Bernd Polster: Es zittern die morschen Knochen . Orchestrierung der

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Bernd Polster: Es zittern die morschen Knochen . Orchestrierung der
Bernd Polster: Es zittern die morschen Knochen . Orchestrierung der Macht
in: Bernd Polster (Hrg.): Swing Heil. Jazz im Nationalsozialismus, Berlin 1989, S.9ff
Funkstille auf der Tanzwelle
An der Theke schrillt das Telefon. Der Wirt hebt ab, hört und schreit in den verrauchten Raum:
»Ist vielleicht ein Trompeter da?« Ein junger Mann springt auf und übernimmt mit freudigem Gesicht den Hörer. November 1931 im »Alten Dessauer«, einer Berliner Kneipe in der Kleinen Hamburger Straße. Dort trafen sich erwerbslose Musiker. Die halb illegale Selbsthilfe war zu jener Zeit
nötiger denn je. Seitdem zwei Jahre zuvor der Börsenkrach am »Schwarzen Freitag« Welthandel
und Währungssystem in einen gefährlichen Strudel gerissen hatte, bekamen auch Künstler die
wirtschaftliche Talfahrt zu spüren. Hundert bis hundertfünfzig von ihnen fanden sich pro Tag im
»Dessauer« ein, mit oder ohne Instrument, oft von frühmorgens bis abends vor einer Tasse Kaffee
hockend in der Hoffnung auf irgendein Engagement. Wenn es sein mußte, wurde übers Telefon
aus den zufällig Anwesenden eine Gelegenheitskapelle zusammengestellt.
Die Amüsierindustrie, eben noch auf vollen Touren, rutschte mit ins Konjunkturtief und litt nun
unter chronischer Überproduktion. In ihrem Betriebszentrum, der Berliner Friedrichstadt, gingen
nach und nach die Lichter aus. Als erster verabschiedete sich der »Schwarze Kater«. Das war im
Herbst 1930. Danach ging es Schlag auf Schlag. Innerhalb weniger Monate erstarb auch im »Eulenspiegel«, in der »Weißen Maus«, im »Monbijou«, im »Indra«, im »Confetti« und in der »Libelle«
das Vergnügen. Der Pleitegeier machte selbst vor noblen Häusern nicht halt. So schloß schließlich
sogar das gestandene »Palais de Danse« seine luxuriösen Pforten. Aus Wien wurde der Freitod
des Vergnügungsunternehmers Franz Wolf gemeldet. Er hatte Veronal genommen und hinterließ
150.000 Schilling Schulden. In seinem »Nachtfalter« hatte vordem die schwarze Jazztänzerin Josephine Baker ihre berühmte Bananen-Show gezeigt.
Bereits im Sommer 1931 waren in Berlin dreiviertel aller Berufsmusiker ohne Beschäftigung,
insgesamt fast fünftausend. Zwölf Monate später hatten noch einmal zweitausend von ihnen ihre
Instrumente beiseite legen müssen. Nicht besser sah die Lage im übrigen Deutschland aus. So
meldete der bayrische Musikerverband im November 1931, von den etwa 1700 organisierten Berufsmusikern seien weit über tausend ohne Verdienstmöglichkeit. Es herrsche blanke Not. Denn
nur rund 250 erhielten Erwerbslosenunterstützung. Weil die, die Arbeit hatten, sich oft gegenseitig
unterboten, verdingten sich viele Kapellenmitglieder für Minimalgagen. Sechs Mark am Tag, ohne
Kündigungsschutz und ohne Freizeit, waren keine Seltenheit. Diejenigen, die es in die Provinz
verschlug, spielten gar für fünfzig Mark im Monat, bei freier Kost und Logis. An solchen Hungerlöhnen bedient sich dann noch- die Regierung per »Notverordnung«. Wurden doch vom hochverschuldeten Staat stets neue Abgaben erfunden, zum Beispiel eine »Krisenlohnsteuer« und ein
»Steuerzinsenverzugszuschlag«.
Zusätzlich machte der aufkommende Tonfilm die Kino-Musiker überflüssig, die in großer Zahl auf
den Arbeitsmarkt drängten. Aber nicht nur die Leinwandpaläste, auch Hotels und Kleinkunstbühnen bauten aus Kostengründen ihre Kapellen ab. In manchem Cafe dudelte nun das Radio als
Ersatz für den Klavierspieler, den Stehgeiger oder den Schlagzeuger.
Zu allem Überfluß lag auch die Schallplattenindustrie danieder, seit dem Charlestonfieber ein
potenter Arbeitgeber für Studiomusiker. Als ihre Umsätze ins Bodenlose purzelten, brach ein
Plattenkrieg aus. Weil sie den Rundfunk für den wahren Schuldigen ihrer Misere hielten, riefen
die wichtigsten Firmen im Jahre 1932 einen Boykott der ReichsRundfunk-Gesellschaft aus. Sie
sperrten sämtliche Plattenlieferungen, die bis dahin stets gratis erfolgt waren. Auf allen deutschen
Radio- Tanzwellen herrschte vorerst Funkstille. Der Jazz, rasende Schlachtmusik der »golden«
genannten zwanziger Jahre, wurde zur brotlosen Kunst.
Die Behörden schwenkten, ermutigt durch den politischen Rechtsruck, wieder auf autoritären
Kurs. So drehten Landräte und Ordnungsämter kräftig an der Tanzverbotsschraube. Regierungsamtliche Erlasse trafen das Vergnügungsgewerbe. Ab 1932 galt in Preußen zum Beispiel ein Verbot, »durch Schaustellung von Personen in dürftiger Kleidung einen Gewinn zu erzielen«...