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Das Horror-Journal
Nr. 3
1. Auflage November 2011
Copyright © dieser Ausgabe 2011 by Festa Verlag, Leipzig
Herausgeber: Frank Festa
Titelbild: F. Fiedler
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-935822-74-9
Nr. 3:
Seite 4
Seite 15
Seite 25
Seite 106
Seite 117
Seite 137
Seite 156
Seite 213
Seite 237
Seite 241
Seite 248
Artikel:
Seite 6
Seite 36
Seite 40
Seite 62
Seite 68
Seite 112
Seite 133
Seite 200
Seite 223
Seite 229
Storys:
Vorwort
Brian Lumley: Interview
Frank Festa: Something about Brian
Dr. Anton Altrichter: Nachwort zu Der betrogene Tod
J. E. Poritzky: Fantasten
Laurell K. Hamilton: Interview
John Mayer: Die dunkle Muse von Karl E. Wagner
Kim Paffenroth: Interview
Einige Gedanken zu Edward Lee
Greg F. Gifune: Interview
Festa Verlag - Bisher erschienene Titel
Brian Lumley: Die Muschel aus Zypern
Brian Lumley: Die Vorlesung
Brian McNaughton: Der Wurm von Vendren
Christian Endres: Instinktiv
Karl Hans Strobl: Der betrogene Tod
Uwe Vöhl: Nyctalus
John B. Ford: Die Illusion des Lebens
Helmi Sigg: Silberne Ketten
John B. Ford: Der Feind in uns
Brian Lumley: Die Tiefseemuschel
Liebe Nachtschattengewächse,
es ist vollbracht. Mit jahrelanger Verzögerung erscheint die dritte Ausgabe unseres Horror-Journals. Die Verzögerung war nicht beabsichtigt
und natürlich sehr ärgerlich. Ich entschuldige mich dafür. Aber so ist das
Leben, genau so. Der Horror.
Zum Inhalt gibt es nicht viel zu sagen: Schwerpunkt Brian Lumley. Drei
Erzählungen vom großen Meister, ein Interview mit ihm (durch die viel
zu späte Veröffentlichung natürlich jetzt etwas angestaubt), eine Erinnerung an ihn und eine Fangeschichte über ihn, von Helmi Sigg, den
bekannten Komiker aus der Schweiz, der auch ein großer Horrorfan ist
und Brian gut kennt (man siehe auch das Foto Seite 5 in OMEN Nr. 2).
Viele der Informationen in seiner Geschichte beruhen wirklich auf
­Tatsachen!
Zu der Auswahl der Erzählungen merkt Brian an: »Als Frank Festa
mich bat, einige Storys auszuwählen, die ich gerne im OMEN sehen
möchte, dachte ich sofort an The Cyprus Shell und The Deep-Sea
Conch. Warum? Weil diese beiden Geschichten quasi die zwei Hälften
einer Muschel bilden. Die Geschichten haben die Form von Briefen,
Korrespondenz zwischen Freunden, deshalb bat ich Frank The Cyprus
Shell – den ersten Brief – vorne in OMEN abzudrucken und The
­Deep-Sea Conch – die Antwort – als Abschluss dieser Ausgabe. Ramsey
Campbell bezeichnete The Deep-Sea Conch übrigens als »fies«. Welche
Empfehlung brauchen Sie noch?
Diese Geschichten sind für mich etwas Besonderes, denn sie gehören zu
meinen ersten Werken und wurden beide vom legendären August
­Derleth in seinem Verlag Arkham House in Sauk City, Wisonsin, USA
veröffentlicht. Ich habe das Grab von August besucht, um ihm meinen
Respekt zu zollen. Ohne ihn wäre ich vielleicht nie Schriftsteller geworden und hätte nie die Necroscope-Romane geschrieben. Also, hier sind
die beiden Erzählungen; und auch wenn die Muscheln darin keine
»Klappmuscheln« sind, die Storys sind es jetzt letztendlich doch noch!
The Lecture wurde bisher erst einmal abgedruckt, in einem ConventionBuch des EerieCon in Niagara, USA. Es ist keine Horrorstory, aber sie
hat etwas, das mir an Kurzgeschichten immer gefiel: ein überraschendes
Ende. Ich mag es, überrascht zu werden und meine Leser zu über­
raschen! Und diese kleine Erzählung … nun, ich vermute, der Leser
wird bis zum Ende nicht merken, um was es geht. Surprise, surprise!«
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Die beiden Erzählungen von John B. Ford (das ist das Pseudonym des
1963 in England geborenen Autors und Horrorverlegers) wurden mir
von Brian empfohlen. Ich finde, sie haben etwas von den Werken Franz
Kafkas und Thomas Ligottis an sich.
In dunkler Verbundenheit
Euer
Frank Festa
Lars Peter Lueg, Brian Lumley und Frank Festa 2006 in Leipzig
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Something
about
Wie Brian Lumley
Brian
mein
Leben
veränderte
Frank Festa
1979 ging ich noch zur Schule. Ich war dreizehn Jahre alt und
nichts interessierte mich wirklich – außer Bücher. Natürlich! Am
liebsten unheimliche und fantastische Geschichten.
Ich las sehr viel: Im fantastischen Bereich waren es Edgar Allan
Poe, H. P. Lovecraft, Robert E. Howard, Clark Ashton Smith,
Graham Masterton, Stephen King, M. R. James, Algernon Blackwood,
Karl Edward Wagner und, und, und … Zu dieser Zeit entdeckte ich die
Bücher von Brian Lumley. Es gab damals erst zwei deutsche (gekürzte) Ausgaben: Die Herrschaft der Monster (Pabel-Mowig, 1975) und
Die Herrscher in der Tiefe (Bastei Lübbe, 1979). Es waren die ersten
beiden Abenteuer um den Helden Titus Crow, der gegen die böse Brut
aus dem All kämpft, gegen Cthulhu und andere Monster von den Sternen, die sich die Erde untertan machen wollen. Die Bücher gefielen
mir, sie waren spannend und einfallsreich geschrieben und irgendwie
auch anders: etwas verrückter als die übrige Horrorkost. Besonders
der zweite Teil, wo die beiden Helden in einer aufgeklappten Standuhr
sitzen und durchs Weltall fliegen … Das klingt nicht nur völlig abgedreht, das ist es auch. Brian Lumley hat diesen Roman 1974 geschrieben.
Die 80iger-Jahre vergingen (für mich begann der »Ernst des Lebens«.
Haben Erwachsene also weniger zu lachen als Kinder?). Ich lebte ein
Jahr lang in Italien, wollte nichts anderes als Schriftsteller werden, kam
zurück, lernte in den 90ern Inge kennen und wir heirateten.
In meiner Freizeit las ich immer noch sehr viel, immer noch gerne
unheimliche Literatur, aber längst auch ganz anderes. Zu dieser Zeit
entdeckte ich Lumley jedoch wieder, und zwar durch seine Novelle
›Born on the Winds‹, die unter dem Titel ›Der Windgott‹ in einer Fantasy-Anthologie aus dem Heyne-Verlag aufgenommen worden war
(sie erschien später auch als ›Herr des Windes‹ in Der Cthulhu-Mythos
1917–1975, Festa Verlag 2002). Diese Cthulhu-Mythos-Erzählung
über den Windgott riss mich mit. Ich war begeistert. In dieser Geschichte wehte einem tatsächlich der Hauch aus einer anderen Dimension
entgegen, das war kraftvolle Literatur, wie es sie leider viel zu selten
gibt.
Ich wollte wissen, wer dieser Brian Lumley eigentlich ist und was er
noch alles geschrieben hatte. Damals existierte noch kein Internet,
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sonst hätte ich innerhalb von Sekunden gewusst, welche Triumphe
Lumley inzwischen im englischsprachigen Raum mit seiner VampirSaga Necroscope feierte – so aber brachte ich nur in Erfahrung, dass
er Brite ist, der Königin lange Jahre als Soldat diente und im Laufe der
70er-Jahre drei Sammlungen seiner lovecraftschen Kurzgeschichten
im legendären US-Verlag Arkham House veröffentlichte, wie sehr er
angeblich das Erbe von Lovecraft mit seinen billigen Geschichten verhunzte (der US-Genrekritiker S. T. Joshi wird nicht müde, Lumleys Werk
lächerlich zu machen, lobt hingegen überschwänglich manchen zweitklassigen Nachwuchsautor des Genres, mit dem er wohl persönlich
befreundet ist). Außerdem sollte dieser Lumley sehr unsympathisch sein.
Da ich damals kaum Englisch verstand und keine Kontakte nach England oder den USA hatte, konnte ich sonst nichts in Erfahrung bringen.
1993 und 1995 wurden unsere Kinder Laura und Dorian geboren. Ich
gab die Idee, Schriftsteller zu werden, endgültig auf (obwohl ich einige
Kurzgeschichten an Verlage verkauft hatte. Aber wie sollte ich davon
ein Leben fristen?) und ging in einer Kunststofffabrik einer stumpf­
sinnigen Arbeit nach, die ich mehr als hasste.
1998 kam mir eine Idee: Wenn ich schon nicht selbst zum Autor taugte,
könnte ich doch einen Verlag für unheimliche Literatur gründen, à la
Arkham House. Im Dezember 1998 erschien dann das erste Buch von
Malte S. Sembten in der Edition Metzengerstein. Eigentlich hatte ich
geplant, geklammerte Hefte herzustellen, doch Malte, der mir seit
jenen Tagen ein treuer Freund und zuverlässiger Mitarbeiter geworden
ist, überzeugte mich davon, »richtige« Bücher zu machen. Ich kann gar
nicht genug betonen, wie dankbar ich Malte noch heute für diesen
Hinweis bin, denn einzig durch diesen Schritt begann mein Leben als
Verleger.
Zu dieser Zeit eroberte das Internet die Welt, und auch ich hatte bald
einen Zugang via Modem – und unversehens Kontakt in fremde Länder. Dieses Erlebnis war damals geradezu unglaublich und ist heute,
etwas mehr als zehn Jahre später, doch schon so alltäglich. Diese
krächzende, summende Computerverbindung veränderte mein ganzes
Leben. Jetzt waren meine E-Mail-Anfragen in Sekunden bei ausländischen Autoren oder ihren Agenturen, ich fand Informationen zu allen
Themen, sah Fotos meiner Lieblingsschriftsteller, die Titelbilder und
Rezensionen der englischsprachigen Bücher, konnte diese sogar
bestellen und mir innerhalb weniger Tage ins Haus liefern lassen. So
baute ich in den nächsten Jahren meine Kontakte aus, lernte besser
Englisch, ließ Bücher übersetzen und veröffentlichte deutsche Erst­
ausgaben von Thomas Ligotti, Henry S. Whitehead und Ramsey
Campbell, las viele Kurzgeschichten berühmter Horrorautoren und
sicherte mir die Abdruckrechte für Anthologien.
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Barbara Ann und Brian Lumley 2006 in Leipzig
Natürlich fand ich Brian Lumleys Website und erfuhr so von seinen
übrigen Romanen. Neben Titus Crow hat er die Necroscope- und
Psychomech-Horrorsagas geschaffen, die Dreamland-Abenteuer und
die Primal-Land-Bücher geschrieben. Lumley hat im Genre der Fantastischen Literatur wichtige Beiträge abgeliefert.
Die Necroscope-Serie reizte mich besonders. Die musste doch auch in
Deutschland ein Erfolg werden! Aber mir fehlte das Geld, um der Agentur ein seriöses Angebot unterbreiten zu können. Erst als ich mir übers
Internet den ersten Band bestellt hatte, sah ich, wie umfangreich das
Buch war, und verschob diesen Traum auf unbestimmte Zeit; an eine
Realisierung war momentan gar nicht zu denken. Die Serie umfasste
damals bereits zwölf Bände, ein Buch war dicker als das andere,
­manche hatten bis zu achthundert Seiten, und das in kleinster Schrift.
Dies ließ auch alle deutschen Verleger zurückschrecken, die, wie ich
erst später erfuhr, durchaus an der Vampir-Saga interessiert gewesen
waren. Ein solch gewaltiger Umfang – der durch die Übertragung ins
Deutsche noch um etwa 10% anwachsen würde – bedeutet enorme
Übersetzungs- und Druckkosten. Und keiner wusste, ob das deutsche
Publikum Harry Keogh mögen würde.
Irgendwann kündigte ich meinen Fabrikjob und stellte mich auf eigene
Beine. Das war ein großes Risiko, doch ein Weiterleben wie bisher
hätte mich nie voran gebracht. Auch Inge sah das so, und sie machte
mir Mut: »Es kann nur besser werden, ganz sicher.«
Und tatsächlich, ich hatte unerwartetes Glück: Einige Monate später,
nachdem ich nahezu ergebnislos mit diversen Verlagen über Buchprojekte verhandelt hatte, bekam ich nämlich das Angebot, beim kleinen
Fantastik-Verlag Blitz als Verlagsleiter zu arbeiten. Mein bisheriges
Buchprogramm konnte ich sogar mitnehmen und weiter ausbauen.
Ich blieb zwar nur 14 Monate bei Blitz, doch ich arbeitete wie besessen,
meist 16 Stunden am Tag, auch an den Wochenenden, das war mir
völlig egal. Es musste immer weitergehen, ich musste mehr übers
Buchgeschäft lernen, neue Vertriebswege finden, erfolgreichere Autoren und Werke veröffentlichen, und immer weiter, weiter, weiter. Endlich hatte ich meine Berufung gefunden. Jeder neue Hinweis trieb mich
in einen neuen Arbeitsrausch. Zum Glück ließ sich mein Programm
verkaufen, und so ging es voran. Ich verlegte Bücher berühmter Autoren: Dan Simmons, Robert Bloch, Clive Barker, David J. Show, Ian
Watson, Graham Masterton u.v.a.
Zu dieser Zeit erhielt ich von Blitz grünes Licht, um die deutschspra­
chigen Rechte von Necroscope einzukaufen. Der Auslöser dazu war
Hannes Riffel, der Übersetzer, Lektor, Herausgeber und jetzt selbst
Verleger, der auch die Otherland-Buchhandlung in Berlin betreibt. Hannes
glaubte ebenfalls an einen Erfolg von Necroscope in Deutschland, und
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er hatte die Idee der Aufteilung der Bücher in zwei oder drei Bände. Ich
sträubte mich etwas, aber er meinte: »Das machen die großen Verlage
doch dauernd, dann darf das ein kleiner wohl erst recht.« Also ­splitteten
wir den ersten Roman auf in Das Erwachen und Vampirblut … und
hofften … Nach einigen Monaten intensiver Werbung mit Anzeigen und
Interviews rollte der Verkauf an, Necroscope hatte zugebissen.
2001 trennte ich mich von Blitz. Für eine (wie mir erst heute bewusst
ist) viel zu hohe Summe, die ich jedoch in monatlichen Raten über
zehn Jahre hinweg abzahlen konnte, kaufte ich alle »meine« Reihen
und Titel aus dem Blitz-Programm heraus und gründete meinen eigenen Verlag.
Nur Monate später klopfte Lars Peter Lueg an, der gerade sein Hörbuchunternehmen LPL records auf die Beine gestellt hatte. Er wolle
Necroscope produzieren, wie es aussehe, ob ich Interesse hätte. Um
ehrlich zu sein: Nein, hatte ich nicht. Ich glaubte damals nicht daran,
dass Leser sich eine Geschichte lieber vorlesen lassen, statt zum Buch
zu greifen. Ein Irrtum, wie ich heute weiß, denn im deutschsprachigen
Raum boomte das Geschäft mit Audiobooks – Lars hatte den richtigen
Riecher. Ich bin froh, dass er mich letztlich überzeugte, und zwar mit
dem Argument, dass ich ja nichts verlieren könne, nur er könne das,
und zwar viel Geld. Monate später, als die ersten Belegexemplare der
Hörbücher eintrafen – Sprecher waren die deutschen Synchron­
stimmen der großen Hollywoodstars wie Marlon Brando, Johnny Depp
und Robert de Niro – und ich sie mir anhörte, war ich baff. Das waren
wirklich gute Produkte, toll produziert, das fand bestimmt seine Fans!
Und so war’s dann auch.
Und jetzt erst, nach einer langen, aber notwendigen Vorgeschichte,
komme ich zum Kern meiner Schilderung: der Freundschaft zwischen
Brian und mir.
Ich lernte Brian 2004 in Leipzig kennen, kurz nachdem wir in diese
wunderschöne alte Stadt zogen. Er war Ehrengast auf den Elster-Con
der Science Fiction Freunde Leipzig, und reiste in Begleitung seiner
Frau Silky an; die beiden sind seit vielen Jahren ein glückliches Paar.
Ich betrat das Hotel, ließ mich an der Rezeption telefonisch anmelden
und fuhr mit dem Lift hinauf zum Zimmer des Vampirkönigs – seither
stehe ich in seinem Bann.
Nun, ich kann mich wirklich nicht mehr ganz genau erinnern, wie wir
uns begrüßten. Ich weiß nur, dass ich ziemlich aufgeregt und glücklich
war, einen der »Großen Alten« der Horrorliteratur persönlich zu treffen.
Brian gab mir als Geschenk eine seltene gebundene Ausgabe von
Deathspeak, in die er geschrieben hatte: For Frank Festa – From your
No.1 Fan.
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Ich freundete mich auf Anhieb mit Brian und Silky an und wir ver­
brachten in den nächsten Tagen viel Zeit miteinander. Zusammen mit
meinen Freunden Michael Nagula (Autor, Übersetzer, Herausgeber
und Verleger) und Helmi Sigg (ein bekannter Komiker in der Schweiz
und der größte Horrorfan, den ich kenne) trieben wir uns in einigen
Kneipen der nächtlichen City herum, sprachen über Brians Jahre als
Soldat und seine ausgedehnten Reisen, über den Literaturbetrieb,
darüber, was gutes Schreiben eigentlich ausmacht, über den phänomenalen Erfolg von Necroscope, über arrogante Kritiker, die Brians
Werke heruntermachen, und die dankbaren Fans, die seine Werke
sehr treu kaufen. Brian schwärmte von Las Vegas – wo er sich gerne
nächtelang in den Spielcasinos herumtreibt – und über Tom Doherty,
seinem US-Verleger und Freund, der mit fantastischer Literatur ein
beeindruckendes Vermögen gemacht hat – erst durch ihn wurde
Necroscope wirklich berühmt. Auch über alte Filme spricht Brian gern
und natürlich über H. P. Lovecraft und dessen Cthulhu-Mythos.
Michael Nagula, Brian Lumley, Barbara Ann Lumley und Helmi Sigg
2004 in Leipzig
An dieser Stelle möchte ich noch eine Verleumdung über Brian erwähnen
und meine persönliche Erfahrung dagegenstellen. Eines der ersten
Gerüchte, die ich über ihn hörte, lautete, dass er sehr geldgierig sei. In
vielen Interviews erwähnt er tatsächlich immer wieder Geld und wie viel
er verdient. Nun, ist der Stolz eines Dorfjungen, der seinen Traum vom
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freien Schriftstellerleben verwirklichen konnte und damit großen
Erfolg hat, nicht verständlich?
Als ich in sehr ernste Zah­lungs­
schwierig­keiten geriet – welcher
kleine Verleger erlebt das nicht?
– und es Brian am Telefon berichtete, rief er augenblicklich seine
Agenten in England und Deutschland an und sagte ihnen, ich dürfe
die Hono­rare in Raten zahlen. Ich
hatte nicht darum gebeten! Als er
hörte, dass seine ­
Dreamlandund Titus-Crow-Romane sich
nicht wirklich über­
zeugend verkauften, sagte er nur: »Hey Frank,
dann lass es.« Klingt das nach
August Ferdinand Möbius
Geldgier?
(1790–1868), der Mathematiker und
Es heißt auch, er sei eine ganz
Astronom spielt in Brian Lumleys
üble Type, ein grober Ex-Soldat,
Necroscope-Serie eine wichtige Rolle.
knallhart. Ich kenne einen solchen Brian Lumley absolut nicht.
Eines Nachmittags suchten Brian und ich in Leipzig nach dem verschollenen Grab des Mathematikers August Ferdinand Möbius, der in
der Necroscope-Serie eine so wichtige Rolle spielt. Es war kalt, es roch
nach Regen, der jedoch nicht fallen wollte, und die Wolken ballten sich
dunkel über den Johannesfriedhof. Richtig passende Gruselstimmung.
Brian und ich öffneten das Eisentor – natürlich hat es gequietscht! –
und betraten den Kiesweg, als ein kalter Hauch das welke Laub aufwirbelte und uns geradezu aggressiv um die Beine schlug.
Ich bemerkte, dass Brian stehen geblieben war und schaute ihn an.
Verdutzt, vielleicht sogar etwas ängstlich, sagte er: »Frank, genau wie
im ersten Band von Necroscope, erinnerst du dich? Als Harry den
Friedhof in Leipzig findet, auf der Suche nach Möbius Grab …«
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ein Teil des Romans ja in Leipzig
spielt – und in diese Stadt war ich nun gezogen. Daran hatte ich noch
nie gedacht, denn meine Lektüre des Romans lag bereits Jahre zurück
– welch ein merkwürdiger Zufall. Ausgerechnet Leipzig! Brian hatte
darüber schon 1985 geschrieben. Als hätte er in die Zukunft gesehen.
Überhaupt haben sich einige unheimliche Zwischenfälle ereignet, als
Brian das erste Necrosope-Abenteuer schrieb. So berichtet er, dass er,
als er für Dragosani, den bösen Gegenspieler von Harry, eine Geburtsstadt in Rumänien brauchte, auf einer historischen Landkarte nach
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einer passenden Stelle suchte. Die Stadt musste dicht am Meer liegen,
in ihrem Rücken mussten Berge sein, dazu brauchte sie, glaube ich,
auch einen Fluss. Brian fand die passende Stelle, tippte mit dem
­Finger darauf und las: Dragosan (oder ein sehr ähnlich klingender Ort,
ich habe es vergessen). Übersetzt hieß das in etwa: ›Woher Drago
stammt.‹ Brian sagt, seine Nackenhaare hätten sich wie Stacheln
­aufgestellt und er habe es wirklich einen Moment lang mit der Angst zu
tun bekommen …
Leider fanden wir das Grab von Möbius nicht. Einige Wochen später
wandte ich mich auf Anraten von Dirk Berger (Mitglied des Freundeskreises Science Fiction Leipzig e.V.) an das Leipziger Stadtarchiv, ob
man wisse, wo sich die Begräbnisstätte des berühmten Mathematikers
befindet. Leider konnte uns niemand weiterhelfen. Die Angestellten
haben wirklich eine ganze Woche lang gesucht, weil es ihnen doch
sehr wichtig erschien, das Grab eines so bekannten Bürgers zu finden.
Als sie in den uralten Karteikästen blätterten, zerbröselten die Karten
unter ihren Händen zu Staub – und mit ihnen alles zuvor gehütete
Wissen. Leider arbeitet kein Necroscope in diesem Amt! Irgendwie
passt dieses spurlose Verschwinden des Grabes in Lumleys fantas­
tische Welt.
Barbara Ann Lumley, Brian Lumley und Frank Festa
Schnappschuss auf dem Ostfriedhof in Leipzig, 2006
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Brian Lumleys Necroscope, wie sie seit 2009 bei Festa als Hardcover erscheint.
Etwa ein Jahr später entdeckten meine Frau und ich bei einem
­Spaziergang außerhalb der Stadt zufällig auf dem kleinen Ostfriedhof
ein großes, verrottetes Grab mit einer alten Mauer, von der die Platte
mit dem Namen der Verstorbenen herabgefallen war. Familie Möbius
1902, stand darauf. Bedeutet dies, dass eine ganze Familie zur selben
Zeit den Tod fand? Nein, das wohl kaum. Das Grab des bekannten
Möbius konnte es nicht sein, denn der starb schon 1868. Oder sollte er
umgebettet worden sein, zu seiner Familie? Ich weiß es nicht.
Im September 2005 flog ich zum Keogh-Con in Torquay. Dort wohnen
Brian und Silky seit vielen Jahren in einem eigenen, schmucken Häuschen mit Garten und beheiztem Swimmingpool. Es war meine aller­
erste Reise nach England und ich hatte natürlich Regen, Nebel und
graue Wolken erwartet, doch Torquay ist eine Stadt an der Südküste,
Grafschaft Devon, und liegt an der sogenannten »Englischen Riviera«.
Dort wachsen tatsächlich Palmen. Das Klima ist sehr mild, die Gegend
traumhaft. Kein schlechter Ort für einen Schriftsteller, der sich aus
­bitterer Armut hochgekämpft hat. Und als ich sah, dass dieser Mann
von seinen Fans fast so sehr geliebt wurde wie von seiner Ehefrau,
wusste ich, dass Brian jeden Grund hat, glücklich zu sein.
Der Keogh-Con war ein Fantreffen, das die beiden bis 2007 seit langer
Zeit jährlich in einem Hotel veranstalteten. Das Hotel war dann immer
von Fans und Ehrengästen komplett ausgebucht. Es gab Lesungen,
gemeinschaftliche Essen, Verlosungen, wo die Fans Erstausgaben,
Leseexemplare der Verlage, Poster von Buchmessen und andere rare
Dinge ihres Idols und aus dem weiteren Horrorumfeld gewinnen konnten. Es herrschte eine sehr harmonische Atmosphäre – besonders an
der Bar, aber das überrascht nicht wirklich, oder? Alle waren gut
gelaunt, diskutierten, erzählten von ihren Leseabenteuern und himmelten Brian an.
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Im Gespräch
mit
Laurell K. Hamilton
Carsten Kuhr
Die meisten Autoren versuchen
etwas Alltägliches zu nehmen und
daraus etwas Besonderes zu
machen. Ich nehme das Unglaubliche und versuche es alltäglich
erscheinen zu lassen.
– Laurell K. Hamilton
Lassen Sie uns zunächst mit Ihnen persönlich beginnen. Können
Sie unseren Lesern ein klein wenig von sich erzählen?
Hallo. Nun, das Schreiben nimmt in meinem Leben inzwischen einen
Großteil meiner Zeit ein. Seitdem ich vom Schreiben leben kann,
­konzentriere ich mich gänzlich darauf. Daneben spielt meine Familie
eine ganz wichtige Rolle in meinem Leben. Dieses Jahr ­feiern mein
Mann, Jonathan Green, und ich siebten Hochzeitstag. Wir haben eine
bezaubernde, so manches Mal aber natürlich auch anstrengende
Tochter Trinity und drei Hunde in unserem Heim, sodass uns natürlich
dort nie langweilig wird.
Wie kam es, dass Sie, prosaisch ausgedrückt, zur Feder griffen?
Schon als kleines Mädchen kamen für mich nur zwei Berufe infrage.
Entweder Tier-Biologe oder Autor. Mit zwölf schrieb ich meine erste
Geschichte und mit vierzehn las ich dann Andre Nortons ­Biografie, die
mich unheimlich beeindruckte. Ganz anders als die längst verblichenen Autoren, die uns die Lehrer in der Schule an die Hand gaben,
­entpuppte Norton sich als wirkliches Wesen. Sie besaß Katzen, sie war
kränklich und sie war eine Frau – und trotzdem schrieb sie solch tolle
Geschichten, die mich und unzählige andere verzauberten.
Was die kann, das kann ich auch, dachte ich naives Ding mir und
stürzte mich voller Elan in meine Geschichten.
Mit siebzehn war ich dann so weit, dass ich mir zutraute, meine literarischen Ergüsse profes­sionellen Magazinen anzubieten – und kassierte
eine Absage nach der anderen.
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Trotzdem, ich wollte es mir und der Welt beweisen und arbeitete nur
umso härter. Mit vierundzwanzig hatte ich meinen ersten Ro­
man
­Nightseer fertiggestellt und, oh Wunder, fand mit diesem Gnade in den
Augen ei­nes literarischen Agenten. Dieser war von dem Buch so überzeugt, dass er mei­nen Debüt­roman ohne gro­ße Über­arbeitungen anbot
und tatsächlich auch einen Verlag fand – der Rest ist Geschichte.
Bleibt bei dieser Konzentration auf das Schreiben überhaupt noch
Zeit für Hobbys?
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich bis vor circa zwei
Jahren keine Hobbys hatte. Nachdem mir das klar geworden ist, habe
ich mir ganz bewusst Zeit für mich und meine Familie reserviert, die wir
gemeinsam nutzen. Wir züchten zusammen in unserem Wintergarten
Orchideen. Dann habe ich mir einen Sportwagen gekauft, einen
FOOSE Mustang, mit Gangschaltung. Nachdem ich zwanzig Jahre nur
Automatik gefahren war, hat sich dies als eine ziemliche Herausforderung entpuppt. Daneben zwinge ich mich, regelmäßig ins FitnessStudio zu gehen, die Figur dankt es mir, auch wenn ich jedes Mal
meinen inneren Schweinehund überwinden muss, und ich versuche so
viel Zeit wie nur irgend möglich mit meiner Familie und den Hunden zu
verbringen. Zu Neujahr habe ich mir vorgenommen, den Kontakt zu
138
guten Freunden zu intensivieren, öfter ins Kino zu gehen und öfter ein
gutes Buch zu lesen. Allerdings habe ich gerade erst das Discovery
Magazin des Monats Dezember 2007 beendet, in dem die hundert
besten SF-Geschichten aufge­listet werden – so weit zum Thema mehr
gute Bücher lesen. Um ehrlich zu sein, werde ich kribbelig, wenn ich
nicht regelmäßig arbeite, und ich muss mich manches Mal regelrecht
­zwingen, die Tastatur ruhen zu lassen und mich meinen Hobbys zu
widmen. Momentan bin ich, ich muss es zu meiner Schande gestehen,
schon wieder an der Arbeit – der siebte Mary-Gentle-Roman Swallo­wing
Darkness ruft.
Ich habe gelesen, dass Sie die alten Hammer-Filme inspiriert
haben und dass Ihre Großmutter Ihnen abends immer Geschichten erzählt hat und Sie aus beidem Anregungen für Ihre Werke
schöpfen – stimmt das?
Die alten Hammer-Filme haben meine Sicht der Vampire bestimmt
geprägt und wirken in meinen Romanen bis heute fort. Ich habe die
Filme als Kind damals geliebt, auch weil die Art und Weise, wie sich die
Vampire hier verhielten, so ganz anders als gewohnt war. Die Vampire
waren sehr offen, sehr gefühlsbetont und voll unterschwelliger Sexualität. Das hat mich natürlich stark beeindruckt.
Dazu kam, dass meine Großmutter und andere Verwandte im ­Kreise
der Familie wahre »Gruselgeschichten« zum Besten gaben. Da klagte
mei­ne Großmutter dann, wie ihr Mann sie missbrauchte, wie brutal er
mit seinen Geschwistern umging. Nachdem er uns jeden Sommer besuchen kam, prägte mich sein Verhalten, seine Brutalität, aber auch seine
­Zärtlichkeit, die immer einmal wieder zum Vorschein kam. Das mag der
Grund sein, warum ich über sehr menschliche Monster und über
monströse Menschen schreibe. Ein Psychologe würde daraus viel­
leicht herauslesen, dass ich so die Ängste meiner Kindheit ver­arbeite.
Robert E. Howard war der erste Horror-Autor, den ich für mich ent­
deckte. Seit dem Moment, als ich seine Kurzgeschichtensammlung
Pigeons from Hell las, wusste ich, dass ich nicht einfach nur ein Autor
werden wollte, sondern dass ich meine Richtung gefunden hatte. Ich
habe ja Andre Norton schon erwähnt. Sie als eine der ersten Autorinnen, die sich auf dem Gebiet der SF und Fantasy durchsetzen konnten,
war natürlich auch ein großes Vorbild für mich. Davor hatte ich noch
die Bücher von Louisa May Alcott entdeckt, insbesondere Little Women.
Als ich dann begann, mich der ­fantastischen Literatur zuzuwenden,
habe ich eigent­
lich angenommen, Alcotts Werke weit hinter mir
ge­lassen zu haben, nur um s­ päter dann zu entdecken, dass Alcott
auch Horrorgeschichten geschrieben hat. Schon allein der Gedanke,
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Die
dunkle
Muse
des
Karl Edward Wagner
John Mayer
Der letzte Schriftsteller sitzt allein in seinem Arbeitszimmer.
Seine Augen leuchten hell, und seine knotigen Finger mühen
sich unermüdlich ab, die Bilder seiner Vorstellungskraft in die
Symbolik der Seite umzuwandeln. Seine Muskeln fühlen sich
kalt an, seine Knochen scheinen aus Eis zu bestehen, und
manchmal denkt er, er könne durch seine Hände auf die
da­runterliegende Seite blicken.
Es wird an der Tür klopfen.
Vielleicht wartet der Tod davor.
Oder ein Rabe, der ruft: »Nimmermehr«.
Vielleicht wird es auch der letzte Leser sein.
Karl Edward Wagner, The Last Wolf
»Also, Wagner, ich habe gehört, dass dein unterentwickelter Zwilling
auf deinem Rücken Gestalt annimmt.«
Mein erstes Ferngespräch an diesem Sommerabend im Jahr ’94 fand
mit Karl Wagner statt, mit dem ich befreundet war, seit wir, wie es
­schien, die einzigen Science-Fiction- und Fantasy-Fans an der Old
Central High gewesen waren. Seine Exfrau hatte mir von dem häss­
lichen schwarzen Klumpen erzählt, der auf seinem linken Schulterblatt
wuchs. Er hatte störrisch ihre flehentlichen Bitten abgeschlagen, einen
Arzt aufzusuchen. Ich teilte ihre Besorgnis.
»Tja, Mayer, es ist schön, Gesellschaft zu haben.« Obwohl er ab und
zu eine Verabredung hatte, war er weiterhin untröstlich über seine
­zerbrochene Ehe. Barbara hatte ihn verlassen, wie sie mir erzählte, als
sie jede Hoffnung aufgegeben hatte, dass er ein Übel überwand, das
bei Schriftstellern ziemlich verbreitet war: zu viel zu trinken. Es war
tatsächlich so, dass Wagners Freunde sich oft über seine Trinkfestigkeit wunderten; er schien das Trinken fast als sportlichen Wettbewerb
anzusehen und war imstande, eine Dreiviertelliterflasche Jack Daniels
auszutrinken, ohne dass irgendein sichtbarer Rauschzustand bei ihm
auftrat.
»Ernsthaft, Karl, du musst unbedingt zum Arzt. Ich habe gehört, dass
ein Melanom ein echtes Scheißding werden kann, wenn es erst mal so
richtig loslegt.«
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»Mayer, ich bin Arzt. Und darum mache ich mir auch keine Sorgen.
Wenn es wirklich ein Melanom ist, dann ist es zu weit fortgeschritten,
als dass man daran noch was machen könnte. Ich möchte das lieber
nicht wissen, bis es unbedingt sein muss.«
Wagner war tatsächlich Arzt, auch wenn er seit Jahren nicht praktizierte, da er sich seinem Schreiben widmete. Er war der einzige Mensch
in meinem Freundeskreis, der auf Medizin als Zweitberuf zurückgreifen
konnte.
»Aber du verstehst nicht, Wagner! Wenn du diesem Ding freien Lauf
lässt, bekomme ich es auch!« Das war eine Art Running Gag zwischen
uns. Ob es daran lag, dass wir schon so viel zusammen herumhingen,
seit wir gemeinsam an der Highschool angefangen hatten, oder ob es
der Tatsache zuzuschreiben war, dass wir beide deutscher Abstammung waren, oder aber ob der Grund darin zu suchen war, dass unsere
Kindheitshelden die männlichen Stars der Jugendhörspiele im Radio
waren, wie etwa der Lone Ranger und Sergeant Preston – es hatte
weder bei ihm noch bei mir zu Hause ein Fernsehgerät gegeben; bei
mir, weil meine Eltern es sich nicht leisten konnten, und bei ihm, weil
sein Vater, der TVA-Vorstandsvorsitzende Aubrey ›Red‹ Wagner,
be­fürchtete, dass das Karls Kreativität ersticken würde – jedenfalls
besaßen Wagner und ich eine fast identische Art zu sprechen. Das rief
bei unseren Bekannten, die uns zum ersten Mal zusammen sahen,
­Irritation hervor. Häufig fielen Bemerkungen, die sinngemäß lauteten,
dass wir uns völlig glichen. Wir antworteten dann so etwas wie: »Sie
meint, wir seien genau gleich! Lächerlich, Twiddeldum!«
»Absurd, Twiddeldi!«
Einmal fand ich an Halloween eine Karte, die ich an Wagner schickte,
weil sie erstaunlich gut passte. Der Text lautete: »Ich würde dieses
Jahr an Halloween nicht ausgehen, wenn ich du wäre. Aber ich bin ja
nicht du ... oder doch? Hihihihi!«
Aber jetzt kaschierte meine Witzelei wirkliche Sorge. Wagner kicherte
über den vertrauten Scherz. »Ich hoffe nicht, Mayer, aber wenn auf
deinem Rücken irgendwas wachsen sollte, würde ich es sehr zu schätzen wissen, wenn du es dir wegmachen ließest. Ich nehme an, mein
Ge­wächs fällt kurz danach auch ab.«
Wir lachten gemeinsam, und ich verabschiedete mich schnell von ihm,
in dem Versuch, meine nächste Telefonrechnung in überschaubaren
Grenzen zu halten. Ich war ziemlich überrascht, als ich ein paar
Wochen später wie ein Wilder im Garten arbeitete und mein Neffe, der
gerade zu Besuch war, bemerkte: »He, John, was ist das für ein Ding,
das da auf deinem Rücken wächst?«
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Die Möglichkeit, dass Karl Wagner aus Knoxville eines Tages ein
­weltberühmter Autor von fantastischen Geschichten (Science-Fiction,
Horror und heroische Fantasy) sein würde, dessen Werke in sechs
Sprachen übersetzt wurden, der unzählige Literaturpreise gewann und
regelmäßig Ehrengast auf Fan-Conventions überall in den USA,
­Kanada und in London war, schien gering, als ich ihm zum ersten Mal
in Mrs. Pace More Johnsons Lateinstunde begegnete (später nannten
wir sie Post Mortem Johnson und mutmaßten, dass Latein ihre Muttersprache war). Es war an Halloween, als mir zum erstem Mal bewusst
wurde, dass wir gemeinsame Interessen hatten.
Mrs. Johnsons normalerweise unerbittlich pedantische Art war heute
etwas abgemildert, sodass sie es den Begabten unter uns gestattete,
den Tag mit musikalischen Aufführungen und Geschichtenerzählen zu
begehen. Das Programm hatte sich völlig von meiner Vorstellung unter­
schieden eine schwarze Messe zu feiern, und ich fand Zerstreuung in
einem Buch mit Geistergeschichten. Plötzlich wurde mir klar, dass die
Geschichte, die der Klasse gerade von diesem großen, rothaarigen
Flegel vorgetragen wurde, aus genau dem gleichen Büchereibuch
stammte, in dem ich las. Ich hatte den Kerl als Footballspieler oder
irgendeinen Grobian abgetan, und zwar aufgrund seines massigen
Körperbaus und seiner ziemlich brutalen Gesichtszüge. Ich war
­ziemlich überrascht, als ich entdeckte, dass hinter diesen buschigen
Augenbrauen ein Gehirn lag, das genauso scharfsinnig war und
genauso viel Stilempfinden besaß wie mein eigenes. Wagner war ein
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Intellektueller ... und groß genug, um damit ungestraft davonzu­
kommen!
Wir redeten in den nächsten Tagen über unsere Lieblingsliteratur, und
unsere Bekanntschaft entwickelte sich schnell zu einer Freundschaft.
Das erforderte ein gewisses Maß an Mut von Karl, da ich mir bereits
einen zweifelhaften Ruf erworben hatte, den Huckleberry Finn – oder
auch Jack the Ripper – hätte zögern lassen, mit mir zu plaudern. Ich
kam aus der behüteten Umgebung einer Konfessionsschule für
­Mitglieder der Ersten Lutherischen Kirche, wo mein trockener Sinn für
Humor sehr gut verstanden worden war. Daher war ich nicht auf die
wörtliche Interpretation gefasst, mit der die Typen der Central hier
­meinen Witzeleien begegneten. Es dauerte nicht lange, bis ich sowohl
von der Schülerschaft als auch vom Lehrkörper als verrückt abgestempelt wurde, ein Urteil, das ich schließlich selbst zu akzeptieren begann,
auch wenn das exzentrische Verhalten, das mir gerüchteweise zugeschrieben wurde, nicht zutraf. Beispielsweise schlief ich nicht in einem
Sarg, gleichgültig, wie viele meiner Klassenkameraden behaupteten,
dass sie durch mein Fenster gelugt und ihn gesehen hätten. Die Situation hatte zuerst ziemlich witzig gewirkt, aber bald ging sie mir auf die
Nerven. Ich wurde ziemlich empfindlich, was zu Aus­einandersetzungen
mit meinen Klassenkameraden sowie Arrest und Suspendierungen
durch Direktor Boring führte (einmal machte er mit Hinblick auf seine
extreme Toleranz mir gegenüber folgende Be­merkung: »John, wenn
die Schulbehörde je deine Akte zu Gesicht bekäme, würden wir beide
in hohem Bogen rausfliegen!«
Ich war voller Ehrfurcht, als ich Karls Bibliothek sah (damals nur ein
winziger Bruchteil der riesigen Büchersammlung, die er eines Tages
erworben haben würde, aber auch damals schon beeindruckend). Karl
aß, schlief und atmete Groschenhefte, fast wortwörtlich, denn seine
gigantischen Bücherregale standen neben seinem Bett, und der
Geruch nach dem schimmeligen Papier der Pulps erfüllte die Luft wie
Weihrauch. Und sein Essensgeld verwendete er für noch mehr von
ihnen.
Wir tauschten Taschenbücher und gingen im Geschäftsviertel auf
Schatzsuche (Knoxville verfügte damals wirklich über ein Geschäftsviertel mit billigen Warenhäusern: Woolworth und Kress und Grant,
nicht ein, sondern zwei Miller-Käufhäuser, dazu vier Kinos, inklusive
des Roxy, in dem manchmal Brigitte-Bardot-Filme gezeigt wurden). Wir
stöberten herum, auch unter und hinter den staubigen Regalen von
Doc Black’s New and Used Books and Costume Shop, oder in den
Antiquitäten- und Trödelläden in dem Bezirk, der jetzt The Old City
genannt wird, aber damals Urban Blight hieß, auf der Suche nach den
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fantasievollen Pulpheften und Prä-Code-Horrorcomics, die in den freudund farblosen Fünfzigern verschwunden waren (Wagner spottete
­später über die Fünfziger-Nostalgie: »Es war wie zehn Jahre Nach­
sitzen.«)
So schwer es auch ist, sich das heute vorzustellen, Science-Fiction
war in den Fünfzigern und den frühen Sechzigern eine Rarität, Pulps
existierten nicht mehr, und die Herausgeber von Taschenbüchern
waren überzeugt, dass es keinen Markt für Sci-Fi und noch weniger für
Fantasy gebe. Aber diese Situation hatte einen Vorteil: Die wenigen
Science-Fiction-Bücher, die gedruckt wurden, waren die, die die
Heraus­geber so unwiderstehlich fanden, dass sie willens waren, ihre
­kommerziellen Vorurteile außer Acht zu lassen (nicht zu vergleichen
mit heute, wo jede Art von Schund, der als Science-Fiction oder
­Fantasy bezeichnet wird, veröffentlicht zu werden scheint, der größte
Teil davon in Form von Trilogien).
Die Comics hatten die Geburt einer wahrhaft kreativen künstlerischen
Leistung erlebt, die sich insbesondere in den Horror-, Action- und
­Mad-Comics von EC ausdrückte. Diese Kreativität war von der Comics
Code Authority, einer Selbstkontrolle der Comicbranche, die von John
Goldwater verwaltet wurde, im Keim erstickt worden. Der Code war
das Ergebnis einer nationalen Panik, die entstand, als der Psychologe
Frederick Wertham enthüllte, dass Comics der Grund für die Kriminalität
von Jugendlichen seien. Er entdeckte in den Schatten und Details der
Kunst unterschwellige Obszönitäten, die für den Laien nicht ersichtlich
waren. Es war wie in dem alten Witz: »Also, alle Tintenkleckse sehen
für Sie wie Genitalien aus. Sie haben ganz offensichtlich sexuelle
Zwangsvorstellungen.« »Ich? Sie sind doch derjenige, der mir all diese
schmutzigen Bilder zeigt!«
Nur nahm Kefauver, Senator in Tennessee, den Witz ernst und ver­
anlasste eine Kongressuntersuchung, die die Comics Code Authority
zur Folge hatte. Die Authority brüstete sich damit, dass sie »bei ihrer
Gründung als Eckstein ihres Programms die strengsten existierenden
[Zensur-]Regeln für sämtliche Kommunikationsmedien« vertrete.
In dieser sterilen, konformistischen Umgebung gierten Karl und ich
nach der reißerischen Prosa und den grellen Illustrationen, den Flügen
der Fantasie, der Rebellion, die wir in diesen vergessenen und ramponierten Publikationen entdeckten. Bald hatten wir jedes Pulpheft und
jedes Prä-Code-Comic in den Läden von Knoxville aufgespürt, aber
Wagner hatte Händler entdeckt, bei denen man diese geheimnis­
umwobenen kleinen Werke bestellen konnte. Im Gegensatz zu den
örtlichen Ladeninhabern kannten diese Händler bedauerlicherweise den
Wert ihrer Waren. Ich befürchtete, dass Wagner es allmählich etwas
übertrieb, als er anfing, nicht weniger als sechs Dollar für Ausgaben
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von Weird Tales zu zahlen. Zu einer Zeit, als man eine Woche lang
bequem von zehn Dollar leben konnte, schienen diese Summen für
alte Magazine, die nur 25 Cent gekostet hatten, als sie noch in tadellosem Zustand gewesen waren, übertrieben verschwenderisch. Aber
Wagner war von der Sammelleidenschaft gepackt worden und fest
­entschlossen, jede Ausgabe zu besitzen.
Wenn Science-Fiction bei Herausgebern schon unbeliebt war, so wurde
sie von Lehrkräften verabscheut. Mehr als einmal wurden sowohl bei
Wagner als auch bei mir Bücher im Lesesaal konfisziert, und zwar aus
keinem anderen Grund, als dass es sich dabei um Science-FictionBücher und ipso facto um Schund handelte. Natürlich wussten unsere
Lehrkräfte nicht wirklich, was Science-Fiction überhaupt war. Einmal
versuchte ich eine Buchbesprechung zu einem Werk von Poul
Anderson vorzulegen, das auf nordischen Mythen basierte. Mrs.
­
­Pierce, eine besonders bösartige alte Hexe, las den Schutzumschlag,
bemerkte die Bezüge zu Odin, Trollen, Elfen und Eisriesen und sagte
schadenfroh: »Es tut mir leid, John, aber ich halte nichts von ScienceFiction. Ich muss dir leider ein Ungenügend geben.«
Mrs. Pierce schien es besonderes Vergnügen zu bereiten, sowohl
­Wagner als auch mich zu quälen. Sie war es, die uns erwischte, als wir
den Walk-Home missachteten, einen besonderen Tag, an dem alle
Schülerinnen und Schüler der staatlichen Schule, die normalerweise
mit dem Schulbus fuhren, zu Fuß nach Hause gehen und die Zeit ihres
Heimwegs messen mussten, sodass die Behörden veranschlagen
konnten, wie viele von uns im Fall eines Atomangriffs verbrennen
­würden. Karl und ich versuchten per Anhalter zu fahren, und natürlich
saß beim ersten Auto, das wir anhalten wollten, Mrs. Pierce am Steuer.
Wir waren zwei von nur drei Leuten in Knox County, von denen verlangt
wurde, beim örtlichen Leiter des Zivilschutzes Absolution zu suchen.
Als ich mir erlaubte zu sagen, dass ich einen Atomkrieg als Weg, eine
repressive Gesellschaft zu beenden und Anarchie herbeizuführen,
begrüßte, machte sich der Zivilschutztyp über meine politische Naivität
lustig. »Es kann keine Anarchie existieren«, erklärte er mir, »wenn
nicht die Schlüsselfiguren bereits organisiert und darauf vorbereitet
sind, sie zu gründen.«
In einer Zeit, als der Zuwachs von Popularität der Hauptgrund für die
Existenz eines Teenagers war, war Karl bereit, sich mit Freunden zu
belasten, bei denen es sich nur um einen gesellschaftlichen Nachteil
handeln konnte. Gleichzeitig war er nicht darüber erhaben, seinen
Freunden gelegentlich grausame Streiche zu spielen. Einer von ihnen
war Dan Winter, derselbe Dan Winter, dessen Familientragödie
­ungefähr ein Jahr vorher zum Gegenstand eines langen Artikels in
einer ­Zeitung von Knoxville wurde. »Dan war ein helles Köpfchen, aber
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