PM Jessica, Mia Lara, Chantal

Transcription

PM Jessica, Mia Lara, Chantal
SOAL- Presseerklärung 20.06.12
Michelle - Jessica – Mia Lara - Chantal
Sonderausschuss ermittelt - doch bisher:
Mehr Kontrolle, mehr Bürokratie – statt bessere Rahmenbedingungen für mehr Fachlichkeit*
Lange hat es gedauert, bis der Senat bereit war, alle Informationen, die zur Aufklärung der am 16. Januar verstorbenen Chantal bereitzustellen. Heute gab die Pressestelle der Finanzbehörde bekannt, dass „sich der Sonderausschuss der Bürgerschaft zum Tod des Mädchens Chantal u.a. auch mit den Erkenntnissen der Innenrevision der Finanzbehörde“ (Pressestelle der Finanzbehörde 19.6.) beschäftige ... „Um ein höchstmögliches Maß an
Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit zu gewährleisten, wird die Finanzbehörde vor Beginn der Sitzung des
Sonderausschusses eine Fassung ins Internet stellen, die den besonderen Anforderungen des Sozialdatenschutzes entspricht“. Dieser begrüßenswerte Schritt wäre schon 2005 fällig gewesen, doch bis heute folgten den
Fällen von Kindeswohlgefährdung eher lautstarke Bekundungen statt nachhaltige Taten.
Im Juli 2004 wurde die zweijährige Michelle tot in einer verdreckten Wohnung in Lohbrügge gefunden. Am 1.
März 2005 wurde die siebenjährige Jessica in Hamburg Jenfeld tot in der Wohnung gefunden: Unterernährung.
Am 11. März 2009 wurde die 9 Monate alte Lara Mia tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Am 16. Januar 2012
starb die elfjährige Chantal an einer Überdosis Methadon. Im Februar 2012 wandert ein Schweigemarsch durch
den Stadtteil Wilhelmsburg, um ihrer Trauer und ihrem Protest Ausdruck zu geben. Egal, ob Michelle, Jessica,
Mia Lara oder Chantal – die zuständigen Jugendämter haben Signale nicht rechtzeitig wahrgenommen. Konsequenzen im Fall Chantal: Die Chefin des Jugendamtes musste gehen, die Pflegeeltern müssen sich einem Drogentest unterziehen, der Bezirksamtsleiter Schreiber trat nach einem ernsten Gespräch mit dem ersten Bürgermeister Scholz freiwillig zurück, zukünftig sollen Pflegeeltern stärker kontrolliert werden und in 2012 (!) soll
in Hamburg eine Statistik über Kindeswohlgefährdung eingeführt werden, eine Jugendhilfeinspektion, ein Risikomanagement. Doch ist das verantwortungsvolle Sozialpolitik? Uns scheint das Thema komplexer, als dass es
mit Entlassungen zu lösen sei.
Von Januar 2008 bis Mitte April 2009 bekamen die Behörden 12.555 Hinweise auf Kindeswohlgefährdung.
Allerdings wurden in nur 70 Fällen innerhalb von 24 Stunden Schutzmaßnahmen eingeleitet. Der Hamburger
Kinderschutzbericht 2010 weist 8.945 Meldungen wegen Kindeswohlgefährdung auf. Der Kinderschutzbund
nennt in 2008 10.000 Meldungen mehr – (40%) als 2007. „28.518 Meldungen gingen im vergangenen Jahr bei
den Jugendämtern ein. Geschlagene und seelisch misshandelte Kinder, Vernachlässigung, Selbstmordgefahr
und Suchtprobleme wurden knapp 9000 Mal gemeldet. Die große Mehrzahl bezog sich auf Kinder, zu denen die
Ämter bisher keinen Kontakt hatten. Die meisten Fälle gibt es in Wandsbek und Mitte. Meistens kommen die
Hinweise von der Polizei (77%), gefolgt von Nachbarn (6 %) und der Schule (4%). Allein die Polizei meldete
mehr als 3000 Kindeswohlgefährdungen. Bei 40 % der Fälle besucht das Jugendamt die Familie innerhalb von
einer Woche. Bei neun Prozent passiert nichts.“ (Hamburger Morgenpost 3.2.12 – gibt es eine ernsthaftere Quelle als die
Mopo? keine Meldungen von Kitas?). Und jetzt?
Immer wieder das gleiche Muster: Jugendämter kommen in Kritik, es wird angeklagt, bestraft, entlassen –
Kontrollen verschärft. Bis zum nächsten Fall. Doch sind beispielsweise mangelnde Kontrollen der zunehmend
rarer werdenden Pflegeeltern wirklich die Lösung? Reicht die Entlassung des Bezirksamtsleiters?
„Hamburger Jugendhilfe auf dem Irrweg“
„Diese Todesfälle werden vor allem dazu benutzt, auf individuelles Fehlverhalten von Fachkräften und verantwortlichen
Leitungskräften zu fokussieren, um andererseits die Rahmenbedingungen der Kinder- und Jugendhilfe und den häufigen
System- und Konzeptwechsel in Hamburg zu verschleiern und um immer mehr Kontrollinstrumente einzuführen, die die faceto-face Arbeit mit den Klient/innen immer mehr einengt. Nach dem Todesfall von Chantal fordert Senator Scheele u.a. eine
Jugendhilfeinspektion, ein Risikomanagement, ein Qualitätsmanagement, eine Auditierung der Jugendämter. Eine qualifizierte Fachdiskussion wird durch partei- und machtpolitische Initiativen vorerst erschwert“. (Prof. Neuffer1)
1
Hamburger Jugendhilfe auf einem Irrweg - Mehr Kontrolle, mehr Bürokratie – statt mehr Zeit für Gründlichkeit und mehr Fachlichkeit Stellungnahme zur Diskussion und Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in Hamburg/Prof. Dr. Manfred Neuffer 13.2.2012
Diese und die vielen anderen Kinder sind auch Opfer kurzsichtiger Sozial- und Bildungspolitik.
Statt Entlassungen brauchen wir:
• eine Sozial- und Bildungspolitik mit Weitsicht, die in den Betreuungs- und Hilfesystemen, in Kitas,
Schulen und Freizeitstätten Rahmenbedingungen schafft und an Familien in schwierigen Lebenslagen
positive Signale der Unterstützung und des Verständnisses vermittelt. Hierzu gehören beispielsweise
Kinderschutzfachkräfte, die für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben freigestellt werden..
• eine Vernetzung der Betreuungs- und Hilfesysteme, z.B. zwischen den Kitas und Ämtern für soziale
Dienste, die von finanziellen und personellen Ressourcen getragen werden, um nachhaltige Elternarbeit zu ermöglichen (Aufbau, Begleitung usw.), anstatt Fachkräfte, die am Rande ihrer Leistungsfähigkeit Feuerwehr spielen müssen oder in Aktenbergen untergehen, also gar nicht diese enorme Verantwortung tragen KÖNNEN.
•
Bedingungen, in denen die derzeit ca. 500 (?) Kinderschutzfachkräfte in den Kitas begleitet und organisiert arbeiten können. Häufig sind Kindertagesstätten mehr Familienzentren, weil Eltern vor allem
dort Hilfe und Unterstützung suchen. Darauf sind die Kitas, trotz des enormen Engagements, weder
vorbereitet noch ressourcenmäßig ausgestattet.
• ein sozialpolitisches Handeln, das wesentlich früher einsetzt und bedürftige Familien ohne komplizierte Behördengänge auffängt und für Eltern wie Kinder auch eine Kultur der Hilfe zur Selbsthilfe vermittelt.
• Rahmenbedingungen, die weg kommen von „Fällen“, „Akten“ und hinkommen zu beziehungsvoller
Unterstützung und Begleitung.
• ErzieherInnen, MitarbeiterInnen des ASD und SozialarbeiterInnen, die Zeit zum Innehalten haben, um
sich auf diese verantwortungsvolle Begleitung und Unterstützung vorzubereiten, einzustellen. Sie
brauchen fachliche Begleitung, Fortbildungen und auch Regenerationsmöglichkeiten.
• Politische Mandatsträger, die weiter denken als nur eine Legislaturperiode und sich auch für die Unterlassungen in ihrer Regierungszeit verantwortlich erklären, statt mit dem Finger auf andere zu zeigen. Das hilft keinem.
Diese bedeutenden gesellschafts- und sozialpolitischen Aufgaben können nicht nebenbei durch Idealismus
Einzelner bewältigt werden. Ob und in welcher Weise Entgeltsysteme, wie z.B. das Kita-Gutschein-System diese
Problematik unkompliziert einbeziehen können, oder ob über andere Maßnahmen Ressourcen bereitgestellt
werden, ist eine dringend zu klärende Frage.
Solche Bedingungen herzustellen sind die eigentlichen Aufgaben einer Sozial- und Bildungspolitik mit Weitsicht.
Wer meint, Chantal sei zwar ein sehr trauriges menschliches Schicksal eines nur „sozialen“ Problems, das mit
mehr Kontrolle und/ oder Entlassungen bewältigt werden könnte – der irrt gewaltig. Gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, die solche tragischen Fälle wie Chantal, Lara Mia oder Jessica möglichst verhindern,
braucht eine beziehungsvolle Betrachtung von Kindern und Familien, anerkennende und wertschätzende Unterstützung der vielen Menschen in den Behörden, Kindertages-, Freizeitstätten und Schulen. Eine solche Sozial- und Bildungspolitik mit Weitblick kostet Geld, mehr Geld als derzeit bereitgestellt oder von Senator Scheele
angekündigt wurde. Sicherlich ist es erfreulich, wenn seit 2006 70 Sozialarbeiter mehr in den Ämtern für Soziale Dienste arbeiten (Presseerklärung BASFI vom 24.02.12) – also eine Steigerung um 10 Mitarbeiter für ganz
Hamburg pro Jahr – doch ob damit die dringend anstehenden Fragen geklärt werden können – bleibt abzuwarten. Wir fordern Hand in Hand zu arbeiten: z.B. sollte es eine Selbstverständlichkeit werden, dass ErzieherInnen
zu Erziehungskonferenzen eingeladen werden, um die Kooperation von Einrichtungen und sozialpädagogischer
Familienhilfe zu befördern.
Mehr Stellen sind eine Sache – beziehungsvolle Sozialarbeit, eine Sozial- und Bildungspolitik mit
Weitsicht eine andere – das brauchen wir.
Vernetzung als Prävention, um Kindeswohlgefährdungen zu vermeiden! Keine Schließung der
Frauenhäuer! Einrichtung eines Hamburger Kinderschutzzentrums nach Berliner Modell.
Rückfragen richten Sie bitte an: Claus Reichelt Tel.: 040 – 432 584 – 10, oder Elimar Sturmhoebel Tel.: 040 – 432 584 – 14
[email protected], Große Bergstraße 154, 22767 Hamburg