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Von: Wolfgang Melchior. Thesenpapier: Anakreontik http://www.wmelchior.com DIE ANAKREONTIK DER DEUTSCHEN FRÜHAUFKLÄRUNG 1. DER BEGRIFF DER ANAKREONTIK Benennung nach Anakreon, griechischer (ionischer) Lyriker im 6. Jh. v. Chr. Als Anakreontik im engeren Sinne bezeichnet man eine Richtung der europäischen Lyrik Mitte des aufgeklärten 18. Jh. Î Rokoko 1.1 Vorbilder: a) Anakreonteen: - ursprünglich für echt gehaltene Sammlung von 60 Oden. Die Imitationen (Pseudoanakreon) stammen aus hellenistischer Zeit. - zunächst in Frankreich übersetzt (Ausgabe von Henri Estienne 1554) und vor allem dort rezipiert als „poesie fugative“ („flüchtige Gedichte“: kleine Formen bevorzugende Augenblickslyrik) - später auch ins Deutsche übersetzt, wohl auf Grundlage der franz. Edition. b) Der echte Anakreon und seine Oden - Die anakreontischen Oden des Horaz und Catull Daneben werden das philosophische Eudaimonismuskonzept Epikurs (antikes Vorbild) sowie zeitgenössische Poetologien und ästhestische Theorien mehr oder weniger diskursiv herangezogen: Einflüsse gehen vor allem von Gassendi und Sbaftesbury aus Î Lyrik der Empfindsamkeit und Grazienpoesie. 1.2. Poetologische Merkmale 1.2.1. Formale Merkmale Meist reimloser Kurzvers in jambischem oder trochäischem Versmaß: - Der Anakreonteus, ein anaklastischer ionischer Dimeter (uu-u-u-), entstanden aus dem ionischen Dimeter (uu—/uu—) findet nur selten Anwendung - Kennzeichnend für die Anakreontik ist die Kürze der Verse und Oden, sowie die Reimlosigkeit 1.2.2. Motive anakreontischer Lyrik Das epikureische Ideal des "frohen Lebens" und die Lebensmaxime "Carpe diem" des Horaz werden meistens an traditionellen Motivkreisen literarisiert: - der Motivkreis der heiteren Liebe und der unbeschwerten Lust - Motive, die die harmonische Einheit aller Menschen im Erleben einfachen Glückes thematisieren - die Motive bacchantischer Geselligkeit Dabei finden die Topoi antiker Mythologie ebenso Verwendung wie aufklärerische Stoffe. Seite 1 von 6 Von: Wolfgang Melchior. Thesenpapier: Anakreontik http://www.wmelchior.com 2. FRIEDRICH VON HAGEDORN (1708-1754) 2.1. Vita und Werk: - Jurastudium in Jena - Studium der englischen Literatur in London - Sekretär einer engl. Kaufmannsgesellschaft in Hamburg (Geburtsstadt) Vorbilder: - der „frohe" Horaz, dessen dunkle Seiten er eliminiert; Grundkonzeption (Kürze des Lebens, Tod als grausames Ende ohne Transzendenz des Lebens) - die französische poesie fugative (Lafontaine) Werke: - Versuch einiger Gedichte oder erlesene Proben poetischer Nebenstunden (1729) - Versuch in poetischen Fabeln und Erzählungen (1738) - Sammlung neuer Lieder und Oden (dreiteilig: 1742, 1744, 1752) 2.2. Zum Gedicht „Aufmunterung zum Vergnügen“ (siehe unten Anhang) 2.2.1. Analyse 1. Versmaß: katalektischer (abbrechender), jambischer Trimeter (u-| u-| u-| u) mit Ausnahme der Verse 3, 6 und 9 (reiner jambischer Trimeter) 2. Die Zäsurzeilen 3, 6 und 9: - keine Tropen im Sinne uneigentlicher Redefiguren - Imperative mit zunehmendem Aufforderungscharakter 3. Verbindung der Zäsuren mit dem Gedichtfluss über Parallelismus: - die Zeilen 3, 6 und 9 sind über keinen Reim mit anderen Versen verbunden - die Zeilen 2 und 3 sind über ihre anaphorische Stellung ("Die Kunst...") parallel verbunden. - die Zeilen 5/6 und 8/9 sind über antinomische Stellungen parallel verbunden (Alter/Jugend, Kinder/Väter) 2.2.2. Zur formalen Gestaltung Stil und formaler Aufbau sind keine intendierten Zwecke im Sinne einer Gestaltung der Motive, sondern sie erfüllen die Stilkriterien des Hagedornschen Poesieideals: - "Kunst-Richtigkeit" - "Zärtlichkeit des Geschmacks" - "Richtigkeit in der Schreibart" d.h. die Einförmigkeit eines Entwurfes, der voll natürlicher Einfalt sein sollte (alle Zitate von Seite 2 des Papers) 2.2.3. Zu den Interpretationsmodellen 1. Kritik des sozialgeschichtlichen Erklärungsmodells (allgemein): Dieses zumeist aus einer internationalen Sichtweise heraus argumentierende Muster behauptet, das damals noch ohne politischen Einfluss agierende Seite 2 von 6 Von: Wolfgang Melchior. Thesenpapier: Anakreontik http://www.wmelchior.com Bürgertum hätte sein Hauptinteresse auf die Angelegenheiten der Privatsphäre, zu denen eben auch die Dichtung gehörte, gelegt. Bei der Untersuchung einzelner Texte wird versucht, Text und gesellschaftlichen Hintergrund derart in Relation zu bringen, dass der Text nur mehr als Ausdruck sozioökonomischer Fakten erscheint. Gesellschaftliche Realität und Text werden in der Weise austauschbar, wie der Text der symbolische Ausdruck einer faktisch gegebenen, gesellschaftlichen Realität ist. Dieses erste Modell ist aus zwei Gründen inkommensurabel mit dem literaturhistorischen Prozess: a) Nationale, insbes. internationale, Betrachtungen unterstellen zumeist Beziehungen, die infolge mangelnder Kommunikationsmöglichkeiten (Auflage, Ausbreitung von Medien) nicht bestehen (können). Differenzierter arbeiten hier Sichtweisen, welche territoriale Eigenheiten aufweisen, um daraus übergreifende Zusammenhänge zu entwickeln. b) Eben dieser Punkt führt zu schlichtweg falschen historischen Aussagen. So war z. B. zur Zeit Hagedorns das von einem mächtigen Kaufmannspatriziat beherrschte Hamburg auch Zentrum des Horazianismus und Ausgangspunkt der deutschen Anakreontik. 2.) Ein Alternativmodell (Ansatz): Zunächst ist das Verhältnis der Künstlers (allg. des Menschen) zur Umwelt und zur Welt zu klären. Ausgehend von den zwei Grundsätzen, dass 1.) Welt nicht etwas zweifelsfrei Vorliegendes (faktisch Gegebenes), sondern immer einer Interpretation bedarf und schon immer Interpretation ist und 2.) diese Interpretation gesellschaftlich vermittelt ist, kann Kunst nicht bloßes Abbild gesellschaftlicher Realität sein. Im Begriff interpretierender Welterfahrung kann eine solche Auffassung ihren Ausdruck finden. Er stellt den Konvergenzpunkt, das tertium comparationis jedes Textes dar. Literatur bleibt Produkt gesellschaftlicher Normen- und Handlungssysteme, aber nur in dem Sinne, als jeder Dichter mit ihrer Hilfe die Welt als Ganzes jedes Mal neu konstruiert. Somit hat jede Interpretation darauf zu achten, dass Literatur gesellschaftliche Modelle aufarbeitet und nicht bloß abbildet. 2.2.4. Interpretationsansatz zum Gedicht und Werk Hagedorns 1. Der Begriff der „geglückten Form“ bzw. des „guten Geschmacks“ meint nicht nur ein ästhetisches Konzept: die Art sondern vor allem ein formalund Weise, in der Inhalte gesellschaftliches Konzept von thematisiert werden Literatur (siehe Seite 4 des Papers) "Die Kunst vergnügt zu sein" ist nicht nur Thema im Sinne der Verarbeitung eines Motivs Das Gedicht fordert auf zur Vereinigung der Gesellschaft unter der Maxime des vergnügten und unbeschwerten Lebens. Doch das soll gerade das Gedicht selbst Seite 3 von 6 Von: Wolfgang Melchior. Thesenpapier: Anakreontik http://www.wmelchior.com leisten, indem es: 1.) Freude und Vergnügen bereiten soll. Das "Erlernt" (Zeile l) und das "Lasst uns singen in Zeile 4 ist durchaus wörtlich zu verstehen, wie die nachträglich verfertigte Vertonung des Gedichtes (Paper Seite3) zeigt. 2.) damit die Gegensätze überbrücken und vereinigen soll (Väter und Kinder, Alter mit Jugend) 3.) die Verse über stilistische Figuren (Parallelismus, Klimax der Imperative, Reim usw.) vielfältig verbindet. Das Gedicht demonstriert also in seiner formalen Gestaltung den guten Geschmack, der im Vergnügen des Autors wie seiner Leser besteht. Der Stil ist weder artifiziell noch intellektuell ausgearbeitet, sondern erfüllt die von Hagedorn entworfenen Kriterien guter Literatur: - einfach und leicht zu rezipieren; - ungezwungen und von natürlichem Witz 2. „Das Soziale in der Kunst ist die Form“ (Lukacs) Auch in diesem Gedicht widerlegt sich jeder "Inhaltismus", der jeden Teil auf seine thematisierten Motive reduzieren will. Weniger die anakreontischen Motive, die in den meisten Gedichten unverändert vorkommen, sondern ihre formale Gestaltung erhellt die soziale Dimension des Textes. 3. JOHANN WILHELM LUDWIG GLEIM (1719-1803) 3.1. Zur Person - Studium der Philosophie und Jura in Halle - Gründer des Halleschen Dichterkreises zusammen mit Uz und Götz - der "deutsche Anakreon" genannt . Heimatstadt: Halberstadt 3.2. Zum Gedicht Anakreon (siehe unten Anhang) Imitation der Oden des Dichters Anakreon: - reimloser Kurzvers: dreifüßige Jamben im Wechsel mit vierfüßigen Trochäen - Wegfall strophischer Gliederung - gleichförmige Wiederholungen: Anaphern und Epiphern - parataktischen Satzreihung - stereotype Motivik, die alle Motivkreise eudaimonistischer Ethik enthält Seite 4 von 6 Von: Wolfgang Melchior. Thesenpapier: Anakreontik http://www.wmelchior.com 4. DIE LITERATURHISTORISCHE INTERPRETATION DER ANAKREONTIK 4.1. Vier Interpretationsansätze und ihre Mängel 1. Anakreontik als literarische Revolution des Antirationalismus (LeibnizWolffsches System im Mittelpunkt) /Protestbewegung einer aufrührerischen Jugend 2. Anakreontik als rein stilliterarisches Phänomen 3. Anakreontik als klassizistische Modeerscheinung 4. Anakreontik als "Drogenpoesie" einer Gesellschaft "ohne Mitte" zu 1.) Scheitert an poetologischen Konzepten, die die Vertreter der Anakreontik entwarfen. Ihnen allen geht es um eine vernünftige und plausible Erläuterung und Definition des guten Geschmacks und der richtigen Form zu 2.) Berücksichtigt zuwenig die gesellschaftliche Dimension der Anakreontik zu 3.) und 4.) Hier taucht das in 2.2.3. geschilderte Problem sozialliterarischer Interpretationsansätze auf: Weder eine unmittelbare Lebensumwelt noch die gesellschaftlichen Bedingungen können das Phänomen der Anakreontik hinreichend erklären. So entsprechen die Biographien den Texten in keiner Weise. Dichtung und Dichter treten sogar sehr oft weit auseinander. 4.2. Das sozial- und religionsgeschichtliche Modell Die Monotonie anakreontischer Oden entwirft das Bild eines hedonistischen Individuums: - als symbolische Absage an jede Transzendenz - "Wein und Liebe" begründen allein Sinn und Gluck des menschlichen Lebens - dabei wird implizit alles, was dem Menschen zur Erreichung seines Glückideals im Wege steht, kritisiert (moralische Einwände). Dies geschieht indirekt durch Aufforderungen zu unbeschwertem Genuss und unreflektiertem Vergnügen. Mit der Anakreontik - wie auch der gesamten aufklärerischen Dichtung - ist ein gesellschaftliches Programm verknüpft, das seine Hauptstoßrichtung in der religionsgeschichtlichen Tradition von Literatur und Gesellschaft findet. Kritisiert wird :1. die Morallehre der Orthodoxie und des Pietismus, die die Handlungen des weltlichen Genusses ächten und verbieten 2. der Begriff des schuldhaften Handelns und des Schuldgewissens 3. die christliche Vergeltungslehre in Verbindung mit ihrer Transzendenzlehre. Stattdessen wird mit provokatorischem Impetus ein weltimmanenter Glücksbegriff entworfen und zu einem Prinzip neuen gesellschaftlichen Handelns erhoben. Seite 5 von 6 Von: Wolfgang Melchior. Thesenpapier: Anakreontik http://www.wmelchior.com Anhang: Gedichte Friedrich. von Hagedorn Aufmunterung zum Vergnügen 1 3 6 9 Erlérnt | von mún | tern Hér | zen (katalektischer Trimeter) Die Kúnst | beglúeckt | zu schérz | en, (katalektischer Trimeter) Die Kúnst | vergnúegt | zu sein. (reiner Trimeter) Versúcht | es. Láßt | uns síng | en, Reimpaar? Das Alter zu verjüngen, Die Jú | gend zú | erfréun. (reiner Trimeter) Macht neue Freundschafts-Schlüsse! Ihr Kinder, gebt euch Küsse! Ihr Väter... Johann Wilhelm Ludwig Gleim Anakreon 1 Anakreon, mein Lehrer, Singt nur von Wein und Liebe; Er kränzt sein Haupt mit Rosen, Und singt von Wein und Liebe! 5 Zum Könige der Trinker Von Weisen auserkoren, Trinkt er mit seinen Freunden, Scherzt er mit seinen Göttern, Spielt er mit seinen Mädchen, Und singt von Wein und Liebe! 10 Sollt' ich, sein treuer Schüler, Von Haß und Wasser singen? Seite 6 von 6