Vom Text der Wissenschaft

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Vom Text der Wissenschaft
GEORG JÄGER
Vom Text der Wissenschaft
Überlegungen zum Wandel des Textbegriffs
im Rahmen vernetzter EDV-Kommunikation
I n h a lt
1 Der Gegenstandsbereich 2 Fragestellung und Argumentation 3 Der
Text im Rahmen der Druckkultur und der EDV-Kultur | 3.1 Der Autor und
sein Werk | 3.2 Dynamische und offene Texte in Netzen 4 Zur Entwicklung elektronischer Archive und Zeitschriften | 4.1 Die Initiative der Hochenergiephysik | 4.2 Experimente interaktiven Publizierens: „Open Peer
Commentary“ | 4.3 Elektronische Publikationen in der Trägerschaft von
Fachgesellschaften 5 Der wissenschaftliche Artikel im Netz
1 Der Gegenstandsbereich
Im Bereich der Naturwissenschaften, einschließlich der Mathematik, der Technik und
der Medizin1 wurden die Möglichkeiten elektronischen Publizierens am frühesten
aufgegriffen und werden dort heute nachhaltig genutzt. In erster Linie sind davon die
Fachzeitschriften betroffen, die der Veröffentlichung, Verbreitung und Kritik neuer
Forschungsergebnisse dienen. Diese Zeitschriften, deren Autoren- und Leserkreis sich
weitgehend decken, wenden sich an ein kleines Fachpublikum und werden meist nur
von Forschungsbibliotheken angeschafft. „The scholarly community is in the business
of writing papers, giving them to publishers, and then buying them back as journals
and books.“2 Harnard, einer der Pioniere wissenschaftlicher E-Zeitschriften, spricht
von „esoteric serial literature“ mit weniger als 20 gründlichen Lesern und schätzt deren Umfang in allen Disziplinen weltweit auf etwa 130.000 Titel.3 Die Anfänge der
elektronischen Zeitschriften gehen auf die späten 80er Jahre zurück, rein elektronische
Fachorgane auf dem Internet gibt es seit den frühen 90er Jahren.4 Verlage wie Reed
Elsevier - mit mehr als 1.100 Zeitschriften und einem Publikationsvolumen von rund
100.000 Artikeln im Jahr - Springer, Academic Press oder MIT Press (mit 400, 184
1
Künftig abgekürzt als STM-Bereich =Scientific, Technical, Medical publishing.
Odlyzko, Andrew: Tragic Loss or Good Riddance? The Impending Demise of Traditional
Scholarly Journals. In: The Journal of Universal Computer Science, vol.0, no.0 (1994), S.353. Hier Kap.9.6: Publishers. URL:
http://cs.joensuu.fi:8000/tragic_loss_or_good_riddance_html
3
Harnad, Stevan: The Postgutenberg Galaxy: How To Get There from Here. Eine gekürzte
Version erschien erstmals in: Times Higher Education Supplement, 12. Mai 1995. URL:
http://cogsci.soton.ac.uk/harnad/THES/thes.html
4
Odlyzko: Tragic Loss (Anm.2). Hier Kap.6: Electronic journals. - Eine Liste von EZeitschriften bietet die Auswahlbibliographie von Chan, Leslie K.W.: Electronic Publishing
and Scholarly Communication on the Internet. URL:
http://citd.scar.utoronto.ca/capa/e-publishing.html
2
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bzw. über 40 Zeitschriften) stellen gegenwärtig elektronische Parallelausgaben her,
experimentieren mit elektronischen Online-Zeitschriften und bieten über spezielle
kostenpflichtige Dienste - ScienceDirect bei Elsevier, The LINK Information Service
bei Springer, IDEAL. International Digital Electronic Access Library von Academic
Press - die Recherche in ihren Datenbeständen und den Zugriff auf die Artikel an.
Elektronische Zeitschriften antworten auf die Krise des wissenschaftlichen Publikationswesens, die durch die exponentielle Zunahme von Forschungsarbeiten hervorgerufen wurde.5 Der steigende Publikationsbedarf und die immer weitere Spezialisierung
der Fächer ließ die Zahl der Fachorgane anwachsen, während gleichzeitig die Bibliotheksetats stagnierten oder zurückgingen, so daß immer weniger neue Zeitschriften
angeschafft und alte abbestellt wurden. Dies wiederum hatte sinkende Absatzzahlen
und steigende Preise zur Folge, so daß ein Kreislauf entstand, der die Literaturversorgung der Wissenschaftler stetig verschlechtert. Auch von Verlegerseite6 wird elektronisches Publizieren als eine Lösung dieser Krise angesehen: „The opportunity of electronic publishing is that it can break this cycle.“
Die Schätzungen über die Kostenersparnis, die im angelsächsischen Bereich im Umlauf sind, unterscheiden zwischen elektronischen Zeitschriften, die von Verlegern, und
solchen, die von Wissenschaftlern, ihren Gesellschaften oder Bibliotheken, getragen
werden. Ermäßigen sich im Vergleich mit einer Druckversion die Kosten im ersten
Fall um 20-30 %, so wird von manchen Wissenschaftlern erwartet, daß sie im zweiten
Fall um 70-80 % sinken.7 Begründet wird dies damit, daß die Wissenschaftler viele
Tätigkeiten (Edition, Redaktion, Begutachtung) in der Regel schon immer umsonst
ausgeübt haben und jetzt zusätzlich die Herstellung und Distribution von ihren Arbeitsplätzen aus erfolgen kann und somit Marketing-, Werbe- und Vertriebskosten
entfallen;8 „electronic publishing has diminished the difference between editorial,
production and distribution tasks“.9 Qualitätseinbußen in der Gestaltung werden dabei
in Kauf genommen. Unterteilt man den Publikationsprozeß in eine erste Phase von der
5
Ebd. Kap.2: Growth of literature.
McKay, Peter (Academic Press, London): Scholarly Electronic Publishing As Seen By A
Large Commercial Publisher. URL:
http://www.vtt.fi/inf/nordep/proceedings/epsem96/McKay_Peter.html
7
Vgl. die Vollkostenschätzungen von Odlyzko: Tragic Loss (Anm.2). Kap.9.4: Costs of present system, und Kap.9.5: How much should journals cost?
8
Vgl. Harnad, Stevan: Implementing Peer Review on the Net: Scientific Quality Control in
Scholarly Electronic Journals. In: Scholarly Publishing: The Electronic Frontier. Hrsg. von
Robin P. Peek, Gregory B. Newby. Cambridge, MA, MIT Press, 1996. URL:
http://www.infotrain.unisa.edu.au/epub/Resources/Biblio-graphy/Harnad95a.txt
- Auf kritische Fragen (auch nach den Kosten des Netzes) geht Harnad ein in: Electronic
Scholarly Publication: Quo Vadis. To appear in: Proceedings of the International Conference
on Refereed Electronic Journals: Toward a Consortium for Networked Publications, Winnipeg, Manitoba, Canada, October 1-2, 1993. Gleiche Adresse, unter „Harnad95b“.
9
Paliwala, Abdul: From academic tombstones to living bazaars: The chancing shape of Law
Reviews. In: The Journal of Information, Law and Technology (JILT), 1966, issue 1. URL:
http://jilt.law.strath.ac.uk/elj/jilt/issue1/abdul/default.html
6
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Einreichung bis zur Annahme und in eine zweite von der Annahme bis zur Veröffentlichung des Beitrages, so minimieren sich Kosten- und Zeitaufwand der zweiten Phase.10 Da viele Wissenschaftler von den Vorzügen elektronischen Publizierens überzeugt sind, gehen die elektronischen Parallelausgaben sowie die Neugründungen von
Online-Zeitschriften meist auf ihren Wunsch und ihre Initiative zurück.
Die Pioniere elektronischen Publizierens unter den Wissenschaftlern, wie Paul
Ginsparg, Stevan Harnad oder Andrew Odlyzko, spielen die E-Zeitschrift gegen die PZeitschrift aus und prognostizieren deren baldiges Ende. Das Papier als Informationsträger „was difficult to produce, difficult to distribute, difficult to archive, und difficult to duplicate - a medium that hence required numerous local redistribution points
in the form of research libraries.“11 Die Kommunikation innerhalb eng begrenzter
Wissenschaftlerkreise sei auf elektronischem Weg billiger und schneller, da der Autor
seinen Beitrag entweder selbst oder über eine elektronische Zeitschrift oder ein elektronisches Archiv - das seinen Text automatisch aufbereitet, indexiert und möglicherweise auch verlinkt - über das Netz distribuiert. In der elektronischen Kommunikation
entfallen die klassischen Aufgaben von Verlagen im Druckzeitalter - Produktion und
Distribution. Um so größerer Bedarf entsteht „for organization of intellectual valueadded“.12 Dieser zusätzliche Wert entsteht durch eine intelligente Aufbereitung und
Verknüpfung der Daten sowie durch Schaffung eines fruchtbaren Umraums durch
Verlinkung der Texte. „The publisher ist now the >intelligent agent< responsible for
creating useful links.“13
Obwohl den Verlegern somit eine neue Aufgabe im Publikationsprozeß zufällt, haben
Ginsparg und Harnad mit dem Grundsatz „if we the researchers are not writing with
the expectation of making money directly from our efforts, then there is no earthly
reason why anyone else should make money in the process“ eine Front zwischen wissenschaftlichem („scholarly publication“) und gewinnorientiertem Publizieren („trade
publication“) aufgebaut.14 Wegen der Vernachlässigung materieller Bedingungen des
Denkens zog sich Harnad zwar den Vorwurf „Cyberplatonism“ zu,15 doch wurden
10
Jog, Vijay: Cost and Revenue Structure of Academic Journals: Paper-based versus Ejournals. Submitted to: Virtual Products, Industry Canada. Die Studie errechnet eine Kostenersparnis von 28 bis 48 %. URL:
http://schoolnet2.carleton.ca/english/biz/economics/vijayiog.html
11
Ginsparg, Paul: Winners and Losers in the Global Research Village. Invited contribution für
Conference „Electronic Publishing in Science“ held at UNESCO HQ, Paris 19-23 Feb 1996,
during session Scientist’s View of Electronic Publishing and Issues Raised, Wed 21 Feb
1996. Internet-Andresse: http://xxx.lanl.gov/blurb/pg96unesco.html
12
Ebd. Kap.8: Cloudy Futures.
13
Hunter, Karen: Adding Value by Adding Links. In: The Journal of Electronic Publishing,
vol.3, issue 3 (March 1998). URL: http://www.press.umich.edu/jep/03-03/hunter.html
14
Ginsparg (Anm.11), Kap.3: Scholarly vs. Trade Publication.
15
Der Ausdruck wurde von Steve Fuller in seiner Erwiderung vom 12. Mai 1995 auf Harnads
Artikel The Postgutenberg Galaxy: HowTo Get There From Here (Anm.3) geprägt. URL:
http://cogsci.soton.ac.uk/ harnad/THES/fuller.html
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seine Vorschläge von den wissenschaftlichen Gesellschaften unterstützt, die in den
USA viele Fachzeitschriften selbst verlegen. Der Schulterschluß zwischen Forschern
und wissenschaftlichen Bibliothekaren,16 der sich in den USA vollzog, nahm die Interessenkollision mit privatwirtschaftlichen Verlegern vorweg, die in der aktuellen deutschen Diskussion (vgl. Kap. 4.3) auffällt.
2 Fragestellung und Argumentation
Der skizzierte Problemkreis wird unter einem speziellen Aspekt thematisiert: dem
Wandel wissenschaftlicher Textformen im Rahmen der Kommunikation über Netze.
Texte - die neben sprachlichen Bestandteilen auch graphische und bildliche Elemente
enthalten können - sind die grundlegenden Kommunikationsmittel der Wissenschaft.
Denn die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse werden in Gestalt von Texten veröffentlicht, im STM-Bereich fast ausschließlich in Zeitschriftenartikeln und Konferenzpapieren. Wandlungen in den Textformen betreffen somit die zentralen Kommunikationsbedingungen der Forschung.
Man kann annehmen, daß der Wandel von Texten, die der wissenschaftlichen Kommunikation dienen, wissenschaftsintern motiviert ist und funktionalen Erfordernissen
des wissenschaftlichen Betriebes Rechnung trägt. In der Tat läßt sich belegen (vgl. die
Beispiele in Kap.4 und 5), daß die Möglichkeiten der DV genutzt werden, um kommunikative Innovationen, die sich bereits unter den Bedingungen des Druckes herausgebildet hatten, effizienter, schneller oder kostengünstiger umzusetzen. Grundlegende
Erfordernisse der Wissenschaft - wie die Sicherung von Qualitätsstandards im Publikationswesen oder die dauerhafte Zugriffsmöglichkeit auf identische Texte - sind indessen medienunabhängig und werden auch im Internet, das für seine ‘Flüchtigkeit’
bekannt ist, aufrechterhalten. Wo sich Wissenschaft als gesellschaftliches System mit
eigener ‘Ratio’ und eigenen Imperativen ausgebildet hat, wird sie an Kommunikationsmedien die Funktionsfrage stellen. Den neuen medialen Bedingungen dürfte folglich eine katalysatorische, jedoch keine konstitutive Bedeutung für wissenschaftliche
Prozesse zukommen - auch wenn Propagandisten der neuen Medien anfangs anders
dachten. So kann z.B. die in der Netzkommunikation vorstellbare ‘Demokratie’ - jeder
gibt kund, was er meint - nichts daran ändern, daß wissenschaftlicher Fortschritt an
einen rigiden Auslese- und Wertungsprozeß gebunden ist. In ihrem Kern, der Feststellung ‘richtigen’ Wissens, hat wissenschaftliche Kommunikation die Funktion eines
Filters; ‘richtiges’ Wissen bleibt unter allen medialen Bedingungen ein knappes Gut.
16
Harnad spricht in seinem einflußreichen Aufsatz Post-Gutenberg Galaxy: The Fourth Revolution in the Means of Production of Kowledge von „a strategic pro-revolutionary alliance
among libraries, learned societies and universities“. Erstdruck in: Public-Access Computer
Systems Review 2,1 (1991), S.39-53. URL:
http://www.infotrain.unisa.edu.au/epub/Resources/Bibliography/Harnad91.txt
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Im Folgenden werden zunächst einige Kennzeichen der Kommunikation im Rahmen
der Druckkultur und der EDV-Kultur einander kategorial gegenübergestellt. Daraufhin
skizziere ich wegweisende Entwicklungen im elektronischen Off-line-Publizieren, um
abschließend die sich abzeichnenden Konsequenzen für den wissenschaftlichen Artikel zusammenzufassend zu überdenken. Die Beispiele entstammen großenteils der
Mathematik, den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern, die auf dem Feld
elektronischen Publizierens wegweisend tätig sind; die Frage der Übertragbarkeit auf
die Geistes- oder Kulturwissenschaften kann hier nicht diskutiert werden. Da die Diskussion über elektronisches Publizieren großenteils auf dem Netz geführt wird, sind
die meisten Artikel dem World Wide Web17 entnommen.
3 Der Text im Rahmen der Druckkultur und der EDV-Kultur
3.1 Der Autor und sein Werk
Das ‘Typographeum’ - wie Giesecke18 das Druckzeitalter bezeichnet - kann als Transformationsmaschine verstanden werden, die eine Eingabe in eine Ausgabe umwandelt.
Es hat eine feste Eingabe- und Ausgabestelle: An der Eingabestelle das Manuskript
des Autors, das in den Satz verwandelt wird, der im Druck als Negativform dient; an
der Ausgabestelle die im Druckvorgang hergestellte Positivform auf Papier. Wie dieser Hinweis verdeutlicht, läßt sich die drucktechnische Herstellung auf eine mehrfache
Spiegelung von Mustern - vom Entwurf der Letter bis zum fertigen Ausdruck - zurückführen, die eine Multiplikationspyramide in Gang setzt.19 Für das Manuskript
bedeutet dies, daß ein Unikat durch Umwandlung in ein Druckwerk in vielfachen textidentischen Exemplaren verbreitet wird. Die Druckkultur hat dadurch die Massenkommunikation geschaffen, für die charakteristisch ist, daß eine identische Botschaft
von einem Sender an viele Empfänger, ein disperses Publikum, distribuiert wird.
Das Typographeum läßt sich durch eine offene Reihe von Merkmalen charakterisieren, die es vom EDV-Zeitalter abheben. Für die folgende Argumentation sind vier
Punkte hervorzuheben:
1. Die feste Eingabe- und Ausgabestelle hat zur Folge, daß sich die Rollen von Autor
(auf der Eingabeseite) und Käufer bzw. Leser (auf der Ausgabeseite) ausdifferenzieren. Der Raum, der sich zwischen ihnen öffnet, schafft ein Informations- und Organisationsproblem, das der Buchhandel zu seiner Entwicklung genutzt hat. Mit dem
Buchhandel - so hat Wittmann20 das Problem zusammengefaßt - "kam der Vermittlung
17
Die Adressen (URL = Uniform Resource Locator) entsprechen dem Stand von Februar/März
1998.
18
Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über
die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt/M.:
Suhrkamp, 1991, S.107-121.
19
Vgl. das Schaubild ebd., S.84.
20
Wittmann, Reinhard: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick. München:
C.H.Beck, 1991, S.28.
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zwischen Produktion und Rezeption erstmals grundlegende Wichtigkeit für das gesamte Kommunikationssystem zu. Diese Wechselbeziehung von Herstellung und Vertrieb spielt für die Ware Buch eine zentrale Rolle. Der in größeren Mengen erfolgenden Herstellung steht der Vertrieb von einzelnen Exemplaren gegenüber, der jeweils
nur einen winzigen Bruchteil der Unkosten tragen kann. Gleichsam spiegelbildlich zu
diesem Spannungsverhältnis von zumindest tendenziell massenhafter Herstellung und
individuellem Vertrieb bzw. stückweisem (und jeweils nur einmaligem) Absatz verhält
sich jenes zwischen dem Einzelverleger als Unternehmerpersönlichkeit und einer kollektiven Organisation des Vertriebs."
Das Auseinandertreten von einmaliger, massenhafter und zentraler Herstellung und
einem dezentralisierten Verkauf über längere Zeiträume und größere Gebiete ist eine
Folge der Trennung von Speicherung und Distribution im Druckzeitalter: Als Speichermedium dient das Printprodukt, das der Verleger herstellt, als Distributionsmedium fungiert der Buchhandel.
2. Das Manuskript, das zur Transformation in den Druck eingegeben wird, verweist
zurück auf den Autor als geistigen Urheber oder Schöpfer. Gemäß der im Typographeum verabredeten Regelung entspringt der Text in seiner Form bzw. Struktur
dem Schöpfungsakt eines Individuums. Dementsprechend gibt der Autor nach der
letzten Korrektur durch sein Impressum den Satz zum Druck frei. Die Gelenkstelle der
Argumentation - eine Gleichung, die von beiden Seiten her gelesen werden kann - hat
Bosse21 im Titel seines Buches festgehalten: „Autorschaft ist Werkherrschaft“. Dabei
bezeichnet der Begriff ‘Werk’22 den ein für allemal in seinen Grenzen zu anderen Texten und seiner Binnenstruktur festgestellten Text. Durch den Autorwillen legitimiert er
sich in seiner jeweiligen Form und erhält Authentizität.
3. Der Text in seinem ausgedruckten Zustand ist endgültig, unwandelbar und auf ewig
fixiert (jedenfalls solange, wie das Papier nicht zerstört wird). Die Metapher des Textes als Monument, im Handschriftenzeitalter geprägt, wird erst im Druck, der die
Sachdimension des Textes hervorhebt - es ist immer dieser eine und kein anderer Text
- voll eingelöst. Die Zeit- und Sozialdimension kann somit in das nachgeschaltete und
nachgeordnete Verstehen verlagert weden:23 Der einmal im Druck fixierte Text bleibt
derselbe, und eben dadurch ist es legitim, ihn zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Situationen je anders und neu zu verstehen.
21
Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus
dem Geist der Goethezeit (UTB 1147) Paderborn u.a.: Schöningh, 1981.
22
Thierse, Wolfgang: „Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat.“ Problemgeschichtliche Beobachtungen zur Geschichte des Werkbegriffs. In: Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch. Hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius u.
W.T. Berlin: Akademie-Verlag, 1990, S.378-414.
23
Die Differenzierung der Sinndimension in eine Sozial-, Sach- und Zeitdimension folgt Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984.
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4. Daher ist der Druckkultur das Muster von Primär- und Sekundärtext eigen. Es bezieht Identität und Variation aufeinander, indem es die festen und geschlossenen Texte
immer wieder dem Verstehen, der kritischen und ergänzenden Stellungnahme o.ä.
zuführt. Wie Jan Assmann24 für die frühen Hochkulturen gezeigt hat, setzt dieses Muster ein Medium - wie die Schrift oder den Druck - voraus, das die „textuelle Kohärenz“ durch dauerhafte Speicherung sicherstellt. Durch die Möglichkeit der „multiplicatio librorum“, der Produktion textidentischer Stücke in großer Zahl, hat die Druckkultur dieses Muster über die kleinen Kreise von Priestern und Gelehrten hinaus
generalisiert.
Diese Charakteristika des Typographeums wurden im Zuge des Ausbaus der Kulturindustrie, der Massenpresse und der Ausbildung audiovisueller Medien in ihrem normativen Anspruch vielfach in Frage gestellt und hatten sich sachlich teilweise schon vor
Einsetzen der Datenverarbeitung überholt. Im Bereich der Wissenschaften ist z.B. an
Forschungspapiere zu denken, die in Labors kollektiv erarbeitet werden. Den Bruch
mit den Konventionen des Druckzeitalters hat jedoch erst die digitale Datenverarbeitung in Netzen ins allgemeine Bewußtsein gebracht.
3.2 Dynamische und offene Texte in Netzen
Der Computer kennt keine getrennten Eingabe- und Ausgabestellen mehr. Am Bildschirm liest man zeitgleich, was man eingibt, so daß Eingabe- und Ausgabestelle bei
der ‘Urproduktion’ von Texten zusammenfallen. Die feste Eingabe- und Ausgabestelle
des Typographeums löst sich auf, weil der Text jederzeit - zumindest den technischen
Möglichkeiten nach - in seiner Binnenstruktur und seinen Grenzen verändert werden
kann. Sah das Typographeum nur wenige Rückkopplungsschleifen, d.h. Korrekturmöglichkeiten in der Produktion vor,25 so stellt sie der PC auf Dauer. Die Linearität
der Kommunikation wird tendenziell durch Selbstreferentialität ersetzt. Von ihren
medialen Gegebenheiten her ist eine Textdatei in sich „dialogisch“ oder reflexiv, da
sie darauf angelegt ist, vom Verfasser oder Empfänger „prozessiert“, bearbeitet und
verändert zu werden.26 In diesem Sinn kann man von einem ‘dynamischen’ oder
‘Fließtext’ sprechen: Das meint nicht nur einen Text, der stets im Fluß ist, sondern
darüberhinaus einen Text, bei dem sich das Kommunikat nur schwer von der Kommunikation unterscheiden läßt, oder - um im Bild zu bleiben -, der Fluß als Wasserweg
nicht mehr vom Schiff, das auf diesem Wasserweg einen Transport abwickelt.
24
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in
frühen Hochkulturen. München: C.H.Beck, 1992, S.87 ff.
25
Vgl. das Schaubild bei Giesecke (Anm.18), S.116.
26
Flusser, Vilém: Medienkultur. Hrsg. von Stefan Bollmann. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1997, S.63f.
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Letzteres hängt damit zusammen, daß die Unterscheidungen von Speicher- und Distributionsmedium und somit auch von Publikation und Kommunikation in einem EDVNetz kaum noch tragen. Eine digitale Datenbank muß keine physische Einheit mehr
darstellen, sondern kann ‘virtuell’ in dem Sinn sein, daß ihre Einheiten an verschiedenen Stellen im Netz vorgehalten werden und sich nach Bedarf vom Nutzer zusammenstellen lassen.27 Die printmedialen Prinzipien der Linearität, Homogenität, Selbstidentität und Wiederholbarkeit - wie sie McLuhan28 herausgestellt hat - werden von Hypertexten negiert. „Unlike the linear, indivisible, beginning-to-end flow of print, hypertext is a fluid, nonlinear, network of loosely-couple nodes.“29 Da Hypertexte mit
Informationsblöcken arbeiten, die sich unterschiedlich zusammenstellen lassen, wird
das vom Druck gewohnte Bild eines ‘festgestellten Ganzen’ ersetzt „with sequencing
of fragments in an infinite variety of juxtapositions“.30 Hypertexte bauen auf vernetzten Modulen in einem n-dimensionalen Datenraum auf, so daß die jeweiligen Aktualisierungen „provisorisch und radikal zeitlich“ sind: „Jeder Anwender entwirft Texte im
Horizont von Zeit auf Möglichkeit hin.“31 In allen Formen vernetzter Kommunikation
- so auch im ‘Usenet’, öffentlichen Gesprächsrunden ohne zentrale Lokalisierung und
Steuerung, und im IRC (Internet Relay Chat), der Plauderecke des Internet - verliert
die Referentialität von Zeichen, ihre herkömmliche ‘Bedeutung’, zugunsten ihrer Verflechtung an Gewicht. Radikale Medientheoretiker lassen darum Sinn im Design aufgehen.32
Als Kennzeichen vernetzter EDV-Kommunikation werden die Dynamik von Texten
(„information fluidity“33) und deren Verlinkung angesehen. Über Hyperlinks läßt sich
ein Text mit vorangehenden Texten, auf denen er aufbaut oder mit denen er sich auseinandersetzt, ebenso vernetzen wie mit nachfolgenden Beiträgen, die sich auf ihn
zurückbeziehen. Die neuen Schreibmöglichkeiten kommen modernen Texttheorien
entgegen, die von einem offenen, dezentrierten oder vielstimmigen Text ausgehen. In
27
Kaltwasser, Franz Georg: Ein Spielplatz namens Internet. In: Börsenblatt, Nr.99 vom 12.
Dezember 1997, S.12-19, hier S.18.
28
McLuhan, Marshall: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Bonn u.a.: Addison-Wesley, 1995.
29
Guay, Tim: WEB Publishing Paradigms (April 1995). Page „Landow on Nonlinearity“.
URL: http://www.ccsp.sfu.ca/guay/Paradigm.html
30
Johnson, Jeffrey / Oliva, Maurizio: Internet Textuality: Toward Interactive Multilinear Narrative. URL: http://italia.hum.utah.edu/maurizio/pmc/
31
Bolz, Norbert: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse.
2.Aufl. München: Fink, 1995, S.199.
32
„Design schafft und ist selbst Orientierung. Deshalb hat Design niemals ein Sinnproblem,
sondern ist seine Lösung - es zeigt, daß der Sinn kein Was, sondern eine Gegebenheitsweise
ist.“ Bolz, Norbert: Die Sinngesellschaft. Düsseldorf: ECON, 1997, S.232f.
33
„This impermanence impacts in particular on document location, document invariance and
document durability.“ Treloar, Andrew: Electronic Scholarly Publishing and the World
Wide Web (Web95 The First Australian World Wide Web Conference). URL:
hptt:/www.infotrain.unisa.edu.au/epub/Resources/Bibliography/Trelour95.html
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diesem Sinn hat Landow seinem Buch Hypertext 2.034 den Untertitel gegeben: „the
convergence of contemporary critical theory & technology“. Die Verlinkung hebt
tendenziell die physische Separation von Texten auf, wie sie der Druck sicherstellte:
„when any section of any document can be integrated into any other document instantaneously and without regard to specific location, these physical separations are meaningless. Linked documents >collaborate<, destroying the authoritative vantage point of
the >original text< and the univocal voice of the printed text.“
Für den Begriff des Textes haben die genannten Merkmale eine fundamentale Konsequenz: Die Sachdimension des Textes, d.h. seine Identität durch eine feste Binnenstruktur und eine klare Unterscheidung von anderen Texten, tritt zurück gegenüber der
Zeit- und Sozialdimension des Textes. Für den Charakter eines ‘Fließtextes’ spricht
der Umstand, daß der Computer den Zeitpunkt der letzten Veränderung speichert, so
daß der Zustand mit einem Datum markiert wird. Tendenzen zur Kollektivierung oder
Sozialisierung von Texten durch interagierende Gruppen (Kap.5c) belegen die steigende Bedeutung der Sozialdimension.
4 Zur Entwicklung elektronischer Archive und Zeitschriften
4.1 Die Initiative der Hochenergiephysik
Das World Wide Web (WWW) geht auf das Bedürfnis der Hochenergiephysiker nach
einem effizienten und ihrer Forschungsstruktur entsprechenden Kommunikationsmedium zurück. Als Erfinder des WWW gilt Tim Berners-Lee. Für das CERN. European
Laboratory for Particle Physics,35 das sich in großem Maße des Internet bediente,
schlug er 1989/9036 die Installation eines Informationssystems vor, das aus einem Netz
mit Verweisen besteht und darin die Organisationsweise wissenschaftlichen Arbeitens
widerspiegelt („a multiply connected >web< whose interconnections evolve with
time“). Dabei berief er sich auf Ted Nelson, der in den 60er Jahren den Begriff „Hypertext“ prägte und die Vision einer weltweit verteilten und durch Querverweise untereinander verbundenen elektronischen Bibliothek, eines „Docuverse“ mit Namen
„Xanadu“,37 propagierte. In diesem Sinn sah Berners-Lee CERN als Pionier einer
weltweiten Medienrevolution an: „CERN is a model in miniature of the rest of world
in a few years time.“
34
Landow, George P.: Hypertext 2.0: The Convergence of Contemporary Critical Theory and
Technology. 2.Aufl. Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press. 1997 (1.Aufl. 1992).
35
Die Bezeichnung CERN geht auf den ursprünglichen französischen Namen „Conseil Europeen pour la Recherche Nucleaire“ zurück.
36
Berners-Lee, Tim: Information Management: A Proposal (March 1989, May 1990). URL:
http://www.w3.org/History/1989/proposal.html. Für die Vorgeschichte am CERN vgl. Ben
Segal: A Short History of Internet Protocols at CERN. URL:
http://wwwcn.cern.ch/ns/ben/TCPHIST.html
37
Nach eigenen Angaben hat Theodor Holm Nelson die Begriffe „hypertext“ und „hypermedia“ 1965 geprägt und den Namen „Xanadu“ 1967 eingeführt. Dazu und zum Schicksal des
Projekts vgl. The Ted Nelson News Letter, no.3, October 1994. URL:
http://www.sensemedia.net/.
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Verbanden sich mit dem World Wide Web schon von seiner Geburt an pragmatische
wie auch visionäre Elemente, so geht das elektronische Archiv von Vorveröffentlichungen im Los Alamos National Laboratory auf rein praktische Bedürfnisse der
Hochenergiephysiker zurück und wurde erst im Laufe seiner Entwicklung zu einem
Präzedenzfall elektronischen Publizierens. Bereits seit den frühen 70er Jahren, zu Zeiten des Druckens und Kopierens, unterhielt das Forschungszentrum ein Archiv von
Preprints bzw. ‘grauen Papieren’, die auf Anforderung verschickt wurden, so daß die
Umstellung auf elektronische Kommunikation ab 1991 auf einem gängigen Kommunikationsverhalten unter den beteiligten Wissenschaftlern aufbauen konnte, „that had
already largely supplanted journals as our primary communication medium“.38 Das
elektronische Online-Archiv erlebte einen steilen Aufstieg, erweiterte sich disziplinär
und ist inzwischen in mehreren Disziplinen zum einzigen oder doch primären Informationszentrum für die laufende Forschung geworden. Am 4. März 1998 lag die Zahl
der in den letzten 80 Monaten eingerichten ‘papers’ - wie es weiterhin anachronistisch
heißt - bei über 70.500; die täglichen Zugriffszahlen erreichen Spitzenwerte über
70.000.39
Die Einreichung und Indexierung erfolgt automatisch auf maschinellem Weg, so daß
die Forschungsergebnisse ohne zeitliche Verzögerung weltweit abrufbar sind und die
bibliographische Recherche durch Retrieval ersetzt wird. Das Archiv vermeidet ein
Begutachtungsverfahren, das durch „a single one-time all-or-nothing binary decision“
geprägt wird.40 Von den Funktionen, die wissenschaftliche Zeitschriften wahrnehmen,
wird somit die Informationsvermittlung, nicht jedoch die Sichtung, Filterung und Bewertung der Forschungsbeiträge übernommen.
4.2 Experimente interaktiven Publizierens:
„Open Peer Commentary“
Stevan Harnad, ein angesehener Gehirnforscher, sorgte 1995 mit einem „subversive
proposal“ an die Adresse der Wissenschaftler für Furore: „If from this day forward,
each and every one of you were to make available on the Net, in public accessible
archives on the World Wide Web, the texts of all current papers [...] then the transition
to the PostGutenberg Galaxy would happen virtually overnight.“41 Mit diesem Aufruf
38
Ginsparg (Anm.11).
Aktuelle Statistiken auf der Homepage: http://xxx.lanl.gov/cgi-bin/
40
Ginsparg (Anm.11), Kap.6: Problems and Possibilities.
41
Harnad, Stevan: The Postgutenberg Galaxy: How To Get There from Here (Anm.3). Die
Replik von Steve Fuller und die Antwort von Harnad unter der gleichen Adresse, mit „fuller“ bzw. „harful1“ nach „THES“. Die Internet-Diskussion wurde auch in Buchform veröffentlicht: Scholarly Journals at the Crossroad: A Subversive Proposal for Electronic Publishing, An Internet Discussion about Scientific and Scholarly Journals and Their Future. Hrsg.
von Ann Okerson und James O’Donnell. Washington DC: Office of Scientific & Academic
Publishing Association of Research Libraries, 1995.
39
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zog er die Folgerung aus der bereits 1991 prognostizierten vierten Revolution in den
Produktionsmitteln des Wissens, die er mit dem Schlagwort „Post-Gutenberg Galaxy“42 etikettierte. Darin führt er zwei Gründe an, weswegen eine Kommunikation in
Schrift und Druck im Vergleich zum mündlichen Dialog „unnatural“ sei: „one is the
constraint it puts on the speed with which it allows thoughts to be expressed [...], and
the other is the constraint it puts on the INTERACTIVENESS of speaking thinkers and hence again on the tempo of their interdigitating thoughts, both collaborative and
competitive.“ Schrift und Druck seien „hopelessly out of synch with the human thinking mechanism and the organic potential it would have for rapid interaction“,43
wogegen die als „Scholarly Skywriting“ apostrophierte EDV-Kommunikation über
Netze den wissenschaftlichen Gedankenaustausch unserem Gehirnpotential wieder
annähern werde. In diesem Sinne wird in der Nachfolge von Harnad von „the cognitive crisis of present paper publication“44 gesprochen. „Skywriting“ steigert nicht nur
die Schnelligkeit der Kommunikation, sondern erlaubt vor allem eine sofortige und
zeitgleiche Diskussion mit Gesprächspartnern rund um den Globus, so daß der Autor
noch in der ‘heißen’ Phase seines Denkens ein Feedback erhält.
Harnad konnte sich auf seine langjährigen Erfahrungen als Herausgeber zweier Zeitschriften berufen, nämlich zum einen auf Behavioral & Brain Sciences (BBS) im Verlag Cambridge University Press - mit einem außerordentlich hohen „impact factor“
(„citation ratio“) - und zum anderen auf Psycoloquy, das von der American Psychological Association (APA) gesponserte elektronische Gegenstück. Beide Organe arbeiten mit Peer Reviews, haben das übliche Verfahren der anonymen Begutachtung jedoch umgestaltet. Behavioral & Brain Sciences bezeichnen ihr Vorgehen als „Open
Peer Commentary“, das eine konzentrierte und konstruktive Diskussion zwischen
Autor und Fachwelt bezweckt: Ein auf Grund der Gutachten angenommener Beitrag
wird einer großen Anzahl von Fachleuten zur Stellungnahme übersandt. „Among the
criteria referees are asked to use in reviewing manuscripts submitted to BBS is
whether open peer discussion and response on that paper would be useful to the scholars in the involved fields [...]. Each target article is then copublished with the 20-30
(accepted) peer commentaries it elicits, plus the author’s Response to the commentaries.“45 Da im Rahmen eines offenen Verfahrens Gutachter und Kritiker nicht anonymisiert werden, erhofft man sich eine Haltung, der es mehr um die Förderung als um die
Beurteilung von Forschungsbeiträgen geht.46
42
Harnad: Post-Gutenberg Galaxy: The Fourth Revolution (Anm.16).
„Whatever ideas could have been generated by minds interacting at biological tempos are
forever lost at paper-production tempos.“ Harnad: Implementing Peer Review (Anm.8).
44
Paliwala (Anm.9).
45
Harnad: Implementing Peer Review (Anm.8). Für Redaktionspolitik und Aufnahmekriterien
von BBS vgl. die Homepage:
http://www.princeton.edu/harnad/bbs/instructions.for.authors.html
46
Vgl. die Zusammenfassung der Electronic Peer Review Internet Conference, April bis August 1995, durch John Peters: The Hundred Years War Started Today: An exploration of
electronic peer review. URL: http://www.press.umich.edu/jep/works/PeterHundr.html
43
Jäger: Vom Text der Wissenschaft
Blatt 12
Psycoloquy weist bereits im Namen auf die neue Form einer interaktiven Publikation
hin. Bei der Einreichung eines Manuskripts wird ein Statement erwartet „of the author’s rationale for soliciting commentary (e.g., why would commentary be useful and
of interest to the field? what kind of commentary do you expect to elicit?)“.47 Eine
solche redaktionelle Erwartungshaltung favorisiert Beiträge, die als ‘Kompaktkommunikation’ konzipiert sind. Sie müssen sich an ihrer Kraft messen lassen, fruchtbare
Diskussionen anzuregen, auf ihre argumentativen Vorgaben zu beziehen und inhaltlich
zu strukturieren - systemtheoretisch gesprochen: Anschlußkommunikationen zu konditionieren. Insgesamt trägt eine interaktive und foglich kolloquiale Zeitschrift dem
evolu-tionstheoretischen Verständnis von wissenschaftlichem Fortschritt Rechnung:
„Scientific discourse is the evolutionary path for science.“48
Der Vorstoß von Harnad zeigt, daß sich die Qualitätssicherung wissenschaftlichen
Publizierens auf das Netz übertragen läßt: „Quality is medium-independent.“49 Wie
die Versicherung „Research articles are refereed under the same standards as those
used by the finest-quality printed journals“50 verdeutlicht, legen anspruchsvolle elektronische Zeitschriften darauf großen Wert. Auch auf dem Netz läßt sich die gewohnte
Hierarchie von Fachzeitschriften mit unterschiedlich hohem Qualitätsniveau und Zugangsschwellen herstellen, so daß die Filterfunktion erhalten bleibt. Elektronische
Zeitschriften minimieren den Zeitraum zwischen Annahme und Publikation des Artikels, lassen sich jedoch Zeit bei der Beurteilung. Aus der Tatsache, daß das Gutachterverfahren weiterhin einige Wochen, bei mehrmaligen Umarbeitungen aber auch
mehrere Monate oder gar Jahre betragen kann,51 wird deutlich, daß die Qualitätssicherung der Publikation Vorrang behält vor der Schnelligkeit des Publizierens.
47
So die Homepage von Psycoloquy, mit Links zu Beiträgen zum elektronischen Publizieren.
URL: http://www.cogsci.soton.ac.uk/psycoloquy/
48
Nadasdy, Zoltan: A Truly All-Electronic Journal: Let Democracy Replace Peer Review. In:
The Journal of Electronic Publishing, vol.3, issue 1 (Sept. 1997). URL:
http://www.press.umich.edu/jep/03-01/EJCBS.html
49
Treloar (Anm.33). Harnad (z.B.: There’s Plenty of Room in Cyperspace. Response to Fuller
(May 12 1995). URL: http://cogsci.soton.ac.uk/ harnad/THES/harful1.html) hat mehrfach
herausgearbeitet, daß „peer-review“ „a medium-independent means of quality control“ ist.
50
Electronic Journal of Differential Equations, gesponsert durch Southwest Texas State University und University of North Texas, Homepage. URL:
http://www.emis.de/journals/EJDE/Welcome.html
51
„Four to six months is fast for a scholarly journal; two years not uncommon.“ Peters
(Anm.46), Abschnitt „The Electronic Peer Review Conference“.
Jäger: Vom Text der Wissenschaft
Blatt 13
4.3 Elektronische Publikationen
in der Trägerschaft von Fachgesellschaften
Da in den USA - anders als in Deutschland - viele zentrale Zeitschriften von Fachgesellschaften veröffentlicht werden, wurden Möglichkeiten elektronischen Publizierens
in ihrem Rahmen diskutiert und ins Werk gesetzt. Um konkurrenzfähig zu bleiben,
bauen inzwischen auch in Europa und in Deutschland eine Reihe von Fachgesellschaften ein elektronisches Informations- und Kommunikationssystem auf. Nach dem Vorbild der American Mathematical Society möchte die European Mathematical Society
mit Unterstützung der nationalen Vereinigungen und ausgehend vom Zentralblatt für
Mathematik und ihre Grenzgebiete „a comprehensive database of all mathematical
publications“ schaffen.52 In der ersten Ausbaustufe wird die Electronic Library of
Mathematics (ELibM) etwa 30 Zeitschriften zuzüglich Konferenzpapieren umfassen,
wogegen die Amerikaner bereits ein umfassendes Angebot, einschließlich Adreß- und
Nachschlagewerken, durch Links erschließen,53 so daß der Mathematiker alle benötigten Informationen von seinem PC-Arbeitsplatz aus bequem abrufen kann. Im Rahmen
von ELibM sollen alle Artikel begutachtet werden und in möglichst einheitlicher typographischer Gestalt („a polished form similar to that of printed mathematical journals“) erscheinen; eine der ersten Versionen wird als ‘Original’ archiviert und aus den
angegebenen Gründen in unveränderter Form konserviert: „Science has important
personal and historical dimensions requiring that future generations be quite sure what
was published and when.“54
In Deutschland haben zehn Fachgesellschaften, die zusammen fast 100.000 Wissenschaftler - Mathematiker, Informatiker, Physiker, Chemiker, Biologen, Soziologen,
Psychologen und Erziehungswissenschaftler - vertreten, eine gemeinsame Initiative
zum „Aufbau elektronischer Informations- und Kommunikations-Infrastrukturen in
ihren Wissenschaften“ ergriffen.55 Die IuK-Strukturen sollen im akademischen Bereich „verteilt“ organisiert werden,56 so daß es (a) zu einer „direkten Versorgung“ der
wissenschaftlichen Einrichtungen „auf der Basis verteilter Informationsquellen“
52
Coates, J.H. (Chairman. Database Committee. European Mathematical Society): A European
Mathematical Database (July 1997). URL: http://www.emis.de/etc/coates.html - Für die
Liste der Zeitschriften vgl. The Electronic Library of Mathematics: Mathematical Journals.
URL: http://www.math.ethz.ch/EMIS/journals/short_index.html
53
Mathematics on the Web (updated Feb 16, 1996), mit einer Liste gedruckter und elektronischer mathematischer Zeitschriften. URL:
http://www.ams.org/mathweb/mi-mathinfo03.html#weblit
54
„One of the first published versions of each article or volume should be designated as original and archival. (This is a must for journals not also published on paper.) The archival
original must be maintained unchanged forever, while alternative versions in other formats
may be introduced or deleted.“ ELibM Guidelines for Journals and Proceeding Volumes.
URL: http://www.math.ethz.ch/EMIS/journal-requirements.html
55
Gemeinsame Initiative der Fachgesellschaften ... zur elektronischen Information und Kommunikation IuK (12.Feb. 1998). URL: http://elfikom.physik.uni-Oldenburg.de/IuK/
56
Ebd.
Jäger: Vom Text der Wissenschaft
Blatt 14
kommt57 und (b) die Informationen „in steigendem Maße von den Herstellern der Information selbst, d.h., von den Wissenschaftlern der verschiedenen Fachgebiete, den
Fachbereichen, Instituten und Fachgesellschaften“ bereitgestellt werden.58 Außer den
gängigen Argumenten für elektronisches Publizieren - rasche, vernetzte und vom Arbeitsplatz aus verfügbare Information mit intelligenten Retrievalsystemen - führen die
Chemikern noch fachspezifische Gründe an, die sie von einem „Quantensprung“ in
der Wiedergabe komplexer Information sprechen lassen: Die 13 Millionen bekannten
chemischen Verbindungen, zu denen jährlich 500.000 neue hinzukommen, können
erstmals in dreidimensionaler Struktur vollständig abgespeichert und verglichen werden.59 Da nach diesen Plänen wissenschaftliche Einrichtungen den Verlag von Fachpublikationen übernehmen sollen und Vertreter wissenschaftlicher Bibliotheken sich
„durch das >Eindringen< der Fachgesellschaften in die Publikationslandschaft“ eine
Eindämmung der Kostenexplosion in der Literaturversorgung erhoffen,60 war der
Konflikt mit privatwirtschaftlichen Verlagen61 vorprogrammiert.
Auch wissenschaftliche Datenbanken wurden nach dem Vorbild von Los Alamos aufgebaut. So betreibt das Fachinformationszentrum Karlsruhe die Datenbank CompuScience, die durch Klassifizierung und Verschlagwortung bis Ende Februar 1998 über
530.200 Zeitschriftenartikel, Konferenzpapiere und Technische Berichte erschloß.
Wie in anderen großen Datenbanken auch, lassen die Möglichkeiten der Recherche im
Gesamtfundus die früheren Publikationseinheiten, d.h. die Zeitschrift oder das Sammelwerk - auch wo solche noch gedruckt werden - völlig in den Hintergrund treten.
57
Entwicklung von Konzepten zur Neugestaltung der elektronischen Information und Kommunikation in Wissenschaft und Technik (Hochschulen) durch die 4 Fachgesellschaften
DMV, DPG, GDCh und GI. An das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie auf Förderung eines Projektes Elektronische Information und
Kommunikation in Wissenschaft und Technik in Deutschland (Juli 1995). URL:
http://elfikom.physik.uni-oldenburg.de/IuK/rahmen/rahmen.html
58
Kooperationsvereinbarung zwischen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV), der
Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), der Gesellschaft Deutscher Chemiker
(GDCh) und der Gesellschaft für Informatik (GI) zur elektronischen Information und Kommunikation (Januar 1995). URL:
http://elfikom.physik.uni-oldenburg.de/IuK/Koop_Vereinb/Koop_Vereinb.html
59
Informationsvermittlung und Informationsnutzung in der Chemie. Fachgruppe „ChemieInformation-Computer (CIC)“ der Gesellschaft Deutscher Chemiker ... (7.Mai 1995). URL:
http://schiele.organik.uni-erlangen.de/iukchemie/i_vermittlung.html - Von diesem Papier
scheint die Rede von „Medienbrüchen“ auf dem Weg vom Produzenten zum Rezipienten
auszugehen, die es zu vermeiden gelte.
60
Grötschel, Martin: Neues zum Thema IuK (27.Jan. 1997). URL:
http://elfikom.physik.uni-oldenburg.de/IuK/Neues_zu_IuK/Neues_zu_IuK.html
61
Siehe den Beitrag von Vittorio Klostermann in diesem Band. Vgl. auch: Verlegen im Netz.
Zur Diskussion um die Zukunft des wissenschaftlichen Buches. Hrsg. von V. K.. Frankfurt
a.M.: Klostermann, 1997. - Aktualisiert unter der Adresse: http://home. T-Online.
de/home/Vittorio. Klostermann/intro_01.htm
Jäger: Vom Text der Wissenschaft
Blatt 15
5 Der wissenschaftliche Artikel im Netz
Die Möglichkeiten, welche die EDV-Kommunikation über Netze eröffnet, wird die
wissenschaftlichen Textsorten tiefgreifend verändern. Die Richtung der Veränderung
dürfte einer funktionalen Differenzierung entsprechen, da die technische Entwicklung
den Gestaltungsspielraum vergrößert. Die überlieferten Textsorten lassen sich auf dem
Netz einrichten, doch entfallen Beschränkungen der Druckkultur: „The significance of
the Web is the way, in which it enables a far more significant break from print than
has been achieved to date. It does this because it does all that print does and then
more.“62 Bei den Wandlungen müssen zudem unterschiedliche Eigenzeiten von Technologie und Wissenschaft in Rechnung gestellt werden. „Social changes are considerably slower than the diffusion of new technologies.“63 Während die Produktzyklen
der Software nur 12 oder 18 Monate betragen, wird sich der Wandel der wissenschaftlichen Publikationskultur wahrscheinlich über Jahrzehnte erstrecken. Die Eigenzeit
des Internet (“Internet time“) mit ihren raschen Verfallsdaten gilt offensichtlich auch
für Prognosen über den Medienwandel. Hatte Odlyzko, von dem obiges Zitat stammt,
das Verschwinden des Papiers in der wissenschaftlichen Kommunikation zunächst in
naher Zukunft erwartet, so geht er in einem wenig später ins Netz gestellten Pre-Print
von mehreren Dezennien aus.64
Von den sich abzeichnenden Entwicklungen werden (a) die Dynamisierung und ‘Verlinkung’ der Texte, denen eine Tendenz zur Fragmentierung gegenübersteht, (b) die
Trennung von Veröffentlichung (im Sinne von Öffentlichmachung) und Publikation
sowie (c) die Kollektivierung der Produktion durch die Wissenschaftlergemeinde
(„scientific community“) angesprochen. Auf die Möglichkeit der Integration von laufenden Bildern und Klängen, die im Druck nicht wiedergegeben werden konnten, in
multimediale Texte wird nicht eingegangen. Ausgeschlossen bleiben auch Probleme
der Archivierung und Langzeitsicherung von Dateien wie alle technischen Fragen.
(a) Die Praxis einer offenen Begutachtung (Kap.4.2) weist bereits auf Publikationsformen hin, die das Netz begünstigt: Es entstehen offene, d.h. veränderbare, dynamische oder ‘lebende’ Texte, die mit anderen Texten vernetzt bzw. ‘verlinkt’ sind. Dem
Leser können große Freiräume in Gestaltung und Zusammenstellung des Textes eingeräumt werden. So bezeichnet sich z.B. das Chicago Journal of Theoretical Computer
Science als „reader-powered publication“: Das Format sei geeignet „to maximize
62
Treloar (Anm.33).
Odlyzko, Andrew: The slow evolution of electronic publishing. Preliminary version, September 10, 1997. Fig.4. URL: http://www.research.att.com/amo/doc/slow.evolution.txt
64
„I expect the displacement of paper to take several decades.“ Ebd.
63
Jäger: Vom Text der Wissenschaft
Blatt 16
readers’ power to use articles in whatever ways they find most productive“.65 Typographie und Formatierung richten sich nach der Größe des Bildschirms, der Sehstärke
des Lesers oder dem Papierformat (für den Ausdruck); die logische Durchstrukturierung der Artikel erleichtert den Einsatz unterschiedlicher Browser und RetrievalSoftware. Für das Zitieren werden Seitenzahlen ersetzt durch Nummern (für Abschnitte, Sätze, Definitionen, Tabellen, Lemmata u.dgl.), Paragraphen oder Kurzzitate; entscheidend dabei ist: „[...] when published, a document must be stable to allow easy
referencing, formatting it anew must not change the reference points.“66
‘Lebende Texte’ wandeln sich und durchlaufen somit eine innere Entwicklung; sie
können stets aktualisiert und revidiert, durch Kommentare und Kritiken ergänzt und
mit Links zu anderen Texten, die sich auf sie zurückbeziehen, versehen werden67 - so
daß von ihnen gilt: „articles in electronic journals need never die“.68 Eine analoge
Entwicklung vollzieht sich bei Enzyklopädien oder Lexika, die als Druckwerke oder
Datenbanken vertrieben werden und Aktualisierungen über das Netz vorsehen. Um
Daten eines Nachschlagewerkes bis zu dessen Neubearbeitung aktuell zu halten, mußten sich Verlage früher mit Nachtragsbänden, Jahresberichten oder ergänzenden Zeitschriften behelfen, die den Wissensstand fortschrieben. Die Notwendigkeit solcher
additiver oder sequentieller Verfahren fällt bei rein elektronischen, über das Netz verbreiteten Produkten fort. Ständige Aktualisierungen und Kommentare können elektronische Zeitschriften zu einem offenen Gesprächsforum („a living intellectual Bazaar“69) werden lassen. In ihrem Rahmen entsteht eine neue Textsorte, die möglich
macht, was das Medium des Druckes ausschloß: Aktualität in Permanenz. In diesem
Sinne wurde am Albert Einstein Institut in Potsdam die Zeitschrift Living Reviews in
Relativity entworfen:70 Die nach Fachgebieten aufgegliederten Berichte sollen ständig
aktualisiert werden, so daß sich die Zeitschrifteninhalte nicht mehr in zeitlichen
Schichten ablagern, sondern in ‘ewiger Präsenz’ verbleiben.
Der Öffnung der Texte zu anderen (eigenen) Textzuständen und (fremden) Texten
steht die Tendenz zur Fragmentierung größerer Publikationseinheiten und längerer
Einzeltexte gegenüber. Längere Texte im Netz finden sich heute oft in Teile mit selbständigen Adressen zerlegt, die der Benutzer einzeln anwählen und ggf. getrennt aus65
Chicago Journal of Theoretical Computer Science (MIT), Homepage, Information for authors and readers. URL:
http://www.cs.uchicago.edu/publications/cjtcs/journal-info.html#reader instructions
66
The Journal of Functional and Logic Programming, Homepage. URL:
http://greyarea.is.tsukuba.ac.jp/journal/jflp/elec_publishing.html
67
„A journal, like an organism, lives when it continues to change und adapt.“ Wheary, Jennifer
/ Schutz, Bernard F.: Living Reviews in Relativity. Making an Electronic Journal Live. In:
The Journal of Electronic Publishing, vol.3, issue 1, September 1997. URL:
http://www.press.umich.edu/jep/03-01/LR.html
68
Paliwala (Anm.9). Von diesen Möglichkeiten macht eine Reihe von elektronischen Zeitschriften Gebrauch.
69
Ebd.
70
Wheary / Schutz (Anm.67).
Jäger: Vom Text der Wissenschaft
Blatt 17
drucken muß. Pragmatische Erwägungen sprechen für dieses Vorgehen: Da z.B. niemand die Hunderte von Seiten starken CERN-Berichte am Bildschirm lesen wollte,
suchte man nach Wegen „of automating the process of splitting these things into pieces“ und setzte schließlich Links zu den einzelnen Kapiteln.71 Von einer solchen
Fragmentierung - nicht auf dem Netz, aber mit Hilfe einer Datenbank - macht PRIMIS
Custom Publishing von McGraw-Hill systematisch Gebrauch. Die Firma hält eine
Sammlung von klassischen Texten vor, die nach Bedarf (einer Klasse, eines Kurses
usw.) zusammengestellt und in der benötigten Menge als Buch „on demand“ mit eigenem Titel, Inhaltsverzeichnis, Seitenzählung usw. hergestellt werden.72 Auf Grund
dieses Vorgehens kollabiert die Unterscheidung zwischen einem veröffentlichten
Druckwerk und einer privaten Ausschnittsammlung.73 Zu einem vergleichbaren Resultat führt die Recherche in Datenbanken, die eine Vielzahl von Zeitschriften im
Volltext vorhalten. Die Anfrage führt zu einschlägigen Artikeln in unterschiedlichen
Organen, die sich der Benutzer gemeinsam ausdrucken lassen kann.
Bei elektronischen Zeitschriften, die nicht (aus)gedruckt werden, führen die alten Einteilungsprinzipien nach Jahrgang, Band, Heft usw. nur noch ein virtuelles Dasein. Es
ist nur folgerichtig, auf Artikel als Einheiten umzustellen, diese durch Nummern zu
identifizieren und über jede Neuaufnahme Interessenten über E-Mail zu informieren.74
Dabei entfällt auf der einen Seite der Zwang, in vorgegebenen Zeitintervallen einen
bestimmten Seitenumfang zu füllen,75 auf der anderen Seite gibt es keine Umfangsbegrenzung mehr 76. Obsolet wird eine einheitliche (artikelübergreifende) Einrichtung
und typographische Gestaltung. Auch auf den inneren Aufbau der Einzeltexte hat der
PC Einfluß. Er favorisiert - zumindest im heutigen Entwicklungsstand - in sich klar,
jedoch nicht unbedingt hierarchisch strukturierte, und kleinteilige Texte. Aufgrund
71
Mick Draper (CERN), in: APS E-Print Workshop. Los Alamos National Laboratory, Los
Alamos, New Mexico (14.-15. Oktober 1994), Current Thinking Panel. URL:
http://publish.aps.org/EPRINT/KATHD/toc.html
72
Gegenwärtig enthält die Datenbank über 150.00 Seiten von College-Materialien aus über 20
Disziplinen. Vgl. URL: http://www.mhhe.com/primis/
73
Unter dieser Unterscheidung wird das Publikationsverfahren diskutiert in: University Libraries & Scholarly Communication. A Study Prepared for The Andrew W. Mellon Foundation
by Anthony M. Cummings, Marcia L. Witte, William G. Bowen, Laura O. Lazarus, and
Richard H. Ekman. Published by The Association of Research Libraries for The Andrew W.
Mellon Foundation November 1992, Kap.9. URL:
http://www.lib.virginia.edu/mellon/mellon.html
74
Michael J. O’Donnell: Electronic Journals - scholarly invariants in a changing medium (University of Chicago, Dept. of Computer Science, Technical Report 93-11, July 1993),
Kap.4.3. URL: http://cs.www.uchicago.edu/ odonnell/ODa...al_Papers/Electronic_Journal/paper.ascii
75
Darauf heben Geometry & Topology ab: Einerseits „no >page limit<„, andererseits: „there is
no publisher expecting a number of pages each month; if no suitable papers are submitted in
a given period, then we simply do not publish any papers in that period.“ URL:
http://www.maths.warwick.ac.uk/gt/procedur.html
76
Dies wird z.B. herausgestellt durch The Electronic Journal of Linear Algebra: „The journal
is essentially unlimited by size. Therefore, we have no restrictions on length of articles.“
URL: http://www.math.technion.ac.il/iic/ela/purpose.html
Jäger: Vom Text der Wissenschaft
Blatt 18
ihrer ‘Feinkörnigkeit’ lassen sie sich in ihrer Binnenstruktur leicht verschieben, die
Teile können zudem mehrfach genutzt (z.B. in neue Texte kopiert) werden und bieten
sich für eine multiple Vernetzung an. Im Extremfall entsteht ein Kaleidoskop von
verwandten Texten, die im Verhältnis der Familienähnlichkeit (Wittgenstein) bzw. der
Heterarchie zueinander stehen.
(b) Im Druck ist die Annahme des Manuskripts durch Herausgeber bzw. Verlag die
Voraussetzung für dessen Publikation. In der EDV-Kommunikation läßt sich die Veröffentlichung (im Sinne allgemeiner Zugänglichmachung) eines Textes von dessen
Annahme zur Publikation trennen. In der Physik ist es gängige Praxis, über Ginspargs
elektronisches Pre-Print-Archiv den Artikel ins Netz zu stellen, auch wenn er gleichzeitig einer Zeitschrift zur Publikation angeboten wird. Die Gutachter, durch E-Mail
unterrichtet, holen sich den Text vom Archiv auf ihre Rechner. Bei Publikation kann
der Artikel im Archiv durch ein Link ersetzt werden, was es möglich macht, den
Zugriff auf Abonnenten zu beschränken oder nur gegen Gebühren freizugeben. Während der Begutachtungsphase kann eine Zeitschrift die Abstracts eingereichter Artikel
jedoch auch auf ihren Server nehmen und sie mit einem Link zum Homeserver des
Autors versehen, auf dem die Volltextversion zugänglich ist.77 Die Vollversionen
könnten auch sofort für einen Probezeitraum ins Netz gestellt, einer fachlichen Meinungsbildung unterworfen und erst auf Grund einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung endgültig aufgenommen werden.78 Die traditionelle Herausgeberrolle entfiele
und die Begutachtung würde gänzlich von den Lesern übernommen. Die Schritte der
Zugänglichmachung, der Begutachtung und Kritik, der Entscheidung über Annahme
oder Ablehnung sowie der Publikation (im Sinne einer dauerhaften Fixierung) eines
Textes lassen sich im EDV-Zeitalter trennen, unterschiedlich handhaben und variabel
kombinieren.
(c) Bereits die üblichen Verfahren der Begutachtung beteiligen die Fachwelt an der
Entwicklung eines Forschungsbeitrags. Im angelsächischen Raum ist es nicht unüblich, daß etwa 80% der Papiere zur Revision an den Autor zurückgehen, wogegen nur
je 10% sofort akzeptiert oder ganz zurückgewiesen werden.79 Durch die Möglichkeit,
im Netz eine offene, d.h. für alle Fachleute zugängliche und weder zeitlich noch räumlich von vornherein begrenzte Diskussion zu führen, nimmt die Kollektivierung der
Forschungsbeiträge durch die Wissenschaftlergemeinde zu. „Publications may indeed
go through more incarnations, and become more collective than in the Gutenberg
era.“80 Die Wissenschaftler, die elektronische Zeitschriften favorisieren, propagieren
77
So bei Electronic Journal of Probability und dem zugehörigen Probability Abstract Service.
URL: http://www.math.washington.edu/ ejpecp/submit.html
78
Nadasdy (Anm.48). Das von ihm, einem „graduate student in neuroscience“, begründete
Electronic Journal of Cognitive and Brain Sciences kennt keine Herausgeber: „On the level
of contents the journal is edited by the readers.“
79
Vgl. Peters (Anm.46), Abschnitt „Peer review in academic publishing“.
80
Harnad: There’s Plenty of Room in Cyperspace (Anm.49).
Jäger: Vom Text der Wissenschaft
Blatt 19
meist einen diskursiven Arbeitsstil und Teamarbeit, manche Organe suchen darüberhinaus den Kontakt mit ihren Lesern.81 Eine Diskussion vor der Publikation kann
dem einzelnen Text unmittelbar zugutekommen, wenn der Autor die Vorveröffentlichung ins Netz stellt und in der Endfassung den Reaktionen seiner Kollegen Rechnung
trägt.
Der Rollenverteilung zwischen einem elektronischen Archiv (für Pre-Prints oder nicht
ausgedruckte Datenbestände) und einer Publikation (mit einem ‘fest-’ und auf Dauer
gestellten Text) kommt eine Zweiteilung der Produktion „beetwen informal preprint
distribution and the formal refereed publications“82 entgegen. Ähnlich wird „between
fixed documents (print-like) and continously updated documents (database-like)“ differenziert.83 Solche Unterscheidungen tragen den Qualitätsstandards des Druckes sowie der Rolle begutachteter Publikationen für Ansehen und Karriere des Autors Rechnung und suchen das Problem einer zitierfähigen Fassung zu lösen. Die Aufteilung des
‘Lebenslaufes’ eines Artikels in die drei Phasen der Vorveröffentlichung („the preprint
or e-print layer“), der begutachteten Veröffentlichung („the peer-reviewed layer“)
sowie der Bereitstellung und Archivierung (durch Verlag und Bibliothek; „the archival
layer“) entstammt der Druckkultur.84 Der Vorschlag könnte zur Konsequenz haben,
daß Pre-Prints - obschon wichtigste aktuelle Informationsquelle - nicht auf Dauer archiviert werden.85 Zum gegenwärtigen Diskussionsstand sieht es jedenfalls so aus, als
ob entscheidende Errungenschaften der Druckkultur - auch bei einem Medienwechsel
vom Druck auf EDV - für die wissenschaftliche Kommunikation erhalten bleiben.86
81
So z.B. Mathematica in Education and Research: „The journal encourages extensive interactions between authors and audience via electronic correspondence by way of the journal
editorial staff or directly with authors and editors of articles and columns.“ URL:
http://www.telospub.com/journal/MIER/aims.html
82
Odlyzko: Tragic Loss (Anm.2), Kap.8: The interactive potential of the Net.
83
Treloar (Anm.33).
84
Peggy Judd (AIP), in: APS E-Print Workshop (Anm.71), Tracking of Papers.
85
Vgl. den Vorschlag von Bob Austin (Princeton University) auf dem gleichen Kongreß: „Preprints should not be archived, but have a finite lifetime on a server (perhaps 6 months). The
final refereed paper would replace the preprint.“ - Electronic Journal of Probability und
Electronic Communications in Probability garantieren nur die dauerhafte Archivierung von
begutachteten und angenommenen Artikeln („to preserve them forever in the same form as
on the day of publication“), wogegen andere Dateien - „due to the nature of electronic publishing“ - sich ändern und korrumpiert werden können. URL:
http://www.math.washington.edu/ejpecp/archive.html
86
Zu diesem Ergebnis kommt auch O’Donnell (Anm.74).
Jäger: Vom Text der Wissenschaft
Blatt 20
Erstpublikation:
Uwe Jochum / Gerhard Wagner (Hgg.): Am Ende - das Buch. Semiotische und soziale
Aspekte des Internet. Konstanz: UVK Universitätsverlag Konstanz 1998.
Anschrift:
Prof. Dr. Georg Jäger
Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3
80799 München
E-Mail: [email protected]