Tote 1945 in Wilhelmshagen[1]
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Tote 1945 in Wilhelmshagen[1]
Bericht über die verborgene Grabstätte im Schützenwäldchen Von Wolfgang Gericke im Februar 2011 Wenn man einen Spaziergang durch das Schützenwäldchen macht, erblickt man ein schlichtes Balkenkreuz. An dem Kreuz erinnert eine Gedenktafel an 17 Wilhelmshagener, die zwischen dem 21. und 23. April 1945 verstorben sind. Sie wurden bis auf den Lehrer Herrn Gustav Kleint im Schützenwäldchen begraben. Die Überschrift der Tafel lautet: " Von Guten Mächten wunderbar geborgen..." Sie ist einem Gedicht von Dietrich Bonhoeffer ( + 1945, im KZ Flossenburg hingerichtet ) entnommen. Die Namen der Toten: Erna Tannhäuser, Eva Tannhäuser, Karin Tannhäuser, Bruno Stabo (ital.), Elfriede Ziegenhagen, Helmut Ziegenhagen, Hildegard Strohbusch, Valeska Strohbusch, Anna Strohlbusch, Hildegard Kielau, Heinrich Hehlert, Emma Thürling, Hans Alscher und zwei unbekannte Männer, in memoriam Herr Lehrer Gustav Kleint, verstorben am 21. April 1945. Ich war damals erst acht Jahre alt, wir wohnten in der heutigen Schönblicker Straße, Ecke Weichselmünder Weg, meine Freunde waren die gleichaltrigen Kinder Renate Neumann (heute Frau Paschke), Günter Putzke (+ 1983 ), beide wohnten im Weichselmünder Weg, und Helmut Ziegenhagen (+ 1945 ), der am Anfang der Behelfsheimstraße, rechte Seite, wohnte. Von den in jenen Tagen im Schützenwäldchen begrabenen Wilhelmshagenern kannten wir die Familien Tannhäuser, Strohbusch und Ziegenhagen, einschl. Bruno. Sie alle wohnten in der Nähe unseres damaligen Hauses. Mit dem Lehrer Herrn Kleint war mein Onkel Karl Perschke aus der Langfuhrer Allee 23 befreundet. Im Namen der Toten und in meinem eigenen Namen danke ich Frau Pfarrerin Scheufele für die guten und mitfühlenden Worte, die sie bei der Einweihung und Segnung der Stätte am 7. Oktober 2010 für die Toten fand. Ein herzliches "Dankeschön" auch an Frau Neuse, der Leiterin des Wilhelmshagener Gemeindebüros, an Herrn Peth, dem Revierförster, der das Kreuz an authentischer Stelle aufstellen ließ, an Frau Knoop, Senatsverwaltung für Kriegsgräber, an Herrn Kowalke vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und an Herrn Uhrland - damals 11 Jahre alt - der sich auch an die Stelle erinnerte, an der das alte Holzkreuz stand. Mein Wissen beruht auf der eigenen Erinnerung und auf der Erinnerung an die Antworten, die meine Mutter auf meine Fragen gab. Mein Vater kam erst 1948 aus der Kriegsgefangenschaft. Die Holzhäuser der "Siedlung am Walde" - Behelfsheime - dienten Berlinern, die ausgebombt waren, als Unterkunft. Am Bau der Siedlung waren Italiener beteiligt (Antifaschisten), die nach einem Aufstand gegen Mussolini gefangen genommen worden waren. Zu ihnen gehörte auch Bruno, der mit Helmuts Mutter, Elfriede Ziegenhagen, befreundet war. Mit Helmut traf ich mich oft am Nachmittag. Wir spielten im Bereich Behelfsheimstraße, Wilhelmstraße (heute Schönblicker Str.) und Weichselmünder Weg. In den Spielpausen unterhielten wir uns, vertrauten einander auch Kindergeheimnisse an. Helmut erzählte mir, dass Bruno nachts im Garten ihres Behelfsheimes einen Erdbunker baue. Wenn die Russen kämen, würde geschossen werden, und die Holzwände würden keine Sicherheit bieten. Die Behelfsheime waren nicht unterkellert. Helmut, seine Mutter und Bruno wären aber im Erdbunker geschützt. Auch ich könne mit ihnen dort das Ende der Kämpfe abwarten. Seine Mutter und Bruno würden mich ja kennen und wären bestimmt einverstanden. Ich wollte aber lieber zu Hause bleiben und hätte auch nichts anders gedurft. Zu den befürchteten Kämpfen ist es in Wilhelmshagen nicht gekommen. Helmut Ziegenhagen, Frau Ziegenhagen und den Italiener habe ich nach dem Einmarsch der Russen nicht mehr gesehen. Als ich meine Mutter nach Helmut fragte, teilte sie mir ernst mit, dass seine Mutter und Bruno nicht mehr am Leben wären. Ich stellte weitere Fragen und sie berichtete folgendes: Als die Russen kamen, entdeckten sie den Erdbunker. Der Italiener Bruno, Frau Ziegenhagen und Helmut, die tatsächlich dort Schutz gesucht hatten und unglücklicherweise Stahlhelme trugen, weil sie mit Kämpfen und Schusswechsel rechneten, wurden von den Russen wahrscheinlich für deutsche Soldaten gehalten und sofort erschossen. Ein tragischer Irrtum. Ich erlebte "meine" ersten Russen am Tag des Einmarsches, dem 21. April, als sie den Luftschutzkeller des Hauses Schönblicker Str.77 (damals Wilhelmstr. 64) betraten. Mein Großvater, der sie draußen erwartet hatte, berichtete, dass sie von der Fürstenwalder Allee kommend, die Häuser der Wilhelmstraße und der Behelfsheimstraße überprüften. Im Luftschutzkeller hoben wir alle die Hände, einer der Soldaten, mit Stahlhelm, kam auf mich zu, drückte meine Hände langsam nach unten, sah mich an und schüttelte den Kopf. Sie fragten, ob sich Soldaten im Hause befänden, nahmen den Erwachsenen "Uri, Uri" ab, ließen ihnen aber Eheringe und Ohrringe. Bevor sie das Haus verließen, warnten sie auf Deutsch vor den nachrückenden Truppen. Ich fragte dann später meine Mutter, wo sich Helmuts Grab befinde, denn ich kannte den Wilhelmshagener Friedhof und wollte das Grab besuchen. Meine Großmutter, Emma Perschke, pflegte dort das Grab ihrer Mutter, Friederike Bartel; sie nahm mich oft dorthin mit. Helmut, seine Mutter und Bruno wurden jedoch nicht auf dem Friedhof, sondern im Schützenwäldchen begraben. In der Namensliste des Archivs der Ev. Kirche "Massengrab am Schützenwäldchen" von 1945 wird das Kind Helmut Ziegenhagen als "Herr Ziegenhagen" geführt. Wir waren gleichaltrig. Der Irrtum könnte entstanden sein, weil er einen Stahlhelm trug, als er starb. Im Archiv der Ev. Kirche befindet sich die Namensliste von 14 Wilhelmshagener, die in jenen Apriltagen umkamen und dort in Splittergräben beerdigt werden mussten, so wie deren Sterbeurkunden. Hinzu kamen zwei unbekannte Tote, deren Namen nicht festgestellt werden konnten. Die Namensliste sowie die Sterbeurkunden hat damals, in der Notsituation, der Friedhofsverwalter Herr Berthold Hauff aus der Kirchstraße 6 angelegt. Er hat auch in den Sterbeurkunden die Todesursachen vermerkt. Bestattung der Toten Die Toten wurden bei der Bestattung in Decken oder Teppiche gehüllt. Särge standen nicht zur Verfügung. Der kriegsgefangene Bruno Stabo wurde in seiner grünen Uniform ohne Rangabzeichen, die er auch bei der Arbeit trug, begraben. Am Rand der Grabstätte befand sich ein hohes Kreuz aus zwei Balken, das nach einer Reihe von Jahren etwa auf halber Höhe nach innen umbrach. Der obere Teil des Kreuzes mit Querbalken wurde nach einiger Zeit entfernt. Der untere Teil des senkrechten Balkens, gut mannshoch, blieb stehen. Als das Kreuz noch stand, befand sich etwa in Kopfhöhe Erwachsener eine Holztafel mit den Namen der dort bestatteten Toten. Die Namen konnte ich wegen meiner starken Kurzsichtigkeit nicht lesen. Ich bekam erst 1947, nach meiner ersten schulärztlichen Untersuchung, eine Brille. Mein ehemaliger Nachbar, Herr Klaus Uhrland aus Wilhelmshagen, erzählte mir, dass die Toten auf Weisung des Arztes Herrn Dr. Krakow, Wilhelmstraße, kurzfristig, meistens in Teppiche gerollt, bestattet wurden, um der Seuchengefahr vorzubeugen. Ein ehemaliger Splittergraben im Schützenwäldchen diente als Grabstätte. Zusammen mit Herrn Strohbusch errichtete Klaus Uhrland um die Grabstätte einen niedrigen Holzzaun, den beide in den folgenden Jahren regelmäßig ausbesserten. Herrn Strohbuschs Ehefrau und seine beiden Töchter waren durch Suizid nach Vergewaltigungen durch russische Soldaten umgekommen und auch dort bestattet worden. Das gleiche Schicksal erlitten Frau Tannhäuser und ihre beiden Töchter. Diese Qualen wurden leider vielen Frauen und Mädchen zugefügt. Dabei handelte es sich keineswegs um einen Bestandteil des Verteidigungskrieges der Sowjetunion, sondern um ganz gewöhnliche, oft in Gruppen und unter Alkoholeinfluss ausgeübte kriminelle Straftaten. Viele russische Soldaten lehnten diese Grausamkeiten gegen schutzlose Zivilbevölkerung ab. Es gab russische Soldaten und Offiziere, die auf eigene Verantwortung gegen exzessive, sinnlose Grausamkeit gegen Deutsche einschritten. Das tat in Ostpreußen auch mehrfach der damalige Major Lew Kopeljew. Er wurde wegen "bürgerlich humanitärer Einstellung in Form von Mitleid mit den Deutschen zu Lagerhaft für alle Zeiten" verurteilt - tatsächliche Haftdauer von 1945 bis 1955. (Vgl. Lew Kopeljew: "Aufbewahren für alle Zeit"). Auch er ist in meinen Augen ein Kriegsheld. Herr Strohbusch und Herr Tannhäuser erfuhren erst nach ihrer Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft von dem schlimmen Schicksal ihrer Familien. Die Mutter von Herrn Uhrland, Herr Uhrland und später auch seine Frau Roswitha haben viele Jahre lang die Grabstätte betreut, auch Blumen gepflanzt und gegossen. Das Wasser musste vom eigenen Grundstück mitgebracht werden. Die Russen ließen die Anlage und die Pflege des kleinen, "illegalen Friedhofes im Schützenwäldchen" stillschweigend zu, obwohl der Kommandantura der Friedhof und die Gründe für sein Entstehen bekannt waren. Später etwa 1965/66 wurde Herr Uhrland bei der Pflege der Grabstätte vom Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei ertappt und angewiesen, diese Tätigkeit ab sofort einzustellen. Der niedrige Holzzaun, der den kleinen Friedhof umgab, kippte in den darauffolgenden Jahren teilweise um, verschwand dann ganz und der Wald holte sich dieses Stückchen Erde zurück. Die Stelle unterschied sich von dem übrigen Wald bald nur noch durch ihren dichten Efeubewuchs. Der untere Teil des senkrechten Kreuzbalkens stand noch viele Jahre im nachgewachsenen Unterholz. Manchmal war ein Blumenstrauß, etwa in Augenhöhe, an den Balken gebunden. Die Holztafel mit den Namen war schon lange verschwunden, aber der untere Teil der Aussparung für die Tafel war immer noch zu erkennen. Ich war zuletzt im April 2009 dort, aber den inzwischen schwarzen, senkrechten Restbalken des Kreuzes habe ich nicht mehr gefunden. Damals ging von vielen Erwachsenen eine Art "Stummes Verbot" aus, über die Toten im Schützenwäldchen zu reden oder Fragen zu diesem Thema zu stellen. Für die Kinder war dieses Verbot unüberhörbar. Rückblickend ist dieses Tabu schwer zu erklären und wohl auch nicht beweisbar. Meine Mutter sprach nie von selbst mit mir über dieses Thema; sie beantwortete aber meine Fragen, ohne zu zögern, sachlich, nach bestem Wissen. Ferdinand Lassalle: Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist." Ich vermute, dass ein großer Teil der Rotarmisten, die sich im Krieg und in der Nachkriegszeit zu Straftaten hinreißen ließen, im Alter unter einer großen Gewissensbelastung litten, bzw. noch leiden. Von ehemaligen Bomberpiloten ist diese seelische Situation bekannt. Wie alle Großväter lieben die russischen Großväter ihre Enkeltöchter und sie erinnern sich, was sie 1945 getan haben. Und sie denken: "Hoffentlich tut niemals jemand meinen Enkelinnen an, was wir damals den deutschen Frauen und Mädchen angetan haben." Sie müssen das denken, das kann gar nicht anders sein. Ich wünsch ihren Enkelinnen, dass sie solche Qualen und Demütigungen nie erleiden werden. Es wäre aber besser gewesen, über alles, was geschehen ist, offen zu sprechen, auch über das Unbequeme. In jenen Tagen wurde der von den Russen eingesetzte Wilhelmshagener Hilfspolizist Dieter Esdohr nachts in seiner Wohnung getötet. Die Erwachsenen sprachen nur leise und vorsichtig über das schreckliche Ereignis. Vielleicht trug die Angst, ein Wort zu viel zu sagen oder eine falsche Frage zu stellen, dazu bei, dass dieser vermutliche Fememord bis heute nicht aufgeklärt wurde. Am Tag nach dem Einmarsch der Russen, also am 22. April, begegnete meiner Mutter und mir in der Langfuhrer Allee, vor dem Grundstück meines Onkels, Frau Kleint. Sie weinte sehr, als sie meiner Mutter erzählte, dass die Russen ihren Mann, meinen alten Nachhilfelehrer Herrn Kleint, erschossen hätten. Sie berichtete, dass er einen Schrank nicht geöffnet habe, in dem sich Sachen von Verwandten oder Bekannten befanden, die in der Innenstadt wohnten. Wegen der vielen Bombenangriffe hätten sie die Sachen bei der Familie Kleint untergestellt. Herr Kleint hörte schwer und verstand vielleicht gar nicht, was die Russen wollten. Deshalb wurde er erschossen. Die in den vergangenen Jahrzehnten fast vergessenen Toten haben alle, auch diejenigen, die sich aus Angst, Verzweiflung, vielleicht auch manchmal aus Scham, das Leben nahmen, ein gemeinsames Schicksal. Sie waren nicht an Kriegshandlungen beteiligt und verloren vorzeitig und gewaltsam ihr Leben. Seit dem 7. Oktober 2010 erinnert das Balkenkreuz an authentischer Stelle mit den Namen von 14 der 16 dort bestatteten Wilhelmshagenern, und dazu gehört hier auch der Italiener Bruno, an das Schicksal von Menschen, die einmal unter uns lebten. Millionen Menschen haben im Krieg in den schrecklichen Lagern, in der Gefangenschaft, in Euthanasie - »Kliniken", auf Transporten, und auf der Flucht ihr Leben verloren. Niemand weiß, wo sie geblieben sind. Jeder, den sein Weg zu unserem Gedenkkreuz führt, ist eingeladen, auch der heimatlosen Toten - gleich welcher Nationalität -zu gedenken. Berlin, im Februar 2011 Wolfgang Gericke