personalintensiven Formen (Dienerschaft) gehen
gegenüber Sachgütern (Kleidung, Wohnung, Schmuck) zurück –, zum
anderen aber führt die »Versinnlichung« des Luxus – das Zurücktreten
»idealer Lebenswerte« gegenüber sinnlichen Reizen – zu jener Tendenz
der »Verfeinerung«, die sich nicht an formalen oder idealen Vorgaben
orientiert, sondern einem sachlichen Steigerungskalkül folgt. Dieses
orientiert sich nicht mehr an den überindividuellen, traditionalen Rahmensetzungen, sondern die Lebensdauer des Individuums wird Maßstab des Genießens: »Der Einzelmensch will als er selbst möglichst viel
von dem Wandel der Dinge erleben«.42
Tatsächlich vollzieht sich im 18. Jahrhundert eine regelrechte »Konsumrevolution«, die sich wirtschaftshistorisch darin zeigt, daß die Preise
materieller Güter sich immer weniger nach ihrer Dauerhaftigkeit als nach
ihrem Neuigkeitswert, nach Kriterien des Modischen richteten und die
Häufigkeit von Kaufakten ebenso zunahm wie die Zahl der Käufer.43
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42 Vgl. Sombart, a. a. O., S. 85 – 89; 118 –134; 191–194.
43 Vgl. dazu John Brewer, The Consumer Revolution in Eighteenth-century England, in:
Neil McKendrick / John Brewer / John H. Plumb (Hrsg.), The birth of a consumer society. The
commercialization of eighteen-century England, London 1982, S. 9 – 33, siehe auch Miles,
a.a.O., S. 6–10, sowie Grant McCracken, Culture and Consumption, Bloomington/Indianapolis
1986, S. 16 – 22.
82 Integration durch Attraktion
Der Berjaha Times Square in Kuala Lumpur, Malaysias größte, 700 000 Quadratmeter umfaßende shopping mall, die
nach zehnjähriger Bauzeit im Juni 2003 eröffnet wurde.
©Associated Press
Entscheidend für die Ausbreitung der luxurierenden Verfeinerung von
den Höfen in bürgerliche Schichten ist dabei – wie bereits Sombart bemerkt – die wachsende Bedeutung der Großstädte, die solche Einrichtungen wie Theater, Musikhallen, feine Restaurants, Hotels und Läden
aufweisen, in denen breitere – das heißt nicht nur höfische – Kreise
ihren Vergnügungen regelmäßig nachgehen.
Colin Campbell betont, daß sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts
neben der von Weber beschriebenen puritanischen Haltung – die den
Rationalismus und Utilitarismus stark beeinflußte – eine andere protestantische Strömung herausbildete, die die persönliche, innere und
gefühlsbetonte Erfahrung des Mitleids und der Wohltätigkeit als Gnade
Gottes in den Mittelpunkt stellte und so den Sentimentalismus sowie
die Romantik mit vorbereitete.44 Bei aller Verschiedenheit ist die Zentralität hervorzuheben, die das Konzept des Individuums für beide einnahm: Stellt es für die utilitaristisch-asketische Variante die Instanz dar,
die in Auseinandersetzung mit der Welt rationale und akkumulative
Selbsterhaltung betreibt, so bildet für den sentimentalistischen Strang die
introspektive Erfahrung der nur mit dem entsprechenden Gespür sichtbaren Zeichen Gottes eine ebenso innerweltliche und fordernde Instanz –
nämlich die permanente Aufforderung, eine angemessene Sensibilität für
eine Weltbewertung mittels ethischer Gefühle aufzubringen, deren Handlungsziel gottgefällige Wohltätigkeit ist. Beide »ethischen« Haltungen sind
demnach in dem Sinne asketisch, als daß sie in Permanenz handlungsauffordernd wirken; sie sind gleichfalls beide individualistisch und fordern
eine nach innen gerichtete Selbstschau – sei sie rational-kalkulierend auf
Interessenverfolgung angelegt oder auf der Suche nach introspektiv aufweisbarer Authentizität, die sich im Mitgefühl äußert und über die Introspektion eine Resttranszendenz anzusprechen vermag.45
Die emotionalistische Variante protestantischer Geisteshaltungen
kann sich, so Campbell – analog zur Weberschen Argumentationsfigur
der Verwandlung von christlich-asketischem Motiv in eine Berufsidee 46 –,
durch die Säkularisierung der religiösen Bedeutung des Mitgefühls in
einen Sentimentalismus transformieren, für den die intrinsischen Gefühle des Genusses innerer, psychischer Zustände handlungsleitend sind,
wie dies etwa an der Konjunktur der Schauerromane im ausgehenden
18. Jahrhundert deutlich wird.47 Campbells Befunde können nun auch
spezifizierend auf Sombarts These der auf Versinnlichung basierenden
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44 Vgl. Cambell, a. a. O., S. 219 sowie S. 99 –137.
45 Vgl. ebenda, S. 204, 219 – 220. Daß auch der klassische Utilitarismus eine – kalkulative –
Selbstschau betreibt, wird sehr deutlich an Benthams Programm der Lust-UnlustBilanzierung, vgl. Bentham, a. a. O.
46 Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/05), in:
Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1988, S. 17– 206, hier: S. 202.
47 Vgl. Campbell, a. a. O., S. 203 – 207.
84 Integration durch Attraktion
Verfeinerung bezogen werden, indem zwischen einem traditionellen Hedonismus aristokratisch-frühkapitalistischer Prägung – der Referenz Sombarts – und einem modernen Hedonismus unterschieden wird, der dadurch gekennzeichnet ist, daß er sich nicht auf physiologisch-sinnliche
Stimuli richtet, sondern auf emotionale Zustände – wie etwa Mitleid
oder Grusel. Die Stimuli aus Sombartscher Perspektive sind aus der Konfrontation mit Gegenständen oder Sinnesreizen gewonnen und durch
deren Manipulation verfeinerbar. Allerdings werden dabei die Reize und
nicht die Emotionen gesteigert, die sie auslösen. Die sentimentalistischromantische Erfindung einer auf Emotionen gerichteten Individualität
macht es dagegen möglich, eigene psychische Zustände als Einsatz und
Genußmittel eines Spiels mit Bedeutungen aufzufassen.48 Damit ist –
im Gegensatz zu Sombarts Rückführung des Luxuskonsums auf einen
»letzten Grund« im »Geschlechtsleben« bzw. auf die »niedrigen Instinkte
der Animalität« – der Genuß von der direkten Bindung an physiologische
Reize entkoppelt und auf den, wie Helmuth Plessner es formuliert hat,
»Ungrundcharakter der Psyche« bezogen.49
Erst wenn diese psychische Imaginationsinstanz der romantischen
Erfindung einer unverwechselbaren Individualität verbreitungsfähig wird,
kann jene gewissermaßen enttäuschungsresistent auf Steigerung gesetzte
Dynamik der Selbstverwirklichung beginnen, die eine unvollständige,
massenkulturelle Integration erfordert. Denn ihre Gratifikationen sind
nicht auf Realien (stimulierende Dinge), sondern auf seelische Zustände
gerichtet, die Erwartungen und damit konstitutiv Fiktionen sind. Gerade
die Abkopplung von den Realien macht die Disposition des auf Fiktionen ausgerichteten Begehrens dabei auch sozial verbreitungsfähig, denn
im Gegensatz zu Sombarts enger Bindung des Luxus an immer weiter
verfeinerte Realien – die als Luxuswaren nur wenigen zugänglich sind –
sind die Objekte dieses Begehrens emotionale Zustände, die kommunikativ vermittelt werden können: Die Herausbildung der inneren Instanz
des begehrenden Genießens ist, worauf bereits die neuere Medientheorie
hingewiesen hat, ein Kriterium der Tauglichkeit zum Medienrezipienten.50
VII.
In den vorangegangenen Abschnitten wurde – im Rückgriff auf die
wirtschaftshistorischen und semantischen Transformationen des 18. und
frühen 19. Jahrhunderts – die Universalisierung des Marktes auf zwei
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48 Ebenda, S. 69.
49 Sombart, a. a. O., S. 86, 119; Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des
sozialen Radikalismus (1924), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. V., Frankfurt am Main
1981, S. 7–133, hier: S. 62.
50 Vgl. etwa, wenn auch psychoanalytisch und nicht genealogisch interessiert: Slavoj Žižek,
Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin
1991.
85 Integration durch Attraktion
Haltungen bezogen, die sich mit diesem Prozeß herausbilden. Sie
können idealtypisch als die von Max Weber beschriebene innerweltlichasketische Haltung der Profitmaximierung und der von Colin Campbell herausgearbeitete »imaginative Hedonismus« gegenübergestellt werden. Der Vorteil, diese Haltungen als gleichermaßen historisch situierte
– und damit nicht schlechthin zu anthropologischen Grundausstattungen zählende – Verhaltensdispositionen in einer marktwirtschaftlichen
und individualisierten Gesellschaft zu verstehen, liegt vor allem darin,
den geläufigen Gegenüberstellungen von zweckrationalen Kalkülen
einerseits und entweder traditionellen oder irrationalen Verhaltensformen andererseits zu entgehen. Das an den Eigeninteressen orientierte
Nutzenkalkül wäre in diesem Sinn Bestandteil einer Haltung, die am
deutlichsten in der kapitalistischen Profitmaximierung zum Ausdruck
kommt und in einer nach Maßgabe dieses Prinzips entstandenen Gesellschaftsordnung zum Leitprinzip auch der nicht über Kapitalbesitz
Verfügenden wird. Es handelt sich um eine Disposition, die integral
mit der Entstehung des modernen Individuums verbunden ist und die
Fähigkeit zur Voraussicht und zur kalkulierten Abwägung, generell zu
ökonomischem Handeln, beinhaltet. Mit der auf die Intensitätssteigerung des Erlebens ausgerichteten Haltung hingegen etabliert sich ein
anderes Verhältnis zur Welt, welches weder auf Profitmaximierung noch
auf Subsistenzorientierung reduzierbar ist. Die Attraktivität der Massenkultur beruht auf der gesellschaftlichen Verbreitung dieser Haltung.
Mass consumption has often been conceived as the way socially organized individuals acquire material or cultural goods. The specific structure of ›mass‹ emerging
with the intertwining of market society and mass media, however, is not characterized by an inherently socialized collective, but instead by individuals dispersed
in space and integrated by access to the market (the consumers) and by technically
communicated meaning (the public). Seen thus, mass consumption is a medium of
social integration. The attractiveness of the new, that is, the wish to consume and
to communicate becomes a fundamental prerequisite for this form of loose integration. The emergence of this predisposition can be observed in the semantic shift
from »need« to «desire« that has accompanied the transformations of social structures since the 18th century.
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Summary
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