Die Wüstenväter auf der Suche nach dem Selbst
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Die Wüstenväter auf der Suche nach dem Selbst
Streben galt der Suche nach Gott und die geistigen Übungen führten auf diesem Weg zu einer großen Menschenkenntnis und auch zu einer Kenntnis ihrer selbst. Die Wüstenväter wurden zu wahren Psychologen. Die Einsamkeit der Die Wüstenväter auf der Suche nach dem Selbst Wüste führte zu gesteigerter Wachsamkeit, zu einer aufmerksamen Beobachtung ihrer Gedanken und Gefühle. Sie lebten ein Leben erhöhter Achtsamkeit. David begann zu erzählen: „Um 300 n. Chr. zogen von über- 1.600 Jahre später wird das ,Disidentifikation‘ genannt all her Menschen als Einsiedler in die ägyptische Wüste. Was werden – und man meint, es sei eine neue Praktik in der war der Auslöser? War das Christentum in seinen Anfängen Psychologie erfunden worden. Wir lesen im World Wide eine radikale Bewegung, die gegen die feindliche Welt der Web unter www.achtsamleben.at: ,Disidentifikation ist der Pro Römer bestehen musste, so war seine revolutionäre Kraft zess einer systematischen Unterscheidung des Wahrnehmenden, des verflacht, als es zur Staatsreligion geworden war. Asketen Beobachters vom Wahrgenommenen, dem Beobachteten. Beispiels und Mönche zogen sich aus dieser Welt zurück. Einer weise gelangen wir von einem ,Ich bin wütend‘, von einer Identifi von ihnen war Evagrius Ponticus, ein Grieche, der von 345 kation mit der Wut durch konsequentes Beobachten zu einem ,Ich bis 399 n. Chr. lebte. Er gehörte zur ersten Generation der beobachte, wie sich etwas wie Wut im Bauch anfühlt‘. Dies führt ,Wüstenväter‘. Diese frühen Mönche bezogen ein ,Kellion‘, eben zu einer Disidentifikation von der Wut, eine Identifikation eine Zelle, die üblicherweise aus einem Gebets- und Schlaf- mit dem gelassenen oder unberührbaren ,Inneren Beobachter‘ wird raum und einem Garten bestand. Sie wollten radikal dem möglich. ,Ich bin der, der beobachtet.‘ Disidentifikation ist ein we Leben Christi nachfolgen, indem sie sich aus der Welt zu- sentlicher transformatorischer Wirkmechanismus der Achtsamkeits rückzogen. Das Wort ,Asket‘ bedeutet: einer, der sich aus praxis. Die Loslösung von Identifikationen, die Disidentifikation der Welt zurückzieht. Und das Wort ,Monachos‘ bedeutet: ist wesentlicher Teil jeder Persönlichkeitsentwicklung, insbesondere einer, der sich absondert. Sie arbeiteten, beteten und übten in transpersonale Bereiche.‘ Geprägt wurde dieser Begriff ur- sich in Askese. Sie setzten dabei auf altbewährte Praktiken sprünglich von Roberto Assagioli. der ,Einübung in die Tugend‘, was Askese im eigentlichen Zurück zu unserem Pionier der Psychoanalyse: Evagrius Sinn bedeutet. Die Kenntnis der Askese verhinderte den gilt unter den Wüstenvätern als der Experte für den Um- psychischen Zusammenbruch in der Einsamkeit der Wüste. gang mit Gedanken und Leidenschaften. Er hat sie in der So konnten sie abwehren, dem Wahn anheimzufallen. Ihr Einsamkeit seines Kellions und in den harten Bedingungen 34 35 der Wüste am eigenen Leib erfahren und seine Erkenntnisse niedergeschrieben. Er hat festgehalten, welcher Gedanke „Ist das das Original aus der Feder von Evagrius?“, fragte Paul mit Ehrfurcht in der Stimme. auf welche Weise besiegt wird. Üblicherweise besprachen „Es handelt sich um eine Abschrift. Diese und andere die Mönche, was sie erfahren hatten, am Sonntag mit ih- Spruchsammlungen fanden in der antiken Welt eine rasche rem ,Abba‘, ihrem geistlichen Vater. Dieses Gespräch wurde Verbreitung. Evagrius war zu seiner Zeit ein gesuchter auch Mönchsbeichte genannt, bei der es nicht so sehr um geistlicher Vater, ein anerkannter Fachmann im Umgang die Vergebung der Sünden ging, sondern um eine geistliche mit Gedanken und Gefühlen – im Kampf mit den Dämo- Begleitung in der Führung der Seele. Es war gleichsam ein nen“, so David. therapeutisches Gespräch, eine Supervision, wie wir heute dazu sagen würden. Die Wüstenväter wurden von zahlreichen Menschen auf- „Muss ich mich noch weiter in Geduld üben oder erlaubt dein Verständnis von der Materie eine Abkürzung zu den Dämonen?“, drängte Paul. gesucht, die bei ihnen Rat suchten. Sie waren Meister. Heu- „Gut. Du weißt ja: Ihr Jungen seid zwar schneller – wir te nennt man das gerne Guru, was ja auch nichts anderes Alten kennen dafür die Abkürzung. Ich kürze ab“, behaup als Meister heißt. Anstatt wie heute nach Indien oder Nepal tete David die Führung des Gesprächs. „Um die ganze Kraft zu pilgern, ging man damals in die ägyptische Wüste, um der Dämonenlehre des Evagrius zu begreifen, werden wir mit diesen Weisen zu sprechen, die etwas vom Menschsein uns jedoch später oder bei einem der nächsten Treffen verstanden. Ab der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts wur- mit der Spiritualität der Wüstenväter auseinandersetzen den die Sprüche der ersten Wüstenväter von den Mönchen müssen. Wenn du dieses Wissen in deiner Arbeit einsetzen weitererzählt. So ein Spruch wird apophthegma genannt, willst, so werden wir darum nicht herumkommen. Machen was übersetzt werden kann mit ,ein treffend formulierter wir es nun also kurz statt langatmig, um dich nicht weiter Denkspruch‘. Aus dieser Zeit existieren 160 griechische auf die Folter zu spannen“, willigte David ein, Pauls Cha- Manuskripte. Eines, das von Evagrius verfasste, ist das hier.“ rakterschwäche der Ungeduld akzeptierend. David legte ein kleines, vergilbtes Büchlein auf den Tisch, auf dem „Praktikos“ stand. Im fahlen Licht des Raums – außer einer kleinen Kerze und dem düsteren Licht aus dem Innenhof gab es keine Beleuchtung – wurde der Eindruck des offensichtlich hohen Alters der Handschrift noch verstärkt. 36 37 Paul setzte nach: „Der Lästige ist ein kleiner Dämon, der unentwegt um mich herumspringt, wie ein kleines Kind, das nicht nachgibt, wenn es noch ein Eis möchte. Oder wie ein Kollege, der nicht und nicht aufhört, mir seine Urlaubs- Die Arten der Dämonen geschichten aufzudrängen. Um mir die anderen besser vorstellen zu können, hätte ich noch gerne mehr über die Ar- David nahm das „Praktikos“ in die Hand und begann eine ten der Dämonen gewusst.“ eingelegte deutsche Übersetzung des Originaltextes aus „Bevor Raphael dir die neun Plagegeister vorstellt, ein dem 4. Jahrhundert n. Chr. vorzulesen: „,Es ist für uns wich kurzer Einblick, wie man in der Antike die Menschen ein- tig, dass wir die verschiedenen Dämonen zu unterscheiden lernen teilte. Auf deine konkrete Bitte, dir noch mehr über die und dass wir die Begleitumstände ihres Kommens feststellen kön Arten der Dämonen zu erzählen, kann ich dir nur sagen: nen. Das können uns unsere Gedanken lehren. (…) Weiterhin sollen Das sind sie. Mehr als diese fünf Arten gibt es nicht. Die wir darauf achten, welche der Dämonen seltener angreifen und wel Dämonenlehre ist in ihrem Kern einfach und daher auch che die lästigeren sind, welche schneller wieder das Feld räumen so alltagstauglich. Nun zu dem Menschenbild der griechi- und welche stärkeren Widerstand leisten. Schließlich sollten wir schen Philosophie, das Evagrius seinem geistlichen Weg auch die kennen, die unvermittelt angreifen.‘ zugrunde legt. Dieses kennt drei Bereiche im Menschen: Wir bezeichnen sie auch gerne als ,der seltene Gast‘, ,der den begehrlichen Teil, den emotionalen Teil und den geisti- Lästige‘, ,der kurze Besucher‘, ,der Hartnäckige‘ und ,der gen Teil. Wir sagen dazu auch: der Bauchtyp, der Herztyp Angreifer aus dem Hinterhalt‘“, ergänzte Pater David Pauls und der Denktyp. Evagrius weist nun jedem der drei Typen erste Einblicke in die Welt der Dämonen. wieder drei Dämonen zu. Er spricht in seinem ,Praktikos‘ „Ich sehe einige schon vor mir“, sagte Paul schmunzelnd, zunächst nicht von Dämonen, sondern von logismoi.“ „vor allem den letzten Typus, den ,Angreifer aus dem David öffnete das kleine Büchlein an einer dafür vorge Hinterhalt‘. Für mich springt er wie ein Wegelagerer ohne sehenen Stelle und las: „Logismoi sind gefühlsbetonte Gedanken, Vorwarnung hinter dem Gebüsch hervor, brüllend, eine die über den Menschen herrschen können.“ Er blickte vom Text Grimasse schneidend wie ein Maorikrieger.“ auf und flocht ein:„1.600 Jahre später wird Sigmund Freud „Ja, ich sehe ihn auch so wie du, oder auch wie einen sagen: ,Wir sind nicht Herr im eigenen Haus.‘ Unsere Triebe, Terroristen, der Angst und Schrecken verbreitet“, ergänzte Leidenschaften der Seele haben uns besetzt. Evagrius nennt David. „Hast du auch schon Bilder von den anderen vier?“ sie auch Laster und ordnet sie den Dämonen zu, ,die dem 38 39 Menschen diese Laster einsetzen‘. Wir können auch sagen, die Intensität, auch darauf, wann sie nachlassen, wann sie entstehen Dämonen infizieren uns mit den Lastern. Evagrius verlangt und wieder vergehen. Er sollte die Vielfalt seiner Gedanken beob eine Begegnung mit den Gedanken und Gefühlen. Die achten, die Regelmäßigkeit, mit der sie immer wieder auftauchen, Selbsterkenntnis setzt Selbstbegegnung voraus. Hier erken- die Dämonen, die dafür verantwortlich sind, welcher die jeweils nen wir auch eine Verwandtschaft mit dem geistlichen Weg vorausgegangenen ablöst und welcher nicht. Die Dämonen sind vor des Buddhismus, wenn er sagt, dass ein Großteil des Weges allem über die wütend, die mit solchen Erkenntnissen ausgerüstet darin besteht, auf die Leidenschaften zu achten, sie ken- die Tugend üben. (…) Es ist ganz wesentlich, darüber Bescheid zu nenzulernen und gut mit ihnen umzugehen. Das Ziel ist wissen, damit, wenn die verschiedenen schlechten Gedanken auf die innere Ruhe, der innere Friede, die apatheia, die Gelas die ihnen entsprechende Art und Weise ans Werk gehen, wir ihnen senheit. Im Zustand der apatheia – der auch für die Stoiker wirksame Worte entgegenhalten können, das heißt, solche Worte, das höchste anzustrebende Gut ist – bekämpfen sich die Lei- die den, der am Werke ist, auch richtig bezeichnen. Wir müssen denschaften nicht mehr. Sie sind miteinander in Einklang. das tun, bevor sie uns aus unserer Geistesverfassung bringen. Nur In der apatheia ist unsere Seele gesund. Heute verstehen wir so werden wir gute Fortschritte erzielen. Wir werden sie verjagen, unter apathisch jedoch etwas anderes, nämlich Gefühllosig- sie aber werden sich ärgern und gleichzeitig wundern, mit welchem keit. Das meint apatheia nicht, sondern den Zustand, den Scharfsinn wir sie erkannt haben.‘“ wir erreichen können, wenn wir unsere logismoi, unsere Paul war begeistert. Diese Originalworte aus einer fernen Gefühle und Gedanken, erkennen und auch beherrschen Vergangenheit inspirierten ihn im ursächlichen Sinn des können. Platon hat schon gesagt: Hast du Emotionen oder Wortes, inspirare – einhauchen, Atem einflößen. Er spürte, haben die Emotionen dich? Besitzt du sie oder besetzen sie wie dieses Wissen ihm Klarheit über die Menschen und dich und besitzen sie dich? Dämonen sind bei Platon nicht ihre Abgründe verschaffen würde. nur negative Kräfte. Es sind Kräfte, die sich der Mensch auch gefügig machen kann. Für Evagrius sind sie ,personifi zierte psychische Mechanismen, die in uns wirken‘. Er fordert uns in diesem Büchlein auf, die Dämonen und ihre Gesetze genau zu beobachten. Ich lese dir daraus folgende Worte vor: ,Sollte ein Mensch aus eigener Erfahrung die schlimmen Dämonen kennenlernen und sich mit ihrer Kunst vertraut machen wollen, rate ich ihm, seine Gedanken gut zu beobachten. Achten sollte er auf ihre 40 41 Raphaels anhaltendes Schweigen ermutigte Paul, weiter zu analysieren: „Ich sehe da diesen Maorikrieger vor mir, wie er aus dem Gebüsch springt und mich infiziert. Womit aber? Auch der lästige Dämon gehört zu meinem Wesen … Die drei Menschentypen und ihre Dämonen Und auch hartnäckige Geister erkenne ich in mir. Ich komme mir schon vor wie Alexis Sorbas.“ Und Paul rezitier „Sollte es tatsächlich möglich sein, dieses Wissen in un- te einen seiner Lieblingstexte aus dem Film mit Anthony serer schnelllebigen Zeit zu nutzen? Ein Wissen, das in Quinn: ,Ich glaube wahrhaftig, du hast recht. Weniger als fünf, der Einsamkeit und Abgeschiedenheit erarbeitet worden sechs Dämonen dürften mir nicht im Leibe stecken.‘ So ergeht es ist. Wie werden die sachorientierten Menschen von heute mir auch gerade. Aber welche Dämonen sind das konkret?“, darauf reagieren?“, fragte sich Paul. Und er entschied sich, fragte Paul Raphael. ab jetzt nicht an die berufliche Verwertbarkeit zu denken, „Lass mich den drei Menschentypen die Dämonen zuord- sondern zuallererst diese Erkenntnisse am eigenen Leib nen. Dann wirst du auch leicht erkennen können, welcher anzuwenden. War er selbst ein Bauchtyp oder ein Herztyp Typ du vorrangig bist. Evagrius weist dem Bauchtyp, dem oder doch eher ein Denktyp? Welche Arten von Dämonen begehrlichen Teil, den Dämon der Unzucht, den der Völle- konnte er an sich erkennen? rei und den der Habgier zu.“ Raphael riss ihn aus seinen Gedanken: „Lieber Paul, dein Als Paul dies hörte, wurden wieder seine Zweifel wach, nach innen gewandter Blick zeigt mir, dass du nachdenkst. ob dieses „Modell“ in seine Arbeit passen würde. Was sollte Hast du Fragen?“ er mit der Unzucht in Betrieben. Ihm war es herzlich egal, „Ja, ich fragte mich soeben, welcher Typ ich bin und welche Arten von Geistern mich plagen.“ Raphael neigte seinen Kopf zur Seite und sagte nichts. welches sexuelle Verhalten erwachsene Menschen in Unternehmen und außerhalb pflegten. Raphael stoppte in seinen Ausführungen, da er die Zwei- Die Stille verleitete Paul, laut zu denken: „Würdest du fel Pauls wahrnahm. „Unzucht, Völlerei – das beschäftigt mich auch als Denktyp sehen? Ich habe aber doch auch dich offensichtlich. Gib den anderen Dämonen bitte noch etwas vom Herztyp, dem emotionalen Menschenschlag. eine Chance. Wir werden sodann einen nach dem anderen Und ich sehe aber auch schon, leider, ganz deutlich die abarbeiten und konkreten Lebenssituationen zuordnen“, zwei Dämonenarten vor mir, die zu mir gehören. Zumin- schlug Raphael vor und ging zu einem Flipchart, das in dest zwei.“ einer Ecke des Raumes stand. Er zeichnete auf der linken 42 43 Seite untereinander drei gleich große Rechtecke und schrieb in sie die drei Begriffe Bauch, Herz und Kopf. Unter die Dämonen das unterste Rechteck schrieb er von unten nach oben die < Begriffe Unzucht, Völlerei und Habgier. Ko p f Raphael fuhr in seinen Erklärungen fort: „Die Dämonen des emotionalen Herztyps heißen Traurigkeit, Zorn und Überdruss und die drei des Denk- oder Kopftyps sind die Ruhmsucht, der Neid und der Hochmut.“ Hochmut Neid Ruhmsucht < HERZ Überdruss Zorn Traurigkeit < BAUC H Habgier Völlerei Unzucht 44 45