Zu den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe von Fukushima auf

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Zu den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe von Fukushima auf
Zu den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe
Fukushima auf den Pazifik und die Nahrungsketten
von
Stephan Moldzio, Thomas Dersee, Dirk Zimmermann, Josef Lutz, Rolf Bertram,
Anton Eisenhauer, Rainer Frentzel-Beyme, fertig gestellt am 7.7.2011
Einleitung
Die nukleare Katastrophe von Fukushima ist auch lange nach dem Erdbeben vom 11. März
2011 nicht unter Kontrolle. Große Mengen Radioaktivität werden nach wie vor freigesetzt,
wodurch nicht nur weite Landstriche unbewohnbar gemacht werden, sondern auch die Luft
und das Wasser des Pazifiks vor der Ostküste Japans betroffen sind. Die Informationspolitik
der Betreibergesellschaft TEPCO und der japanischen Regierung sowie die dürftige
Datenlage und fehlende Erfahrungswerte machen eine Einschätzung der Verbreitung und der
Gefährdung durch die freigesetzte Radioaktivität nach wie vor sehr schwierig. Langfristige
und weit reichende Auswirkungen können aber erwartet werden.
Im Folgenden soll eine Einschätzung auf Grundlage der verfügbaren Informationen
unternommen werden.
Die betroffene Region und ihre Bedeutung für die Fischerei
Nordöstlich der Reaktoren liegt im Zusammenfluss der beiden Meeresströmungen des
warmen Kuroshio und des kalten Oyashio eines der fischreichsten Gebiete der Welt. Die dort
aktive japanische Fischerei stellt die Hälfte der in Japan konsumierten Fischprodukte.
Gefangen werden Sardinen, Thunfische, Seehechte, Lachse, Alaska-Seelachs, Makrelen,
Eidechsenfische, Meerbrassen, Krabben, Garnelen, Tintenfische. Hinzu kommen
Venusmuscheln, Austern und Seetang sowie Produkte aus der überwiegend küstennahen
Aquakultur. Letztere stellen gut ein Fünftel der gesamten Fischmenge.
Fisch ist ein Grundnahrungsmittel in Japan und lässt sich in seiner Bedeutung mit dem Reis
vergleichen. Daher sind Fischfang und Fischverarbeitung ein wichtiger Wirtschaftsbereich für
das Land. Japan ist weltweit der fünftgrößte Fischproduzent, der Pro-Kopf-Kopfverbrauch
liegt bei über 60 kg Fisch im Jahr und ist damit fast viermal so hoch wie in Deutschland. Der
hohe Fischkonsum führt dazu, dass Japan auch der weltweit größte Importeur von Fisch ist.
Entgegen der öffentlich vertretenen Einschätzung, die Radioaktivität würde sich durch die
Meeresströmungen verdünnen und daher keine Gefahr darstellen, werden schon jetzt immer
mehr zum Teil stark radioaktiv belastete Fische angelandet. Vorerst betrifft dieses Problem
hauptsächlich Japan. Das Land exportiert nur einen Bruchteil des gefangenen Fischs, so
importierte Deutschland im vergangenen Jahr nur ca. 60,3 t aus Japan. Dem stehen
Gesamtimporte von 900.000 t in Japan gegenüber. Ein anderer Blick ergibt sich, wenn der
Pazifische Ozean betrachtet wird, der Japan umschließt und in dem nicht nur japanische
Fischer fangen. Nach der vom Fischverband veröffentlichen Darstellung der FAO1
Fanggebiete (Abb. 1) werden für das Japan umgebende FAO-Fanggebiet 61 die folgenden
Fischarten ausgewiesen: Alaska-Seelachs (Theragra chalcogramma), Pazifischer Kabeljau
(Gadus macrocephalus), pazifische Scholle (Lepidopsetta spp.), Seeteufel (Lophius
piscatorius) und Wildlachs (Oncorhynchus spp.). Für das Fanggebiet 67 nennt die
vorgenannte Quelle die folgenden Fische: Alaska-Seelachs (Theragra chalcogramma),
Dornhai (Squalus acanthias), Hering (Clupea harengus), Pazifischer Kabeljau (Gadus
macrocephalus), Makrele (Scomber scombrus), pazifische Scholle (Lepidopsetta spp.),
Seehechte (Merluccius spp.), Seeteufel (Lophius piscatorius) und Wildlachs (Oncorhynchus
spp.).1 Japan züchtet ferner Algen, Muscheln und Fische auch in Aquakulturen. Der Anteil
der Krebs- und Weichtiere an den für den Verzehr gedachten Importen betrug zwischen 26,8
(2009), 70,0 (2010) und 88,6 (2008) Prozent.
Wie groß ist die Gesamtmenge der frei gesetzten Radioaktivität?
Wie viel Radioaktivität aus Fukushima-Daiichi bisher freigesetzt wurde, kann nur geschätzt
werden. Die japanische Regierung hatte den Unfall am 12.3.11 auf Level 4, am 18.3.11 auf
Level 5 und am 12.4.11 schließlich auf Level 7 der INES-Skala eingestuft.
Die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) hatte bereits am 26.3.11 auf
Grundlage von Radioaktivitätsmessungen von weltweit 60 Mess-Stationen („CTBTO
Messungen“) erklärt, dass die bis dahin aus den havarierten Atomreaktoren von Fukushima
freigesetzten Radionuklidmengen von gleicher Größenordnung wie die aus Tschernobyl
freigesetzten Mengen seien.2 (Abb. 2)
Die Gesamtmenge des in den Brennstäben enthaltenen radioaktiven Jod-131 wurde von
TEPCO auf 81 Millionen Terabecquerel (~810x1017 Becquerel (Bq) geschätzt. Die japanische
Atomaufsichtsbehörde NISA schätzte am 13.4.11, dass bis zu diesem Zeitpunkt ca. 1,30x1017
Bq Jod-131 freigesetzt worden sind.3
Die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) schätzte aufgrund der
CTBTO-Messungen während der ersten drei Tage des Unfalls die Quellstärke von Jod-131
allerdings auf etwa 1,0x1017 Becquerel pro Tag2.
Oft wird die Reaktorkatastrophe von Fukushima mit der in Tschernobyl verglichen.
Einige wesentliche Unterschiede zu Tschernobyl:
1. Es gibt mehrere Kernschmelzen. In den Abklingbecken lagerten die Brennstäbe z.T. unter
freiem Himmel.
2. Unter Berücksichtigung der Brennelemente in den Abklingbecken ist das nukleare Inventar
in Fukushima ca. 120 mal so groß wie in Tschernobyl.4
3. In Tschernobyl wurde durch den Graphitbrand ein großer Teil des radioaktiven Inventars
1 FAO Food and Agriculture Organization (IV-2000): FAO-Fanggebiete, Fisch-Informationszentrum e.V.,
(www.fischverband.de/faokarte, letzter Zugriff 7.7.2011)
2 ZAMG Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (2011): „Unfall im japanischen Kernkraftwerk
Fukushima (Update: 26. März 2011 10:00)“, (www.zamg.ac.at/aktuell/index.php?seite=7&artikel=ZAMG_2011-0326GMT09:11, letzter Zugriff 7.7.2011)
3 JAIF Japan Atomic Industrial Forum, Inc. (2011): Earthquake Report No. 51, 13.4.2011,
(www.webcitation.org/5xunDms1r, letzter Zugriff 7.7.2011)
4 Jooß, C., Lutz, J., Offene Akademie, 13.4.2011, „Zur Dimension der Reaktorkatastrophe in Fukushima“,
(www.offene-akademie.org/?p=141, letzter Zugriff 7.7.2011)
2
ausgeblasen. In Fukushima wird die Kernschmelze noch über viele Jahre weiter bestehen. In
der Kernschmelze läuft die Kettenreaktion mit den Brennstoffen (Uran, Plutonium) unter
ständiger Freisetzung von Neutronen weiter.
4. Die Bevölkerungsdichte in dieser Region Japans ist etwa 15mal höher als in der Ukraine.
5. Ein Großteil der Radioaktivität entweicht in Fukushima über das Kühlwasser direkt ins
Meer, verteilt sich dort über die Meeresströmungen, mit unvorhersehbaren Folgen für den
Pazifik, die Nahrungsketten und damit auch für den Menschen. Äußerst fischreiche Bestände
vor der Nordostküste Japans sind betroffen, eine Ausbreitung auf z.B. Seelachs in der
Beringsee liegt im Bereich des Möglichen.
Eines kann mit Bestimmtheit gesagt werden: Eine so große Freisetzung von Radioaktivität ins
Meer hat es nach unserer Kenntnis bisher noch nicht gegeben.
Welche radioaktiven Substanzen wurden freigesetzt?
In der Kernschmelze entstehen durch die unkontrolliert ablaufenden Kernreaktionen eine
Reihe von radioaktiven Zerfallsprodukten sowie durch die Aufnahme von thermischen
Neutronen durch das Uran-238 das alpha-Teilchen emittierende und daher extrem gefährliche
Plutonium-239.
In der Tabelle 1 ist eine Auswahl von den etwa 50 Isotopen aufgeführt, die in Kernreaktoren
entstehen:
Radionuklid
Halbwertszeit
Zerfallsart
Zerfallsprodukte
H-3 (Tritium)
I-131
I-134
Cs-137
Cs-134
Xe-133
Kr-85
Sr-90
Sr-89
Te-129m
Fe-55
Pu-238
Pu-239
Pu-241
Am-241
13,32 Jahre
8,02 Tage
52,5 Minuten
30,17 Jahre
2,06 Jahre
5,25 Tage
10,76 Jahre
28,78 Jahre
50,53 Tage
33,6 Tage
2,73 Jahre
87,7 Jahre
24110 Jahre
14,35 Jahre
432,3 Jahre
ββββββββββK-Einfang,
α
α
βα
He-3 (stabil)
Xe-131 (stabil)
Xe-134 (stabil)
Ba-137 (stabil)
Ba-134 (stabil)
Cs-133 (stabil)
Rb-85 (stabil)
Y-90  Zr-90 (stabil)
Y-89 (stabil)
I-129  Xe-129 (stabil)
Mn-55 (stabil)
U-234  Th-230 …
Uran-235  Th-231…
Am-241  …
Np-237  …
Tabelle 1 : Halbwertszeiten, Zerfallsarten und Zerfallsprodukte einiger ausgewählter Radionuklide
Weitere Radionuklide sind u.a.: Cäsium-136, Barium-140, Lanthan-140, Cerium-144, Arsen74, Chlor-38, Yttrium-91, Silber-110, Uran und Neptunium-Isotope.
3
Abb. 1 Die von der nuklearen Katastrophe von Fukushima am stärksten betroffenen Fischfanggebiete 61 und 67 im Nordpazifik.
Quelle: FAO (IV-2000): FAO-Fanggebiete, Fisch-Informationszentrum e.V., www.fischverband.de/faokarte
4
Abb. 2 Globale Verbreitung der radioaktiven Rauchfahne am 30.3.2011, ausgehend von Fukushima-Daiichi. Nachweis von Jod-131 durch weltweit 60 Messstationen.
Quelle: Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (2011): www.zamg.ac.at/aktuell/index.php?seite=6&artikel=ZAMG_2011-04-03GMT10:11
5
Die japanische Atomaufsichtsbehörde NISA berichtete am 12.6.11, dass bei einer
Grundwasser-Probe um Reaktor 2, genommen am 18.5.11, hohe Strontium-Werte gemessen
wurden: 19.000 Bq/l Strontium-89 und 63.000 Bq/l Strontium-90.5 Das spricht dafür, dass
mindestens ein Kern den Sicherheitsbehälter durch geschmolzen hat und nun direkten
Kontakt zum Grundwasser und zur Biosphäre hat.
In Meerwasser-Proben nahe der Einlassöffnung des Kraftwerks wurde der Grenzwert an
radioaktivem Strontium um das 240fache überschritten. Die NISA führte dies auf Leckagen
von hochradioaktivem Wasser zurück. 5
Das in den Brennstäbe der Fukushima-Reaktoren vorhandene Plutonium besteht je nach
Abbranddauer bis zu 12 % aus Plutonium-241, bei den verwendeten MOX-Brennelementen
kann der Anteil wesentlich größer sein. Plutonium-241 ist ein Betastrahler und wandelt sich
mit einer Halbwertszeit von 12,9 Jahren zu Americium-241 um. Mit dem Mengenzuwachs
von Americium-241 auf Kosten der Menge von Plutonium-241 steigt die Alpha-Aktivität (in
Bq gemessen) innerhalb von 15 Jahren um das 300fache an. Americium-241 ist einer der
energiereichsten Alphastrahler (5,4 MeV) mit einer Halbwertszeit von 432 Jahren. Von
Organismen aufgenommen ist die Radiotoxizität von Americium-241 je nach Ablagerungsort
im Körper um bis zu 3 Größenordnungen größer als von Plutonium.6
Wie ist das Mengenverhältnis zwischen den verschiedenen freigesetzten
Radionukliden?
Cäsium-134, Cäsium-137 und Jod-131 sind relativ einfach nachzuweisen und werden deshalb
als Leitnuklide verwendet. Für die anderen radioaktiven Substanzen gibt es keine
flächendeckenden Messungen, weshalb deren Mengen aus einem bestimmten Verhältnis von
freigesetzten Radionukliden geschätzt werden muss.
Das Aktivitätsverhältnis (Bq) der verschiedenen in Fukushima freigesetzten Radionuklide
kann aus vielen Einzelmessungen nur geschätzt werden. „Den bisher veröffentlichten
Messergebnissen aus Japan zufolge liegen Cäsium-137 und Cäsium-134 in ungefähr
gleichen Anteilen im Fallout vor. Die Höhe des Gehalts an Strontium-90 und Plutonium-239
ist fraglich, ausreichende derartige Messergebnisse werden nicht so schnell erhältlich sein.“ 7
Generell ist die Messung von alpha-Strahlern wie Plutonium kompliziert und dauert etwa 3
Wochen. Erst Anfang April wurden einzelne Ergebnisse für Plutonium und Strontium für
Mitte März genommene Proben veröffentlicht
Das japanische Wissenschaftsministerium MEXT (Ministry of Education, Culture, Sports,
Science and Technology) veröffentlichte erst Anfang April einzelne Ergebnisse für Plutonium
und Strontium für Mitte März genommene Proben und seitdem auch nicht wieder.8
5 Jiji-Press, 12.6.2011, “Radioactive Strontium Detected in Fukushima N-Plant Groundwater”,
(http://jen.jiji.com/jc/eng?g=eco&k=2011061200225)
6 Loveland, W.D., Morissey, D.J., Seaborg, G.T. (2006): “Modern Nuclear Chemistry”, Wiley Interscience, New
Jersey
7 Dersee, T. (2011): Strahlentelex mit EletrosmogReport Nr.582-583 vom 7.4., S.13, “Empfehlungen zur
Minimierung des Strahlenrisikos in Japan.“
8 MEXT Ministry of Education, Culture, Sports, Science and Technology, Japan (2011):
“Important Information from Japanese Government”, (http://eq.wide.ad.jp/monkasho_en/misc_en.html,, letzter
Zugriff 7.7.2011)
6
Bei den oberirdischen Atombombentests betrug das Verhältnis zwischen Plutonium-239/-240,
Cäsium-137, Strontium-90 und Tritium: 1 : 52 : 36 : 9375
Bei den Emissionen durch die WAA Sellafield betrug das Verhältnis zwischen Plutonium239/-240, Cäsium-137, Strontium-90 und Tritium: 1 : 59 : 9 : 26 9
Nach 2 Jahren Brenndauer beträgt in den Brennstäben das Verhältnis zwischen Plutonium239, Cäsium-137, Cäsium-134, Strontium-90 üblicherweise: 1 : 200 : 50 : 150 7
In der Vergangenheit sind bereits zahlreiche radioaktive Quellen in die Weltmeere
eingeflossen:
Fallout der oberirdischen Atomtests seit den 50er Jahren
Fallout von Tschernobyl
versenkter Atommüll, versenkte Atom-U-Boote
Einleitung flüssigen Atommülls durch die Atomfabriken (WAA) Sellafield und La Hague
Radioaktivität durch diverse „Störfälle“ an AKWs
Radioaktivität durch AKWs im „Normalbetrieb“
Freisetzung „natürlicher Radioaktivität“ bei der Förderung von Öl und Gas
Inventar der Weltmeere an künstlichen Radionukliden (Becquerel)
Atomwaffentests und durch die Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield
durch
Atomwaffentests bis in die 70er
Pu-239, -240
15
11,84*10
Cs-137
15
617,9*10
Sr-90
15
425,5*10
H-3
15
111000*10
Verhältnis Pu:Cs:Sr:T
1
52
36
9375
WAA Sellafield, 1957-1978
0,518*10
Verhältnis Pu:Cs:Sr:T
1
15
15
15
30,7*10
4,81*10
13,69*10
59
9
26
Tabelle 2: Inventar der Weltmeere an künstlichen Radionukliden durch Atomwaffentests und die WAA Sellafield
Quelle: Needler, G.T. ,Templeton, W.L. (1981): Oceanus, Vol. 24, S. 62
Nach Fukushima sind die Messwerte im Ozean um das Kraftwerk um mehrere
Größenordnungen höher, als nach dem Super-GAU von Tschernobyl im Schwarzen Meer und
in der Ostsee. Die Aktivität von Cäsium-137 wird für die vergleichende Bewertung als
Leitnuklid benutzt. Um die Auswirkungen von Fukushima in der Zukunft abschätzen zu
können, bemühen sich Wissenschaftler des Ozeanographischen Instituts Woods Hole die
Hintergrundaktivität von Cäsium-137 im Pazifik und Atlantik zum jetzigen Zeitpunkt zu
erfassen.10
Welche Messungen sind bisher für den Pazifik erfolgt?
Die Radioaktivität im Pazifik wird von TEPCO und vom japanischen
Wissenschaftsministerium MEXT (Ministry of Education, Culture, Sports, Science and
Technology) gemessen. Ein „Meeres-Experte der IAEA aus Monaco“ hat die japanischen
Behörden JAMESTEC, MEXT, MOE, MOFA unterwiesen.12 Die Unabhängigkeit der
Messungen steht damit in Frage.
9 Needler, G.T. ,Templeton, W.L. (1981): Oceanus, Vol. 24: S. 62
10 NSF National Science Foundation, Press Release 11-100, 18.5.2011, “After Japan Nuclear Power Plant Disaster:
How Much Radioactivity in the Oceans?”,
(www.nsf.gov/news/news_summ.jsp?cntn_id=119577&org=NSF&from=news, letzter Zugriff 7.7.2011)
7
15
Von zahlreichen Verbänden und Organisationen wurde die Informationspolitik der
japanischen Behörden und des Betreibers TEPCO kritisiert und unabhängige und
umfassendere Messungen gefordert.
Im Informationsmaterial der Offenen Akademie zur Einschätzung der nuklearen Katastrophe
in Japan heißt es: „Sofort müssen flächendeckend Messungen der radioaktiven Belastung in
ganz Japan erfolgen, die öffentlich zugänglich gemacht werden und von unabhängigen
Organisationen kontrolliert werden müssen. Dies gilt auch für die notwendigen
systematischen Messungen der Strahlenbelastung im Pazifik. Die Verharmlosung der
Entwicklung und Desinformation durch die japanische Regierung und durch TEPCO muss
sofort eingestellt werden!“ 11
Von der IAEA wurden am 12.4.11, 19.4.11 und am 1.6.11 drei spärliche Berichte über die
Messungen im Pazifik veröffentlicht. Der Bericht der IAEA vom 19.4.11 fasst die Daten von
TEPCO und MEXT zusammen: 12
Es werden nur Jod-131 und Cäsium-134 und -137 gemessen, keine anderen Radionuklide,
wie etwa Strontium-90 oder Plutonium-Isotope.
Das MEXT hat seit dem 23.3.11 acht Messpunkte 30 km offshore entlang der Küste („MEXT
1-8“) eingerichtet. Ende März/Anfang April wurden 4 weitere Messpunkte ergänzt (MEXT
A, B, 9 und 10), die sich ca. 40 km nördlich, bzw. südlich des Kraftwerks befinden, in etwa
10km, bzw. 20 km Entfernung zur Küste. Ende April wurden die Messpunkte S1-S4
eingerichtet. Ab dem 23.3.11 wurde zunächst nur Oberflächenwasser beprobt, ab dem 30.3.11
auch Wasser aus etwa 51-172m Tiefe, und seit dem 25.4.11 auch Wasser aus mittlerer Tiefe
(30-95m Tiefe).
Die Daten vom MEXT sind veröffentlicht unter http://eq.wide.ad.jp/monkasho_en/misc_en.html
Am 15.4.11 wurden an „MEXT-4“ im Oberflächenwasser in 30 km Entfernung zur Küste
folgende Maximalwerte gemessen:
160 Bq/l Jod-131, 160 Bq/l Cäsium-134 und 190 Bq/l Cäsium-137.13 (Abb. 4)
11 Offene Akademie (2011): „Informationsmaterial zur Einschätzung der nuklearen Katastrophe in Japan“,
29.3.2011, (www.offene-akademie.org/?p=134, letzter Zugriff 7.7.2011)
12 IAEA Environment Laboratories (2011): “Assessment of IAEA Environment Laboratories on Data from the
Marine Environment provided by Japan”, 19.4.2011, (www.slideshare.net/iaea/fukushima-marine-environmentmonitoring-19-april-2011, letzter Zugriff 7.7.2011)
13 MEXT Ministry of Education, Culture, Sports, Science and Technology, Japan (2011):
“Important Information from Japanese Government”, www.eq.wide.ad.jp/files_en/110501ocean_en.pdf, letzter
Zugriff 7.7.2011)
8
Abb. 3 Aktivität von Cäsium-137 (Bq/m³) in den Weltmeeren im Jahre 1990.
Quelle: Woods Hole Oceanographic Institution, National Science Foundation, Press Release 11-100, 18.5.2011,
www.nsf.gov/news/news_summ.jsp?cntn_id=119577&org=NSF&from=news
9
Abb. 4 Messpunkte des japanischen Wissenschaftsministerium (MEXT) um Fukushima-Daiichi im Pazifik. Messwerte von Jod-131, Cäsium-134 und Cäsium-137 in
Bq/l im Oberflächenwasser.
Quelle: MEXT (2011): “Important Information from Japanese Government”, www.eq.wide.ad.jp/files_en/110501ocean_en.pdf
10
Abb. 5 Messwerte von TEPCO für Jod-131 und Cäsium-137 an den Messpunkten TEPCO 1-4 vor der japanischen Pazifik-Küste
Quelle: MEXT (2011): “Important Information from Japanese Government”, www.eq.wide.ad.jp/files_en/110501ocean_en.pdf
11
Es wurden bisher nur vereinzelt Messungen des Sediments durchgeführt. TEPCO-Messungen
des Meeresbodens in 3 km Entfernung zur Küste vom 29.4.11 ergaben Aktivitäten von 190
Bq/kg Jod-131; 1300 Bq/kg Cäsium-134 und 1400 Bq/kg Cäsium-137.14
Das MEXT hat um den 10.5.11 und um den 26.5.11 an jeweils 12 Messpunkten in ca. 2040km Entfernung zur Küste Messungen durchgeführt, die Höchstwerte von 260 Bq/kg Cs134, 320 Bq/kg Cs-137 und 140 Bq/kg Te-129 ergaben.15
TEPCO hat seit dem 21.3.11 vier küstennahe Messpunkte vor Fukushima-Daiichi und Daini
(„TEPCO 1-4“) eingerichtet. Seit dem 5.4. werden sechs weitere Messpunkte 15 km offshore
beprobt („TEPCO 5-10“). Die höchsten Werte wurden an TEPCO 1 und 2 gemessen: In 330
m Entfernung zum Abflussrohr der Blöcke 1-4, bzw. 30m vom Abflussrohr der Blöcke 5-6
entfernt. (Abb. 5)
Im Bericht der IAEA wird verkündet, dass die Messwerte an TEPCO 5-10 für Jod-131, bzw.
Cs-137 „unter 0,5 kBq/l“ liegen und an TEPCO 1-4 „unter 20 kBq/l nach dem 9.April“.12
Tatsächlich waren die Werte vor dem 9.4.11 noch weitaus höher, mit Maximalwerten von
180.000 Bq/l für Jod-131 (30.3.11, TEPCO-1, 330m entfernt von Abflussrohr Blöcke 1-4)
und 66.000 Bq/l für Cäsium-137 (7.4.11, TEPCO-2, 30m entfernt von Abflussrohr Blöcke 56).
Die Messwerte von TEPCO und MEXT zeigen, dass das Meer um Fukushima-Daiichi
hochgradig kontaminiert ist.
TEPCO und MEXT gehen davon aus - wenn keine weitere Radioaktivität freigesetzt wird dass die Messwerte an den 30 km offshore gelegenen Mess-Stationen durch Verdünnung in
tiefere Wasserschichten und durch Ozeanströmungen weiter sinken werden.
Die freigesetzte Aktivität löslicher Radionuklide wie Jod oder Cäsium wird sich also mit der
Zeit in Abhängigkeit von den Meersströmungen weiträumig verteilen. Wenn an bestimmten
Messpunkten zeitweise kein Jod oder Cäsium nachweisbar ist, liegt das wahrscheinlich daran,
dass die beprobte Wassermasse gänzlich von außerhalb stammt und mit radioaktiven
Substanzen noch nicht in Kontakt gekommen ist. Die Verteilung hängt von den
Meeresströmungen ab und diese ändern sich laufend.
Weitere Messwerte an Land:
In Regenwasser in Ono, 40 km südwestlich von Fukushima-Daiichi wurden Spitzenwerte von
7.400 Bq/kg Jod-131 und 800 Bq/kg Cäsium-137 gemessen.16
In Bodenproben in Iitate, 40 km nordwestlich von Fukushima-Daiichi wurden Spitzenwerte
von 1.170.000 Bq/kg Jod-131 und 227.000 Bq/kg Cäsium-137 gemessen.16
Spinat aus Ibaraki, > 100km südlich von Fukushima-Daiichi: 54.000 Bq/kg Jod-131 und
1.900 Bq/kg Cäsium-137. 16
14 TEPCO (2011):, “The Results of Nuklide Analysis on the Ocean Soil”, 3.5.2011,
(http://www.tepco.co.jp/en/press/corp-com/release/betu11_e/images/110503e3.pdf, letzter Zugriff 7.7.2011)
15 MEXT Ministry of Education, Culture, Sports, Science and Technology, Japan (2011): “Radioactivity
Concentration in marine soil”, 12.6.11, (http://eq.wide.ad.jp/files/110612ocean.pdf, letzter Zugriff 7.7.2011)
12
Blatt-Pflanzenproben aus Iitate, 40km nordwestlich von Fukushima-Daiichi waren sogar noch
weitaus mehr belastet: 2.540.000 Bq/kg Jod-131 und 2.870.000 Bq/kg Cäsium-137 !16
Sogar in 370km Entfernung wurde der Grenzwert in Grünem Tee mit 679 Bq/kg Cäsium
überschritten.17 Betroffene Chargen wurden exportiert, die eingeleitete Rückrufaktion kam zu
spät, so dass sich Mitte Juni mit 1038 Becquerel pro kg belastete Ware in Frankreich fand.
Ein Großteil im Nordosten Japans angelandeter küstennah gefangener Fisch (und
Meeresfrüchte) ist nennenswert radioaktiv belastet
Bei dem Verzehr von lediglich 100g oben genannten Spinats würde der Grenzwert für die
Organdosis der Schilddrüse (0,9 mSv / Jahr), besonders bei Kleinkindern, um ein Mehrfaches
überschritten.7
Ausgehend von den Boden-Messungen (Bq/kg) wurde von der IAEA die abgelagerte GesamtAktivität (Bq/m²) in 25 bis 58 km Entfernung zu Fukushima-Daiichi hochgerechnet: Diese
wird für Jod-131 mit 200.000-25.000.000 Bq/m² und für Cäsium-137 mit 20.000-3.700.000
Bq/m² angegeben.18
Insgesamt zeigen die Messwerte, in Abhängigkeit von Windrichtung und Niederschlägen,
eine starke geographische Variabilität.
Wie verteilen sich die radioaktiven Substanzen um Japan und im Pazifik?
Die radioaktiven Stoffe verteilen sich in unterschiedlichem Maße weiträumig über
Meeresströmungen, Winde, Niederschläge und über wandernde Lebewesen.. Hier ist zu
unterscheiden zwischen flüchtigen, leicht löslichen und gasförmigen Radionukliden, wie Jod131, Cäsium-137, Cäsium-134, Strontium-90, Xenon-133 (Gas), Krypton-85 (Gas) und
Tritium (Gas), und den sogenannten Transuranen, wie Plutonium, Neptunium, Americium
und anderen radioaktiven Isotopen, die sich im Ozean wie andere Schwermetalle verhalten.
Schwermetalle liegen im Wasser nur zu einem geringen Teil als freie Ionen vor. Der größte
Teil ist an organische Substanzen gebunden („Komplexierung“). Schwermetalle reichern sich
an suspendierten Partikeln an und werden relativ schnell ins Sediment verfrachtet. Die
Aktivitäten im Sediment sind daher um das Vielfache höher als im Wasser. Da sich Metalle
vor allem an Tonpartikeln und organischem Material anlagern, sind die Konzentrationen im
Schlick deutlich höher als im Sand. Für eine vergleichende Bewertung verschiedener
Meeresgebiete müssen deshalb entweder vergleichbare Sedimente oder die Metallgehalte in
definierten Korngrößenfraktionen herangezogen werden.19
16 MEXT Ministry of Education, Culture, Sports, Science and Technology, Japan (2011): “Important Information
from Japanese Government, Readings of Dust Sampling”, 18.4.2011,
(http://eq.wide.ad.jp/files_en/110418dust_1000_en.pdf, letzter Zugriff 7.7.2011)
17 FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung (2011): , „Auch grüner Tee verstrahlt“, 13.6.2011,
(http://www.faz.net/artikel/C31034/japan-auch-gruener-tee-radioaktiv-verstrahlt-30436700.html, letzter Zugriff
7.7.2011)
18 IAEA International Atomic Energy Agency (2011): “Fukushima Nuclear Accident Update Log”, 30.3.2011,
(http://www.iaea.org/newscenter/news/2011/fukushima300311.html, letzter Zugriff 7.7.11)
19
Sommer, U. (1998), „Biologische Meereskunde“, Springer-Verlag, Berlin Heidelberg
13
Auch wenn die partikelreaktiven Radionuklide am Meeresboden sedimentieren, sind sie nicht
einfach verschwunden, sondern belasten das Leben am Meeresboden und können durch
Stürme und Meeresströmungen wieder aufgewirbelt und verbreitet werden.
Ein Teil der an sedimentierten Partikel anhaftenden Radionuklide kann durch Störungen des
Sorptionsgleichgewichts z.B. durch Temperatur- Druck- oder Strömungsveränderungen
desorbiert und in die biologischen Kreisläufe zurückgeführt werden. Diese Grenzflächenprozesse
unter dem Einfluss ionisierender Strahlung sind bisher kaum untersucht worden.
Entscheidend an der Verteilung radioaktiver Substanzen im Pazifik werden die
vorherrschenden Meeresströmungen sein. Vor der Westküste Japans treffen sich zwei
Strömungen: Der aus dem Süden nach Norden fließende warme Kuroshio (dt. „Schwarze
Strömung“, auch „Japanstrom“ genannt) stößt auf den kalten und weniger salzhaltigen
südwärts gerichteten Oyashio (dt. „Elternstrom“). Beide Strömungen bilden zusammen den
Nordpazifikstrom (nordpazifische Westwinddrift). Dieser überquert den Pazifik und teilt sich
vor der Küste Amerikas in einen nördlichen (Alaska-Strom) und einen südlich Strang
(Kalifornienstrom). Der nördliche Strang gelangt in die fischreiche Beringsee, Einflüsse aus
Fukushima können dort jedoch erst mit einem bestimmten zeitlichen Abstand (mind. ein Jahr)
erwartet werden (Abb. 7).
Die Radioaktivität kann auch durch Lebewesen z.B. Fische. verbreitet werden.
Ein Teil der Radionuklide, der sich langfristig, z.B. am Tiefseeboden ablagert, ist den
biologischen Kreisläufen im Wesentlichen entzogen und wird in den geologischen Kreislauf
eingehen.
Ein tatsächlicher Abbau, also die Umwandlung der Radionuklide in stabile, nicht-radioaktive
Elemente findet ausschließlich über den radioaktiven Zerfall bei einer bestimmten
Halbwertszeit statt. Diese Halbwertszeit, in der die Hälfte der Ausgangsmenge zerfallen ist,
beträgt z.B. bei Jod-131 acht Tage, bei Cäsium-137 etwa 30 Jahre und bei Plutonium-239
24.110 Jahre.
Durch die Tatsache, dass sich radioaktive Schwermetalle an Partikel anlagern und
sedimentieren, haben sie die größte Auswirkung auf die Lebensgemeinschaften am und im
Meeresboden (benthisches Leben): Meeresalgen, Würmer, Muscheln, Schnecken, Krebstiere,
demersale Fische. Aber auch Fische des Freiwassers ernähren sich von am Boden lebenden
Tieren. Durch die Fischerei schließlich wird ein Teil der Radioaktivität auf dem Teller der
Menschen landen, mit dem Menschen als Endkonsumenten.
14
Abb. 6 Simulierte Verdünnung der Konzentration löslicher, radioaktiver Spurenstoffe ausgehend von Fukushima-Daiichi im Pazifik.
Quelle: Pressemitteilung DWD Deutscher Wetterdienst, 23.3.2011,
(http://www.dwd.de/bvbw/appmanager/bvbw/dwdwwwDesktop?_nfpb=true&_pageLabel=dwdwww_result_page&gsbSearchDocId=976882)
15
Abb. 7: Meeresströmungen im Nordpazifik,
Quelle: NOAA National Oceanic and Atmospheric Administration (2007): “North Pazifik Ocean Currents”, (http://www.pmel.noaa.gov/np/pages/seas/npmap4.html)
16
Wie reichern sich die radioaktiven Substanzen in den Nahrungsketten an?
Die in die biologischen Kreisläufe gelangten löslichen radioaktiven Substanzen, wie Cäsium
und Jod gehen über alle Nahrungsketten. Weil sie durch die Organismen nicht oder nur
eingeschränkt ausgeschieden werden können, reichern sie sich durch die "trophische
Kaskade" in den Nahrungsketten von unten nach oben hin an. Die biologische Wirkung,
Anreicherung, Ausscheidung muss für die verschiedenen Radionuklide einzeln betrachtet
werden, da sie sich durch ihre chemischen und physikalischen Eigenschaften unterschiedlich
im Meer verteilen und eine unterschiedliche biologische Wirkung haben.
Die Anreicherung in Fischen und anderen Meeresbewohnern hängt dabei im Wesentlichen
von der so genannten biologischen Halbwertszeit ab, welche die radioaktive Halbwertszeit
überlagert. Die biologische Halbwertszeit gibt an, in welchem Zeitraum die
Anfangskonzentration eines Stoffes um die Hälfte reduziert wird und ist abhängig von Alter,
Geschlecht und gesundheitlichem Zustand. Die vom einzelnen Individuum erfolgreich
ausgeschiedenen Radionuklide sind jedoch immer noch vorhanden und können abermals
Eingang in die Nahrungskette finden. Es ist auch zu beachten, dass sich die biologische
Halbwertszeit auf eine bestimmte Anfangskonzentration bezieht. Wenn fortwährend z.B. über
die Nahrung neue Radionuklide aufgenommen werden, kann es trotz Ausscheidung im
Ergebnis zu einer weiteren Anreicherung führen. Eine relativ kurze biologische Halbwertszeit
haben gut lösliche radioaktive Elemente und Isotope, während die partikelreaktiven Elemente
wie Plutonium oder andere Transurane sehr lang, wenn nicht sogar für immer im Körper
verbleiben.
Insgesamt können die schädlichen Auswirkungen wegen diesem Zeitfaktor sehr lange
verborgen bleiben. Mit Höchstwerten ist mittelfristig bei Organismen an der Spitze der
Nahrungskette zu rechnen. Das sind z.B. Tunfische und andere Raubfische, Haie, Wale,
Robben, Meeresschildkröten, Meeresvögel - und natürlich der Mensch. Radioaktives Jod,
Cäsium, oder Strontium werden beispielsweise direkt im Organismus eingebaut und reichern
sich in bestimmten Organen an.
Plutonium, Neptunium und andere Transurane verhalten sich wie andere Schwermetalle. Sie
reichern sich im Organismus an, da sie kaum ausgeschieden werden können.
„Marine Organismen tendieren dazu, Schadstoffe in ihrem Gewebe anzureichern, dieser
Prozess wird Bioakkumulation genannt. Diese Schadstoffanreicherung geschieht entweder
durch passive Adsorption von Schadstoffen aus dem Seewasser oder durch aktive
Aufnahme gefolgt von Speicherung im Gewebe oder Hardteilen, als Ergebnis der NichtAusscheidung. Der Grad dieser Anreicherung ist unterschiedlich und hängt von Faktoren wie
(1) der chemischen Struktur des Schadstoffes, (2) der Organismengruppe, (3) dem
physiologischen Zustand, (4) der Wassertemperatur und (5) der Salinität ab. Der
Anreicherungsgrad ist für Metalle am größten, bei einigen bis zu 109. Obwohl manche
Schadstoffe schließlich ausgeschieden oder zersetzt werden können, neigen diese Prozesse
dazu, mit langsamen Raten abzulaufen. Folglich führt der Konsum von belastetem Gewebe
dazu, die Nahrungskette hoch gereicht zu werden. Wenn die Bioakkumulation zwischen
jedem Schritt zu einer höheren trophischen Ebene geschieht, steigt die SchadstoffKonzentration an. Dieser Prozess wird als Biomagnifikation bezeichnet. Folglich weisen
Organismen an der Spitze der Nahrungsketten tendenziell die höchsten
Schadstoffkonzentrationen auf. Weil die Biomagnifikation und andere Transportprozesse
Zeit brauchen, kann die schädliche Auswirkung von vielen Stoffen für Jahrzehnte verborgen
bleiben. Deshalb ist es schwierig, direkte kausale Zusammenhänge zwischen bestimmten
Schadstoffen und Umweltveränderungen nachzuweisen. Der Beweis solcher
Zusammenhänge ist wegen den komplexen positiven und negativen Rückkopplungen im
17
System Erdkruste – Ozean zusätzlich kompliziert."
20
Tendenziell könnte man annehmen, dass die Belastung des Fisches mit zunehmender
Entfernung von Fukushima abnimmt. Die Belastung wird aber auch zwischen den
verschiedenen Fischarten variieren. Dies wird u.a. durch deren Ernährungs- und Lebensweise
bestimmt und in welchem Masse sie radioaktive Substanzen anreichern, bzw. wie sie diese
ausscheiden können.
Einige Organismen wie Muscheln oder Seetang reichern radioaktive Substanzen besonders
stark an. Der Teil der Radionuklide, der sich im Sediment ablagert, kann über grabende,
filtrierende oder sedimentfressende Tiere, wie Würmer oder Muscheln in die Nahrungsketten
eingehen. Fische, die sich zum Beispiel von Muscheln ernähren, dürften mittelfristig also
höher belastet sein. Ebenso Fische, die höher in der Nahrungskette angesiedelt sind.
Vom japanischen Ministerium für Land- und Forstwirtschaft und Fischerei (MAFF) wurden
Höchstwerte v.a. beim Sandaal Ammodytes personatus gemessen – einem kleinen
bodenbewohnenden Planktonfresser: Am 13.4.2011 wurden vor Iwaki Aktivitäten von 12500
Bq/kg Jod und 12.000 Bq/kg Cäsium gemessen.21
Die Messwerte des MAFF für Mai und Juni lagen deutlich niedriger: Mit max. 2900 Bq/kg
Cäsium für Fisch22 und max. 2200 Bq/kg Jod für Seetang.23
Messungen von Greenpeace kamen jedoch für Seetang zu weit höheren Ergebnissen: Anfang
Mai wurden außerhalb der 12-Meilenzone Algenproben genommen und deren
Gesamtaktivität gemessen. Die Einfahrt und Probenahme innerhalb der Hoheitsgewässer
hatten die japanischen Behörden nicht gestattet. Bei 10 von 22 Proben lag die Gesamtaktivität
über 10.000 Bq/kg. 24 Der Maximalwert betrug 127.000 Bq/kg Jod-131, 800 Bq/kg Cäsium134 und 840 Bq/kg Cäsium-137.25 .
Es stellt sich die Frage, wie diese erhebliche Differenz in den Messergebnissen zustande
kommt und warum die japanische Regierung unabhängige Messungen behindert.
20 Libes, S.M. (1992): “An Introduction to Marine Biogeochemistry“,John Wiley & Sons, New Jersey, S. 599-600,
Übersetzung S. Moldzio
21 MAFF Ministry of Agriculture, Forestry and Fisheries, Japan (2011): “Results of the Inspection on Radioactive
Materials in Fisheries Products”, 30.4.2011,
(http://www.jfa.maff.go.jp/j/kakou/kensa/pdf/110430_data_sheet_jikeiretsu_en.pdf, letzter Zugriff 7.7.2011)
22 MAFF Ministry of Agriculture, Forestry and Fisheries, Japan (2011): “Results of the Inspection on Radioactive
Materials in Fisheries Products”, 2.6.2011, (http://www.jfa.maff.go.jp/e/inspection/pdf/201105_kekka_en.pdf, letzter
Zugriff 7.7.2011)
23 MAFF Ministry of Agriculture, Forestry and Fisheries, Japan (2011): “Results of the Inspection on Radioactive
Materials in Fisheries Products”, 14.6.2011, (http://www.jfa.maff.go.jp/e/inspection/pdf/110614_kekka_en.pdf,
letzter Zugriff 7.7.2011)
24 Greenpeace (2011): „Fukushima: Algen stark radioaktiv belastet“, 12.5.2011,
(http://www.greenpeace.de/themen/atomkraft/presseerklaerungen/artikel/fukushima_algen_stark_radioaktiv_belastet
/, letzter Zugriff 7.7.2011)
25 ACRO Laboratoire indépendant d’analyse de la radioactivité (2011), “Analysis of Matrices of the Marine
Environment (seaweeds)”, 22.5.2011, email: [email protected]
18
Handelsrestriktionen und Kontrollen
Einige Länder haben bereits ein Einfuhrverbot für Fisch aus Japan erlassen. Direkt nach der
Reaktorkatastrophe hatte die EU mit einer Eilverordnung Grenzwerte für Lebensmittel aus
Japan eingeführt, die sogar über den japanischen Grenzwerten lagen. Lebensmittel, die den in
Japan gültigen Grenzwert überschritten, hätten also in der EU verkauft werden dürfen. Dieser
Skandal wurde von den Organisationen foodwatch und Umweltinstitut München in einer
gemeinsamen Presseerklärung offen gelegt26. Nach zahlreichen Protesten öffentlicher
Organisationen reagierte die EU mit einer Anpassung der meisten Grenzwerte an die Werte
Japans. Eine erneute Anpassung wird sich ausdrücklich vorbehalten. Eine besondere Situation
ergibt sich für Fisch: Zunächst galten alle EU-Regelungen nur für Waren mit „Herkunft oder
Ursprung“ Japan. In japanischen Gewässern gefangener Fisch, angelandet in einem Hafen
außerhalb Japans, wäre also nicht unter die Verordnung gefallen. Nach der Änderung gelten
die EU-Bestimmungen unabhängig vom Ort der Anlandung auch für Fisch aus den am
schwersten betroffenen 12 japanischen Präfekturen. Eine Regelung für ganz Japan oder den
Pazifik steht aus. Auch werden die gültigen Grenzwerte vielfach kritisch gesehen.
Der unabhängige Informationsdienst www.Strahlentelex.de empfiehlt als Grenzwert für feste
Nahrungsmittel für Erwachsene maximal 8 Bq Cäsium-137 pro kg, wobei Cäsium als
Leitnuklid dient. Allerdings sind Grenzwerte immer ein Kompromiss.7
Welche biologische Wirkung entfalten die radioaktiven Substanzen in den
verschiedenen Lebewesen und im Menschen?
Radioaktive Substanzen sind durch ihre Erbgut- und Zellschädigende Wirkung grundsätzlich
für alle Lebewesen schädlich. Im Allgemeinen wird für die Ermittlung der Umweltwirkung
eines Schadstoffs der LD50-Wert (die mittlere für 50 % der Versuchsorganismen tödliche
Dosis) herangezogen. Dieses Konzept ist für radioaktive Substanzen jedoch nicht anwendbar,
da bei radioaktiven Stoffen die erbgutschädigende Wirkung der ionisierenden Strahlung im
Vordergrund steht. Bereits kleinste Strahlungsmengen können – mit einer bestimmten
Wahrscheinlichkeit – Krebs auslösen und damit zum Tode führen. Auswirkungen auf nichttödlichem Niveau können z.B. ein negativer Einfluss auf Wachstums- und
Reproduktionsraten oder eine erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten sein. Die spezielle
biologische Wirkung muss sowohl für jedes Radionuklid, als auch für die verschiedenen
Organismengruppen im Einzelnen betrachtet werden.
Die Wirkung auf verschiedene Organismengruppen, wie Algen, Zooplankton oder
Wirbeltiere ist verschieden. Bei Einzellern und Kleinlebewesen, z.B. beim Phytoplankton und
beim Zooplankton, wirkt sich die Radioaktivität in einer erhöhten Mortalitätsrate aus. Diese
wird jedoch durch die schnelle Vermehrungsrate des Planktons wieder ausgeglichen. Deshalb
ist nicht mit einer Abnahme an Phytoplankton und Zooplankton zu rechnen.
26 Umweltinstitut München (2011): Presseerklärung von foodwatch und Umweltinstitut München e.V., 29.3.2011,
„Grenzwerte für radioaktive Belastung von Lebensmitteln aus Japan erhöht – Bundesregierung informiert
Öffentlichkeit nicht“, (http://www.umweltinstitut.org/pressemitteilungen/2011/2011_03_29_2-865.html, letzter
Zugriff 7.7.2011)
http://foodwatch.de/presse/pressearchiv/2011/atom_katastrophe_in_japan/index_ger.html
19
Auf Wirbeltiere wie Fische, Schildkröten, Seevögel, Robben, oder Wale haben radioaktive
Substanzen ähnliche Auswirkungen wie auf den Menschen: Krebs, genetische Defekte,
Fehlbildungen, etc..
Durch ionisierende Strahlung wird die Mutationsrate erhöht: Genschäden in lebensfähigen
Individuen, die auch zur Fortpflanzung kommen, werden an die nächste Generation
weitergegeben und können sich unter Umständen erst auf spätere Generationen auswirken.
Schließlich können Auswirkungen auf nicht-tödlichem Niveau „…signifikante physiologische,
verhaltensbedingte und ökologische Veränderungen einschließen, genauso wie erhöhte
Anfälligkeit für Umwelt-Stress, z.B. Krankheiten. Mit anderen Worten: die Auswirkungen von
Schadstoffen reichen über die verschiedenen biologischen Organisationsebenen hinaus.
Umwelt-Stress hat einen negativen Einfluss auf Wachstums- und Reproduktionsraten. Die
Untersuchung solcher Auswirkungen sowohl auf Individuen, als auch auf Populationen,
liefert einen Hinweis auf die nicht-tödlichen Auswirkungen eines Schadstoffs…
Schließlich erschwert die riesige Vielfalt von etwa 70.000 Verbindungen, die alltäglich
benutzt werden, den Einfluss von Schadstoffen zu bestimmen…
Bei so vielen Schadstoffen kommt es oft zu Synergie-Effekten. Mit anderen Worten: die
verschiedenen Schadstoffe wirken so zusammen, dass ihr kombinierter Einfluss auf die
Umwelt nicht einfach durch die Summe der individuellen Einflüsse vorhergesagt werden
kann“27
Es ist schlichtweg falsch, wenn behauptet wird, dass verdünnte Dosen harmlos seien. „Low
level effects“ wurden in der wissenschaftlichen Literatur nicht nur für Kinder
nachgewiesen.28 Biologisch relevante Effekte sind auch dann von Bedeutung, wenn sie nicht
im engeren Sinne statistisch signifikant sind. Da der Nachweis der spezifischen Effekte erst
nach Jahrzehnten mit belastbaren Daten belegt werden kann, sind umweltmedizinische
Bedenken begründet.
Eine adäquate Umweltepidemiologie setzt voraus, dass die richtigen Parameter erhoben und
ausgewertet werden. Das bedeutet, dass die geeigneten Isotope, geeignete Zielbevölkerungen
und geeignete Prädiktoren, wie z.B. Chromosomenaberrationen oder stabile Mutationen,
sowie die Endpunkte wie Krebs, Unfruchtbarbarkeit oder Mikrocephalie, in die Analysen
eingehen müssen. Diese Analysen sind nicht nur in Japan und der engeren Umgebung
vorzunehmen, sondern auch in weiter entfernten Gebieten, wie z.B. in China, Sibirien, den
pazifischen Inseln, oder den westlichen USA.
Biologische Wirkung einiger Radionuklide
Jod-131 / Jod-134
Jod kommt in der Natur fast ausschließlich als stabiles Jod-127 vor und ist ein essentielles
Spurenelement in praktisch allen Lebewesen.
27 Libes, S.M. (1992): “An Introduction to Marine Biogeochemistry”, John Wiley & Sons, New Jersey, S. 600-603,
Übersetzung S. Moldzio
28 Crompton, N.E.A., Zölzer, F., Schneider, E., Kiefer, J. (1985): “Increased mutant induction by very low dose-rate
gamma-irradiation.”, Naturwissenschaften 72, S. 439-440
20
Die Konzentration von natürlichem Jod im Meerwasser beträgt etwa 60 µg/l. Meerestiere
enthalten 1-150 mg Jod pro kg Körpergewicht. Besonders stark angereichert ist es in
Braunalgen, Diatomeen und Anneliden. Hornkorallen können zu bis zu 4% ihres
Trockengewichts aus Jod bestehen.29
Je nach Organismengruppe ergibt sich somit eine 17 bis 2500 fache Anreicherung des Jods in
den Lebewesen.
Die radioaktiven Isotope Jod-131 und Jod-134 können den Platz des natürlichen Jods im
Organismus einnehmen und so ihre schädigende Wirkung entfalten. Bei Wirbeltieren wird
Jod zur Aufrechterhaltung von Zellfunktionen und zum Aufbau von Schilddrüsenhormonen
benötigt. Bei Menschen verursacht radioaktives Jod Schilddrüsenkrebs.
Besonders gefährdet sind Kinder und Jugendliche aufgrund der höheren Zellteilungsrate und
der höheren Aktivität der Schilddrüse. Eine extrem hohe Gefahr besteht für Föten im
Mutterleib. Säuglinge sind gefährdet durch die Anreicherung von Jod in der Muttermilch.
Schwangere Frauen und stillende Mütter müssen vor radioaktivem Jod geschützt werden.
Die Wirkung von Jod-131 in der Region Tschernobyl war katastrophal. Alleine in der stark
belasteten Region Gomel in Belarus bekam ein Drittel aller Kinder, die zum Zeitpunkt des
Super-GAU zwischen 0 und 4 Jahren alt waren, Schilddrüsenkrebs.30
Cäsium-137 / Cäsium-134
Cäsium kommt in der Natur nur als stabiles Cäsium-133 vor. Der mittlere Cäsium-Gehalt in
ozeanischem Plankton beträgt 30 µg/kg Trockenmasse in Phytoplankton, bzw. 40 µg/kg
Trockenmasse in Zooplankton.31
Cäsium hat keine biologische Funktion, es verhält sich im Organismus aber ähnlich wie
Kalium und Natrium und wird vor allem in Muskel-, Nieren-, Leber- und Knochenzellen,
aber auch ins Blut transportiert.32
Cäsium-137 reichert sich besonders stark in Pilzen an, die Lignin zersetzen können und
dadurch einen leichteren Zugang zu Kalium und damit auch zu dem chemisch sehr ähnlichen
Cäsium haben, als Pflanzen.33 Die biologische Halbwertszeit im Menschen beträgt
durchschnittlich 110 Tage.34
Radioaktives Cäsium kann im Körper, besonders bei Kindern, zu verschiedensten
Erkrankungen führen. Außerdem wird Cäsium in die Eizellen und Spermien eingelagert, was
zu Sterilität, Missbildungen bei Kindern oder Fehlgeburten führen kann. Genetische Schäden
können sich auch erst in späteren Generationen ausdrücken.
29 Goldberg, W.M. (1978): “Chemical Changes Accompanying Maturation of the Connective Tissue Skeletons of
Gorgonian and Antipatharian Corals”, Marine Biology Vol. 49, p.203
30 IPPNW und Gesellschaft für Strahlenschutz e.V. (Hrsg.) (2011): „Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl - 25
Jahre nach der Reaktorkatastrophe“
31 Fiedler, H.J., Rösler, H.J. (1993): „Spurenelemente in der Umwelt“, Gustav Fischer Verlag, München
32 N-TV (2011): „Wie wirkt radioaktives Cäsium?“, 31.3.2011, (www.n-tv.de/wissen/Wie-wirkt-radioaktivesCaesium-article2988881.html, letzter Zugriff 7.7.2011)
33 United Nations (Hrsg.) (2011): UNSCEAR 2008 Report, “Sources and effects of ionizing radiation. Band 2.
Annex D - Health effects due to radiation from the Chernobyl accident.”, S. 49, New York, 2011,
34 Hartmann-Schreier, J. (2006): „Caesium 137, Caesium 134“, in: „Römpp Chemie-Lexikon“, Thieme-Verlag,
Stuttgart
21
Strontium-90
Strontium kommt in der Natur in 4 verschiedenen stabilen Isotopen vor und in einigen Fällen
ist eine biologische Bedeutung bekannt. Es verhält sich im Organismus ähnlich wie Kalzium
und lagert sich v.a. im Skelett ab. In Knochen und Knochenmark kann es Knochentumore
oder Leukämie auslösen. Die biologische Halbwertszeit von Strontium-90 im Menschen
beträgt 18,1 Jahre, in den Knochen sogar 49 Jahre.35
Plutonium-238 / Plutonium-239 / Plutonium-241 / Americium-241 / Neptunium-237
Die so genannten Transurane verhalten sich im Organismus wie andere Schwermetalle. Ihre
chemische Giftigkeit tritt jedoch hinter der Schädlichkeit durch Radioaktivität weit zurück.
Sie reichern sich im Organismus und über die Nahrungsketten von unten nach oben an.
Transurane können vom Organismus kaum ausgeschieden werden, die biologischen
Halbwertszeiten betragen beispielsweise bei Plutonium-239 im Skelett 50 und in der Leber 20
Jahre.36
Werden diese Transurane aus den Organismen ausgeschieden, so sind sie für den Eintritt in
die Lebenskreisläufe weiterer Organismen verfügbar. Gemessen an den kurzen Lebenszeiten
von Individuen bedeuten diese sich in unzähligen Generationen und Lebewesen
wiederholenden Prozesse eine dauerhafte Schädigung der jeweils lebenden Spezies.
Ist die freigesetzte Radioaktivität wegen der kurzen Halbwertszeit von Jod-131
und dem Verdünnungseffekt ungefährlich?
In den Medien wird aus der relativ kurzen Halbwertszeit von Jod-131 und dem
Verdünnungseffekt die Schlussfolgerung gezogen, dass „derzeit keine Gefahr bestünde“.
„Viele Experten gehen jedoch davon aus, dass sich die Konzentration der radioaktiven
Substanzen im Meer schnell verdünnt, so dass derzeit keine größere Gefahr für Mensch und
Umwelt bestehe… Jod-131 hat eine Halbwertszeit von nur acht Tagen. Im Meer verdünnt
sich die Konzentration radioaktiver Substanzen rasch. Daher droht trotz des hohen
Strahlenwertes derzeit noch keine unmittelbare Gefahr für Pflanzen und Tiere vor der
Küste.“ 37
Tatsächlich verteilen sich lösliche Substanzen wie Jod-131 und Cäsium-137 im Meer schnell,
im Pazifik ist der Verdünnungseffekt aufgrund der Größe des Ozeans besonders stark.
Dennoch kann angesichts der vagen Datenlage sicher keine Entwarnung für die direkt
betroffenen Küstenregionen gegeben werden. Die ausschliessliche Betrachtung von Jod ist
zudem irreführend, selbst Jod spielt aufgrund der enormen freigesetzten Mengen sehr viel
länger eine Rolle als nur einige wenige Halbwertszeiten lang. Cäsium u.a. strahlende
Substanzen werden noch sehr viel länger von Bedeutung sein.
35 Diehl, J.F. (2003): „Radioaktivität in Lebensmitteln“, Wiley-VCH Verlag, Weinheim
36 Koelzer, F. (1989): „Messung von Plutonium im Menschen“, gsf - Mensch und Umwelt, No. 6, S.31-36
37 WELT (2011): “Die Atomruine Fukushima verseucht den Pazifik“, 27.3.2011,
(http://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article12974502/Die-Atomruine-Fukushima-verseucht-denPazifik.html, letzter Zugriff 7.7.2011)
22
Selbst die japanische Regierung hat Atomalarm für den Pazifik geschlagen und befürchtet
katastrophale Auswirkungen für den Ozean, wenn verseuchtes Wasser weiterhin ins offene
Meer strömt. Regierungssprecher Yukio Edano sagte am 4. April: "Wir müssen die
Ausbreitung so bald wie möglich stoppen. Wenn die gegenwärtige Lage mit der
Anreicherung radioaktiver Substanzen über lange Zeit anhält, wird es riesige Auswirkungen
auf den Ozean haben."38
Faktisch besteht bereits eine gravierende Kontamination der Nahrungsketten und damit
besteht eine unmittelbare Gefahr für die Menschen:
1. Es fließen kontinuierlich große Mengen radioaktiven Wassers direkt in den Pazifik.
Ein Ende ist nicht in Sicht, weil die Druckbehälter, Sicherheitsbehälter, Abklingbecken
undicht sind und ständig gekühlt werden müssen. Dadurch gelangt radioaktives Wasser
zwangsläufig ins Grundwasser und zusätzlich fließt es über die Lecks direkt in den Pazifik.
Nach dem am 17.4. vorgelegten Zeitplan von TEPCO würde dieser Kampf mindestens die
nächsten 6 bis 9 Monate andauern.39 Am 30.5.2011 hatte TEPCO jedoch bekannt gegeben,
dass es wohl unmöglich sei, die Reaktoren bis Jahresende in einen „kalten“ Zustand zu
bringen.40 Nach den Erfahrungen von Tschernobyl ist mit einigen Jahrzehnten zu rechnen
2. Der Abbau findet ausschließlich über den radioaktiven Zerfall statt.
Die Konzentration von Jod-131 reduziert sich mit einer Halbwertszeit von 8,02 Tagen. Bei
einer beispielsweise 6000-fachen Grenzwert-Überschreitung liegt nach 7 Halbwertszeiten (56
Tagen) immer noch eine 40-fache Überschreitung vor. Dabei ist vorausgesetzt, dass kein
zusätzliches Jod-131 hinzukommt. Die nach Jod-131 mengenmäßig wichtigsten Radionuklide
sind die ebenfalls leicht flüchtigen, bzw. im Meerwasser gut löslichen Isotope Cäsium-137,
Cäsium-134 und Strontium-90, welche wesentlich längere Halbwertszeiten von 30, zwei,
bzw. 29 Jahren haben. Für Plutonium-239 mit einer Halbwertszeit von 24110 Jahren und
andere schwere Transurane liegen an Land nur einzelne Messergebnisse und für den Pazifik
liegen gar keine Messungen vor!41 Größere Freisetzungen würden v.a. regional in den
Gewässern um Fukushima zu einer langfristigen radioaktiven Kontamination führen.
3. Die Kehrseite der Verdünnung ist die großräumige Verteilung.
Die in Fukushima freigesetzte Radioaktivität wird sich mit der Zeit auf spezifische Weise um
die japanische Küste und im Pazifischen Ozean verteilen. Bei aller Verdünnung wird dies
langfristig zu einer messbaren Erhöhung des radioaktiven Inventars des Pazifiks und der
Weltmeere führen, so wie es auch z.B. durch Tschernobyl und die Atomwaffentests
geschehen ist. Bei radioaktiven Substanzen gibt es keine „unschädliche“ Dosis, die Dosis
bestimmt nur die statistische Wahrscheinlichkeit, z.B. an Krebs zu erkranken. Im
Strahlenschutz gilt der Grundsatz, dass jede Verdünnung das Problem vergrößert, da eine
größere Fläche, bzw. Anzahl von Menschen betroffen ist. Auch geringste Strahlenmengen
können bereits Krebs auslösen. Der Nachweis jedoch, dass genau diese eine Erkrankung auf
38 Financial Times Deutschland (2011): „Japan schlägt Atomalarm für den Pazifik“, 4.4.2011,
(http://www.ftd.de/politik/international/:atom-katastrophe-in-fukushima-japan-schlaegt-atomalarm-fuer-denpazifik/60034869.html, letzter Zugriff 7.7.2011)
39 FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung (2011): „Stabilisierung der Reaktoren dauert neun Monate“, 17.4.2011,
(www.faz.net/s/RubB08CD9E6B08746679EDCF370F87A4512/Doc~EB095069D4297415DAC78DFE5042C915D
~ATpl~Ecommon~Scontent.html, letzter Zugriff 7.7.2011)
40 Kyodo (2011): “TEPCO believes stabilizing Fukushima reactors by year-end impossible”, 30.5.2011,
(http://english.kyodonews.jp/news/2011/05/94111.html, letzter Zugriff 7.7.2011)
41 MEXT Ministry of Education, Culture, Sports, Science and Technology, Japan (2011): “MEXT, “Readings of Pu
& U at Monitoring Post out of 20&30 Km Zone of Fukushima Dai-ichi NPP“,
(http://eq.wide.ad.jp/files_en/110401pu_en.pdf, letzter Zugriff 7.7.2011)
23
Fukushima zurückzuführen ist, ist jedenfalls unmöglich und das wissen die Verantwortlichen!
4. Durch die "trophische Kaskade" reichern sich die Radionuklide in den
Nahrungsketten von unten nach oben hin an, was einige Zeit benötigt. Deshalb können die
schädlichen Auswirkungen zum Teil erst Jahre später zum Vorschein kommen.
Schlussfolgerungen
Das tatsächliche Ausmaß der radioaktiven Kontamination kann zum Zeitpunkt des
Redaktionsschluss dieser Arbeit nur erahnt werden, denn die katastrophale Freisetzung von
Radionukliden dauert an. Erst wenn die Brennelemente ausgebrannt sind und nur noch wenig
Radioaktivität entweicht, kann die freigesetzte Gesamtaktivität abgeschätzt werden.
Wir müssen davon ausgehen, dass Fukushima alle bisherige Freisetzung von Radioaktivität
um ein Vielfaches übertrifft.
Das Dilemma ist: Um noch Schlimmeres zu verhüten müssen die geschmolzenen Kerne
(„Corium“) kontinuierlich mit Wasser gekühlt werden. Dadurch kann trotzdem kaum
vermieden werden, dass sie sich durch den Reaktor-Druckbehälter und anschließend durch
den Betonboden fressen. Andererseits fließt dieses verstrahlte Wasser in die Kraftwerksgebäude, ins Grundwasser und in den Pazifik, denn mehrere Sicherheitsbehälter und
Abklingbecken sind beschädigt, bzw. undicht.
Im Pazifik und auch an Land muss ein flächendeckendes Netz von unabhängigen
Messstationen eingerichtet werden. Die Kontamination des Meerwassers, der Sedimente und
der verschiedenen Meeresorganismen muss weiträumig und kontinuierlich überwacht werden.
Es müssen alle relevanten Radionuklide gemessen werden, nicht nur Jod und Cäsium.
Gefangener Fisch bedarf ebenso gründlicher Überwachung. Entsprechende Messungen
müssen umfassend und langfristig stattfinden. Strengere Grenzwerte sind notwendig.
Die Festsetzung von Grenzwerten muss grundsätzlich nach medizinisch relevanten Kriterien
und nicht nach wirtschaftlichen Interessen erfolgen. Allein die vielen Neubewertungen,
Revisionen und Re-Evaluationen der Grenzwerte und ihre ständig wechselnden
Berechnungsgrundlagen haben erwiesen, dass die bisherigen offiziellen Verlautbarungen über
akute und chronische Effekte korrekturbedürftig gewesen sind. Das bisherige Management
durch die IEAO ist unzureichend gewesen, was nicht verwundert, steht doch die Aufdeckung
von Effekten ihrem erklärten Ziel der Verbreitung und Förderung der Atomenergienutzung
entgegen.
Die Verantwortung für diesen Super-GAU trägt die Atomindustrie.
Dieser kerntechnische Unfall zeigt erneut, dass eine nicht-Fehler tolerante Technologie wie
die Nukleartechnologie einen unermesslich hohen Schaden anrichten kann.
Die wichtigste Schlussfolgerung ist daher, den Ausstieg aus der menschen- und
lebensfeindlichen Kernenergie so schnell wie möglich zu vollziehen, um zu verhindern dass
es jemals wieder zu einer solchen Katastrophe für Mensch und Umwelt kommen kann.
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