Gewalt und Sexualität in der Pädagogik 2

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Gewalt und Sexualität in der Pädagogik 2
Macht und Sexualität in der pädagogischen Diskussion
Benno Hafeneger
Ich will mit sieben Punkten bzw. Diskursen skizzenhaft markieren, wie der Zusammenhang von
„Gewalt, Macht und Sexualität“ in der pädagogischen Diskussion verortet ist und mit welchen Akzenten er sich identifizieren lässt. Sie deuten zugleich an, wo weiterer Klarungs‐ und Forschungsbedarf besteht. Den Zusammenhang von „Gewalt, Macht und Sexualität“ hat es in pädagogischen
Institutionen und Einrichtungen schon immer gegeben, aber wir wissen empirisch (noch) wenig
und die Forschung beginnt – stimuliert durch die Berichte und öffentliche Debatte im Jahr 2010
sowie die Förderung durch das BMBF – gerade erst. Aber erste Publikationen zeigen bereits, in
welchem Ausmaß und mit welchen Legitimationen wir „Gewalt“ in der Pädagogik“ vorfinden. Dies
meint die vom pädagogischen Personal in pädagogischen Einrichtungen ausgehende Gewalt und
Macht (nicht Gewalt unter bzw. von Kinder/Jugendlichen, oder auch als Gewalt gegen Pädagogen). Es gibt erheblichen Forschungs‐ und Klärungsbedarf. Systematische Studien und Dunkelfelduntersuchungen werden hier Auskunft geben können; derzeit liegen zahlreiche Berichte (zur
Heimerziehung, über die OSO, Kirchen, Orden, Internate, aus der Jugendhilfe) vor. Es waren und
sind aber vor allem die journalistischen Recherchen und ersten Berichte sowie Erkenntnisse über
„Fälle“ aus dem kirchlichen und privaten Internatsbereich, vereinzelt auch aus der Kinder‐ und Jugendhilfe/‐arbeit – Kindertagesstätten und dem Sport und aus Ferienfreizeiten –, die für die öffentliche Diskussion gesorgt haben.
1. Diskurs: Gewalt gegen „Körper und Seele“ – immer ein Macht‐/Gewaltverhältnis
- als prügelnde, züchtigende Gewalt (breit und normal)
- als sexualisierte Gewalt (als eine Gewaltform)
- als beschämende Gewalt (Beschämungspädagogik)
Es sind in der langen Geschichte der Pädagogik weniger die spezifischen, besonders erniedrigenden sexualisierten Gewaltformen, sondern eher andere Macht‐ und Gewaltformen, die in der pädagogischen Diskussion – seit es die moderne Pädagogik gibt – publizistisch verhandelt und in
der Praxis angewandt wurden; und die zum Alltag der professionellen Pädagogik gehörten. Das
waren bis in die 1960er Jahre strafen, prügeln, dann bloßstellen und erniedrigen – demütigende
und missachtende – Gewaltformen, als gewaltförmiger Umgang mit dem kindlichen und jugendlichen Körper – und seiner Seele. Die Strafe war auf den Körper fixiert und zentriert und meinte
immer auch die Seele – das ganze Kind, den ganzen Jugendlichen (die es zu unterwerfen, deren
Wollen es zu brechen galt). Der Körper war in der Pädagogik bis weit ins 20. Jahrhundert Adressat von Zurichtung und Normalisierung/Zivilisierung, von sozialer Kontrolle, von Gewalt, Misshandlungen, Strafen und Züchtigungen (Schlägen, Ohrfeigen u. a.). Sie gehörten als soziale und erzieherische Medien und Praxen in Familien, Schulen und Heimen („die Väter hielten fest Zucht“) zu
den dominierenden Umgangsformen mit dem jungen – vor allem männlichen – Körper. Er sollte
angepasst, unterworfen und diszipliniert werden. Der strafende und züchtigende Umgang mit dem
Körper war lange Zeit das zentrale Medium im pädagogischen Alltag; mit ihm wurde die pädagogische Autorität durchgesetzt. So stammen denn auch die in den letzten Jahren enthüllten Fälle sexueller und weiterer körperlicher Gewalt gegenüber Kindern und Schülern durch Pädagogen,
Geistliche, Heimerzieher und andere Erziehungsberechtigte – ob in katholisch‐elitären, konservativen oder reformpädagogischen Einrichtungen, oder auch in Kinderheimen und „Jugendwerkhöfen“ der DDR – nicht nur, aber vor allem aus den ersten Nachkriegsjahrzehnten. Mit den gesellschaftlichen und kulturellen Modernisierungsprozessen veränderten sich ab Mitte der 1960er Jahre auch die Einstellungen in der Erziehung. Sie wurden toleranter, liberaler und dialogischer; dies
ging auch mit einem neuen – respektvollen und mit der Würdigung von Unversehrtheit und Integrität einhergehenden – Blick auf den kindlichen und jugendlichen Körper einher. Dabei lösten andere Bestrafungsformen die körperlichen Strafen ab; es sind die Beschämung und eine Beschä1
mungspädagogik (mit Praxen und sprachlich ausagiert), die herabsetzen, erniedrigen, demütigen,
ausgrenzen, mobben, ethnisieren, bloßstellen.
2. Diskurs: Historische Vergegenwärtigung
Die umfängliche und kaum überschaubare pädagogische Literatur und die öffentliche Diskussion
über den Sinn und die Bedeutung von „Strafe“ und strafenden „Maßnahmen“, über die Prügelstrafe bzw. körperliche Züchtigung und Prügelpädagogik sind seit dem 19. Jahrhundert bis in die 60er
Jahre des 20. Jahrhunderts immer auch kontrovers. Die Spanne reicht – mit unterschiedlichen
Begründungen und Differenzierungen – von deutlichen Bekenntnissen zur Strafe und körperlichen
Züchtigung bis hin zur strikten Ablehnung. Die Autoren beziehen sich in ihrem Für und Wider auf
die häusliche, schulische und berufsbildende Erziehung sowie die Fürsorge‐ / Heimerziehung vor
allem von Jungen. Körperliche Strafe ist mit der Hoffnung auf „Schuldeinsicht“ und „Besserung“
sowie mit der Durchsetzung von „Disziplin und Ordnung“ im Sozialgefüge der Familie, Schule und
Klasse, in Betrieb oder Heim verbunden.
In der Literatur wird wiederholt die Diskussion zur „Strafe als Problem der Erziehung“ referiert,
weiter werden das „Wesen“, der „Sinn“, die „Formen“, die „Stufen“ und das „Problem“ der Strafe,
die „innere und äußere Disziplin“, die „Psychologie der Strafe und des Strafens“ sowie die „pädagogische Autorität“ behandelt. In fast allen Schriften werden bis Mitte der 1960er Jahre die Strafen
bzw. unterschiedlichen Strafphänomene erzieherisch befürwortet – von der Belehrung, Verwarnung, Drohung, über den Verweis, das Schimpfen, Bloßstellen, Wegsperren, bis hin zu unterschiedlichen Formen und Härten von körperlichen Strafen. Der gemeinsame Tenor ist, dass zur
Gewährleistung von „Ordnung und Disziplin“ in der Schule ein abgestuftes Strafsystem notwendig
und begründet ist. Weiter besteht weitgehend Konsens, dass „nur“ die „von der herrschenden Sitte
genormten zugelassenen“, die „verdienten“ und „gerechten“, die „planmäßigen“ und „erzieherisch“
begründeten Strafen auf bestimmte Körperstellen, z.B. Schläge auf die Innenseite der Hände oder
das Gesäß „mittels der flachen Hand als auch durch bestimmte Instrumente“ wie Rute oder Stock,
methodisch begründet, notwendig und legitim sind. Dies wird im Unterschied zu durchweg abgelehnten „rohen und unüberlegten“, sadistischen, „verwerflichen und willkürlichen“ Strafen, Misshandlungen und Körperverletzungen oder auch zum Schlagen auf den Kopf gesehen.
Dabei zeigen zahlreiche Berichte, mit welcher Akribie über die Anwendung der Zuchtmittel nachgedacht wurde. Einige Autoren listen pädagogisch‐technisch auf, was die Anlässe und Gründe der
Strafen sind, wie das Ausmaß der Strafe sich legitimiert und auszusehen hat, welche Strafmittel
die richtigen sind; dann wie die Strafe sich mit der Schulform, dem Alter, Geschlecht und der Konstitution des Kindes und Jugendlichen begründet. Meist geht es – in der Schule – um das „Verprügeln des Gesäßes“ oder der „inneren Handflächen“ (weniger des Kopfes). Hingewiesen wird u. a.
auf die Einschränkung der Bewegungsfreiheit – „den Kopf oder Oberkörper des jungen Sünders
zwischen die Beine des Erziehers“, „übers Knie legen“ – während des „Strafvollzuges“ (Hävernick
1964, S. 90); im Strafmaß für die Schulen wird „von 3, selten von 4 oder 6 Schlägen“ (ebda., S.
94) mit dem Rohrstock oder der Rute „auf das Hinterteil“ gesprochen. Das „Schlagen auf die flache Hand“ wird aus den Bedürfnissen des Schulbetriebes und als wenig anstößige Züchtigung
erklärt; viele Strafen werden „gleich an Ort und Stelle“ (vor der Klasse) vollstreckt, härtere Strafen
„unter vier Augen“.
In der Diskussion kommen einige Autoren immer wieder – so hier beispielhaft Sachse (1879/1913)
– zu dem Ergebnis, dass die „körperliche Züchtigung im allgemeinen gerechtfertigt, in vielen Fällen empfehlenswert, in manchen Fällen sogar unentbehrlich ist“ (S. 174). Sie wird auch in der
Schule als rechtlich zulässig und pädagogisch gerechtfertigt gesehen (Stettner 1958, Willmann‐Institut 1967) und gleichzeitig als eine „üble Strafart“ charakterisiert (Scheibe 1967, S. 205),
die nur dann angewandt werden soll (so auch die landesrechtlichen Vorgaben), wenn alle anderen
Erziehungsmaßnahmen und Schulstrafen versagt haben. Bohl (1949) warnt vor „Mißbräuchen und
Überschreitungen des Züchtigungsrechtes“, sieht aber eine „prinzipielle Berechtigung einer vernünftigen körperlichen Bestrafung (…), weil Mißbrauch den vernünftigen Gebrauch nicht außer
Frage stellt“ (S. 10). Es ist die „letzte Stufe einer langen Skala von Schulstrafen“ und pädagogi2
schen Maßnahmen (Schaller 1968, S.307); und zur strafrechtlichen Würdigung heißt es, dass neben einer „raschen Ohrfeige“ vor allem „Schläge mit dem Rohrstock auf die Hand oder auf das
Gesäß“ wegen ihrer Ungefährlichkeit als zweckmäßige Erziehungsmittel angesehen werden
(Willmann‐Institut 1967, S. 121).
Die körperliche Züchtigung wird aus der Erziehungspflicht des Lehrers und aus dem Gewohnheitsrecht abgeleitet und begründet; wenn er rechtlich befugt ist und sich innerhalb der Grenzen der
Befugnis bewegt, wird er – in strafrechtlichen Verfahren – in der Regel freigesprochen. Die Züchtigungsbefugnis wird als Übertragung der väterlichen Gewalt auf den Lehrer für die Dauer des Unterrichts verstanden und ist damit „die dem Lehrer übertragene Berechtigung, bei gegebener Veranlassung die Schüler durch Schläge zu strafen (Züchtigungsrecht des Lehrers)“. Die pädagogische Ratgeberliteratur folgt bis in die 1960er Jahre dem Paradigma der „Kinderfehler“ (danach
sind sie schuld und verantwortlich für die angeblich notwendigen Strafen), weniger dem der „Elternfehler“ oder generell der „Erzieherfehler“. In dieser Literatur ist zur „Durchsetzung der Ordnung“ das Erziehungsmittel „körperliche Strafe“ (Züchtigung) bzw. eine Dressurpädagogik mit
„Schlägen als Strafe“ (Hävernick 1964) ein zentrales Thema. Die physische und geistig‐sittliche
Erziehung hin zu Anpassung und Abhärtung, zu Gehorsam und Unterordnung, zur Herausbildung
des Gewissens u. a. war in der Literatur verknüpft mit einem gestuften System körperlicher Strafen; die Empfehlungen reichten von der Ermahnung und Belehrung bis hin zur körperlichen Strafe
und Züchtigung.
3. Diskurs: Pädagogischer Eros – ein Herrschaftsinstrument
Im Rahmen der aktuellen Diskussion über sexualisierte Gewalt („Missbrauch“) richtet sich der
Blick vor allem auf die „Reformpädagogik respektive Landerziehungsheime“ (s. Oelkers mit seinen
vier Fallstudien) und die katholische Internatserziehung. Für die Reformpädagogik ist vor allem die
Figur des „pädagogischen Eros“ thematisiert und problematisiert worden. Er dient als Legitimation
und „Einfallstor“ für Entwicklungen, die sexualisierte Gewalt ermöglichen, begünstigen – hier gibt
es erziehungshistorisch noch viel Forschungsbedarf. Der „pädagogische Eros“ gehört zum Sinnstiftungsinstrument und Zentrum der Konzeptionen der schulpädagogischen Reformbewegung
und Landerziehungsheime mit ihren Gründungen und Begründern im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, worin neben nationalen Ambitionen vor allem Natur‐ und Körperbezüge mitschwingen
(Namen wie Lietz, Geheeb, Wyneken stehen für diese Denktradition). Beschworen werden ein
leidenschaftliches, mit Begeisterung und Hingebung verbundenes (erotisches) Freundschaftsverhältnis von Erziehern und Zöglingen sowie „der Eros des Pädagogen, (…) sich auf den Anderen
einzulassen und ihn auf einem Stufenweg über die Lust an der leiblichen Schönheit zur seelischen
und geistigen Schönheit zu drängen“ (Thiersch 1996, S. 34).
Oelkers Befund fällt ernüchternd aus: Der „pädagogische Eros“ war und ist nichts anderes als die
Metapher oder „das Theorem der Rechtfertigung“ sexueller Übergriffe, und gleichzeitig besorgt es
die Legitimation des Wegschauens und Verschweigens, des Herunterspielens und Vertuschen
unter einer zum elitären intellektuellen Korpsgeist verbrämten Kumpanei – also jenes Systems,
das als „System Becker“ die Odenwaldschule regierte und es noch bis vor kurzen mit dem Mantel
des Schweigens hüllte.
Um was ging es? – ein paar Stichworte
Der erotische „begeisterte echte Lehrer“ wird in der Reformpädagogik plakativ den unerotischen
„inhaltlosen Pflichtmaschinen“ in den Schulen gegenübergestellt, also den staatlichen Lehrkräften,
die sich nicht für ihre Schüler interessieren und so nicht ihre geistige Entwicklung, sondern nur
ihre Unterdrückung vor Augen haben. Damit war ein plakativer Dualismus in die Welt gesetzt, der
den „pädagogischen Eros“ nur gut aussehen lassen konnte. Es soll dabei nur um ein tiefes
„gleichgeschlechtliches Empfingen“ gehen, das sich auch der Vergänglichkeit des Glücks in der
„Liebe des reifen Mannes zum Knaben“ bewusst ist. Auf dieser Linie schrieb Kiefer schließlich
auch über „die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft“ (Kiefer 1918, 1919, 1920); das
Thema ist 1924 dann auf die Landerziehungsheime ausgedehnt worden. Das geschah nicht nur
bei Kiefer, sondern bei allen einschlägigen Autoren unter Rückgriff auf das griechische Konzept
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der platonischen „Knabenliebe“, die theoretisch – und auf der Linie der Berufung auf Sokrates –
von manifesten sexuellen Handlungen abgegrenzt wurde. Nur so konnte überhaupt von einem
„pädagogischen Eros“ die Rede sein, der sich nicht gleich vom Begriff her verdächtig macht. Dieser nichtsexuelle Eros wurde als Grundlage der Erziehung verstanden und konnte als „notwendige
Forderung einer wirklich modernen Erziehungsanstalt“ hingestellt werden. Betont wird die tiefe
Freundschaft zwischen Lehrern und männlichen Schülern; sie wurde neben „Kameradschaft“ als
Voraussetzung für gelingende Erziehungs‐ und Bildungsprozesse gesehen und war die angestrebte Sozialform im Lehrer‐Schüler‐ Verhältnis (auch in der bürgerlichen Jugendbewegung).
Nach Wyneken kann dem Knaben „nichts besseres (…) in diesem Alter begegnen, nichts tiefer
sein geistiges Leben und Schicksal bestimmen, als wenn seine Liebe den Mann umfasst, der Träger und Erzeuger hohen geistigen Lebens ist (…). Wir pflegen ein solches Verhältnis von der einen Seite Führerschaft, von der anderen Jüngertum und Gefolgschaft zu nennen. Durch das Führertum, und nur durch dieses, vollzieht sich die höchste und wertvollste Erziehung“ (Wyneken
1921, S. 52). Sexuelle Beziehungen sollte es in Landerziehungsheimen nicht geben, wenigstens
nicht solche, die illegitim waren, womit über Toleranzzonen und Wegschauen nichts gesagt ist.
Für die Schülerinnen und Schüler galt ein Kode der strikten Enthaltsamkeit, Übergriffe seitens der
Lehrkräfte wurden theoretisch ausgeschlossen und Sexualität zwischen den Schülern sollte nicht
stattfinden. Die körperliche Freizügigkeit betraf nur eine asketisch und gerade nicht erotisch gemeinte Nacktheit. Der „pädagogische Eros“ sollte dafür der Garant sein. Geistige Bildung sollte
einhergehen mit Gesundheit und Abhärtung und das unter ständiger Überwachung.
Sexuelle Übergriffe von Lehrern und Schülern kamen in der verzweigten Szene der Landerziehungsheime in Deutschland wiederholt vor. Die genaue Zahl dürfte schwer zu ermitteln sein, aber
es waren nicht nur Gerüchte, die diese Schulen von Anfang an begleitet haben. Und es waren
auch nicht nur interne Begebenheiten, die vertuscht werden konnten und wenn, dann nur zufällig
bekannt wurden. Manche Fälle wurden gerichtsnotorisch und gelangten so an die Öffentlichkeit.
Die Abgelegenheit des Ortes und die Organisation in abgeschotteten „Familien“ oder „Kameradschaften“ sorgen dafür, dass klandestine Verhältnisse herrschten.
Herrschaft, Macht und Realität
Welche Praxis sich mit dem „pädagogischen Eros“ verbunden hat, ist nie auch nur zwischen den
Landerziehungsheimen vergleichend untersucht worden. Die große Zahl von sexualisierter Gewalt
betroffenen Schüler und die Missbrauchsdebatte haben zweierlei provoziert bzw. stimuliert:
‐ zwischen pädagogischem Pathos, schöner Rhetorik auf der einen Seite und der pädagogischen
Wirklichkeit zu unterscheiden (empirischer und systematischer Forschungsbedarf),
‐ Strukturen, Strategien und Alltag pädagogischer Realität – hier mit zugewandter, liebender,
einfühlender …Pädagogik, so das Vokabular – als Machtverhältnisse empirisch‐seriös genauer in
den Blick zu nehmen.
Die rituelle Herrschaft von Älteren über Jüngere, die sich anpassen und unterwerfen müssen, hat
in Schulen wie bereits erwähnt eine lange Tradition, die bis auf das Mittelalter zurückreicht. Noch
im 19. Jahrhundert ist diese Praxis durchgehend als „Pennalismus“ bezeichnet worden. Neben
den Universitäten bezog sich der Begriff auch auf Internate, in denen erprobte Techniken der
Machtausübung zur Verfügung standen, die als „Schülerrohheiten“ unter Strafe standen, wenn sie
ans Licht kamen, und die gleichwohl nie verschwunden sind. Gemeint sind aggressive Übergriffe
von Älteren auf Jüngere, zu denen immer wieder auch sexuelle Handlungen zählten, die oft als
„Doktorspiele“ verharmlost wurden.
4. Diskurs: Intimisierte pädagogische Orte, Räume und Beziehungen
Insbesondere in Arbeitsfeldern der Betreuung, Erziehung, Beratung, Therapie und Pflege, in denen intensive Kontakte zwischen Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen stattfinden, können
schnell Abhängigkeitsverhältnisse entstehen und durch die enge Beziehungsarbeit bedingte Gelegenheitsstrukturen ausgenutzt werden. Von potenziellen Sexualstraftätern – Erwachsenen mit pädophilen Neigungen – ist bekannt, dass diese gezielt solche Arbeitsfelder suchen, die ihnen die
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Möglichkeit der Kontakt‐ und Beziehungsaufnahme zu Mädchen und Jungen bieten. Auffallend ist
an den gegenwärtig diskutierten Fällen, dass bezüglich der Sexualmoral zwei so unterschiedliche
Wertemodelle und Lernorte wie katholische und reformpädagogische Institutionen gleichermaßen
vom Phänomen der sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern (und Jugendlichen) betroffen sind.
Es liegt auf der Hand, dass in stationären sozialen und pädagogischen Institutionen wie z. B. Internaten, die Nähe in unterschiedlicher Dimension eine besondere Rolle spielt. Es handelt sich um
Einrichtungen, die die Lebenstotalität umfassen, und in diesem gesamten (schulischen und familialisierten) Alltagsleben kommen sich Menschen unweigerlich sehr nahe: geistig, emotional sowie
körperlich. In solchen sozialen und pädagogischen Einrichtungen wird „rund um die Uhr“ zusammen gelehrt und gelernt; miteinander gefeiert und gelacht; dabei werden auch Körperlichkeit und
Sexualität ge‐ und erlebt. Überall stellen sich Situationen und Formen von Nähe ein, die immer
auch sexuell missbraucht werden können.
Das Leben in „totalen Institutionen“ (Goffmann) ist ein Leben im Verborgenen (ohne Demokratie,
Öffentlichkeit, Kontrolle – und unterschiedlichen Lebenswelten wie Schule, Familie, Freizeit). Verborgen ist aber auch das sexuelle Leben, insofern das Schamgefühl den Schutz vor fremder Einflussnahme einfordert. Und verborgen ist immer auch das Verbrechen und bedarf der Verheimlichung. Es liegt nahe, dass sich diese drei Ebenen von Verborgenheit leicht überlappen. Die totale
Institution bildet das perfekte Setting, um öffentlich sanktionierte sexuelle Bedürfnisse ungesehen
von der Öffentlichkeit auszuleben.
Moralische und pädagogische Idealität überblendet die wenig bis nicht bewussten Dynamiken der
Wirklichkeit und führt infolgedessen zu ihrer ungehinderten Entfaltung. Die moralische und pädagogisierende Überblendung von mehr oder weniger sichtbaren Herrschaftsmechanismen führt
nicht zur Herrschaftsfreiheit, sondern viel eher zur Herrschaftsausübung in moralisierendem und
pädagogisierendem Gewand. Eine solche Überblendung der pädagogischen Beziehung führt nicht
nur zur vergeistigten Freundschaft zwischen Pädagogen und Schülern, sondern begünstigt auch
das unkontrollierte Ausleben der eigenen Triebhaftigkeit. Das Böse, so macht bereits Arendt deutlich, tritt in der Regel in der Welt nicht in Form des radikalen Bösen auf, sondern vielmehr im Gewand der Banalität, die in ihrer Banalität gleichwohl monströse Folgen haben kann.
5. Diskurs: Kinder‐ und Jugendbilder
Die Autoritäts‐ und Strafpädagogik ist der erzieherische Teil eines Obrigkeitsstaates, und dazu
gehörte auch lange Zeit – und bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein – die Vorstellung, dass das Kind und der Jugendliche (pädagogisch inspiriert und legitimiert) geschlagen,
geprügelt, mit einer als notwendig erachteten Härte und strategischen Gefühlskälte erzogen werden müsse, um es gesellschaftlich zu „zähmen“ und zu einem wertvollen, nützlichen, angepassten
Mitglied der Gesellschaft zu machen. Dabei wird in einer allgemeinen – mehr anthropologisch und
philosophisch orientierten – Reflexion und als pädagogische Begründung angeboten, dass „Strafen notwendig sind auf dem Weg des Menschen zu seiner Menschlichkeit“ (Schaller 1968,S. 315).
Die leitende Metapher war, den „Willen des Kindes zu brechen“.
Mit der wissenschaftlichen Entdeckung von Jugend und dem „Bild des Jugendalters als eines Krisenalters“ (als Gefahr und Gefährdung) beginnt auch die „Entdeckung der Pathologien des Jugendalters“ (Dudek 1990, S. 49). Negative und positive Bilder von der jungen Generation sind in
Zeitdiagnosen eingebettet, die kultur‐ und zivilisationskritisch sind, vielfach den kulturellen Niedergang und soziale Pathologien beschwören oder aber die junge Generation pädagogisch „aufladen“ und mit Fortschrittsmythen (des „Neuen“) belegen.
In Zeiten der Krise, des Umbruchs, der Erosion des bisherigen mentalen Gesamtklimas, wenn die
Gesellschaft „aus dem Tritt“ zu geraten scheint, wird mit dieser negativen Grundfigur „die“ Jugend
zum (Sicherheits‐)Risiko, zur Gefahr und Gefährdung; sie wird als Phase und Kraft ,,potentieller
Devianz“ (Eisenstadt) vorgestellt. Mit dieser Legendenbildung und negativen Mystifizierung wird
Jugend – eingebunden in die Denkfigur einer negativen Anthropologie und des Zukunftspessimismus – zur Projektionsfigur (Bühne, Leinwand) für Verdorbenheit in aufgebauten Szenarien der
Gefährdung von Staat, Gesellschaft und Kultur: ,,Immer geht es um die Frage, wie es mit der Ge5
sellschaft in Zukunft weitergeht, und immer ist Jugend ein Teil des Risikos dieser Zukunft“ (Abels
1993, S. 27). Nach diesem Bild (mit entsprechenden Fremdzuschreibungen, theoriegeleiteten
Spekulationen) drohen eine ,,ganze Jugend“ oder Teile von ihr Leistungen, Kultur und Werte der
Erwachsenengeneration, das hierarchische Generationenverhältnis und die kontrollierte Kontinuität gesellschaftlicher Entwicklung (mit der regulativen Idee von Gegenseitigkeitszyklen) zu gefährden. Die jeweiligen zeitbezogenen ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Dynamiken
im 20. Jahrhundert sind mit Generationsdynamiken verwoben, die der erwachsenen Generation
vielfach unbewusst und unverstanden bleiben. Im Pathologieverdacht, in Ängsten vor Veränderung und Beschleunigung drücken sich Ohnmachts‐ und Verzweiflungsgefühle der Erwachsenen
aus: dass ihnen „die Welt davonläuft“. In den negativen Formeln und Metaphern über die junge
Generation und deren bedrohtes Seelenheil schwingt die Sorge mit, dass die Erwachsenen die
Kontrolle und Deutungshoheit über die gesellschaftliche Entwicklung, die beunruhigende Beschleunigung und Zukunft verlieren. Nach diesem Bild müssen die Erwachsenen ihre gesellschaftliche Vorherrschaft gegen die junge Generation verteidigen und sichern. Dem steht ein positives,
idealisiertes Jugendbild gegenüber, wie es auch von der Reformpädagogik kreiert wurde. Erwachsene Pädagogen idealisieren und mystifizieren „die“ Jugend sowie die „pädagogische Beziehung“.
Sie machen die junge Generation (instrumentalisierend) zum Hoffnungsträger und zu Wunschfiguren des gelingenden pädagogischen Lebens; auch dies ist ein Herrschaftsbild.
6. Diskurs: Gesellschaft und Recht
Was heute juristisch als Straftat gilt, moralische Empörung hervorruft, Aufklärung einfordert und
Rücktritte begründet, war noch in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts normal und üblich; was als „Watschen“, „Klaps“ oder „Ohrfeige“ in den letzten Jahren öffentlich geworden ist und
für Empörung gesorgt hat, hätte damals kaum zu einer Anklage oder gar zu einer Verurteilung
geführt. Wir haben es mit einem langsamen Abschied vom – mit Gewohnheit und Wiederholung
verbundenen – Züchtigungsrecht und von den juristischen Rechtfertigungen für körperliche Strafen zu tun. Die Rechtsprechung berief sich in ihren Begründungen auch auf Gewohnheitsrecht
und Moral sowie auf die „elterliche Gewalt“, die die Eltern zu „Gewalthabern“ macht. Anfang des
20. Jahrhunderts beginnt mit der sukzessiven Verrechtlichung der Kindheit und Jugend eine Entwicklung, in der zunächst – nach dem Leitbild des BGB von 1900 – der Vater das Familienoberhaupt war, dem eine umfassende und weitgehend unbeschränkte elterliche Gewalt (Unantastbarkeit des Elternrechts) eingeräumt wurde.
Vom Lehrer (in der Schule) und vom Meister (in der beruflichen Ausbildung) erwarteten Eltern eine
gelegentliche „Tracht Prügel“, Ohrfeigen und Kopfnüsse für ihre Kinder; an diese Erzieher wurde
ein autoritär‐strafendes Generationenverhältnis delegiert. Ein solches Verhalten hat sich im 19.
und 20. Jahrhundert tief in den Mentalitätsstrukturen der Gesellschaft verankert und ist mit einer
langen Tradierungsgeschichte verbunden. Vor diesem Hintergrund waren staatliche Eingriffe – bei
Kindeswohlgefährdung – nur in extremen Ausnahme‐ und Notfällen möglich und an spezifische
Regelungen geknüpft. Die Autonomie des Vaters in der Erziehung ging später auf beide Elternteile
über und wurde als Familienautonomie zur Grundposition der Gesetzgebung, die bis heute gilt
(Art. 6 Abs. 2 GG, dann im BGB); dabei soll(te) die Kinder‐ und Jugendhilfe die Familie unterstützen. In der Adenauerzeit herrschten im „Goldenen Zeitalter der bürgerlichen Familie“ (Hradil) bis in
die 1960er Jahre auch in der Pädagogik, den erziehenden Institutionen und dem Professionsverständnis deutlich „restaurative Tendenzen“. Diese zeigten sich in den autoritären Familien‐ und
Schulverhältnissen und – als Misshandlung mit System – vor allem auch in der geschlossenen
Heim- bzw. Fürsorgeerziehung. Das Recht des Lehrherrn zur väterlichen Züchtigung der Lehrlinge
wurde im Jahr 1951 abgeschafft, und die schulischen Körperstrafen wurden im Jahr 1973 umfassend verboten und dann auch in den Schulgesetzen geregelt. Mit Blick auf die Beziehungsverhältnisse, in denen Kinder erzogen wurden, sind zwei weitere Daten in der Geschichte der Bundesrepublik interessant: Das Recht des Ehemanns zur Züchtigung seiner Ehefrau wurde erst im Jahr
1947 abgeschafft, und erst seit 1977 dürfen Frauen auch gegen den Willen des Ehemanns einen
Arbeitsvertrag unterschreiben. Mit der Sorgerechtsreform von 1979 wurde nur ein Verbot „entwür6
digender Erziehungsmaßnahmen“ eingeführt. Körperliche Züchtigung war nicht schon als solche
entwürdigend, der Klaps auf die Hand, die Ohrfeige oder die „verdiente Tracht Prügel“ blieben zulässige Erziehungsmittel. In einer Entscheidung des BGH wird noch im Jahr 1978 eine gelegentliche Züchtigung mit einer „Tracht Prügel“ für zulässig erklärt. Dies wurde – so die Begründung –
eingegrenzt, indem die „subjektiven und objektiven Umstände des Tatgeschehens“ zu prüfen seien; aber das Strafen mit „stockähnlichen Gegenständen“ stieß weiterhin auf das Verständnis der
Richter. Im BGB wurde 1980 aus der „elterlichen Gewalt“ die „elterliche Sorge“, und seit 1998 ist
das Schlagen von Kindern in Deutschland gesetzlich verboten. Nach § 1631 Abs. 2 BGB sind
entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen,
verboten, und im Jahr 2000 wurde festgelegt, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung
haben. Seitdem sind Kinder vor häuslicher Misshandlung gesetzlich geschützt; erst jetzt sind
sämtliche Körperstrafen verboten.
7. Diskurs: Umgangsformen
Die identifizierbaren Varianten und Muster kehren historisch wieder und zeigen u. a. wie eine betroffene Erwachsenengesellschaft und deren Institutionen sowie Repräsentanten und Professionen mit der jungen Generation umgehen bzw. bisher umgegangen ist.
a. Verdrängung, Vertuschung, Verharmlosung
Erste wiederkehrende Reaktionen waren und sind zunächst Versuche und Strategien, die
notwendige Aufklärung zu verhindern (so z. B. mehrere Schulleiter an der Odenwaldschule oder
Kirchenvertreter); es gab auch Ausnahmen, mutige Akteure mit Zivilcourage. Der externe – und
bisher einzige vorliegende – Bericht für das Erzbistum München und Freising zeigt, dass im Untersuchungszeitraum systematisch weggesehen, geschwiegen, vertuscht und Akten vernichtet,
Taten verharmlost und homosexuelle Mitarbeiter erpresst wurden. Ein erster Bericht über die OSO
zeigt – unvollständig – das Ausmaß sexualisierter Gewalt. Aufklärer in Institutionen wurden als
„Nestbeschmutzer“ beschimpft und unter Druck gesetzt. Für die Kirche und die OSO galt es wiederholt und lange Zeit wegsehen, tolerieren, vertuschen, nicht gewusst haben.
b. Umkehrung (Opfer werden zu Tätern)
In einer Verkehrung wurde auch versucht, Opfer zu Tätern zu machen; sie wurden als „Nestbeschmutzer“ beschimpft und zu „Feinden“ der Kirche oder der reformpädagogischen Ideen erklärt.
An der Odenwaldschule wurden z. B. Schüler, die sich beklagten, eingeschüchtert, verfolgt und
bestraft (und es gab Eltern, die ihren Kindern Hilfe verweigerten oder ihr Wissen für sich behielten). Die Institutionen wollen „brave“, „bittende“, resignative Opfer – keine, die sich selbstbewusst
und hartnäckig wehren, mit aggressiver Vernunft aufklären und sich selbst organisieren.
c. Personalisierung/Pathologisierung (nicht Strukturen, Abhängigkeiten, Hierarchien,
Machtverhältnisse…)
Es galt, die „Vorwürfe“ abzuwehren oder auch „auszusitzen“ (so Hartmut von Hentig nach der
FAZ, 19. Dez. 2010, FAZ, 23. Nov. 2011). Diese Haltung ist verbunden mit der Deutung, die „Vorfälle“ zu individualisieren, pathologisieren (als krankhafte Veranlagung von Einzelnen) und zu relativieren. Die fallbezogenen Problemdiagnosen und die individualisierte Diskussion über einzelne
fehlbare – unreife, berufsdeformierte, pädophile – Erzieher / Amtspersonen und deren „Abwege“
lassen sowohl die institutionellen Strukturen der Erziehung als auch die Lebenslagen, die gesellschaftlichen Bedingungen des Aufwachsens „aus dem Blick geraten“; vor allem aber das Leiden
und Schicksal der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Damit ging es vor allem darum, in der
Ursachendiagnose die Strukturen und Institutionen – so das „System Kirche“, das „Amt“ des Priesters oder die pädagogischen Einrichtungen mit ihrer „Idee“ – von den Taten abzuspalten. Es dominiert die „Sorge um die Kirche als Institution“ oder um die reformpädagogische Einrichtung. Vielfach wurden die Täter zurückgezogen, versetzt und abgeschirmt; zunächst ist eher ein Institutionen‐ und Täterschutz denn Hilfe für Opfer zu konstatieren. Ein weiteres Merkmal liegt in Versuchen das Image der Institution und der Entscheidungsträger zu erhalten, in dem argumentiert wird,
dass man eigentlich alles richtig gemacht habe; man habe alles notwendige „nach bestem Wissen
und Gewissen getan“ um weiteren Schaden zu verhindern.
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d. fehlende Opferperspektive
Von besonderer Bedeutung ist, ob und wie sich Institutionen, deren Repräsentanten und Täter auf
die Perspektive der Opfer einlassen. Die Berichte zeigen die Tiefe und Dauer der Beschämung,
Traumatisierung, Verletzung und Erniedrigung. Die „Gretchenfrage“ für wirkliche Lern‐ und (auch
materielle) Hilfeprozesse ist an diese Perspektive gebunden. Sie ernst zu nehmen und einzubinden ist die wirkliche Herausforderung für Dialogstrukturen zu ziehende Folgen innerhalb von
Strukturen, Institutionen.
e. neue Wege, erste Schritte – Reichweite(n)
Erst nach öffentlichem Druck und der Häufung von „Vorfällen“ und Berichten – und nachdem ein
System der sexualisierten Gewalt deutlich wurde und akzeptiert werden musste – wurden weitere
Konsequenzen gezogen. Der Distanzierung von den Tätern folgte die Bereitschaft – unterschiedlich akzentuiert –, aufzuklären und – so in der Odenwaldschule und im Erzbistum München – unabhängige Untersuchungen in Auftrag zu geben. Vertreter der katholischen Kirche – und vor allem
auch der Papst sowie der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz – sprachen (ontologisierend) von „furchtbaren Verbrechen“, einer „schweren Sünde“ und „tiefen Krise der Kirche“; das
unglaubliche Ausmaß des Missbrauchsskandals habe zu einer „Kirchen‐ und Glaubenskrise“ geführt. Angeboten werden allgemein Umkehr zum Bewährten, Erneuerung in Tradition, ein „neuer
Dialog“ (aber kein verändertes Priesterbild oder mehr Demokratie) und das Nachdenken über Täterprofile in der Kirche. Weiter wurden Entschädigungsleistungen für die Opfer in Aussicht gestellt.
Schließlich entstanden veränderte Richtlinien, es kam zu unterschiedlichen Formen der offenen
Debatte, Beauftragte (auch Präventionsbeauftragte) wurden bzw. werden eingesetzt, und es gab
Ankündigungen, neue Dialogstrukturen zu suchen, angstfreie und offene Gesprächskulturen zu
entwickeln.
Es bleibt abzuwarten, wohin die Reise geht; vor allem, wenn es um strukturierte, institutionelle
folgenreiche Veränderungen gehen soll. Schnell scheint das öffentliche Interesse abzuklingen und
nach dem (vorläufigen) Ende der Aufgeregtheit und Unsicherheiten scheint „Normalität“ Einkehr
zu halten. Ein bekannter Mechanismus im Umgang mit der jungen Generation, der die Frage aufwirft, was sich wirklich verändert (hat).
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