MAZ - Andrea Timm
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MAZ - Andrea Timm
Musik | 5 MAZ | SONNABEND/SONNTAG, 14./15. FEBRUAR 2009 Weiter mit verrücktem Elan Auf dem Marktplatz Es muss nicht immer gesungen werden: Gianluigi Trovesis wunderbare Liebeserklärung an die Oper. Von Gerd Dehnel D en Spruch vom Propheten, der im eigenen Lande nichts gilt, können die Pioniere des Krautrock bestätigen. Bands wie Can, Agitation Free, Birth Control oder Faust galten deutschem Publikum wie deutscher Kritik meist als abgedrehte Spinner, die den Anschluss an die anglo-amerikanische Rockwelt verpasst haben. Erst als ausgerechnet Briten und Amis sich zu Beginn der 70er Jahre dafür zu begeistern begannen, stellte sich auch zu Hause Anerkennung ein. Inzwischen haben genug internationale Stars wie Sonic Youth, Stereolab oder The Residents den deutschen Krautrockern ihre Referenz erwiesen. Doch Jean-Herve Peron, Gitarrist und Sänger von Faust, will mit dem alten Markenzeichen nicht mehr in Verbindung gebracht werden: „Krautrock stand mal für die Suche nach eigenem Stil, eigener Identität, eigenen Kompositionsregeln. Heute klebt die Musikpresse das Etikett an jede deutsche Band, die Gitarre spielen kann. Nenn uns alles Mögliche, nur nicht Krautrock.“ Von der 1970 gegründeten Band sind heute noch zwei Mitglieder übrig geblieben, Peron sowie Schlagzeuger Werner „Zappi“ Diermaier. Für ihr aktuelles Album haben sie sich mit Amaury Cambuzat an Gitarren und Keyboards verstärkt. Inklusive Live-, Remix- und Sessionalben liegen mittlerweile rund 30 Faust-Scheiben vor. Viele stammen aus der ersten Hälfte der 1970er, nach einer Lücke von 15 Jahren setzen in den 90ern die Veröffentlichungen wieder ein. Das Album knüpft da an, wo Faust einst begonnen hat. „Wir improvisieren total frei, fangen an mit nichts“, so beschreibt Zappi Diermaier die Arbeit im Studio. „Genau so haben wir damals in England unsere Konzerte gespielt, die Art ist mir auch am liebsten. Für die Aufnahmen haben wir vier Tage gebraucht.“ Entstanden sind kakophonische Sounds, halluzinatorische Keyboardflächen, verzerrte Silben-Schleifen – experimentelle Von Albrecht Thiemann Faustischer Scherenschnitt. FOTO: PROMO Rockmusik abseits gängiger Stilistiken, assoziative Klänge statt Songs. Auch die Titel der einzelnen Stücke sind am ehesten Wegweiser zum freien Fluss der Gedanken durch bizarre Sound-Landschaften. Ursprünglich sollte die CD Teil einer Doppelveröffentlichung werden, das ist am Geld gescheitert. „Man macht Pläne und dann lachen die Götter“ quittiert das JeanHerve Peron mit einem Achselzucken. Weniger gelassen reagiert er, wenn er auf den ehemaligen Mitstreiter Hans Joachim Irmler angesprochen wird. Der Chef des KleinLabels „Klangbad“ gilt hier und da immer noch als Kopf von Faust. Zeitweise war er mit einer zweiten Faust-Bands unterwegs. „Das ist jetzt vorbei“, knurrt Peron unwirsch. „Irmler hat sich hingelegt. Nächste Frage, ich hab keine Lust über den zu reden.“ „Irmler wollte immer alles an sich ziehen“, begründet Diermaier das Zerwürfnis. Lieber reden beide über ihre nächsten Vorhaben. Schlagzeuger Diermaier arbeitet an einer Fusion von Schlagwerk und Schlagern. Peron schreibt an einem Concerto für Betonmischer und Orchester. „Um Ewigkeit, Demut und das Mantra 'Rund ist schön' soll es sich drehen“, so beschreibt er. „Außerdem wird die alte Geschichte Faust mit verrücktem Elan weiter geführt“, verspricht der Avantgarde-Musiker. Zur Nostalgie-Band fürchten die Musiker nicht zu werden. Faust C'est com ... com ... compliqué. Bureau B/Indigo. E igentlich ist der Jazz sein Metier. Eigentlich. Denn auch wenn Gianluigi Trovesis wichtigste Aktionsfelder die Big Band (Italian Instabile Orchestra), das (eigene) Oktett/Nonett oder das Duo mit dem Akkordeonisten Gianni Coscia sind, und auch wenn aus jedem Ton, den der inzwischen 64-Jährige auf Klarinetten und Saxophon hervorbringt, der Schalk eines munter zwischen Bop, Free und Folklore vagabundierenden Improvisationskünstlers spricht – von der Oper ist er nie ganz losgekommen. Das hat, wie er selber sagt, viel mit der Jugend in einem Alpendorf nahe Bergamo zu tun. Die Leute versammelten sich dort von Zeit zu Zeit vor dem Radio, um gemeinsam Stücken von Rossini, Verdi oder Puccini zu lauschen. Außerdem war da noch diese Blechkapelle, der Premiato Corpo Musicale. Ein reines Laienensemble. Man übte nach Feierabend, und irgendwann gab es ein Konzert auf der Piazza. Lieder, Tänze, aber eben auch mal die Ouvertüre zu „Nabucco“, der Triumphmarsch aus „Aida“, manchmal „sang“ das Euphonium sogar ein bisschen Donizetti. Das fröhliche Tuten und Blasen in seiner Heimat hat Gianluigi Trovesi nie vergessen – und nun all den „musikalischen Engeln“, die ihn damals faszinierten, ein Denkmal gesetzt. „Profumo di Violetta“ ist zugleich eine gewitzte Hommage an die Opernnation Italien, in der ja nicht selten das Leben selbst zur Oper gerät. Dargestellt von einer streicherfreien Banda mit dem schönen Namen Filarmonica Mousiké (Lei- Fröhliches Tuten und Blasen: Gianluigi Trovesi. tung: Savino Acquaviva), von dem Cellisten und Live-Elektroniker Marco Remondini, von dem Perkussionisten Stefano Bertoli und natürlich von Trovesi selbst, treten auf: Monteverdis „L’Orfeo“ und „Poppea“, Pergolesis „Serva Padrona“, Verdis „Traviata“, Mascagnis „Cavalleria Rusticana“, Puccinis „Tosca“. Dazu Seiltänzer, Kobolde, Liebeskranke, Harlekins, die sich der Urheber dieser poetisch-schrägen Suite ausgedacht und aufs Notenpapier FOTO: MARIO SABBATANI gezeichnet hat. Eine frühbarocke Ciaccone trifft also auf John Coltrane, ein Saltarello kommt in der Harmonik eines Thelonius Monk daher und von irgendwo weht plötzlich Bizets „Habanera“ herein. Trovesi würfelt sein Material allerdings nicht einfach zusammen, er erzählt vielmehr eine kleine Geschichte der Oper, von den Anfängen bis heute, eklektisch, ironisch, übermütig, mit verschmitzten Augen. Es ist eine sehr persönliche Ge- schichte, seine Geschichte. Ihre Kapitel: Prolog, Mythos, der festliche Ball, das Spiel der Verführung, Liebe, Tanz, Eifersucht, Epilog. Klingt nach Oper. Und nach prallem Leben. Ein himmlisches Vergnügen für alle. Wie sagte doch Debussy? Es muss ja nicht immer gesungen werden. Gianluigi Trovesi all'Opera Profumo di Violetta. ECM. Jean Poly liebt Electronic, Andrea Timm verzichtet drauf D ie Plattenfirma will nicht viel mehr wissen, als dass es sich bei Jean Poly um einen etwa 30-jährigen Mann aus dem Süden der Republik handelt, der nicht live auftritt. Selbst der Vertrag für die CD „England“ sei per Post zustande gekommen. Nun gibt es ja schon einen jungen deutschen Liederstar namens Peter Licht, der solcherart Geheimniskrämerei liebevoll pflegt. Eine interessante Methode immerhin, die allgegenwärtig laute Werbung durch weitgehende Verweigerung zu konterkarieren und auf solche Weise gerade Aufmerksamkeit zu erregen. Doch ob nun Kalkül oder Schüchternheit – die Songs des Herrn Poly sind wahre Kleinode, die Entdeckung allemal verdienen. Dafür spricht ja schon, dass Tapete Records den jungen Mann unter Vertrag nahm. Das kleine Label entwickelt sich mehr und mehr zur verlässlichen Heimstatt für junge deutsche Rockmusik ungewöhnlichen Zuschnitts. Da Jean Poly sich als geheimnisvoller Einzelgänger geriert, hat er sein Debüt allein mit sich und allerlei Synthesizern und Rhythmusmaschinen eingespielt. Dezent klöppelt der Rhythmus vor sich hin, sacht quellen friedliche Töne aus Konkurrenzlos Wandel A lev Lenz, deutsch-türkische Sängerin, verlässt sich auf sich und die Palette, die sie dem Piano entlockt. Mal schafft sie sich dafür einen dramatischen kammermusikalischen Rahmen. Mitunter reichen nur ein paar Akkorde, ein summender Bass, mit dem Besen sacht berührte Trommelfelle und ihre Stimme. In Amerika hat die 26-Jährige eine Zeit in vollen Zügen gelebt. Durchgeatmet. Hat Randy Newman, der mit dem Klavier Geschichten erzählt, gelauscht und im New Yorker Greenwich Village selbst die Tasten gedrückt. Sollen wir kapriziöse Kolleginnen wie Tori Amos, die ihre verdienstvollere Vorgängerin Kate Bush noch zu übertreffen suchte, nennen? Schon. Allein Alev Lenz ist sich selbst genug. Zu erleben am 17. Februar im B-Flat Berlin. lu FOTO: MEIXNER den Boxen, zuweilen nur brizzeln und zischeln sie, ohne die freundli- ABGEHÖRT Sebastien Grainger & The Mountains. Saddle Creek/Indigo. Alev Lenz Storytelling Piano Playing Fräulein. Groove Attack/Rough Trade. Dezent: Andrea Timm. che Stimmung je zu verderben. Auf solcherart Wohlklanggrund erzählt Poly lakonisch Geschichten um die Macht der Musik und die Sehnsucht nach einer kunstvollen Welt. Ein wenig erinnert das zuweilen an den Minimalismus von Kraftwerk, ein wenig an die Verspieltheit mancher Neue-Deutsche-Welle-Epigonen. Schön anzuhören ist es allemal. Während Jean Poly also ganz den elektronischen Klängen vertraut, verzichtet Andrea Timm für ihr Debütalbum „Halbes ganzes Leben“ auf jeglichen Computersound. Sie traut sich überhaupt, ausgesprochen viel wegzulassen. Mit Axel Hommage Jérusalem – La Ville des deux Paix Hespèrion XXI, Jordi Savall. 2 CDs. AliaVox. D ie Songs von Sebastian Grainger & The Mountains entfalten sich nicht unmittelbar, eher aufs zweite Hören. So finden sich Muskelspiel auf der einen, melodische Strömungen auf der anderen Seite. Mit wachem Intellekt verfasst, mit Spielwitz, der erfasst werden will. Wer Grainger noch als Sänger und Schlagzeuger der kanadischen Dancepunk-Duos Death From Above 1979 in Erinnerung hat, wird den jüngsten Wandel des Künstlers verblüfft zur Kenntnis nehmen. Noise-Attacken, Diskogewummer und exaltierte Brüller finden sich. Wohl Reminiszenz an die alten Zeiten. Aber in seinem Konzert am 16. Februar im Berliner Club Lovelite kann man einen ausgesprochen erwachsenen, ehrbar einfallsreichen Rockmusiker erleben. sj E r hat „Don Quijote“ gegen Windmühlen reiten und „Christoph Columbus“ Amerika entdecken lassen. Er lief auf „Francisco Xavers Weg in den Orient“ und macht nun die Reise nach „Jerusalem“. Achtsprachig, reich bebildert, vor allem aber mit viel Musik. Jordi Savalls viertes Hörbuch ist ein hinreißendes Porträt der Stadt „der zwei Frieden“. Frieden? In Jerusalem? Gerade weil es dort selten friedvoll zuging, feiert der Katalane mit seinem Ensemble Hesperion XXI den himmlischen und irdischen Frieden mit Fanfaren, Liedern, Orakeln, Harfen-Postludien. Und gemeinsam wandern wir mit ihm, die Verheißungen der Apokalypse im Ohr, durch arabi- sche, jüdische und christliche Quartiere Jerusalems. Es beginnt mit den „Posaunen von Jericho“, deren Töne Mauern zerstört haben sollen, und mit jeder Musik werden neue Geschichtskapitel aufgeschlagen. Das jüdische Jerusalem wird durch die Klänge des Schofar hörbar, die christliche Epoche durch Kreuzfahrersongs, der Sound Arabiens durch Süleyman den Prächtigen. Jerusalem findet auch als Ort des Exils seinen Widerhall, denn eingefügt ist als historisches Dokument „das Lied der Toten von Auschwitz“. Enstanden ist eine Hommage, die Gefühle nicht wegklemmt und trotzdem offene Blicke wagt auf eine 3000 Jahre alte, nie konfliktfreie Vergangenheit. Man meint die Düfte der Bazare in der Nase zu haben und nimmt die Aromen auf, die mal süß schmecken, mal auf der Zunge schmerzen, die einen melancholisch seufzen und heiß fiebern lassen. Frank Kallensee Stammberger, Michael Behm und Marcus Schloussen hat sie höchst versierte Musiker an ihrer Seite, die bei Diestelmann, Stern Meißen, Renft spielten und spielen. Aber gerade weil die so versiert sind, haben sie kein Problem damit, sich in höchstem Maße zurück zu halten und Andrea die Bühne zu überlassen. So gestaltet die Berliner Sängerin ihre Lieder so dezent wie fein unterstützt vor allem mit ihrer mädchenhaft hellen, doch kräftigen Stimme. Lieder, die sie selber geschrieben hat oder gemeinsam mit ihrem Partner Heinz Prüfer, dem 2007 verunglückten Renft-Gitarris- Glutvoll ten. Vom Verlieben singt sie, Enttäuschungen, Trennungen, großen Wünschen, kleinen Glückseligkeiten. Irgendwo zwischen Volkslied und Blues und Pop sind diese Lieder zu Hause, ganz klassisch in guter alter Liedermacher-Manier, die hier aber so gar nicht altmodisch wirkt. gde Jean Poly England. Tapete/Indigo. Andrea Timm Halbes ganzes Leben. Marktkram/Buschfunk. Kenn’ wa schon! Memo Gonzalez & The Bluecasters Dynomite. Cross Cut Records/Inak. J a doch, darüber können Mannsbilder trefflich jammern: Über Frauen, die kälter als Eis sind. Die ein Herz aus Stein haben. Als musikalischer Kummerkasten musste dafür immer mal wieder der Blues herhalten. Auch bei Memo Gonzalez & The Bluescasters ist das nicht anders. Nur, dass diese Limitierung für den Texaner und seine vorzüglichen Begleiter wesentlich zu kurz greift. Denn bei ihnen ist viel mehr zu holen. Da mischen sich Funk, Soul und Rock ’n’ Roll. Swing sogar. Abweichung vom Schema allenthalben. Die Gitarre von Kai Strauss klingt phänomenal glutvoll. Erkan Özdemir und Henk Punter werfen derweil die gut geschmierte Rhythmusmaschine an. Memo singt, seufzt und barmt durch zwölf Stücke. Und überzeugt auf der Mundharmonika. wl Telepathe Dance Mother. V2/Universal. D as Debüt von Telepathe, einer Elektroband aus dem New Yorker In-Stadtteil Williamsburg, wird als neue Hoffnung der Tanzflächen gefeiert. Im Grunde handelt sich es allerdings nur um zwei junge Musikerinnen, die ein wenig kontroverses Zeug über Messer, Drogen und den Teufel singen, begleitet von Gefiepse und Gesause vom Drumcomputer. Hilfe bekamen sie dabei von David Sitek, dem Soundbastler der Avantgarde-Band TV on the Radio, ebenfalls aus New York. Entsprechend dem Albumtitel „Dance Mother“ sind die neun Stücke alle mehr oder weniger tanzbar. In Berlin haben das die Elektropunkerin Peaches und andere allerdings alles schon vor Jahren gemacht – nur größer, schneller und spannender. jhu