Anlässlich des Ablebens von Hugo Höllenreiner einen kleine Doku

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Anlässlich des Ablebens von Hugo Höllenreiner einen kleine Doku
Anlässlich des Ablebens von Hugo Höllenreiner
einen kleine Doku über sein Leben, seinen
bewegenden Auftritt 2008 in Karlsruhe und
ein vergleichendes Portrait mit Karl Wagner
Nachruf des Zentralrats der Sinti und Roma 2015
Portrait der VVN-BdA Augsburg 2007
Über Hugo in Karlsruhe 2008 in „antifa-nachrichten“ BaWü
„antifa“-Artikel über Hugo Höllenreiner und Karl Wagner 2010
Zusammenstellung Dietrich Schulze 9. September 2015
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http://www.sintiundroma.de/medien/aktuelles/detailansicht/article/der-zentralrat-und-dasdokumentations-und-kulturzentrum-deutscher-sinti-und-roma-trauern-um-hugo-h.html 11.06.2015
Der Zentralrat und das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und
Roma trauern um Hugo
Höllenreiner (1933-2015)
Am gestrigen Abend verstarb Hugo Höllenreiner in seiner Heimatstadt Ingolstadt; er wurde 81 Jahre alt. Hugo Höllenreiner war dem
Zentralrat und dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher
Sinti und Roma über viele Jahre eng verbunden. Als HolocaustÜberlebender hat er nicht nur an zahlreichen Veranstaltungen der
beiden Institutionen teilgenommen, sondern auch historische Fotos
sowie Dokumente seiner Familie für die Ausstellungen des Dokumentationszentrums zur Verfügung gestellt.
Hugo Höllenreiners Leben war geprägt von der furchtbaren Verfolgungserfahrung, die er als Kind in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern machen musste. Seine Familie ist seit Generationen in
Bayern beheimatet, bevor sie von den Nazis systematisch entrechtet
und schließlich in die Vernichtungslager deportiert wurde. Auf einem
Familienfoto, aufgenommen wenige Jahre vor der Verschleppung
nach Auschwitz, sieht man den damals achtjährigen Hugo mit seiner
Mutter Sofie und seinen Geschwistern. Es ist ein berührendes Zeugnis bürgerlicher Normalität und
familiärer Geborgenheit, die bald darauf grausam zerstört werden sollte.
Trotz dieser traumatischen Erlebnisse und dem Verlust vieler Angehöriger hat sich Hugo
Höllenreiner schon früh als Zeitzeuge engagiert. Dabei stand sein Wirken ganz im Zeichen der
Versöhnung. Vor allem durch das 2005 im Hanser Verlag erschienene Buch von Anja Tuckermann
„Denk nicht, wir bleiben hier!“ Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner und eine zwei
Jahre später entstandene TV-Dokumentation wurde Hugo Höllenreiner als Zeitzeuge weit über die
Grenzen Bayerns und Deutschlands hinaus bekannt. Am 2. August 2005 sprach er bei der
Internationalen Gedenkveranstaltung anlässlich der Auflösung des sogenannten „Zigeunerlagers“
in Auschwitz-Birkenau am 2. August 1944 als Vertreter der deutschen Sinti und Roma für die
Überlebenden des Völkermordes.
Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, erklärte zum Tod von
Hugo Höllenreiner: „An dem jahrzehntelangen Kampf der deutschen Sinti und Roma um gesell-
schaftliche und politische Anerkennung und um ein würdiges Erinnern an unsere Toten hatte Hugo
Höllenreiner einen ganz wesentlichen Anteil. Unermüdlich hat er im Dialog mit der Politik, auf
Gedenkveranstaltungen oder in Schulen Zeugnis vom eigenen Leidensweg abgelegt und an die
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Gräuel der Nazi-Barbarei erinnert. Dabei hat er sich niemals auf die Rolle des passiven Opfers
reduzieren lassen. Für Hugo Höllenreiner war Erinnerung stets auch Verpflichtung für die
Gegenwart. Dafür wurde er zu Recht geehrt und ausgezeichnet. Hugo Höllenreiner sah es als
seine Pflicht an, auch im Namen derer zu sprechen, denen die Stimme geraubt wurde. Das
beeindruckende Zeugnis, das er hinterlassen hat, ist eine bleibende Mahnung für die nachfolgenden Generationen. Sein Name ist weit über München und Bayern hinaus zu einem Vorbild für
historische Aufklärung und gelebte Versöhnung geworden. Dafür gebührt ihm nicht nur der Dank
der deutschen Sinti und Roma, für deren öffentliche Anerkennung er so viel getan hat, sondern
der Dank der ganzen deutschen Gesellschaft. Wir werden Hugo Höllenreiner nicht vergessen.“
Nachruf VVN-BdA Bayern http://bayern.vvn-bda.de/2015/06/23/trauer-um-hugo-hoellenreiner/
http://vvn-augsburg.de/3_portraets/hoellenreiner_hugo/index.htm
Zeitzeugen und Opfer des Nationalzozialismus
Höllenreiner Hugo
SWR-Sendung am 1. März 2007 "Wir haben doch
nichts getan..." Der Völkermord an den Sinti und Roma
Die Zeitzeugen: Hugo Höllenreiner
geboren 15.9.1933 in
München
gest. 10.6.2015
"Als Hugo Höllenreiner 1933 in München Giesing geboren wird, scheint
die Bedrohung durch den Nationalsozialismus noch fern: Der Vater ist
Wehrmachtsoldat, die Schwester stolz auf ihre BDM-Uniform. Das ändert
sich schlagartig im November 1941. Die Familie wird ins "Zigeunerlager"
Auschwitz- Birkenau deportiert. Dort erlebt Hugo grauenvolle Dinge: die
Gaskammern und Mengeles Experimente. Was ihn überleben lässt ist der
Zusammenhalt der Familie. Im Sommer 1944 werden sie weitertransportiert: von Ravensbrück über Mauthausen nach Bergen-Belsen. In
Ravensbrück werden Mutter und Tanten zwangssterilisiert, der Vater
gelangt nach Sachsenhausen, wo er den Krieg nur knapp überlebt. Am
15. April 1945 werden Höllenreiners von der britischen Armee befreit.
Hugo Höllenreiner hat erst vor wenigen Jahren begonnen, über die Zeit
im KZ zu reden. Heute geht er als Zeitzeuge in Schulklassen. Es kostet
ihn Überwindung, aber er will den Jugendlichen vermitteln, was es heißt,
Opfer von Rassismus zu werden."
(http://www.swr.de/geschichte/archiv/2007/03/01/beitrag.html)
Sinto Hugo Höllenreiner erzählt in der Waldorfschule Hammerschmiede az 2.5.08 >>
Veranstaltung mit Hugo Höllenreiner am 11.7.2007 im Rathaus:
Sinto Hugo Höllenreiner, der die brutalen medizinischen Experimente des KZ-Arztes Mengele
überlebte berichtete über seine erschütternde Geschichte. In seiner Kindheit mußte er eine nicht
mehr steigerungsfähige Brutalität von "Menschen" gegen sich und andere erfahren. Unsere
Hochachtung gegenüber Hugo Höllenreiner, der immer wieder die Kraft findet seine Geschichte
den Nachgeborenen zu erzählen. Grauenvolle Erlebnisses die wir keinem Menschen wünschen im
Kampf ums nackte Überleben. Sein Appell an uns "laßt es nicht mehr soweit kommen, dass
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dies nochmal passiert". Seine in Buchform
vorliegende Lebensgeschichte sollte als
Pflichtliteratur in den Schulen eingeführt
werden und von jedem Erwachsenen gelesen
werden
Hugo Höllenreiner bei der Einweihung des
Mahnmals an die Opfer des KZ Arztes
Mengele
Familienfoto 1941
Bericht in verdi-publik >>
Auf der VVN- Landesmitgliederversammlung 2013
wurden Hugo (links) und Mano (rechts) Höllenreiner
geehrt und der runde Geburtstag gefeiert.
Am 13.6.2015 nahmen ca. 1000
Menschen Abschied von Hugo
Höllenreiner, dessen Schicksal uns
unvergessen bleibt.
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Literatur:
Tuckermann Anja: "Denk nicht, wir bleiben hier". Die Lebensgeschichte des
Sinto Hugo Höllenreiner. München 2005 (Deutscher Jugendbuchpreis 2006)
Römer Gernot: Hugo und Lilly Höllenreiner in: Es gibt immer zwei
Möglichkeiten..., Augsburg 2000 S. 182-85
Ehrungen:
Auszeichnung mit dem "Austrian Holocaust Memorial Award" am 2.5.2013 im Jüdischen
Museum in München >>
Auszeichnung mit der Medaille "München leuchtet" in Silber Oktober 2014
Weitere Informationen:
-
SWR.de Sendung 1.3.2007 >>
Die Zeit 16.3.06 >>
Deutscher Jugendliteraturpreis 2006 >>
Besuch im Sailer-Gymnasium Dillingen 2006 >>
Wiesbadener Kurier 19.10.05 >>
Mengele-Mahnmal-AZ 09-03-2005 >>
Pressebericht zur Mahnmaleinweihung 2005 >>
Wochenzeitschrift Freitag 7.5.04 >>
"1990 war eine der wenigen Gemeinsamkeiten in Deutschland eine allgemeine Abneigung gegen
die Zigeuner. Die Toleranz in der Bevölkerung für diese Menschen ist sehr gering und die
verallgemeinernden Äußerungen sind als beschämend zu bezeichnen."
Hintergründe zur Sinti und Roma >>
Augsburg im Umgang mit Sinti und Roma:
In der langen Geschichte der Verfolgung, der Ausgrenzung und der noch immer vorherrschenden
Vorurteile gegen Sinti und Roma hat auch Augsburg seinen Platz: Beschluss des Reichstags zu
Augsburg 1500 >>
Die Geschichte in Augsburg von 1933 bis heute muss erst noch geschrieben werden. Z.B. der
Inhalt in der Aussage "der kommt ja aus dem Fischerholz".
Hugo Höllenreiner Zeitzeugenvortrag Auschwitz am 13.12.2008 im ver.di-Haus Karlsruhe
Audio-Aufzeichnung des Vortrags von freie-radios.net Querfunk Karlsruhe: Hugo Höllenreiner
wurde als 9-jähriger zusammen mit seiner Familie nach Auschwitz verschleppt, wo er u.a. auch
medizinische Versuche des KZ-Arztes Josef Mengele ertragen musste.
Teil 1: 47:30 min, 22 MB, mp3 http://www.freie-radios.net/25439
download http://www.freie-radios.net/mp3/20081214-hugohllenr-25439.mp3
Teil 2: 52:32 min, 24 MB, mp3 http://www.freie-radios.net/25440
download http://www.freie-radios.net/mp3/20081214-hugohllenr-25440.mp3
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http://www.vvn.telebus.de/anachric/2008/04/04b.htm
Nummer 4 / Dezember 2008
Auschwitz-Zeitzeuge Hugo Höllenreiner
bei ver.di in Karlsruhe:
"Ich wusste ja:
Wenn ein Hund
bellt, werd ich
erschossen."
Dietrich Schulze
Ein bewegender Dezember-Samstagnachmittag im Karlsruher ver.di-Haus. Hugo Höllenreiner aus
Ingolstadt spricht vor über 50 Zuhörern über seine Verfolgung durch den Hitlerfaschismus,
als 9-jähriger Sinto-Junge nach Auschwitz deportiert. "Ich berichte über mein Leben in den
Konzentrationslagern der Nazis, weil ich nicht will, dass jemals wieder einem Menschen auf der
Welt so etwas passiert. Nie wieder."
Und dann erzählt er mit leiser Stimme wie er im März 1943 mit seiner Familie nach Auschwitz
deportiert wird. Fünf Tage lang dauert die Fahrt von München nach Auschwitz. 60 Menschen,
stehend eingepfercht in einen Viehwaggon, ohne Essen, Wasser und Klo. Hugos Großmutter
überlebt die Fahrt nicht.
In wenigen Monaten, konfrontiert mit unvorstellbaren Verbrechen, war Hugo zum Erwachsenen
geworden. Ein Schlüsselereignis, als er im Februar 1945 von seiner Familie getrennt auf Transport
geschickt werden sollte, schildert er so ( ):
"Ich hab bloß geweint. Wo ist meine Familie? Ich hab versprochen, auf meine Familie aufzupassen. ...... Ich wollt nicht mehr leben. Meine Familie ist ohne mich. Sie stirbt ohne mich und ich
muss was tun. .... Da kam der SS-Mann rein und hat mich gesehen. Dabei hab ich geschluchzt
und ge-weint. Lauft vorbei, dreht sich um, lauft wieder vorbei, stoßt mit dem Fuß den Mann
neben mir an. Der Mann dreht sich um. Und schießt ihm in den Kopf. Der auf mich aufgepasst
hat. Der mir sein Essen auch manchmal gegeben hat. ..... Und dann hat es ein paar Tage später
geheißen, ihr kommt weg. Ich dachte mir, nein, ich bleib hier. Meine Familie ist hier. Lieber sollen
sie mich erschießen. ..... Die Geste hat mir gezeigt, dass ich mitgehen soll. Da dacht ich, jetzt lauf
ich halt mal mit. Und komme auf einem Güterbahnhof an. Da hab ich von weitem Güterwaggons
gesehen, viel-leicht so zwanzig, dreißig. Da dacht ich, ich fahr nicht mit, nein. Wo soll ich denn
hin? Jetzt bin ich ganz alleine. Und hab so Gedanken gehabt. Und schau vor. Da seh ich ganz
vorne, das könnte vielleicht meine Schwester sein. Da hab ich vor geschaut. War's die Frieda!
Dacht ich mir: jetzt kann ich nur noch eins machen. Ich lauf jetzt hin. Werd ich erschossen, werd
ich erschossen. Ohne meine Familie geh ich nicht weg. Bin raus. Meine Freunde haben mich noch
festgehalten. Und bin gelaufen. Links SS, rechts SS. Da die Hunde, da die Hunde. Mitten durch bin
ich gelaufen. Schritt für Schritt. Ich dachte mir: noch ein Schritt, noch ein Schritt. Kein Hundegebell. Kein Schießen. Gar nichts. Ich wusste ja: Wenn ein Hund bellt, werd ich erschossen. Und
lauf bis zu meiner Schwester hin. Wo ist die Mama? Sie hat mich gleich mitgenommen zu ihr. Das
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Wiedersehen, das kann ich Euch sagen .... da war sie vor dem Viehwaggon gestanden. Schnell,
geh rein, Junge. Bin rein. Hab mich ganz rechts in die Ecke gesetzt und gewartet, bis die Mama
und die Geschwister rein kommen. Mama hat sich vor mich hingesetzt und ich hab sie von
rückwärts umschlungen und hab sie geküsst. Mama, ich geh nie mehr weg, Mama, von Dir."
Elfjähriger Sinto-Junge trotzt SS-Befehl
Man muss versuchen, sich diese dramatische Szene vorzustellen. Hugo hatte einem SS-Befehl
zuwider gehandelt. Er war von der zum Transport vorgesehenen Gruppe weggelaufen. Das
äußerst unwahrscheinliche geschah: Kein einziger der Wachhunde hatte angeschlagen, weil Hugo
weder zu ängstlich noch zu forsch vorangeschritten war. Und die SS-Schergen waren vom Mut des
Jungen, den sie in ihren Herzen längst getötet hatten, offensichtlich selber beeindruckt. Diese aus
dem inneren Kampf von Gegensätzen geborene Mischung aus Entschlossenheit und Vorsicht, mit
der das erwachsene Kind durch die SS-Postenkette schritt, hat ihm wohl das Leben gerettet.
Mit atemloser Spannung folgen die Zuhörer dem 100-minütigen Bericht des Zeitzeugen. Hugo
Höllenreiner, Auschwitzhäftling Z-3529, spricht darüber, wie er von der lächelnden SS-Bestie
Dr. Mengele zu medizinischen Versuchszwecken operiert wurde. Darüber wie anderen Jungens
Augen ausgeschnitten und Geschlechtsteile wegoperiert wurden. Wie Mütter mit ihren Baby's
gemordet wurden, mit Baggern Erde darüber geschoben und wie er sah, dass sich die Erde noch
bewegte. Einmal ein dumpfer Schlag und danach Stille. Er war gewahr geworden, dass ein SSMann ein Baby an die Wand geschlagen hatte, und er sah, dass das Gehirn ausgetreten war. Als
Zehnjähriger musste er Leichen schleppen, die teilweise stark verwest waren. Er wurde Zeuge
vieler furchtbarer Verbrechen, die sich unauslöschlich in seine Psyche eingegraben haben.
Widerstandsaktion in Auschwitz
Aber er erlebte auch eine Widerstandsaktion vom Sinti- und Roma-Häftlingen, an der sein mutiger
Vater beteiligt war. Im Mai 1944 hatte die Lagerleitung beschlossen, das "Zigeunerlager"
aufzulösen und alle Insassen umzubringen, um Platz für ungarische Juden zu schaffen. Drei
Baracken waren bereits geleert und zum Krematorium abtransportiert worden. Hugo berichtet:
"Papa stand unten, gerade, mit dem Pickel in den Händen, und einer seiner Brüder mit einem
Schaufelstiel, einer links, einer rechts. Draußen gingen sie auf das Tor zu, bestimmt sieben, acht
Mann. Der Papa hat einen Schrei losgelassen. Die ganze Baracke hat gezittert, so hat er
geschrieen: ›Wir kommen nicht raus! Kommt ihr rein! Wir warten hier! Wenn ihr was wollt, müsst
ihr reinkommen!‹ Die blieben stehen, es war still. Nach einer Weile kam ein Motorrad angefahren,
die unterhielten sich draußen. Dann sind sie weggefahren, der Lastwagen ist weitergefahren. Wir
haben alle aufgeatmet. Die anderen sechs Brüder von Papa waren in anderen Blöcken. ...... Da bin
ich heute noch stolz drauf, das hat es selten gegeben, dass sich die Leute gewehrt haben."
Der Vater hatte sich zum Wehrmacht-Strafbataillon Dirlewanger (Häftlings-jargon "Kanonenfutter") gemeldet. Die Familie entkam damit einmal mehr dem Tod. Sie wurde jedoch nicht
entlassen, sondern weiter "auf Transport" geschickt. Die KZ-Stationen: Ravensbrück, Mauthausen
und schließlich das Hungerlager Bergen-Belsen, wo sie von der britischen Armee befreit werden.
In der Nacht, in der er meint, nicht mehr weiter leben zu können, nachdem er schon zwei Tage
lang nicht mehr aufstehen konnte, hört er es rufen "You are free." Vom Hunger geschwächt, an
der Grenze zwischen Leben und Tod, rappelt er sich hoch, sieht die Panzer am Tor, schleppt sich
wenige Meter aus der Baracke und bricht zusammen.
Diskriminierung auch nach der Befreiung
Die Großfamilie Höllenreiner hat 36 Mitglieder verloren. Der elfjährige Hugo, seine fünf
Geschwister und die Eltern überlebten. Als die Familie nach München zurückkehrte, waren alle
krank. Sie standen vor dem Nichts, litten unter psychischen und physischen Verletzungen, unter
den Folgen von Misshandlungen, Zwangssterilisation, Kälte und Hunger. Und wie lief es mit der
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Wiedergutmachung? Nicht der Rede wert, 5000 DM und eine kleine Rente. Keinerlei behördliche
Gedanken daran, den von den Nazis enteigneten Pferdehandel samt Wohnhaus zu entschädigen.
Wohl aber Fortsetzung der Diskriminierung durch Beamte, die schon den Nazis gedient hatten und
die z.B. gesundheitliche Schäden in Nazimanier nicht als haftbedingt, sondern als anlagebedingt
einstuften.
Wie oft bei Überlebenden der KZ-Lager, konnte Hugo Höllenreiner lange nicht über das Erlittene
sprechen. 1993 auf einer Kundgebung in München gelang es ihm erstmals, das tief Vergrabene an
die Oberfläche zu holen. Seitdem hat er immer wieder Bericht erstattet, auf Veranstaltungen, vor
Schulklassen. Die Journalistin Anja Tuckermann hat 2005 ein Buch über sein Leben geschrieben:
"Denk nicht, wir bleiben hier! Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner". Hanser-Verlag.
Unter großem Beifall der Versammelten bedankt sich Jürgen Ziegler, ver.di-Geschäftsführer, bei
Hugo Höllenreiner für diese einmalige Geschichtsstunde, und erklärte stellvertretend für die
Anwesenden, dass wir den Kampf verstärken werden, damit sich so etwas nie wiederholt.
Besuch im Dokumentationszentrum
Vorangegangen war dem Zeitzeugen-Gespräch ein Besuch im Dokumentations- und Kulturzentrum
Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg. Silvio Peritore führte die 30-köpfige Gewerkschaftergruppe sachkundig durch die beeindruckende Ausstellung über den Leidensweg der Sinti und
Roma unter dem deutschen Faschismus. Beeindruckend vor allem deswegen, weil durchgängig
der rassistischen Vernichtungsideologie Bilder aus dem Leben und dem Alltag von Sinti- und
Roma-Familien gegenüber gestellt werden. In diesem Spannungsfeld wird die Verlogenheit der
Nazi-Propaganda, die derjenigen gegenüber der jüdischen Bevölkerung in nichts nachstand, sehr
wirkungsvoll entlarvt. Immer wieder gelingt es Herrn Peritore, interessante aktuelle Bezüge
herzustellen. Bezeichnend sei es zum Beispiel, dass es keinen Aufschrei der Empörung gegeben
habe, als sich im Frühjahr Mitglieder der Berlusconi-Regierung und der italienische Parlamentspräsident rassistisch gegenüber Sinti und Roma geäußert hatten. Noch immer werden Sinti und
Roma als Opfer zweiter Klasse angesehen und schon wieder werden sie in EU-Ländern zu Sündenböcken gemacht. Er erinnerte auch daran, dass die staatliche Diskriminierung der Sinti und Roma
in der Nachkriegs-Bundesrepublik fortgesetzt worden. In einem empörenden Urteil erklärte der
Bundesgerichtshof 1956, die "Zigeuner neigen zur Kriminalität". Auch diese Altlast aus der Zeit des
Kalten Krieges konnte erst langsam überwunden werden. Umso wichtiger ist es, gegen das
Vergessen anzukämpfen. In diesem Sinne legte Jürgen Ziegler für die gewerkschaftliche
Besuchergruppe Blumen am Mahnmal im Dokumentationszentrum nieder.
NPD-Verbot, jetzt!
Bleibt noch nachzutragen, dass Hugo Höllenreiner aktives Mitglied der VVN-Bund der Antifaschisten ist und regelmäßig an Demonstrationen und Aktionen gegen Nazi-Auftritte mitwirkt. Wir
alle müssen mithelfen, mehr Menschen für die demokratische Gegenwehr gegen Rechts zu
gewinnen. Dazu gibt es nach dem Mordanschlag auf den Passauer Polizeipräsidenten einen
weiteren gewichtigen Grund. Auf die Tagesordnung des Bundestags gehört jetzt dringlich, das
NPD-Verbot durchzusetzen als ersten Schritt für die Auflösung aller rechtsradikalen/neofaschistischen Organisationen/Gruppen und ihrer Publikationen.
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http://antifa.vvn-bda.de/2013/09/05/verweigerung-und-mut/
Mai-Juni 2010
Verweigerung und Mut
geschrieben von Dietrich Schulze
Für andere riskierten sie in den Lagern ihr Leben
Hilde Wagner: »Der Kapo der Kretiner«. Pahl-Rugenstein-Verlag, 2009, Bonn
Anja Tuckermann: »Denk nicht, wir bleiben hier!« – Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo
Höllenreiner. Carl Hanser Verlag, München 2005
Der 34-jährige deutsche Kommunist Karl Wagner und der 11-jährige Sinto-Junge Hugo
Höllenreiner; Dachau/Allach im Juli 1943, Auschwitz im Februar 1945. Beide setzten das eigene
Leben für andere Menschen aufs Spiel. Nicht gegensätzlicher könnten die Formen ihres Widerstands und die Begleitumstände sein. Und dennoch verbindet sie ein starkes inneres Band, eine
Botschaft von großer Eindringlichkeit. Sie empfanden sich nicht als Helden. Sie taten, was sie tun
mussten.
Allach im Juli 1943. Gespannte Stille im Dachauer KZ-Außenlager Allach. Die Häftlinge sind zum
Appell angetreten. Lagerführer Jarolin schreit: »Lagerältester!« Auf einem Bock soll ein sowjetischer Häftling die Prügelstrafe beziehen. Karl Wagner, aus dem Stammlager Dachau abkommandiert, tritt vor. Jarolin zu Karl: »Schlagen!« Karl: »Ich schlage nicht!« Jarolin: »Warum
schlägst du nicht?« Karl: »Ich kann nicht schlagen!« Jarolin mit diabolischem Grinsen:
»Versuch’s!« Karl in zurückhaltender Tonlage: »Ich schlage nicht!«. Jarolin zieht die Pistole und
brüllt: »Du verweigerst den Befehl, du Kommunistenschwein, das habe ich doch gewusst!« Karl
streift seine Armbinde ab und legt sie auf den Bock. Die SS-Bestie ist verwirrt. Wollte sie doch den
unbequemen Lagerältesten vor versammelter Mannschaft als Schläger vorführen und damit sein
Ansehen zerstören. Dessen demonstrative Rückgabe der Lagerfunktion verbunden mit den
selbstbewussten Antworten, löst gemischte Empfindungen in dem SS-Mann aus. Was er nicht
wusste: Die illegale Dachauer Widerstandsorganisation hatte die Verweigerung des Schlagens
beschlossen. Nur, wer würde das als Erster tun? Jarolin war von Karls beherrschter, im SS-System
nicht vorgesehenen Funktionsrückgabe so beeindruckt, dass er ihn nicht sofort niederschoss. Karl
wurde zwar hart bestraft, Stehbunker und Stockhiebe konnten tödlich sein. Doch sein Widerstand
sprach sich wie ein Lauffeuer herum und ermutigte seine Häftlingskameraden.
Karl Wagner nutzte seine Funktion, die Sabotage der Rüstungsproduktion zu organisieren,
zusätzliche Essensrationen für die Mithäftlinge zu beschaffen und vieles mehr. Er rettete
Hunderten das Leben. Später erlebte er dank der umsichtigen illegalen Widerstandsorganisation
die Befreiung in Buchenwald. Dem Mörder Jarolin wurde der Prozess gemacht. Er wurde gehenkt.
Auschwitz im Februar 1945. Der 11-jährige Hugo Höllenreiner soll getrennt von seiner Familie, die
im März 1943 nach Auschwitz deportiert worden war, auf Transport geschickt werden. In wenigen
Monaten, konfrontiert mit unvorstellbaren Verbrechen, war er zum Erwachsenen geworden. Ihn
bewegte ein einziger Gedanke »Wo ist meine Familie? Ich habe versprochen, auf meine Familie
aufzupassen. Meine Familie ist ohne mich. Sie stirbt ohne mich und ich muss etwas tun. Ich
dachte mir, nein, ich bleib hier. Meine Familie ist hier. Lieber sollen sie mich erschießen.« Seine
Freunde halten ihn noch fest. Er aber läuft weg, gelangt an einen Güterbahnhof mit zwanzig,
dreißig Güterwaggons. Von weitem sieht er seine Schwester Frieda. Nun haben seine Gedanken
ein klares Ziel: »Jetzt kann ich nur noch eins machen. Ich laufe jetzt hin. Werd ich erschossen,
werd ich erschossen. Ohne meine Familie geh ich nicht weg.« Und er läuft mitten durch die SSPostenkette, an beiden Seiten Hunde, Schritt für Schritt. Und er wusste: »Wenn ein Hund bellt,
werd ich erschossen.« Die SS-Schergen müssen den mutigen Jungen wie ein Wesen von einem
anderen Stern empfunden haben. Ihre Stimmung übertrug sich auf die Wachhunde. Sie haben
nicht angeschlagen. Hugo war weder zu ängstlich noch zu forsch vorangeschritten. Seine aus
innerem Kampf geborene Mischung aus Entschlossenheit und Vorsicht, geleitet von seinem
unbedingten Willen, die Familie nicht im Stich zu lassen, hat ihm das Leben gerettet. Er gelangte
zu Mutter und Schwester. Gemeinsam mit seiner engeren Familie überlebte er. Das
Vernichtungslager wurde von der Roten Armee befreit.
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