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2. Bayerisches Fibromyalgie-Forum 11.5.2013 Psychotherapie beim Fibromyalgiesyndrom Winfried Häuser Klinikum Saarbrücken Innere Medizin I MVZ Schmerz- und PalliativMedizin und Psychotherapie Saarbrücken Peter Henningsen Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie TU München Übersicht • Psychotherapie beim FMS – Grundlagen – Indikationen – Wirksamkeit – Grenzen – Empfehlungen für die Praxis Grundlagen • Update 2012 der deutschen S3-Leitlinie zum FMS • S3-Leitlinie zu nichtspezifischen/funktionell en/ somatoformen Körperbeschwerden www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/041-001.html www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-001.html FMS – biopsychosoziales Modell • Prädisponierend – Adipositas, Bewegungsmangel, Rauchen (EL1b) Schlafstörungen, depressive Störung (EL1b) – Sexueller Missbrauch, körperliche Gewalt (EL3a) • Auslösend – Chronische psychosoziale Belastungen, belastende Lebensereignisse (EL 3b) – Entzündlich rheumatische Krankheiten (EL 3b) • Chronifizierend – Depressive und posttraumatische Belastungsstörungen (EL4a) – Lernmechanismen (EL4a) Klassifikation • Die Kriterien eines FMS (M79.70) und die einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (F45.40) bzw. einer chronischen Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren (F45.41) erfassen zum Teil überlappende, zum Teil unterschiedliche klinische Charakteristika von Personen mit CWP ohne spezifischen somatischen Krankheitsfaktor. • Das FMS ist nicht pauschal mit einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung bzw. einer chronischen Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren gleichzusetzen. • EL3a, starker Konsens. Klassifikation • Das FMS kann mit depressiven Störungen assoziiert sein (EL 1b). Das FMS ist aber nicht als depressive Störung zu klassifizieren (EL3a), starker Konsens • Konsensbasierte Feststellung: Das FMS kann als funktionelles somatisches Syndrom klassifiziert werden. EL5, Mehrheit Klassifikation • Evidenzbasierte Feststellung: Anhand klinischer Charakteristika können unterschiedlich schwere Verlaufsformen unterschieden werden. Eine allgemein anerkannte Schweregradeinteilung existiert jedoch nicht. EL5, starker Konsens. Schweregrade des FMS leichtere (unkomplizierte) Verläufe • 50-75% Anzahl/ Art der Beschwerden Häufigkeit/ Dauer der Beschwerden Krankheitswahrnehmung Krankheitsverhalten funktionelle Beeinträchtigung psychosoziale (evtl. auch biographische) Belastung psychische Komorbidität Behandler-PatientBeziehung medizin-systemische und iatrogene Aspekte schwerere (komplizierte) Verläufe Leichtgradig (“yellow flags“): 10-30% –mehrere Überwiegend eine oder wenige Beschwerden Beschwerden (mono-/ oligosymptomatischer Verlauf) (polysymptomatischer Verlauf) muskuloskelettale Beschwerden, selten bzw. kurz (längere ohne oder nur mit seltenen/geringe kurzen beschwerdefreie Intervalle) beschwerdefreien Intervallen Aktivitätsstörungen weitgehend adäquat starke Krankheitsängste • Mittelgradig – Muskuloskelettale und weitgehend adäquat, z.B. hohes, dysfunktionales andere körperliche angemessenes InanspruchnahmeInanspruchnahmeverhalten, Beschwerden, mäßige verhalten Schonu. Vermeidungsverhalten psychische>4 Symptomgering Arbeitsunfähigkeit Wochen, sozialer Rückzug belastung, mäßige Aktivitätsstörungen leichtgradige oder nur kurzzeitige hohe Belastungen in Lebenssituation Stressoren und Biographie (Traumatisierung) • Schwergradig keine relevante psychische schwerere psychische Komorbidität – Muskuloskelettale und Komorbidität (Depression, Angst, PTSD, Sucht, andere körperliche Persönlichkeitsstörung) ausgeprägte kooperativ (vonBeschwerden, beiden) als „schwierig“ erlebt, frustrierend, häufige Behandlungspsychische Symptomabbrüche belastung, ausgeprägte keine iatrogenen Faktoren iatrogene Faktoren (z.B. invasive Aktivitätsstörungen Maßnahmen) Häuser. Med Sach 2002;98.209-12 Beispiel 1 • • • • Weiblich, 39 Jahre In Kindheit häufig Kopf- und Knieschmerzen Mit 32 J Kreuzschmerzen, mit 36 J Ganzkörperschmerz Gelegentliches Sodbrennen und Stuhlunregelmäßigkeiten ohne Leidensdruck oder medizinische Behandlung • Beeinträchtigungen: Keine schwere Hausarbeit, kein Tennis Beispiel 2 • Weiblich, 43 Jahre • Als Kind häufig Kopfschmerzen • Seit 27. LJ Knieschmerzen, mehrere Arthroskopien und über 100 intraartikuläre Injektionen • Mit 32 Jahren Ausdehnung auf rechtes Bein • Mit 34 J Ganzkörperschmerz • Mit 37 J Radiusfraktur, Minderung grobe Kraft bei schmerzbedingter Schonhaltung • Seit 3 Jahren häufig Bauchschmerzen, 3-8 dünne Stühle/d; Pollakisurie und Dysurie; ergebnislose endoskopische und urologische Diagnostik sowie frustrane medikamentöse Behandlungsversuche • Häufig offene Hände bei Ekzem • Bei Latexallergie seit 5,5 Jahren krankgeschrieben, seit 4 Jahren arbeitslos, Rentenverfahren seit 5 J • Aktivitäten: Hält sich fast nur im Haus auf; hilft beim Kochen, unstrukturierter Tagesablauf;keine Hobbies oder soziale Aktivitäten Beispiel 2 • Als Kind sehr ängstlich; Vater alkoholabhängig und physisch gewalttätig • Kein Schulabschluss, Tätigkeit als Küchenhilfe • Mit 23 J. nach Tod der Großmutter und mit 32 J. depressive Episode nach Tod älterer Schwester (wichtigste Bezugsperson) • Seit 32. LJ ambulante psychiatrische Behandlung (Antidepressiva verschiedener Klassen ohne Erfolg) und ambulante PT (2 Jahre) Patient Health Questionnaire 4 Indikation fachpsychotherapeutische Untersuchung a. Hinweisen auf vermehrte seelische Symptombelastung (Angst, Depression) b. Anamnestische Angaben von aktuellen schwerwiegenden psychosozialen Stressoren c. Anamnestische Angaben von aktuellen oder früheren psychiatrischen Behandlungen d. Anamnestische Angaben von schwerwiegenden biographischen Belastungsfaktoren e. Maladaptive Krankheitsverarbeitung f. Subjektive psychische Krankheitsattributionen Konsens Informationen bei Erstdiagnose • Klinischer Konsenspunkt: – Der Patient soll darauf hingewiesen werden, dass seinen Beschwerden keine organische Krankheit („Fibromyalgie“ im Sinne einer distinkten rheumatischen Krankheit), sondern eine funktionelle Störung zu Grunde liegt. – Die Legitimität der Beschwerden soll versichert werden. – Die Beschwerden des Patienten sollen mit Hilfe eines biopsychosozialen Krankheitsmodells, das an die subjektive Krankheitstheorie des Patienten anknüpft, in anschaulicher Weise erklärt werden, z.B. durch das Vermitteln psychophysiologischer Zusammenhänge (Stress, Teufelskreismodelle). – Eine Information über die Ungefährlichkeit der Beschwerden soll erfolgen. – Die Möglichkeiten des Patienten, durch eigene Aktivitäten die Beschwerden zu lindern, soll betont werden. Starker Konsens Allgemeine Behandlungsgrundsätze • Klinischer Konsenspunkt: Bei leichten Formen des FMS soll der Patient zu angemessener körperlicher und psychosozialer Aktivierung ermutigt werden. Starker Konsens. Allgemeine Behandlungsgrundsätze • Klinischer Konsenspunkt: Bei schweren Verläufen sollen mit dem Patienten körperbezogene Therapien, eine zeitliche befristete medikamentöse Therapie sowie multimodale Therapien * besprochen werden. Konsens. * Kombination Entspannung und/oder kognitive Verhaltenstherapie mit aerobem Training Allgemeine Behandlungsgrundsätze • Klinischer Konsenspunkt: Patienten mit schweren Verläufen, die auf die genannten Maßnahmen nicht ausreichend ansprechen, sollen mit multimodalen Programmen nach dem deutschen Operationen- und Prozedurenschlüssel OPS und bei psychischer Komorbidität mit störungsspezifischer Psycho- und /oder medikamentöser Therapie behandelt werden. Starker Konsens Allgemeine Behandlungsgrundsätze • Klinischer Konsenspunkt: Für die Langzeittherapie sollten die Betroffenen Verfahren einsetzen, welche sie eigenständig im Sinne eines Selbstmanagements durchführen können: z. B. an das individuelle Leistungsvermögen angepasstes Ausdauerund/oder Krafttraining, Stretching, Wärmetherapie. Starker Konsens Starke Empfehlungen • Aerobes Training (niedrig dosiert) • Entspannungstraining kombiniert mit aerobem Training • Kognitive Verhaltenstherapie kombiniert mit aerobem Training • Krafttraining (niedrig dosiert) • Meditative Bewegungstherapien Empfehlungen • Amitriptylin 10-50 mg/ • Duloxetin bei komorbiden depressiven und generalisierten Angststörungen 60 mg/d • Thermalbäder Offene Empfehlungen • Akupunktur • Biofeedback • Duloxetin –off label use bei fehlenden komorbiden depressiven und Angststörungen • Hypnose/geleitete Imagination • Kognitive Verhaltenstherapie • Muskeldehnung • Pregabalin –off label use bei fehlenden komorbiden depressiven und Angststörungen • Serotoninwiederaufnahmehemmer bei komorbiden depressiven und Angststörungen Stark negative Empfehlungen • • • • • • • • • • Anxiolytika Entspannungsverfahren als Monotherapie Hormone (z. B. Kortikosteroide) Hypnotika Intravenöses Ketamin und Lokalanästhetika Massage Natriumoxybat Neuroleptika Starke Opioide Serotoninrezeptorantagonisten Was kann Psychotherapie beim FMS erreichen? • Im Durchschnitt: „ein wenig“ (nicht besser oder schlechter als Medikamente oder Ausdauertraining) – Nüesch, Häuser et al. Ann Rheum Dis. 2012 Jun 27. Erläuterung:Netzwerkmetaanalyse von RCTs • Im Einzelfall: sehr viel Cochrane Review: Kognitiv behaviorale Therapien beim FMS • 24 Studien, 2031 Patienten • Schmerz: Ausgangswert 7.4 (0-10 Skala): Durchschnittliche Reduktion von 0.5 Punkten am Therapieende und von 0.6 Punkten bei Nachuntersuchung (6 Monate) • Depressive Stimmung: Ausgangswert 6.8 (0-10 Skala): Durchschnittliche Reduktion von 0.7 Punkten am Therapieende und von 1.3 Punkten bei Nachuntersuchung (6 Monate) • Beeinträchtigungserleben: Ausgangswert 2.8 (0-10 Skala): Durchschnittliche Reduktion von 0.7 Punkten am Therapieende und von 1.2 Punkten bei Nachuntersuchung (6 Monate) Bernardy, Häuser et al., 2013, in press Psychodynamische Kurzzeittherapie beim FMS und komorbider Angstoder depressiver Störung • 23 Patientinnen erhielten 25 Sitzungen Kurzzeitpsychotherapie (25 h) – Verbesserung Lebensqualität um 7 Punkte (0-100 Skala) – Reduktion Depression um 0.6 Punkte (0-21 Skala) • 23 Patienten erhielten 4 Sitzungen supportive Therapie (4 Stunden) – Verbesserung Lebensqualität um 9 Punkte (0-100 Skala) – Verschlechterung Depression um 0.4 Punkte (021 Skala) Scheidt et al. Gen Hosp Psych 2013; 35(2):160-7 Behandeln Sie Responder und keine Mittelwerte • Mittelwerte lassen keine unmittelbaren Schlussfolgerungen auf die Zahl der Patienten zu, die von der Therapie profitieren Managers and trialists may be happy for treatments that work on average; Patients expect their doctors to do better than that Grimley Evans J. Evidence-based or evidence-biased medicine? Age Ageing 1995;24:461–3. Was können kognitive Verhaltenstherapien beim FMS erreichen? • 15 Wochen, 2 h/ Woche Gruppenpsychotherapie (125 FMS-Patientinnen) • Follow-up nach 12 Monaten • 50% Schmerzreduktion: – 54% operante Therapie, 45% klassische kognitive VT, 5% Aufmerksamkeitskontrolle • 50% Reduktion FIQ körperliche Beeinträchtigung: – 58% operante Therapie, 38% klassische kognitive VT, 3% Aufmerksamkeitskontrolle Thieme. AC&R 2007;57:830-6 Psychodynamische vs. CBT bei somatoformer Schmerzstörung - Dauer Therapie 6 Monate - 76 Patienten mit 56 h klassischer kognitiver VT - 73 Patienten mit 60 h psychodynamischinteraktionelle Therapie - Katamnese 6 Monate nach Therapieende www.dr-frank-petrak.de/fileadmin/pdf/Vortraege/Petrak_et_al._DGVM_2007.pdf Was kann multimodale Therapie beim FMS erreichen? • Maßgeschneiderte CBT und aerobes Training beim FMS-Patientinnen (58 kombinierte Therapie, 90 Warte-Liste) • Retrospektive Einschätzung der Patientinnen: • Schmerz: 27% keine, 36% geringe, 28% mäßige und 9% starke Verbesserung • Müdigkeit: 27% keine, 50% geringe, 18% mäßige, 5% starke Verbesserung Koulil. AC&R 2009; 12: 1626–1632 Grenzen der Psychotherapie beim FMS • 52 Jahre; seit 6 Jahren chronische Schmerzen mehrere Körperregionen; Reizmagen und – darm; Restless legs Syndrome • Ungelernte Arbeiterin, seit 1,5 Jahren krankgeschrieben, Rentenantrag abgelehnt • Verlässt Haus nur noch zu Arztbesuchen, Hausarbeit von Lebensgefährten übernommen • Therapie – Hausarzt/Orthopäde: Diclofenac/Codein, dann Oxycodon (3x20 mg) – Schmerztherapeut: 75 mg Amitriptylin – Psychiater: 20 mg Citalopram – Eigenständige Aktivitäten: Keine Biographische Anamnese – 3. von 4 Geschwister – Beide Eltern vermehrter Alkoholkonsum; emotionale Vernachlässigung und körperliche Gewalt gegen Kinder – In der Schule wegen Hautfarbe gehänselt – 2 Ehen mit körperlicher Gewalt durch alkoholkranke Männer – Übernahme Elternhaus vor 15 Jahre; Mutter lebt in Haus, keine getrennten Wohnungen; Mutter lässt sich „bedienen“; Pflegefall seit 1,5 Jahren – Ungelernte Arbeiterin in Dauernachtschicht („Erholung von Mutter“) – Seit FMS-Diagnose haben Geschwister Pflege Mutter übernommen Psychiatrische Anamnese – Seit Kindheit vermehrt ängstlich – Sekundäre Enuresis in Schule – Depressive Episode mit ambulanter psychotherapeutischer Behandlung während 1. Ehe – Aktuelle Belastungen • Selbstwertprobleme (Keine Arbeit, 30 kg Gewichtszunahme) • Partnerschaftsprobleme (Sexualität) • Finanzielle Probleme (Hausverkauf?) Ergebnis psychosomatische Rehabilitation • „Die Distanz zum problembelasteten häuslichen Umfeld und die vermehrte Beachtung eigener Leistungsgrenzen ermöglichte eine Reduktion der depressiven- und Erschöpfungssymptomatik. Die Intensität der Schmerzen konnte nur ansatzweise reduziert werden „ Negative prognostische Faktoren beim FMS • Multiple biographische Belastungsfaktoren bei Fehlen protektiver Faktoren • Psychische und psychosomatische Symptome in Kindheit und Jugend • Negative finanzielle Folgen der Krankheit • Sozialgerichtsverfahren • Sekundärer Krankheitsgewinn • Unzureichende deutsche Sprachkenntnisse Negative prognostische Faktoren beim FMS • Fehlendes Konzept der Verhaltensänderung bei Patient und Behandlern • Nicht-indizierte Behandlungen • Sekundärer Behandlergewinn • Kränkungen durch Gutachter Empfehlungen für die Praxis • Screening auf psychische Störungen und psychosoziale Belastungen • Abgestufte Therapie – Alle Patienten: Angemessene Information – Viele Patienten: Fachpsychotherapie psychische Komorbidität – Einige Patienten: Stationäre multimodale Therapie mit Schwerpunkt körperliche Aktivierung und psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung „Palliative“ psychosomatische Grundversorgung bei chronisch schweren Verläufen – Niedrigfrequente, nicht-beschwerdekontingente Kontakte – Möglichkeit der Krisenintervention – Vermeidung nicht indizierter Therapien (z. N. hochdosierte Opioide, invasive Schmerztherapien, Operationen – Erhalt der aktuellen Funktionsfähigkeit bzw. Verlangsamung der Verschlechterung der Funktionsfähigkeit Was kann Psychotherapie „bestens“ beim FMS bewirken ? • Schmerz (und andere körperliche Beschwerden) haben - ohne zu leiden – Kein „FMS-Patient“ mehr sein • Überwindung / Reduktion psychosozialer Belastungen • Versöhnung mit der eigenen Biographie und den eigenen körperlichen Grenzen – Zufrieden mit Leben sein – trotz gesundheitlicher Probleme Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit !