Der überfüllte Totenacker

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Der überfüllte Totenacker
Raum: Aufklärung & Romantik
Themenwand: Romantik
Objekt: Waldbegräbnisse
Die Waldbegräbnisse in Halle/Westfalen
Der überfüllte Totenacker
Der Handlungsdruck war im Grunde hausgemacht. Bestattungen auf dem Kirchhof wurden
spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts, auch durch die Zunahme der Bevölkerung, immer
bedenklicher, das wussten die Haller. Fast
600 Jahre (andere Quellen nennen 1000
Jahre) lang hat die Grabstätte an der
Johanniskirche als einziger Bestattungsort
dienen müssen; erst 1827 kam es zum
Ankauf des Grundstücks für einen neuen
Totenacker.
Der Überlieferung nach musste schon im 17.
Jahrhundert der Boden bei jedem Sterbefall
mit dem 'Totenstecher' auf genügend Platz
für die neue Leiche abgesucht werden.
Stieß man auf feste Särge, dann wurde
Der Kirchplatz mit der Nord-Ost-Seite der Johanniskirche
um 1910. Foto: Stadtarchiv Halle/Westfalen.
weiter geprüft. Knochenfunde waren kein Hindernis. Sie wurden eine Zeit lang im Beinhaus an
der Kirchennordseite eingelagert. Solange, bis das Beinhaus restlos gefüllt war und es schon 1749
zum Abbruch kam.
Begräbnisplätze am Berghang
Die 1771 angeordnete und durchgeführte Markenteilung hätte den Haller Nöten abhelfen können.
Sie verfügte die Privatisierung von öffentlichen Wald- und Heideflächen zu äußerst günstigen
Bedingungen und war hier 1784 abgeschlossen. 118 Bürger - alle damaligen Hausbesitzer - waren
zum Landerwerb berechtigt. Viele machten davon Gebrauch und erkannten zudem die
Möglichkeit, am Fuße des Osning, oberhalb der Stadt, eigene Begräbnisplätze anzulegen. Das
räumte ihnen das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794
ein und als Bestandteil des
napoleonischen Code Civil das Dekret Nr. 23 (Art. 1) von 1804. Allerdings lediglich durch den
Ausschluss von Bestattungen innerhalb der städtischen Bebauung. Nur wenig mehr als zehn
Haller Bürger nutzten dieses Privileg. Allerdings nicht gleich, denn die Begüterten hatten auf
dem Kirchhof ja häufig aufwendige Erbbegräbnisse, die nicht einfach an den Knüllberg und den
Lotteberg verlegt werden konnten. Man begnügte sich vorläufig mit dem Rechtsanspruch auf
Friedhofsgründungen in freier Natur.
Hermann Hagedorn – Grabstätte im Landschaftspark
Hermann Hagedorn wollte den Anfang machen. Der wohlhabende Bremer Kaufmann im
Überseehandel kam immer wieder zurück nach Halle an den Kirchplatz. Hier war sein Vater
geboren worden, und hier unterstützte Hagedorn seine ebenfalls gutbetuchte Tante in ihren
Geschäften. Zunächst fasste er den Entschluss, am so genannten Bergkamp zum Wohle der
Bevölkerung eine Parkanlage anzulegen, wofür die Tante ihm 1791 ihren zweieinhalb Hektar
großen Bergteil am 'Knüll' zur Verfügung stellte. Hagedorn kaufte und pachtete noch etwa
viereinhalb Hektar hinzu. Alsdann begann er, Alleen und Wanderwege anzulegen, Obstbäume zu
pflanzen und sogar Wein anzubauen.
„Auf der Höhe des Berges ließ er einen Lustpavillon
errichten“, schrieb 1801 Johann Moritz Schwager, Pfarrer
und Reiseschriftsteller aus Jöllenbeck, in seinem Bericht
über den Besuch des 'lachenden Städtchens', wie er Halle
nannte. Der Pavillon sollte Sonntagsspaziergänger zum
Verweilen einladen und ihnen einen weiten Blick ins
Münsterland bieten. Der Volksmund gab dem Bauwerk
wegen seines Aussehens den Namen 'Kaffeemühle'.
Außerdem legte Hermann Hagedorn
in seinem Refugium
nahe der Kaffeemühle eine Grabstätte mit acht Lagern an.
Er wurde ernstlich krank und wollte dort seine letzte Ruhe
finden. Clamor Friedrich Hagedorn, sein Sohn, sollte das
Werk vollenden. Der Vater genas jedoch, verschied erst
1826 im Alter von 92 Jahren und wurde in Bremen
beigesetzt. Der Sohn hingegen starb 41jährig im November
1811
und
fand
seine
letzte
Ruhe
im
vom
Vater
geschaffenen Sandsteingeviert, wie 1854 - 43 Jahre später
- auch seine Frau Friederike Louise Delius, verw. Hagedorn.
Der Grabstein von Friederike Luise
trägt die Inschrift „Weinet nicht.
Mir ist wohl.“ Foto: W. Kosubek
Apothekergräber
Unweit der Hagedornschen Stätte liegen nördlich des Schützenberges die sogenannten
Apotheker-Gräber. Sie entstanden ab 1816, etwa zeitgleich mit den Friedhöfen am Lotteberg,
und wurden von Engelhard Dietrich Schmülling angelegt. Erhalten sind neun Grabmale, acht
davon in gutem Zustand und lesbar. Der Chirurg Dr. Schmülling starb im Januar 1816, seine
Tochter Franziska Wilhelmine zwei Monate später, sie wurde nur 22. Schmüllings Gattin
überlebte den Ehemann um 33 Jahre und
verschied 1849, die unverheiratete Tochter
Auguste Sophie Luise 1858. Der Arzt und die
Apotheker waren verwandt. Eine weitere
Tochter des Dr. Schmülling heiratete den
Apotheker
Kress,
ihre
Tochter
Auguste
Wilhelmine Lucie wiederum den Apotheker
Dr. Schaeffer und in zweiter Ehe den
Die so genannten Apothekergräber am Bergkamp.
Foto: W. Kosubek
Apotheker Reübert. Alle ruhen im Tode
vereint unter schlanken hohen Buchen.
Begräbnisse der Familien Brinkmann und Kisker
Weiter hinauf am 254 Meter hohen Knüll richtete 1934 der Textilkaufmann Karl Brinkmann ein
Familiengrab ein. Es ist unter den Haller Gottesäckern der höchstgelegene und einer von dreien,
die ihrem Zwecke noch heute dienen. So wie der seit 1926 bestehende, von einem massiven
schmiedeeisernen Zaun eingerahmte, in erhabener Stille daliegende, große Friedhof der
Unternehmerfamilie Kisker.
Waldbegräbnisse am Lotteberg
Wenn man den Knüll hinter sich lässt und Richtung Südosten wandert, dem Storkenberg (243 m)
den Rücken gekehrt und die 'Himmelsleiter' erklommen hat, dann erblickt man jenseits des
'Grünen Weges' den Lotteberg (221 m). An seinem Waldsaum befindet sich die grösste Anzahl der
Haller Erbgrabstätten. Schon von weitem zieht das etwas abseits im Felde liegende Potthoff'sche
Begräbnis von 1825, das dritte noch genutzte, den Blick auf sich.
Es sind vor allem seine hochaufragenden windflüchtigen Kiefern, die Fotografen und Maler
immer wieder inspirieren, gerade diese Totenstätte abzubilden.
Das größte Kreuz - aus Haller Sandstein, wie fast alle Male - markiert eindrucksvoll das Begräbnis
Wethöner. Auf ihm ruht seit 1995 Dr. Hanneliese Wethöner, die letzte dieses Namens. Erst 1938
genehmigte der Mindener Regierungspräsident die Anlage, die zu Frühlingsbeginn immer von
einem leuchtend gelben Blütenteppich aus Winterlingen bedeckt ist.
Im Wald nebenan stehen einige Grabmale etwas ungeordnet. Darunter das von Anna Elisabeth
Wilmans geb. Kottenkamp, der Frau des damaligen Bürgermeisters Peter Gustav Wilmans. Ihr
Todestag ist der 21. März 1811. Nirgends findet sich ein früheres Datum. Die in Stein
gemeißelten Abschiedsworte sind ein Beispiel von vielen für die romantische Sprache jener Zeit.
Man liest ( im Original):
Der besten Gattin der zaertlichsten Mutter
gewidmet von ihrem trauernden Gatten
von ihren weinenden Kindern.
Auferstehn und wiedersehn sind die Stuetze der Gebeugten,
die dir o Gattin, Mutter dieses Denkmal weihten
Dass ein Herr seinem treuen Diener zuweilen ein Denkmal gewidmet hat, davon zeugt ein
Grabstein, dessen Inschrift in lateinischen Majuskeln ausgeführt ist.
Hier die Übersetzung:
Für die Gebeine seines unvergessenen
Freundes, des Herrn Culemann,
einstmals Gerichtsregistrator der
Ravenbergischen Präfektur, geboren
am 23. November 1744 und gestorben am 16.
September 1815,
ließ Meinders, ehemals Präfekt der Präfektur
Ravensberg, im Jahre 1816
dieses Denkmal errichten.
Im Jahr 2009 wurde in der Nähe, verborgen unter einer dicken Schicht aus Efeuranken und Laub,
eine uralte Gruftplatte wiederentdeckt. 2,16 x 1,19 x 0,25 m groß und wohl 1600 Kilogramm
schwer. Sie bezeugt die Existenz von Johann Lucas Brune (1691-1754) - er war 39 Jahre lang
Haller Bürgermeister - und seiner Ehefrau Margaretha Eva Kisker (1702-1743). Stadt und
Kirchenvorstand entschieden sich, die Verstorbenen posthum zu ehren: Die Platte steht jetzt
aufrecht neben der Ev. Johanniskirche.
Das berührt die Frage, wodurch die Bestattungen am Waldrand damals in Gang gekommen sind.
Die Grabplatte von Lucas Brune hat ursprünglich zweifellos auf dem Kirchhof gelegen. Es ist
wahrscheinlich, dass die französischen Behörden mit Hilfe des genannten Dekrets versuchten,
die alten Erbbegräbnisse zugunsten von Platz sparenden Reihengräbern aufzuheben. Was die
Haller wenig beeindruckte. Sie hatten sich zuvor ähnlichen Vorstößen der Mindener Behörden
schon widersetzt.
Die Familie Brune schaffte das Grabmal ihres bedeutenden Vorfahren an den fernen Lotteberg,
vermutlich um es vor einem ungewissen Schicksal (etwa der amtlichen Beseitigung) zu
bewahren.
Bürgermeister Peter Gustav Wilmans hingegen wollte vielleicht mit gutem Beispiel vorangehen,
als er seiner Frau für die ewige Ruhe den idyllischen Ort in schöner Bergeinsamkeit aussuchte. Es
dauerte zwar noch fünf Jahre, bis der nächste seinem Beispiel folgte, doch selbst nachdem 1828
der neue Friedhof zur Verfügung stand, wurden aufgrund des nie aufgehobenen alten Privilegs
noch eine Reihe weiterer Waldgrabstätten gegründet.
Geradezu monumental mutet ‚Vogelsangs Begräbnis‘ von 1868 an. Es besitzt wuchtige
Umfassungsmauern und hinter dem kunstvollen zweiflügeligen Gittertor führt eine breite
Freitreppe zu dem Gräberfeld. Dort ruhen unter schweren Steinplatten Amalie Vogelsang geb.
von Kessel, Major A.D. Carl Friedrich Vogelsang, Stabsarzt Dr. Conrad Vogelsang und andere. Der
Obelisk am nördlichen Rand trug einst eine lebensgroße Engelsfigur. Die aber wurde längst Opfer
zerstörerischen Treibens.
1826 legte der Ober-Controlleur Friedrich Schultz aus schmerzlichem Anlass einen Friedhof an:
34jährig war am 20. Mai seine Tochter Friderica verstorben. Ihr Grabspruch lautet:
Wie Du gekommen zu uns, so bist Du von uns geschieden,
Rein wie die Tugend in Gott. Schlafe nun seligen Schlaf.
Die Särge der Tochter und ihrer Eltern ruhen in einer Gruft, über der sich ein massiver
Halbbogen wölbt. Die seitlichen Öffnungen sind zugemauert. Im selben Monat, als Ehefrau
Petronella am 8. Juni 1831 die Augen für immer schloss, ließ Schultz ein standesgemäßes
Grabmal aufstellen mit der Inschrift:
Monument
errichtet im Juni 1831
vom Ober-Controlleur
Fried. Schultz
Auch die Ruhestätte Buddeberg hat ihren Ursprung im Tode eines Kindes. Des im Alter von zehn
Jahren verstorbenen August Buddeberg (1809-1819). Augusts Großvater war Pfarrer in Halle, sein
Vater Schulrektor. Zu Landrichter Johann Heinrich Dunker dürfte eine Beziehung bestanden
haben, da seine Grabpyramide von 1827 auf Buddebergschem Grund steht. Dunkers Grabspruch
stammt aus der Feder Jean Pauls:
Das Erdenleben ist die Hülse,
worin der Kern des zweiten Lebens reift.
Ein rostroter stabiler Eisengitterzaun umgibt die Gemeinschaftsanlage der miteinander
verwandten
Familien
Klostermann,
Japing,
Hülsmann
und
Hellmann. Das ehedem 2,70 m
hohe Ehrenmal weist mit 1822
das Jahr seiner Entstehung aus.
Nicht
weniger
als
zwölf
Grabsteine in unterschiedlichen
Formen geben Aufschluss über
die Geburts- und Sterbedaten
der
dort
Ruhenden. Obgleich
eine dicke Kette mit Schloss den
Zugang sichert, sind selbst hier
Spuren von mutwilliger Beschädi-
Der Pavillon und die Begräbnisse am Lotteberg
Foto: W. Kosubek
gung, jedoch auch natürlicher Verwitterung, unübersehbar. Gleich daneben liegt die Grabstätte
einer weiteren Potthoff-Linie. Besonders anziehend wirkt darin der kleine Pavillon, den Friedrich
Wilhelm Potthoff erbauen ließ. Über dem Eingang steht:
Zum Andenken
an meine mir ewig theure Gattin
erbaut im September 1828
Friedrich Wilhelm Potthoff
Friedrich Wilhelm setzte mit dem Pavillon der Liebe zu seiner verstorbenen Ehefrau Helene
Charlotte ein Denkmal und lässt den Fremden mit anrührenden Worte an seiner Trauer
teilhaben:
Sechzehn kurze Jahre warst Du
geliebtes Weib mein Glück und meine Ehre.
Was wirst Du uns droben sein
wenn wir, unsere Kinder und ich
nach kurzem Schmerz Dich ewig wiederhaben
Helene Charlotte Potthoff starb mit 33 Jahren am 22. Juli 1828. Friedrich Wilhelm (er stellte aus
seinem Besitz das Gelände für den neuen Haller Friedhof zur Verfügung) folgte ihr 1834 nach,
die Söhne Gustav Adolph (20jährig) 1845 und Franz Heinrich 1869.
Im Haller Ortsteil Hesseln lohnt der schöne Friedhof v. Morsay-Piccard/Windthorst einen Besuch.
U.a. liegt dort die Ravensberger Heimatdichterin Margarete Windthorst (1884-1958) begraben.
Sie war auf Gut Hesseln zuhause und beschreibt in ihren Romanen so eindrucksvoll das
bäuerliche Leben des 19. und 20. Jahrhundert in ihrer ländlichen Umgebung.
Uhrmacher Waldhecker – Die Liebste im Garten
Wie uneinheitlich das Bestattungswesen Anfang des 19. Jahrhunderts in Halle praktiziert wurde,
zeigt der folgende Fall aus dem Jahre 1821. Dem Uhrmacher Waldhecker war seine Frau am 30.
Juli gestorben. Die älteren der sechs Kinder wollten die geliebte Mutter im Garten hinter dem
Haus beerdigt haben, und so geschah es. Woraufhin der Nachbar Bohle heftigen Protest sowohl
beim Haller Landrat, als auch bei der Mindener Regierung, bei dem westfälischen
Oberpräsidenten von Vincke und schließlich selbst beim Innenministerium in Berlin erhob, um
das Ausgraben der Leiche und Bestatten 'am Berge', wo Waldhecker Besitz habe, zu erzwingen.
Doch die Verstorbene blieb, wo sie war. Das Gesuch wurde mit Hinweis darauf, dass der Prediger
seine Zustimmung erteilt hatte, abgelehnt.
Ein neuer Leichenhof
Ab 1826 wurden dann aber ernsthafte Versuche zum Ankauf eines geeigneten Friedhofgeländes
unternommen. Immer noch widerstrebend, denn - so ein Einwand - billiges Land sei seit der
Markenteilung nicht mehr zu bekommen. Im Dezember 1927 schließlich erwarb die Stadt von
dem Kaufmann Potthoff gegenüber der Post für 560 Taler knapp einen Hektar Grund und Boden.
Im April 1828 war Pastor Ludolf Hoermann der erste, der auf dem Haller Gemeindefriedhof zur
ewigen Ruhe gebettet wurde. Bis zuletzt hatte der hochverehrte Kirchenmann sich gegen den
neuen Totenacker gewehrt.
Heute befindet sich der 'alte' Friedhof (Friedhof I) im Übergang zu einer städtischen Grünanlage.
An der Alleestraße (Friedhof II) und an der Bielefelder Straße (Friedhof III) verfügen
Kirchengemeinde und Stadt über weitere Bestattungsorte.
Wolfgang Kosubek
Dieser Aufsatz ist erschienen im Heimatjahrbuch 2010 des Kreises Gütersloh.