Leseproben Jane Austen E-Book
Transcription
Leseproben Jane Austen E-Book
Leseproben Jane Austen Die Romane Aus dem Englischen übersetzt von Ursula und Christian Grawe Nachwort und Anmerkungen von Christian Grawe Alle Rechte vorbehalten © 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen Made in Germany 2012 RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart www.reclam.de Jane Austen· Stolz und Vorurteil 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 5 1 2 3 4 5 6 Kapitel 1 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein Junggeselle im Besitz eines schönen Vermögens nichts dringender braucht als eine Frau. Zwar sind die Gefühle oder Ansichten eines solchen Mannes bei seinem Zuzug in eine neue Gegend meist unbekannt, aber diese Wahrheit sitzt in den Köpfen der ansässigen Familien so fest, dass er gleich als das rechtmäßige Eigentum der einen oder anderen ihrer Töchter gilt. »Mein lieber Mr. Bennet«,1 sagte seine Gemahlin eines Tages zu ihm, »hast du schon gehört, dass Netherfield Park endlich vermietet ist?« Das habe er nicht, antwortete Mr. Bennet. »Doch, doch«, erwiderte sie, »Mrs. Long war nämlich gerade hier und hat es mir lang und breit erzählt.« Mr. Bennet gab keine Antwort. »Willst du denn gar nicht wissen, an wen?«, rief seine Frau ungeduldig. »Du willst es mir erzählen; ich habe nichts dagegen, es mir anzuhören.« Das genügte ihr als Aufforderung. »Stell dir vor, mein Lieber, Mrs. Long sagt, dass ein junger Mann aus dem Norden Englands mit großem Vermögen Netherfield gemietet hat; dass er am Montag in einem Vierspänner heruntergekommen ist, um sich den Besitz anzusehen, und so entzückt war, dass er mit Mr. Morris sofort einig geworden ist; noch vor Oktober will er angeb5 Jane Austen· Stolz und Vorurteil 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 6 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 lich einziehen, und ein Teil seiner Dienerschaft soll schon Ende nächster Woche im Haus sein.« »Wie heißt er denn?« »Bingley.« »Ist er verheiratet oder ledig?« »Na, ledig natürlich! Ein Junggeselle mit großem Vermögen; vier- oder fünftausend pro Jahr. Ist das nicht schön für unsere Mädchen!« »Wieso? Was hat das mit ihnen zu tun?« »Mein lieber Mr. Bennet«, erwiderte seine Frau. »Wie kannst du nur so schwerfällig sein! Du musst dir doch denken können, dass er eine von ihnen heiraten soll.« »Ist er deshalb hierhergezogen?« »Deshalb! Unsinn, wie kannst du nur so etwas sagen! Aber es könnte doch gut sein, dass er sich in eine von ihnen verliebt, und darum musst du ihm einen Antrittsbesuch machen, sobald er kommt.« »Dazu sehe ich gar keine Veranlassung. Warum gehst du nicht mit den Mädchen hin, oder besser noch, schick sie allein, sonst wirft Mr. Bingley noch ein Auge auf dich; so hübsch wie sie bist du allemal.« »Du schmeichelst mir, mein Lieber. Meine Schönheit – das war einmal, aber jetzt halte ich mir darauf nicht mehr viel zugute. Wenn eine Frau fünf erwachsene Töchter hat, sollte sie nicht mehr von ihrer eigenen Schönheit reden.« »In solchen Fällen ist ihre Schönheit oft auch nicht mehr der Rede wert.« »Trotzdem, mein Lieber, du musst unbedingt Mr. Bingley besuchen, wenn er eingezogen ist.« »Das ist mehr, als ich versprechen kann.« »Aber denk doch an deine Töchter. Was für eine Partie wäre das für eine von ihnen. Sogar Sir William und Lady Lucas wollen bei ihm vorsprechen, und zwar nur deshalb, 6 Jane Austen· Stolz und Vorurteil 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 7 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 denn im Allgemeinen machen sie neuen Nachbarn ja keine Besuche. Du musst einfach hingehen. Wie können wir ihn denn besuchen, wenn du nicht gehst.« »Du hast zu viele Bedenken. Ich bin überzeugt, Mr. Bingley freut sich über euren Besuch. Ich gebe dir ein paar Zeilen mit meiner herzlichen Zustimmung mit, diejenige meiner Töchter zu heiraten, die ihm am besten gefällt. Allerdings muss ich ein gutes Wort für meine kleine Lizzy einlegen.« »Das wirst du nicht tun. Lizzy ist keinen Deut besser als die anderen; wenn du mich fragst, ist sie bei weitem nicht so hübsch wie Jane und bei weitem nicht so vergnügt wie Lydia. Aber immer ziehst du sie vor.« »Keine von ihnen ist besonders empfehlenswert«, antwortete er; »sie sind alle genauso albern und dumm wie andere Mädchen. Nur begreift Lizzy etwas schneller als ihre Schwestern.« »Mr. Bennet, wie kannst du nur über deine eigenen Kinder so abfällig reden! Es macht dir Spaß, mich zu ärgern. Mit meinen armen Nerven hast du wohl gar kein Mitleid.« »Du missverstehst mich, meine Liebe. Ich habe großen Respekt vor deinen Nerven. Sie und ich sind alte Freunde. Seit mindestens zwanzig Jahren höre ich dich von ihnen mit großer Besorgnis sprechen.« »Oh, du ahnst ja nicht, was ich durchmache!« »Ich hoffe, du wirst es überleben und noch viele junge Männer mit viertausend pro Jahr hierherziehen sehen.« »Da du sie nicht besuchen willst, werden uns auch zwanzig nicht retten.« »Sei überzeugt, meine Liebe, wenn zwanzig da sind, besuche ich sie einen nach dem anderen.« In Mr. Bennet vereinigten sich Schlagfertigkeit, sarkastischer Humor, Gelassenheit und kauzige Einfälle zu einer 7 Jane Austen· Stolz und Vorurteil 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 8 1 2 3 4 5 6 7 8 so merkwürdigen Mischung, dass es seiner Frau auch in dreiundzwanzig Ehejahren nicht gelungen war, ihn zu begreifen. Ihr Gemüt war leichter zu durchschauen. Sie war eine Frau von geringer Einsicht, wenig Weltkenntnis und vielen Launen. Wenn sie unzufrieden war, glaubte sie, nervöse Zustände zu haben. Ihre Lebensbeschäftigung war die Verheiratung ihrer Töchter, Besuche und Neuigkeiten waren ihr Lebenstrost. 9 10 11 12 Kapitel 2 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Mr. Bennet war einer der Ersten, die Mr. Bingley ihre Aufwartung machten. Er hatte von Anfang an vorgehabt, ihn aufzusuchen, obwohl er seiner Frau bis zuletzt das Gegenteil versichert hatte; und bis zum Abend nach dem Besuch wusste sie auch nichts davon. Dann aber kam es folgendermaßen ans Licht: Mr. Bennet sah seiner zweiten Tochter beim Annähen eines Hutbandes zu und sagte plötzlich zu ihr: »Hoffentlich gefällt der Hut Mr. Bingley, Lizzy.« »Wie sollen wir denn wissen, was Mr. Bingley gefällt«, sagte ihre Mutter pikiert, »wenn wir ihn nicht besuchen dürfen.« »Aber vergiss nicht, Mama«, sagte Elizabeth, »dass wir ihm in Gesellschaft begegnen werden und Mrs. Long versprochen hat, ihn uns vorzustellen.« »Mrs. Long wird nichts dergleichen tun. Sie hat selbst zwei Nichten und ist eine egoistische Heuchlerin. Ich halte gar nichts von ihr.« »Ich auch nicht«, sagte Mr. Bennet, »und wie ich glücklicherweise sagen kann, werdet ihr auf die Gefälligkeit auch nicht angewiesen sein.« 8 Jane Austen· Stolz und Vorurteil 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 9 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Mrs. Bennet ließ sich zu keiner Antwort herab, aber da sie sich nicht beherrschen konnte, fing sie an, eine ihrer Töchter auszuschimpfen. »Hör auf zu husten, Kitty, um Himmels willen! Nimm ein bisschen Rücksicht auf meine Nerven. Du trampelst auf ihnen herum.« »Kittys Husten ist wirklich rücksichtslos«, sagte ihr Vater, »sie hustet zur falschen Zeit.« »Ich huste ja schließlich nicht zum Vergnügen«, antwortete Kitty ärgerlich. »Wann ist dein nächster Ball, Lizzy?« »Morgen in vierzehn Tagen.« »Ach, richtig«, rief ihre Mutter, »und Mrs. Long kommt erst am Tag vorher zurück, und deshalb kann sie ihn uns auch nicht vorstellen, denn sie kennt ihn selbst noch nicht.« »Dann, meine Liebe, wirst du deiner Freundin zuvorkommen und das Vergnügen haben, Mr. Bingley ihr vorzustellen.« »Ausgeschlossen, Mr. Bennet, ausgeschlossen, wenn ich ihn doch selbst nicht kenne. Du willst uns auf den Arm nehmen.« »Deine Umsicht ehrt dich. Eine vierzehntägige Bekanntschaft ist natürlich nicht viel. Nach vierzehn Tagen kennt man einen Menschen ja kaum. Aber wenn wir es nicht wagen, wird es jemand anders tun; schließlich müssen auch Mrs. Long und ihre Nichten ihre Chance wahrnehmen, und deshalb wäre sie dir für diesen Liebesdienst sicher dankbar. Wenn du es also ablehnst, werde ich es in die Hand nehmen.« Die Mädchen starrten ihren Vater an. Mrs. Bennet sagte nur: »Unsinn, Unsinn!« »Darf ich auch den Sinn dieser so entschiedenen Ableh9 Jane Austen· Stolz und Vorurteil 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 nung erfahren?«, rief er. »Hältst du die gesellschaftlichen Umgangsformen für Unsinn? Legst du gar keinen Wert auf eine korrekte Vorstellung? Da kann ich dir nicht ganz zustimmen. Was meinst du, Mary? Du bist doch eine grundgescheite junge Dame, liest gewichtige Bücher und machst dir Auszüge daraus.« Mary hätte gerne etwas Tiefsinniges gesagt, aber es fiel ihr nichts ein. »Wir wollen«, fuhr er fort, »während Mary ihre Gedanken zurechtlegt, zu Mr. Bingley zurückkehren.« »Ich habe genug von Mr. Bingley!«, rief seine Frau. »Das zu hören, bedaure ich. Aber warum hast du mir das nicht vorher gesagt? Wenn ich das heute Morgen gewusst hätte, hätte ich ihm meine Aufwartung gar nicht erst gemacht. Eine unglückliche Situation, aber da ich ihn nun schon einmal aufgesucht habe, lässt sich die Bekanntschaft nicht mehr umgehen.« Das Erstaunen der Damen war ganz nach seinem Wunsch. Mrs. Bennets Überraschung war vielleicht am größten, aber als der erste Freudentaumel vorüber war, erklärte sie, genau das habe sie die ganze Zeit erwartet. »Wie nett von dir, mein lieber Mr. Bennet. Aber ich wusste, ich würde dich zu guter Letzt herumkriegen. Ich habe mir gleich gedacht, dass du deine Töchter zu sehr liebst, um dir solche Bekanntschaft entgehen zu lassen. Nein, wie mich das freut! Und es ist ein köstlicher Witz, dass du heute Morgen hingegangen bist und uns bis eben nichts davon gesagt hast.« »Jetzt kannst du so viel husten, wie du willst, Kitty«, sagte Mr. Bennet und, erschöpft von den Gefühlsausbrüchen seiner Frau, verließ er mit diesen Worten das Zimmer. »Was habt ihr doch für einen großartigen Vater, ihr Mädchen!«, sagte sie, als die Tür wieder geschlossen war. 10 Jane Austen· Stolz und Vorurteil 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 11 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 »Ich weiß gar nicht, wie ihr ihm seine Fürsorge je vergelten wollt – von meiner ganz zu schweigen. In unserem Alter ist es weiß Gott kein Vergnügen, jeden Tag neue Bekanntschaften zu machen; aber für euch tun wir ja alles. Lydia, mein Kind, du bist zwar die Jüngste, aber Mr. Bingley wird bestimmt auf dem nächsten Ball mit dir tanzen.« »Na und!«, sagte Lydia beherzt, »davor habe ich gar keine Angst; ich bin zwar die Jüngste, aber auch die Größte.« Den Rest des Abends verbrachten sie mit Überlegungen, wie bald er wohl Mr. Bennets Besuch erwidern würde und wann sie ihn zum Essen einladen sollten. 13 14 15 16 Kapitel 3 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Trotz aller Fragen, die Mrs. Bennet mit Unterstützung ihrer fünf Töchter zu diesem Thema stellte, ließ sich ihr Mann keine befriedigende Beschreibung von Mr. Bingley entlocken. Dabei versuchten sie es mit allen Mitteln: Sie überfielen ihn mit unverhohlenen Fragen, mit listigen Unterstellungen und mit weit hergeholten Vermutungen. Aber er ließ sich trotz all ihrer Geschicklichkeit nicht in die Falle locken, und so mussten sie zu guter Letzt dankbar für die Informationen aus zweiter Hand sein, die ihnen ihre Nachbarin, Lady Lucas, gab. Ihr Bericht fiel ausgesprochen günstig aus. Sir William war entzückt von Mr. Bingley gewesen. Er war jung, sah hinreißend aus, war äußerst umgänglich, und, um allem die Krone aufzusetzen, er hatte vor, zum nächsten Ball mit großer Gesellschaft zu kommen. Nichts hätte vielversprechender sein können. Gerne tanzen hieß schon halb verliebt sein; und so machte 11 Jane Austen· Stolz und Vorurteil 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 452 1 Nachwort 2 3 »Of all great writers she is the most difficult to catch in the act of greatness.« 4 5 6 Virginia Woolf über Jane Austen 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 1 »Pride and Prejudice. Ein Roman. In drei Bänden. Von der Autorin von Sense and Sensibility« erschien anonym zum Preise von 18 Shilling und in 1500 Exemplaren Ende Januar 1813 in London. Das Buch war innerhalb von sechs Monaten ausverkauft, so dass noch im selben Jahr eine zweite Auflage herausgebracht werden konnte – bei Publikum und Kritik, soweit sie damals Romane zur Kenntnis nahmen, durchaus ein Erfolg für die Autorin. Aber wer war sie? Auch auf dem Titelblatt ihres ersten, zwei Jahre vorher erschienenen Romans hatte es nur geheißen: »by a lady«, von einer Dame. Und sie genoss ihre Anonymität. Es traf sich nämlich, dass bei der Ankunft ihrer Belegexemplare von Pride and Prejudice eine Nachbarin zu Besuch war, der die Autorin und ihre Mutter das Geheimnis nicht verrieten, aber aus dem brandneuen Roman vorlasen: »Sie fand es ganz witzig, die arme Seele. Das konnte sie denn doch nicht verhindern bei zwei Leuten, die sie so zum Lachen anregten, aber Elizabeth gefällt ihr anscheinend wirklich gut. Ich muss selbst sagen, ich finde sie eine der hinreißendsten Gestalten, die je gedruckt erschienen sind, und ich habe keine Ahnung, wie ich mit denen gnädig sein soll, die nicht wenigstens sie leiden mögen.« Aber zu dieser Befürchtung war wenig Anlass. Elizabeth Bennet – so meint Jane Austens Biographin E. Jenkins – 452 Jane Austen· Stolz und Vorurteil 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 453 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 »hat vielleicht mehr Verehrer als jede andere Heldin in der englischen Literatur«. R. L. Stevenson ging sogar so weit zu sagen, jedes Mal wenn Elizabeth Bennet den Mund aufmache, würde er am liebsten vor ihr niederknien. Dabei war schon zur Zeit ihres Erscheinens die Konkurrenz groß: Es wimmelte von Damen, die Romane schrieben, und von Heldinnen mit den atemberaubendsten Schicksalen und so exotischen Namen wie Belinda, Evelina, Cecilia und Emmeline. Aber schon ein Teil der Zeitgenossen spürte, dass Elizabeth Bennets Geschichte nicht einer der gängigen Frauenromane der Zeit war, und kein Geringerer als Walter Scott hat es 1816 als Erster ausgesprochen: »Statt der großartigen Szenen einer Phantasiewelt eine nicht übertriebene und treffende Darstellung dessen, was Tag für Tag um [den Leser] vorgeht.« Das Sensationelle in Jane Austens Romanen war, dass darin nichts Sensationelles geschah. Schon die alltäglichen Namen ihrer Heldinnen sind Teil dieses Protests gegen die artifizielle Welt des Romans der Zeit. Er brachte den Lesern oder eher Leserinnen das Gruseln bei oder ließ sie sentimentale Frauenschicksale miterleben – oder beides zugleich. Die ›Gothic Novel‹, der gotische Roman, war im Schwange. Grauenhaftes widerfuhr darin unschuldigen jungen Damen von grausamen Verwandten oder frustrierten Liebhabern in unheimlichen alten Schlössern, auf Friedhöfen oder in finsteren Wäldern. Anne Radcliffe war die erfolgreiche Meisterin des Genres, und unsere Autorin hat sie in Northanger Abbey köstlich parodiert: Die arglose junge Catherine Morland liest gerade Mysteries of Udolpho (1794) der Anne Radcliffe und hofft, bei ihrem Besuch auf einem alten Herrensitz ebenso schreckliche Familiengeheimnisse zu entdecken wie in dem Buch – hat der Hausherr seine Frau ermordet, oder hält er sie in einem dunklen 453 Jane Austen· Stolz und Vorurteil 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 454 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Verlies gefangen? –, aber der zweite Sohn des Hauses heilt sie von ihrem Wahn, gotische Romane für Wirklichkeit zu halten und – heiratet sie. Es ist die Autorin selbst, die mit der Heldin denkt: »So reizend all die Werke von Mrs. Radcliffe und so reizend sogar die Werke all ihrer Nachahmer waren, nach der Wirklichkeitstreue der Charaktere (›human nature‹) durfte man darin nicht fragen.« Nicht minder beliebt war der sentimentale Frauenroman in der Nachfolge der für uns heute so langatmigen Briefromane Samuel Richardsons. Ein armes Mädchen, wenn möglich Waise, wird darin meist in die große Welt eingeführt und entpuppt sich gern als reiche Erbin. Die populären Vertreterinnen dieses Genres waren die melodramatische Elizabeth Inchbald, Fanny Burney, die von der Autorin von Pride and Prejudice geschätzt wurde, und Maria Edgeworth, deren Anerkennung sie suchte und nicht fand und die das Verdienst hat, mit Castle Rackrent (1800) das irische Lokalkolorit – wie Scott das schottische – für die Literatur entdeckt zu haben, was etwa bei Charles Maturins Melmouth the Wanderer (1820) und William Thackerays Barry Lyndon (1844) weiterwirkt. Die Frivolität des städtischen Lebens wird darin mit leichtem Schaudern ausgemalt, zarte Gefühle werden ausgiebig beschrieben, und Damen brechen gern in Tränen aus oder fallen in Ohnmacht. Die sanfte und naive Heldin begegnet dem charmanten Bösewicht und der raffinierten Dame von Welt, ist aber keineswegs korrumpierbar und findet schließlich ihr Glück. Mrs. Burneys Evelina (1778) heißt schon im Untertitel »Geschichte einer jungen Dame beim Eintritt in die Gesellschaft«, und auch M. Edgeworths Belinda (1801) wird im Laufe der Handlung »eine junge Dame, die gerade in die Gesellschaft eintritt« genannt. Die kühle Elizabeth Bennet ist auch hier ein Gegentyp. 454 Jane Austen· Stolz und Vorurteil 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 455 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Die drei erfolgreichen Schreiberinnen solcher Romane waren in aller Munde, aber wer war die Verfasserin von Pride and Prejudice? Mr. Clarke, der Bibliothekar des Prinzregenten, wusste es durch ihren Bruder. Er war wie sein Herr ein Bewunderer ihrer Romane und schrieb ihr, nachdem er sie kurz vorher bei ihrem Besuch in London auf ausdrücklichen Wunsch Seiner Königlichen Hoheit durch deren Bibliothek geführt hatte, im Herbst 1815, ob sie nicht einen Roman »über die Lebensgewohnheiten, den Charakter und den beruflichen Enthusiasmus eines Geistlichen« schreiben könne? Die englische Literatur habe es bisher versäumt, diesem Berufsstand den ihm gebührenden Tribut zu zollen. – (Trotz Goldsmiths The Vicar of Wakefield, Mr. Clarke?) – Die Autorin antwortete ihm auf diesen Brief, dem J. B. Priestley »wegen seines pompösen Schwachsinns« Unsterblichkeit gewünscht hat, dazu sei sie nicht imstande: »Eine humanistische Bildung oder wenigstens eine ausgedehnte Kenntnis der älteren und neueren englischen Literatur erscheint mir unerlässlich für die Romangestalt, die Ihrem Geistlichen gerecht würde […]. Ich aber kann mich in aller Eitelkeit rühmen, die ungebildetste und unwissendste Frau zu sein, die sich je ans Romanschreiben gewagt hat.« Das war übertrieben; und Mr. Clarke hatte wohl das 1814 erschienene Mansfield Park nicht sorgsam genug gelesen, denn darin ist in der Gestalt Edmund Bertrams die Würdigung des Geistlichen schon enthalten. Oder forderte er, der selber Geistlicher war, Wiedergutmachung für die groteske Figur des Mr. Collins? Jedenfalls gab er nicht auf. Unterdessen mit dem neuesten Roman der Autorin, Emma, vertraut, der Seiner Königlichen Hoheit auf deren eigenen Wunsch gewidmet war, und seit kurzem Privatsekretär des Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg, dessen Hochzeit mit 455 Jane Austen· Stolz und Vorurteil 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 456 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 der Tochter des Regenten bevorstand, wandte er sich noch einmal an die Autorin und riet ihr zu einem historischen Liebesroman (›historic romance‹), der dem Hause Coburg Ehre antue und diesmal dem Prinzen gewidmet sein dürfe. Nun musste die zurückhaltende Schriftstellerin deutlicher werden: »Ich glaube schon«, schrieb sie ihm im Frühjahr 1816, »dass ein historischer Liebesroman über das Haus Coburg profitabler und populärer wäre als die häuslichen Szenen auf dem Lande, mit denen ich mich beschäftige. Aber ich könnte einen Liebesroman ebenso wenig schreiben wie ein Versepos […]. Nein, ich muss bei meinem Metier bleiben und meinen eigenen Weg gehen, auch wenn mir Erfolg dabei nie wieder zuteilwird; auf jede andere Weise würde ich meiner Meinung nach unweigerlich scheitern.« Die häuslichen Szenen auf dem Lande – »Drei oder vier Familien in einem Dorf auf dem Lande, das ist der ideale Romanstoff (›the very thing to work on‹)« –, die heute zu den Höhepunkten der englischen Prosaliteratur gehören, wurden in der Hand der Autorin zu sublimen Kunstwerken. Wie gut, dass sie auf Mr. Clarkes Vorschläge nicht einging, dass sie ihren literarischen Weg unbeirrt verfolgte. Aber wer war sie? Die Öffentlichkeit erfuhr es offiziell erst ein halbes Jahr nach ihrem Tode, als ihr Bruder ihre beiden vollendeten nachgelassenen Romane publizierte und mit einer biographischen Notiz versah. Alle vier zu ihren Lebzeiten veröffentlichten Bücher erschienen anonym, obwohl ihr Name ein offenes Geheimnis zu werden begann, als Jane Austen 1817 im Alter von 42 Jahren starb. 30 31 32 33 456 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 5 1 2 3 4 5 6 Kapitel 1 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Sir Walter Elliot von Kellynch Hall in Somersetshire1 war ein Mann, der außer dem Adelskalender nie ein Buch zum Vergnügen in die Hand nahm; dabei aber fand er Beschäftigung in müßigen und Trost in trübsinnigen Stunden; dabei erregte der Gedanke an den ausgesuchten Kreis der noch überlebenden ältesten Adelsfamilien Bewunderung und Ehrfurcht in ihm; dabei verwandelten sich alle unangenehmen Empfindungen, die wohl mit seinen häuslichen Umständen zusammenhingen, unweigerlich in Mitleid und Verachtung, wenn er die schier endlosen Adelsverleihungen des letzten Jahrhunderts durchblätterte; und dabei las er, wenn alle anderen Seiten des Buches ihre Wirkung verfehlten, mit nie versagendem Interesse seine eigene Geschichte. Dies war die Stelle, an der sich sein Lieblingsbuch unterdessen ganz von selbst aufschlug. Elliot von Kellynch Hall »Walter Elliot, geb. 1. März 1760, verh. 15. Juli 1784 mit Elizabeth, Tochter von James Stevenson, wohlgeb., von Southpark in der Grafschaft Gloucester. Seine Gemahlin (die 1800 starb) gebar ihm folgende Kinder: Elizabeth (1. Juni 1785), Anne (9. August 1787), einen totgeborenen Sohn (5. November 1789), Mary (20. November 1791).« Genau so war der Absatz ursprünglich aus den Händen des Druckers gekommen, aber Sir Walter hatte ihn da5 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 6 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 durch verbessert, dass er zu seiner eigenen Information und zu der seiner Familie hinter Marys Geburtsdatum die Worte »verh. 16. Dezember 1810 mit Charles, Sohn und Erbe von Charles Musgrove, wohlgeb., von Uppercross in der Grafschaft Somerset« ergänzt und präzise Tag und Monat eingetragen hatte, an dem ihm seine Frau gestorben war. Dann folgten in den üblichen Formulierungen Geschichte und Aufstieg der alten und angesehenen Familie: wie sie sich ursprünglich in Cheshire niedergelassen hatten, wie sie in Dugdale als höchste königliche Beamte der Grafschaft und als Abgeordnete in drei aufeinanderfolgenden Parlamenten mit ihrem Eifer im Dienst der Krone und der Verleihung der Baronatswürde im ersten Jahr der Herrschaft Karls II. und all den Marys und Elizabeths, die sie geheiratet hatten, erwähnt wurden – was alles in allem zwei eindrucksvolle Duodezseiten füllte und nach dem Wappen und dem Wahlspruch abschloss mit: »Hauptsitz: Kellynch Hall in der Grafschaft Somerset«, und dem folgenden Zusatz, wieder in Sir Walters eigener Handschrift: »Erbe: William Walter Elliot, hochwohlgeb., Urenkel des zweiten Sir Walter.« Eitelkeit war das A und O von Sir Walters Charakter – persönliche und gesellschaftliche Eitelkeit. Er hatte in seiner Jugend bemerkenswert gut ausgesehen und war mit vierundfünfzig noch immer ein ausgesprochen ansehnlicher Mann. Nur wenige Frauen verschwendeten wohl mehr Gedanken an ihre äußere Erscheinung als er, und nicht einmal der Kammerdiener irgendeines gerade geadelten Lords hätte begeisterter über seine Stellung in der Gesellschaft sein können. Seiner Meinung nach wurde der Segen der Schönheit nur vom Segen eines Baronats übertroffen, und der Sir Walter, der diese Gaben in sich ver6 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 7 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 einigte, war der ständige Gegenstand seiner tiefsten Ehrfurcht und Anbetung. In einer Hinsicht war sein Stolz auf sein gutes Aussehen und seinen Rang berechtigt, denn nur ihnen verdankte er wohl eine Frau, die charakterlich allen Ansprüchen, die er diesbezüglich stellen durfte, unendlich überlegen war. Lady Elliot war eine großartige Frau gewesen, vernünftig und liebenswert; und wenn man ihr die jugendliche Verblendung vergeben kann, durch die sie Lady Elliot wurde, so waren ihr Urteil und ihre Haltung später auf Nachsicht keineswegs angewiesen. Sie hatte die Schwächen ihres Mannes hingenommen oder gemildert oder zugedeckt und siebzehn Jahre lang zu seinem Ansehen beigetragen; und obwohl sie in ihrem Leben nicht gerade glücklich gewesen war, hatten ihre Pflichten, ihre Freunde und ihre Kinder ihr das Leben lebenswert und keineswegs gleichgültig erscheinen lassen, als die Abschiedsstunde nahte. Drei Mädchen zu hinterlassen, die älteren sechzehn und vierzehn, war ein furchtbares Vermächtnis für eine Mutter, ja mehr, es war eine furchtbare Belastung, sie der Autorität und dem Schutz eines eitlen, oberflächlichen Vaters anzuvertrauen. Sie hatte allerdings eine enge Freundin, eine vernünftige, verdienstvolle Frau, die sich aus Anhänglichkeit zu ihr ganz in ihrer Nähe, im Dorf Kellynch, niedergelassen hatte und auf deren Verständnis und Rat bei der Verwirklichung all der soliden Grundsätze und Anordnungen, auf die sie bei ihren Töchtern solchen Wert gelegt hatte, sie sich vor allem verließ. Diese Freundin und Sir Walter heirateten aber trotz allem, was ihre Bekannten in dieser Hinsicht vorausgesagt hatten, nicht. Dreizehn Jahre waren seit Lady Elliots Tod vergangen, und sie waren immer noch enge Nachbarn und gute Freunde, und der eine blieb Witwer und die andere Witwe. 7 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 8 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Dass Lady Russell bei ihrem gefestigten Alter und Charakter und ihrer finanziellen Unabhängigkeit an eine zweite Ehe nicht dachte, bedarf keiner Entschuldigung in den Augen der Öffentlichkeit, die eher dazu neigt, unvernünftige Entrüstung zu zeigen, wenn eine Frau tatsächlich wieder heiratet, als wenn sie es nicht tut; aber dass Sir Walter weiter allein blieb, verlangt eine Erklärung. Es sei deshalb angemerkt, dass Sir Walter (nachdem er bei sehr unvernünftigen Heiratsanträgen ein oder zwei persönliche Enttäuschungen erfahren hatte) wie jeder gute Vater stolz darauf war, um seiner lieben Töchter willen unverheiratet zu bleiben. Für eine Tochter, für seine älteste, hätte er wirklich auf alles verzichtet – ein Gedanke, der ihm sonst gar nicht nahelag. Elizabeth hatte mit sechzehn, soweit irgend möglich, die Rechte und die gesellschaftliche Stellung ihrer Mutter übernommen; und da sie sehr schön und ihm selbst sehr ähnlich war, war ihr Einfluss auf ihn immer groß gewesen, und sie hatten sich immer glänzend verstanden. Seine beiden anderen Kinder bedeuteten ihm sehr viel weniger. Mary hatte sich auf Umwegen ein bisschen Bedeutung erworben, indem sie Mrs. Charles Musgrove geworden war, aber Anne mit ihrer geistigen Überlegenheit und ihrem ausgeglichenen Charakter, die ihr die Achtung aller wirklich einsichtigen Menschen einbringen mussten, bedeutete weder ihrem Vater noch ihrer Schwester etwas; ihr Wort zählte nicht, auf ihre Bequemlichkeit kam es nicht an; sie war nur Anne. Aber sie war Lady Russells geliebte und hochgeschätzte Patentochter, Favoritin und Freundin. Lady Russell liebte sie alle, aber nur in Anne sah sie das leibhaftige Ebenbild ihrer Mutter. Vor ein paar Jahren war Anne Elliot ein sehr hübsches Mädchen gewesen, aber ihre Schönheit war früh vergan8 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 9 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 gen; und da sie für ihren Vater auch in ihrer vollen Blüte wenig Bewundernswertes gehabt hatte (so völlig verschieden waren ihre feinen Züge und freundlichen dunklen Augen von seinen eigenen), besaß sie jetzt, wo sie verwelkt und dünn war, nichts mehr, was seinen Beifall fand. Er hatte sich nie großen Hoffnungen hingegeben und hegte jetzt gar keine mehr, ihren Namen je auf einer weiteren Seite seines Lieblingsbuches zu sehen. Eine ebenbürtige Heirat kam nur für Elizabeth in Frage, denn Mary hatte lediglich in eine alteingesessene Gutsbesitzerfamilie von Ansehen und großem Vermögen eingeheiratet und war deshalb durch ihre Heirat nicht im Rang gestiegen, sondern gesunken. Elizabeth würde irgendwann einmal angemessen heiraten. Es kommt manchmal vor, dass eine Frau mit neunundzwanzig hübscher ist als zehn Jahre zuvor; und wenn sie nicht unter Krankheit oder Kummer gelitten hat, handelt es sich im Allgemeinen um einen Zeitpunkt im Leben, an dem sie kaum an Charme eingebüßt hat. So war es mit Elizabeth – immer noch dieselbe schöne Miss Elliot, zu der sie vor dreizehn Jahren herangewachsen war, und man konnte es Sir Walter deshalb verzeihen, dass er ihr Alter vergaß, oder ihn jedenfalls nicht für ganz so naiv halten, wenn er sich und Elizabeth, während das gute Aussehen aller anderen dahin war, blühend fand wie eh und je, denn er konnte deutlich sehen, wie der Rest seiner Familie und seiner Bekanntschaft alterte. Anne hager, Mary gewöhnlich, jedes Gesicht in der Nachbarschaft heruntergekommen, und die rapide Vermehrung von Krähenfüßen in Lady Russells Augenwinkeln beobachtete er seit langem mit Beklommenheit. Elizabeth besaß nicht ganz die Selbstgefälligkeit ihres Vaters. Seit dreizehn Jahren war sie Herrin von Kellynch 9 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Hall und herrschte und lenkte mit einer Besonnenheit und Entschiedenheit, die niemals den Gedanken nahelegten, sie sei jünger, als sie tatsächlich war. Dreizehn Jahre lang hatte sie die Rolle der Gastgeberin gespielt und die häusliche Ordnung bestimmt und war zur vierspännigen Kutsche vorausgeschritten und hatte unmittelbar hinter Lady Russell alle Wohnzimmer und Esszimmer in der Gegend verlassen. Dreizehnmal hatte der wiederkehrende Winterfrost sie jeden standesgemäßen Ball eröffnen sehen, den eine dünngesäte Nachbarschaft zustande brachte; und dreizehnmal hatte der Frühling seine Blüten gezeigt, wenn sie mit ihrem Vater nach London reiste, um jährlich ein paar Wochen die große Welt zu genießen. Sie lebte in der Erinnerung daran. Sie lebte in dem Bewusstsein, neunundzwanzig zu sein; und beides verursachte ihr ein gewisses Bedauern und eine gewisse Beklemmung. Sie war durchaus überzeugt, dass sie immer noch so schön war wie eh und je, aber sie spürte, dass sie sich den gefährlichen Jahren näherte; und die Gewissheit, dass jemand von Adel im Laufe der nächsten ein oder zwei Jahre förmlich um ihre Hand anhalten würde, hätte sie unendlich erleichtert. Dann könnte sie das Buch der Bücher wieder mit der gleichen Freude in die Hand nehmen wie in Kindertagen. Aber jetzt hatte sie eine Abneigung dagegen. Immer mit dem eigenen Geburtsdatum konfrontiert zu werden und keine Heirat folgen zu sehen als die ihrer jüngsten Schwester verleidete ihr das Buch; und wenn ihr Vater es offen in ihrer Nähe auf dem Tisch liegengelassen hatte, hatte sie es mehr als einmal mit abgewandtem Blick zugeklappt und von sich geschoben. Sie hatte darüber hinaus eine Enttäuschung erlebt, deren Erinnerung das Buch und besonders die Geschichte ihrer eigenen Familie immer wachhalten würden. Der Erbe, 10 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 11 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 genau jener William Walter Elliot, hochwohlgeb., dessen Ansprüche so großzügig von ihrem Vater unterstützt worden waren, hatte sie enttäuscht. Schon als sehr junges Mädchen, sobald sie wusste, dass er der zukünftige Baron sein würde, wenn sie keinen Bruder haben sollte, hatte sie beschlossen, ihn zu heiraten; und ihr Vater hatte sie in diesem Entschluss immer bestärkt. Sie hatten ihn als Jungen nicht gekannt, aber bald nach Lady Elliots Tod hatte Sir Walter sich um die Bekanntschaft seines Neffen bemüht; und obwohl seine Annäherungsversuche nicht auf Begeisterung gestoßen waren, hatte er seine Bemühungen fortgesetzt, wobei er ihm die bescheidene Zurückhaltung der Jugend zugutehielt; und bei einem ihrer Frühjahrsausflüge nach London, als Elizabeth in ihrer ersten Blüte war, hatten sie Mr. Elliot ihre Bekanntschaft aufgezwungen. Er war zu der Zeit noch ein sehr junger Mann, der gerade sein Jurastudium absolvierte. Elizabeth fand ihn ungewöhnlich anziehend, und sein persönlicher Eindruck bestätigte sie in ihren Absichten. Er wurde nach Kellynch Hall eingeladen. Man sprach von ihm und erwartete ihn für den Rest des Jahres, aber er kam nie. Im folgenden Frühjahr traf man ihn wieder in London, fand ihn nicht minder anziehend, ermutigte ihn, lud ihn ein und erwartete ihn, und wieder kam er nicht; und als Nächstes kam die Nachricht, dass er verheiratet war. Statt sein Glück auf dem Wege zu suchen, der für den Erben des Hauses Elliot vorgezeichnet war, hatte er sich seine Unabhängigkeit durch eine Verbindung mit einer reichen Frau von niederer Herkunft erkauft. Sir Walter hatte es ihm verübelt. Als Haupt der Familie fand er, man hätte seinen Rat einholen sollen, besonders nachdem er sich mit dem jungen Mann in aller Öffentlich11 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 keit gezeigt hatte. Denn man müsse sie zusammen gesehen gaben, bemerkte er, einmal bei Tattersall2 und zweimal in der Vorhalle des Unterhauses. Er gab seiner Missbilligung Ausdruck, aber offenbar ohne jeden Erfolg. Mr. Elliot hatte sich zu keiner Entschuldigung veranlasst gesehen und sich so wenig an weiteren Aufmerksamkeiten von Seiten der Familie interessiert gezeigt, wie Sir Walter ihn für ihrer unwürdig hielt; jeder Verkehr zwischen ihnen wurde eingestellt. Diese sehr peinliche Geschichte mit Mr. Elliot erfüllte Elizabeth, die den jungen Mann um seiner selbst willen und mehr noch, weil er der Erbe ihres Vaters war, gemocht hatte und deren ausgeprägter Familienstolz nur in ihm eine angemessene Partie für Sir Walters älteste Tochter sehen konnte, noch nach Ablauf mehrerer Jahre mit Ärger. Es gab von A bis Z keinen Baron, den sie so bereitwillig als gleichberechtigt empfunden hätte. Aber er hatte sich so schäbig benommen, dass sie sich trotz der Trauerbinde, die sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt (im Sommer 1814) um seiner Frau willen trug, nicht gestatten konnte, ihn noch einmal in Erwägung zu ziehen. Die Schande seiner ersten Ehe hätte man, da kein Grund zu der Annahme bestand, dass sie durch Nachkommen fortgesetzt worden war, verschmerzt, wäre es nicht noch schlimmer gekommen. Aber er hatte, wie sie durch die übliche Einmischung wohlmeinender Freunde erfahren hatten, sehr abfällig von ihnen allen, sehr beleidigend von dem Blut, zu dem er gehörte, und dem Titel gesprochen, der später auf ihn übergehen würde. So etwas war unverzeihlich. Das waren Elizabeths Gesinnungen und Gefühle. Das waren die Sorgen und Aufregungen, die Eintönigkeit und Vornehmheit, Luxus und Nichtigkeit ihres alltäglichen Lebens erträglicher und abwechslungsreicher machen sollten. 12 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 13 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Das waren die Empfindungen, die einem langen, ereignislosen Aufenthalt in dem immer gleichen ländlichen Zirkel Interesse geben, die Leere beseitigen sollten, wo nützliche Tätigkeiten außerhalb, Begabungen und Talente innerhalb des Hauses fehlten, um sie zu füllen. Aber jetzt begann eine neue Aufgabe und Sorge ihre Gedanken zu beschäftigen. Ihr Vater geriet immer mehr in finanzielle Schwierigkeiten. Sie wusste, dass er den Adelskalender nur noch in die Hand nahm, um die hohen Rechnungen seiner Lieferanten und die unangenehmen Anspielungen von Mr. Shepherd, seinem Rechtsanwalt, darüber zu vergessen. Der Besitz von Kellynch war ertragreich, aber den Ansprüchen, die Sir Walter an den Lebensstil seines Besitzers stellte, nicht gewachsen. Solange Lady Elliot lebte, hatten Überlegung, Bescheidenheit und Sparsamkeit geherrscht, so dass er mit seinen Einkünften gerade auskam. Aber mit ihr war auch alle Rechtschaffenheit dahingegangen, und seit der Zeit hatte er ständig über seine Verhältnisse gelebt. Er hatte es nicht fertiggebracht, weniger auszugeben; er hatte nur getan, wozu Sir Walter Elliot unbedingt verpflichtet war. Aber schuldlos, wie er war, geriet er nicht nur immer tiefer in Schulden, sondern bekam es auch so oft zu hören, dass es aussichtslos wurde, es auch nur teilweise länger vor seiner Tochter zu verheimlichen. Er hatte ihr gegenüber im letzten Frühjahr in London einige Andeutungen gemacht. Er war sogar so weit gegangen zu fragen: »Können wir uns einschränken? Meinst du, dass wir uns irgendwo einschränken können?« – und Elizabeth, das muss man ihr lassen, hatte im ersten Eifer weiblicher Panik ernsthaft darüber nachgedacht, was zu tun sei, und schließlich die beiden folgenden Sparmaßnahmen vorgeschlagen: einige unnötige Wohltätigkeitsspenden zu streichen und von einer Neumöblierung des Wohnzimmers ab13 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 14 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 zusehen, wozu ihr später noch der glückliche Einfall kam, Anne diesmal, wie es sonst ihr jährlicher Brauch gewesen war, kein Geschenk mitzubringen. Aber diese Maßnahmen, so sinnvoll sie auch sein mochten, wurden dem tatsächlichen Ausmaß des Übels, das in seiner ganzen Tragweite ihr zu gestehen Sir Walter sich bald danach genötigt sah, bei weitem nicht gerecht. Elizabeth hatte keine tiefergreifenden Hilfsmittel vorzuschlagen. Sie fühlte sich genau wie ihr Vater missbraucht und unglücklich; und sie waren beide außerstande, Wege zu finden, ihre Ausgaben einzuschränken, ohne auf unerträgliche Weise ihre Würde zu beeinträchtigen oder auf ihre Bequemlichkeit zu verzichten. Es gab nur einen kleinen Teil seines Besitzes, den Sir Walter veräußern konnte. Aber hätte er sich von jedem Stückchen Erde trennen können, es hätte nichts genutzt. Er hatte sich, soweit es in seiner Macht stand, zu Hypotheken herabgelassen, aber er würde sich nie dazu herablassen zu verkaufen. Nein, so weit würde er den Familiennamen nicht entehren. Der Besitz von Kellynch würde heil und ganz, so wie er ihn übernommen hatte, weitergegeben werden. Ihre beiden engsten Freunde, Mr. Shepherd, der in der nächsten Kleinstadt wohnte, und Lady Russell, wurden um ihren Rat gebeten, und sowohl Vater als auch Tochter erwarteten anscheinend, dass einer von beiden einen Einfall haben würde, wie man ihnen aus der Verlegenheit helfen und ihre Ausgaben verringern könne, ohne dass ihre Ansprüche an Geschmack oder Stolz Abbruch erleiden würden. 31 32 33 14 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 327 1 Nachwort 2 3 5 »Her circle may be restricted, but it is complete. Her world is a perfect orb, and vital.« 6 George H. Lewes (1817–1878) über Jane Austen 4 7 8 1 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Persuasion ist der letzte von Jane Austens sechs Romanen. Sie schrieb daran von Mitte 1815 bis Mitte 1816, glättete dann den Text, arbeitete den Schluss völlig um (s. Abschn. 4) und konnte im März 1817 einer ihrer Nichten berichten, sie habe etwas zur Veröffentlichung fertig, was in etwa einem Jahr erscheinen solle. Aber als die Autorin diesen Brief schrieb, war sie schon unheilbar krank und hatte nur noch vier Monate zu leben. Das Erscheinen des Romans hat sie nicht mehr erlebt. Sie starb am 27. Juli 1817 im Alter von nur 42 Jahren. Persuasion wurde zusammen mit Northanger Abbey postum erst 1818 herausgegeben. Die Heldin des Buches, Anne Elliot, hat in den letzten Jahrzehnten in der englischen und amerikanischen Literaturforschung unter anderem deshalb viel Aufmerksamkeit gefunden, weil sie so anders ist als die weiblichen Hauptgestalten der fünf früheren Romane Jane Austens. Während Anne und Elizabeth Bennet in Pride and Prejudice, Elinor und Marianne Dashwood in Sense and Sensibility, Fanny Price in Mansfield Park, Emma Woodhouse in Emma und Catherine Morland in Northanger Abbey um die zwanzig, zum Teil sogar erst siebzehn Jahre alt sind, geht Anne Elliot auf die Dreißig zu. Sie ist siebenundzwanzig Jahre alt, hat ihren jugendlichen Charme verloren und resigniert. Während in den anderen Romanen das Handlungszentrum 327 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 328 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 die erste und einzige große Liebe der Heldin bildet, hat Anne diese schon lange hinter sich. Die vor acht Jahren eingegangene Verlobung hat sie nach wenigen Monaten aufgelöst, weil ihre adelsstolze Familie und ihre mütterliche Freundin Lady Russell, die ebenfalls »Vorurteile in Fragen des Standes« (Kap. 2) hat, den unvermögenden bürgerlichen jungen Marineoffizier Wentworth für eine Tochter von Sir Walter Elliot aus altem englischen Adel nicht akzeptierten und mit ihrer »unbilligen Überredung« (im Original unübersetzbar over-persuasion), den geliebten Mann aufzugeben – worauf sich der Titel des Buches vor allem bezieht – Erfolg hatten. Anne hat sich ihrem Urteil gebeugt, aber die ihrer Überzeugung und ihrer Liebe widersprechende Nachgiebigkeit bitter bereut. Sie hat einen ihr zwei Jahre später von einem anderen Mann gemachten Heiratsantrag abgelehnt, sich schweren Herzens mit ihrem Schicksal abgefunden und geht nun einem trostlosen, einsamen Alter entgegen. Während also die anderen Heldinnen Jane Austens das Leben vor sich haben, scheint es hinter Anne Elliot zu liegen. An einer Kleinigkeit wird dieser Unterschied besonders greifbar. Die jungen Protagonistinnen der anderen fünf Romane tanzen liebend gern, wobei eine ältere Dame die Musik macht; ja, der Tanz hat für die Begegnung mit dem geliebten Mann in mehreren Werken eine besondere Bedeutung, so der Ball zu Ehren von Fanny Price in Mansfield Park (Kap. 28), Elizabeth Bennets ironisches Wortgeplänkel mit Darcy beim Tanz in Pride and Prejudice (Kap. 18) oder Catherine Morlands erster Tanz mit Henry Tilney, der sie mit seiner gespielten Geckenhaftigkeit verwirrt, in Northanger Abbey (Kap. 3). In Persuasion aber ist es Anne Elliot, die am Klavier sitzt und spielt, während ihre Schwester und ihre Schwägerinnen sich beim Tanzen amüsieren: 328 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 329 1 2 3 4 5 6 »Der Abend endete mit Tanz. Als der Vorschlag gemacht wurde, bot Anne wie üblich ihre Dienste an, und obwohl sich ihre Augen gelegentlich mit Tränen füllten, als sie am Instrument saß, war sie erleichtert, beschäftigt zu sein, und wünschte sich zur Belohnung nichts, als unbeobachtet zu bleiben.« (Kap. 8) 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Anne weint, weil der immer noch geliebte Kapitän Wentworth, von dem sie annehmen muss, dass sie seine Achtung verloren hat, mit unter den Tanzenden ist. Er fragt seine Partnerin, ob Anne denn nie tanze, und muss hören, dass sie es ganz aufgegeben habe – sie wird nicht mehr zur Jugend gezählt und zählt sich selbst nicht mehr dazu. Anders als die anderen Romane beginnt Persuasion also damit, dass die Heldin intensiv leidet. Sie ist um ihre Liebe betrogen, ihre Schönheit ist früh verblüht, und ihr Vater und ihre ältere Schwester betrachten sie nur als unliebsames Anhängsel, weil sie einem Schönheitskult huldigen und Menschen geringschätzen, deren Äußeres ihrem überkritischen Auge nicht standhält. Da die Elliot-Schwestern anders als Jane und Elizabeth Bennet in Pride and Prejudice und Elinor und Marianne Dashwood in Sense and Sensibility sich nicht gut verstehen, ist Anne zudem mit ihrem Kummer ganz allein. Ihre ältere Schwester ist kalt und hochmütig und ihre jüngere egoistisch und wehleidig. Die eine zieht eine recht ordinäre und durchtriebene geschiedene Frau ihrer eigenen Schwester vor, und die andere benutzt sie nur als eine Art Haushaltshilfe und Kindermädchen. Anne hat allen Grund, ihre Schwägerinnen Henrietta und Louisa Musgrove um ihr ungetrübtes Einvernehmen zu beneiden. A. W. Letz (s. Literaturhinweise: Southam) hat in der Einsamkeit Anne Elliots einen dem modernen Leser besonders zugänglichen Aspekt von Persuasion gesehen: 329 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 330 1 2 3 4 »Man könnte aus Persuasion eine Liste von Begriffen zusammenstellen, die den Roman wie ein Lehrbuch der modernen Soziologie klingen lassen: Sich Auseinanderleben, Gefangensein, Entfremdung, Entfernung.« 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 Der Ton dieses Romans ist daher insgesamt, bedingt durch die melancholische Stimmung, die Anne Elliot umgibt, gedämpfter. Die Wehmut der unerfüllten Liebe liegt über dem größeren Teil des Buches, aber das bedeutet nicht, dass die Autorin darauf verzichtet, menschliche und gesellschaftliche Schwächen mit gewohnt spitzer Feder dem Gelächter oder dem Schmunzeln des Lesers preiszugeben. Es wimmelt von grotesken Charakteren und Situationen. Das schönste Beispiel für dieses Karikieren scheint mir die Geschichte vom toten Sohn der Musgroves zu sein, der als Taugenichts, solange er lebte, ein Alptraum der Familie war, aber nach seinem Tod von seiner korpulenten Mutter zu einem Helden verklärt wird. Vor allem die Szene, in der sich Mrs. Musgrove bei Williams früherem Kommandanten Wentworth ausweint, zeigt Jane Austen von ihrer bissigsten Seite, wobei sie aber zugleich Annes Unbehagen über die Nähe des Kapitäns einfängt: 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 »Sie saßen tatsächlich beide auf demselben Sofa, denn Mrs. Musgrove hatte bereitwillig Platz für ihn gemacht – sie waren nur durch Mrs. Musgrove getrennt. Es war allerdings keine unerhebliche Barriere. Mrs. Musgrove war von gemütlichem, beträchtlichem Umfang, von der Natur viel eher dazu bestimmt, Heiterkeit und gute Laune auszustrahlen als Zärtlichkeit und Gefühl; und da man darauf vertrauen darf, dass die Erregung in Annes schlanker Gestalt und nachdenklichem Gesicht dadurch vollständig abgeschirmt war, muss man Kapitän 330 Austen, Überredung 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 331 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 Wentworth etwas zugutehalten für die Selbstbeherrschung, mit der er ihren herzzerreißenden, fetten Seufzern über das Schicksal eines Sohnes zuhörte, für den sich zu seinen Lebzeiten niemand interessiert hatte. Körperlicher Umfang und seelischer Schmerz stehen natürlich nicht unbedingt in einem bestimmten Verhältnis zueinander. Eine umfangreiche, üppige Figur hat das gleiche Recht auf tiefen Seelenschmerz wie das graziöseste Ensemble von Gliedern. Aber, ob recht und billig oder nicht, es gibt unvorteilhafte Kombinationen, für die sich der Verstand vergeblich einsetzt – die der Geschmack nicht dulden kann – die der Lächerlichkeit zum Opfer fallen.« (Kap. 8) 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 Dem melancholischen Seelenzustand Annes zu Anfang des Buches entsprechen die herbstliche Stimmung in der Natur, der »Anblick des letzten herbstlichen Lächelns, das auf rostbraunen Blättern und verwelkten Hecken liegt«, und der traurige Abschied von Kellynch, dem stolzen alten Familiensitz, der der Verschwendungssucht Sir Walters zum Opfer fällt. Anne selbst spricht »von der passenden Analogie zwischen dem sich neigenden Jahr und dem sich neigenden Glück«, als sie in Gedanken Herbstgedichte rezitiert. Der Umzug der Familie nach Bath, der Anne traurig stimmt und dem sie ohne jedes Gefühl der Erwartung, ja mit Widerwillen entgegenblickt, auch wenn sie die finanzielle Notwendigkeit dazu einsieht, spiegelt offenbar Jane Austens eigene Vorbehalte gegen die Übersiedlung ihrer eigenen Familie in den modischen Kurort, wo die Autorin von 1802 bis 1806 ungern lebte. 32 33 331 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 5 1 2 3 4 5 6 Kapitel 1 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Die Familie Dashwood war seit langem in Sussex ansässig. Ihr Besitz war ausgedehnt, und ihr Herrenhaus lag in Norland Park, im Zentrum ihrer Ländereien, wo sie viele Generationen lang auf so achtbare Weise gelebt hatten, dass sie bei den Bekannten in der Umgebung allgemein in hohem Ansehen standen. Der vorherige Eigentümer des Besitzes war ein Junggeselle, der ein sehr hohes Alter erreicht und in seiner Schwester viele Jahre lang eine ständige Gefährtin und Haushälterin gehabt hatte. Aber ihr Tod, der zehn Jahre vor seinem eigenen eintrat, brachte große Veränderungen in seinem Haus mit sich, denn um ihren Verlust zu ersetzen, lud er die Familie seines Neffen Mr. Henry Dashwood ein, des gesetzlichen Erben von Norland, dem er den Besitz ohnehin vermachen wollte, in seinem Haus zu leben. In der Gesellschaft seines Neffen und seiner Nichte und ihrer Kinder verbrachte der alte Herr seine Tage in großer Behaglichkeit. Alle wuchsen sie ihm mehr und mehr ans Herz. Die ständige Sorge von Mr. und Mrs. Henry Dashwood um sein Wohlergehen, die nicht bloßem Eigennutz, sondern echter Herzensgüte entsprang, gewährte ihm all die Bequemlichkeit, die er in seinem Alter brauchte, und die Ausgelassenheit der Kinder gab seinem Leben einen zusätzlichen Reiz. Aus einer früheren Ehe hatte Mr. Henry Dashwood einen Sohn, von seiner jetzigen Gemahlin drei Töchter. Der Sohn, ein zuverlässiger, angesehener junger Mann, war 5 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 6 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 durch das beträchtliche Vermögen seiner Mutter, das bei seiner Volljährigkeit zur Hälfte in seinen Besitz gekommen war, großzügig versorgt. Durch seine eigene Heirat, die kurz darauf stattfand, vergrößerte er sein Vermögen noch weiter. Die Nachfolge auf Norland war also für ihn nicht so unbedingt wichtig wie für seine Schwestern, denn ihr Vermögen würde ohne das, was ihnen durch den Anspruch ihres Vaters auf den Besitz zufallen würde, nur gering sein. Ihre Mutter hatte nichts, und ihr Vater nur siebentausend Pfund zu seiner eigenen Verfügung, denn die restliche Hälfte des Vermögens seiner ersten Frau sollte ebenfalls an ihren Sohn übergehen, und er verfügte darüber nur zu seinen Lebzeiten. Der alte Herr starb, sein Testament wurde eröffnet und gab wie fast alle Testamente ebenso Anlass zu Enttäuschung wie zu Freude. Er war weder so ungerecht noch so undankbar, seinem Neffen den Besitz vorzuenthalten, aber er vermachte ihn ihm unter Bedingungen, die das Erbe zur Hälfte wieder entwerteten. Mr. Dashwood war daran mehr um seiner Frau und seiner Töchter willen als seinet- und seines Sohnes wegen gelegen gewesen, aber eben an diesen Sohn und dessen Sohn, ein Kind von vier Jahren, ging der Besitz über, und zwar so, dass der Vater keine Möglichkeit hatte, durch eine finanzielle Belastung des Grundbesitzes oder durch den Verkauf seines wertvollen Holzbestandes für die zu sorgen, die ihm am nächsten standen und die seine Fürsorge am dringlichsten brauchten. Alles sollte eines Tages diesem Kind zugutekommen, das bei den gelegentlichen Besuchen mit seinem Vater und seiner Mutter durch Reize, die bei zwei- oder dreijährigen Kindern durchaus nicht ungewöhnlich sind, wie eine kindliche Aussprache, den unbeirrbaren Wunsch, seinen Willen durchzusetzen, viele ausgelassene Streiche und eine Menge 6 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 7 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Krach, die Zuneigung seines Großonkels so weit gewonnen hatte, dass all die Fürsorge, die dieser jahrelang von seiner Nichte und ihren Töchtern empfangen hatte, sie nicht aufwogen. Er hatte allerdings nicht die Absicht, lieblos zu sein, und als Beweis seiner Zuneigung zu den drei Mädchen hinterließ er jeder eintausend Pfund. Mr. Dashwoods Enttäuschung war zuerst empfindlich. Aber er war von Natur heiter und optimistisch und hatte allen Grund zu der Hoffnung, noch viele Jahre zu leben und durch sparsames Wirtschaften eine erhebliche Summe aus dem Ertrag eines Besitzes beiseitezulegen, der ohnehin schon ergiebig war und fast von heute auf morgen noch ertragreicher gemacht werden konnte. Aber der Reichtum, der so lange auf sich hatte warten lassen, sollte ihm nur ein Jahr lang zugutekommen. Länger überlebte er seinen Onkel nicht, und zehntausend Pfund, einschließlich der Summe an die Mädchen, war alles, was für seine Witwe und seine Töchter übrig blieb. Sobald sein Gesundheitszustand erkannt war, wurde sein Sohn gerufen, und mit all der Überzeugungskraft und Eindringlichkeit, die er bei seiner Krankheit aufbringen konnte, legte ihm Mr. Dashwood die Sorge um seine Stiefmutter und seine Schwestern ans Herz. Mr. John Dashwood ließ sich nicht so von Gefühlen leiten wie der Rest der Familie. Aber ein solcher Wunsch zu einer solchen Zeit verfehlte seine Wirkung auf ihn nicht, und er versprach, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um ihnen das Leben zu erleichtern. Sein Vater fühlte sich durch diese Versicherung von einer Last befreit, und Mr. John Dashwood hatte nun Muße, darüber nachzudenken, wie weit er bei aller Vorsicht in seiner Hilfsbereitschaft gehen konnte. Er hatte keinen schlechten Charakter, es sei denn, man 7 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 8 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 hielte eine gewisse Gefühlskälte und einen gewissen Egoismus für einen Mangel an Charakter, aber er war im Allgemeinen recht angesehen, denn er ließ es bei der Erfüllung seiner alltäglichen Pflichten an Anstand nicht fehlen. Hätte er eine liebenswürdigere Frau geheiratet, hätte er sich vielleicht zu einem noch angeseheneren, hätte er sich vielleicht sogar zu einem liebenswürdigen Menschen entwickelt, denn er war noch sehr jung, als er heiratete, und hing sehr an seiner Frau. Aber Mrs. John Dashwood war eine ausgesprochene Karikatur seiner selbst: nur noch engstirniger und egoistischer. Als er seinem Vater sein Versprechen gab, dachte er daran, das Vermögen seiner Schwestern durch ein Geschenk von je eintausend Pfund zu vergrößern. Er glaubte damals selbst, es über sich bringen zu können. Die Aussicht auf viertausend Pfund pro Jahr zusätzlich zu seinem gegenwärtigen Einkommen, dazu die restliche Hälfte aus dem Vermögen seiner Mutter, erwärmte ihm das Herz und gab ihm das Gefühl, er könne sich Großzügigkeit leisten. Ja, er würde ihnen dreitausend Pfund geben, das wäre generös und nobel! Es wäre genug, um sie aller Sorgen zu entheben. Dreitausend Pfund! Er könnte eine so erhebliche Summe ohne große Einschränkungen entbehren. Er dachte den ganzen Tag und noch viele weitere Tage darüber nach und bereute nichts. Kaum war das Begräbnis seines Vaters vorüber, als Mrs. John Dashwood, ohne ihre Schwiegermutter vorher von ihrer Absicht in Kenntnis zu setzen, mit ihrem Kind und ihrem Personal eintraf. Niemand konnte ihr das Recht zu kommen streitig machen; das Haus gehörte unmittelbar mit dem Tod seines Vaters ihrem Mann. Die Ungehörigkeit ihres Benehmens wurde außerordentlich stark empfunden und wäre für jede Frau in Mrs. Dashwoods Lage, 8 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 9 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 die auch nur ein Fünkchen Zartgefühl gehabt hätte, äußerst unangenehm gewesen. Aber sie selbst besaß ein so ausgeprägtes Ehrgefühl, eine so romantische Großzügigkeit, dass eine derartige Beleidigung, gleichgültig, wer sie verursachte oder wem sie zugefügt wurde, sie mit unüberwindlicher Abscheu erfüllte. Mrs. John Dashwood war bei der Familie ihres Mannes nie sehr beliebt gewesen. Aber sie hatte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Gelegenheit gehabt, ihnen zu zeigen, mit wie wenig Rücksicht auf das Wohlergehen anderer sie handeln konnte, wenn die Umstände es erforderten. So empfindlich traf Mrs. Dashwood dieses unfreundliche Verhalten und so gründlich verachtete sie ihre Schwiegertochter dafür, dass sie bei ihrer Ankunft auf der Stelle ausgezogen wäre, wenn das Zureden ihrer ältesten Tochter sie nicht veranlasst hätte, erst noch einmal über die Richtigkeit ihrer Abreise nachzudenken, und wenn ihre eigene zärtliche Liebe für alle drei Kinder sie anschließend nicht bewogen hätte, zu bleiben und um ihretwillen den Bruch mit ihrem Stiefsohn zu vermeiden. Elinor, die älteste Tochter, deren Rat befolgt wurde, besaß einen so klaren Verstand und ein so nüchternes Urteilsvermögen, die sie trotz ihrer neunzehn Jahre zur Ratgeberin ihrer Mutter machten und es ihr häufig erlaubten, zum Vorteil aller, der Impulsivität von Mrs. Dashwood entgegenzuwirken, die sonst zu vorschnellem Handeln geführt hätte. Sie war ein hochherziger Mensch, liebevoll von Natur, mit starken Empfindungen, aber sie wusste sich zu beherrschen – eine Kunst, die ihre Mutter noch lernen musste und die eine ihrer Schwestern entschlossen war, sich niemals beibringen zu lassen. Mariannes Fähigkeiten standen denen Elinors keineswegs nach. Sie war gefühlvoll und gescheit, aber in allem 9 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 überspannt. Ihr Schmerz und ihre Freude kannten kein Maß. Sie war großzügig, liebenswürdig, interessant, sie war alles – außer besonnen. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrer Mutter war auffallend groß. Elinor betrachtete das Übermaß von Empfindsamkeit bei ihrer Schwester mit Sorge. Aber von Mrs. Dashwood wurde es geschätzt und ermutigt. Die beiden bestärkten sich nun gegenseitig in ihrem heftigen Schmerz. Der grenzenlose Jammer, der sie zuerst überwältigt hatte, wurde neu belebt, absichtlich erneuert, wurde immer wieder aufgerührt. Sie gaben sich ihrem Kummer völlig hin, suchten ihr Elend durch jedes Thema zu steigern, das sich dazu anbot, und waren entschlossen, auch in Zukunft für keinen Trost empfänglich zu sein. Auch Elinor litt sehr, aber sie konnte sich wehren, sie konnte sich überwinden. Sie konnte Beratungen mit ihrem Bruder führen, ihre Schwägerin bei ihrer Ankunft empfangen und mit der nötigen Aufmerksamkeit behandeln, ihre Mutter zu ähnlicher Selbstüberwindung aufrütteln und zu ähnlicher Nachsicht ermuntern. Margaret, die dritte Schwester, war ein gutmütiges, zugängliches Mädchen. Aber da bereits eine Menge von Mariannes Schwärmerei auf sie abgefärbt hatte, ohne dass sie deren Einsicht besaß, waren mit dreizehn ihre Aussichten, es später im Leben mit ihren Schwestern aufnehmen zu können, gering. 27 28 29 30 31 32 33 10 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 11 1 Kapitel 2 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Mrs. John Dashwood ließ sich nun als Hausherrin in Norland nieder, und ihre Schwiegermutter und Schwägerinnen wurden zu bloßen Besuchern herabgesetzt. Als solche wurden sie von ihr allerdings mit reservierter Höflichkeit und von ihrem Mann mit so viel Wohlwollen behandelt, wie er für Menschen außer sich selbst, seiner Frau und seinem Kind aufzubringen vermochte. Er drang sogar mit einer gewissen Ehrlichkeit in sie, Norland als ihr Zuhause zu betrachten, und da sich Mrs. Dashwood keine bessere Möglichkeit bot, als zu bleiben, bis sie ein Haus in der Nachbarschaft gefunden hatte, wurde seine Einladung angenommen. Weiter an einem Ort zu leben, wo alles sie an früheres Glück erinnerte, war genau das, was sie in ihrer Gemütsverfassung brauchte. An heiteren Tagen strahlte niemand so viel Heiterkeit aus wie sie oder war in solchem Maße von jener unerschütterlichen Glückserwartung erfüllt, die schon das Glück selbst bedeutet. Aber im Schmerz ließ sie sich ebenso von ihrer Einbildungskraft hinreißen und war für Trost so unzugänglich, wie sie im Glück unbeirrbar war. Mrs. John Dashwood billigte ganz und gar nicht, was ihr Mann für seine Schwestern zu tun beabsichtigte. Das Vermögen ihres lieben kleinen Jungen um dreitausend Pfund zu schmälern, würde ihn auf den trostlosesten Grad von Armut reduzieren! Sie drang in ihren Mann, sich die Sache noch einmal zu überlegen. Wie konnte er es vor sich selbst verantworten, sein Kind, und noch dazu sein einziges Kind, einer solchen riesigen Summe zu berauben? Und welchen Anspruch an seine Großzügigkeit auf eine so große Summe hatten denn die Miss Dashwood überhaupt, die doch nur seine Stiefschwestern waren, was sie als Ver11 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 wandtschaftsbeziehung gar nicht gelten ließ? Alle Welt wusste doch, dass von Anhänglichkeit zwischen den Kindern eines Mannes aus verschiedenen Ehen keine Rede sein konnte, und warum wollte er sich und ihren armen kleinen Harry ruinieren und all sein Geld an seine Stiefschwestern verschenken? »Es war meines Vaters letzter Wunsch an mich«, erwiderte ihr Mann, »dass ich seiner Witwe und seinen Töchtern beistehe.« »Er wusste doch gar nicht, was er sagt. Zehn zu eins, er war zu der Zeit gar nicht mehr zurechnungsfähig. Wäre er bei Sinnen gewesen, dann wäre er gar nicht darauf gekommen, dir zuzumuten, das halbe Vermögen deines eigenen Kindes zu verschenken.« »Er hat auf keiner bestimmten Summe bestanden, meine liebe Fanny, er hat mich nur ganz allgemein gebeten, ihnen beizustehen und ihnen das Leben angenehmer zu machen, als er es vermochte. Vielleicht hätte er die Angelegenheit lieber ganz und gar mir überlassen sollen. Er konnte sich ja denken, dass ich sie nicht zu kurz kommen lassen würde. Aber da er auf dem Versprechen bestand, konnte ich es ihm schlecht abschlagen – jedenfalls schien es mir damals so. Nun ist das Versprechen einmal gegeben und muss gehalten werden. Es muss etwas für sie getan werden, wenn sie Norland einmal verlassen und sich in einem neuen Haus einrichten sollten.« »Also gut, dann soll eben etwas für sie getan werden, aber dieses Etwas braucht doch keine dreitausend Pfund zu sein. Bedenke doch«, fügte sie hinzu, »wenn man sich erst einmal von dem Geld getrennt hat, ist es ein für allemal verloren. Deine Schwestern werden heiraten, und dann bist du es für immer los. Wenn man es allerdings unserem armen kleinen Jungen wieder zukommen lassen könnte …« 12 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 13 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 »Allerdings«, sagte ihr Mann sehr nachdenklich, »dann sähe die Sache ganz anders aus. Vielleicht kommt einmal der Zeitpunkt, wo Harry es bedauert, dass wir uns von einer so großen Summe getrennt haben. Sollte er zum Beispiel eine zahlreiche Familie haben, dann wäre dieses Geld eine sehr willkommene Ergänzung.« »Allerdings.« »Vielleicht wäre es dann für alle Beteiligten besser, wenn man die Summe um die Hälfte verringerte. Fünfhundert Pfund wären ein beträchtlicher Zuwachs ihres Vermögens.« »Oh, über alle Maßen! Welcher Bruder würde auch nur halb so viel für seine Schwestern tun, selbst wenn sie seine richtigen Schwestern wären! Und wie die Dinge liegen – nur Stiefschwestern! Aber du bist von Natur so großzügig.« »Ich möchte auf keinen Fall kleinlich sein«, entgegnete er. »Man tut bei solchen Gelegenheiten lieber zu viel als zu wenig. Wenigstens kann niemand behaupten, ich hätte nicht genug für sie getan. Sogar sie selbst können kaum mehr erwarten.« »Was sie erwarten, das weiß man nie«, sagte die Gemahlin, »aber über ihre Erwartungen brauchen wir uns nicht den Kopf zu zerbrechen. Die Frage ist, was du erübrigen kannst.« »Natürlich, und ich glaube, ich kann fünfhundert Pfund für jede erübrigen. Wie die Dinge liegen, wird jede ohne meine Unterstützung beim Tod ihrer Mutter mehr als dreitausend Pfund haben – ein sehr anständiges Vermögen für eine junge Frau.« »Allerdings, und wenn ich es recht bedenke, dann finde ich, dass sie deine Unterstützung gar nicht brauchen. Sie besitzen gemeinsam zehntausend Pfund. Wenn sie heiraten, machen sie bestimmt eine gute Partie, und wenn nicht, 13 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 14 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 dann können sie alle zusammen sehr anständig von den Zinsen ihrer zehntausend Pfund leben.« »Eigentlich hast du recht, und deshalb weiß ich nicht, ob es alles in allem nicht ratsamer wäre, etwas für die Mutter zu ihren Lebzeiten statt für die Mädchen zu tun – ich denke an so etwas wie eine Leibrente. Das käme meinen Schwestern genauso zugute wie ihr selbst. Mit einhundert Pfund pro Jahr hätten sie ein ausgesprochen anständiges Auskommen.« Seine Frau zögerte jedoch ein wenig, diesem Plan ihre Zustimmung zu geben. »Allerdings«, sagte sie, »ist das besser, als sich auf einmal von fünfzehnhundert Pfund zu trennen. Aber was, wenn Mrs. Dashwood noch fünfzehn Jahre lebt, dann sind wir ganz und gar die Dummen.« »Fünfzehn Jahre! Meine liebe Fanny, ihr Leben kann doch höchstens halb so lange dauern.« »Sicher, aber achte einmal darauf: Leute leben immer ewig, wenn es darum geht, ihnen eine Leibrente zu zahlen. Und sie ist sehr robust und gesund und noch keine vierzig. Eine Leibrente ist eine ernste Angelegenheit, sie will Jahr für Jahr gezahlt sein, und man wird sie nie wieder los. Du ahnst ja nicht, worauf du dich da einlässt. Ich habe eine Menge Ärger mit Leibrenten erlebt, denn für meine Mutter war die im Testament meines Vaters festgelegte Zahlung an drei alte, arbeitsunfähige Diener ein wahrer Klotz am Bein, und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie lästig ihr das war. Zweimal im Jahr mussten die Leibrenten gezahlt werden, und dann wusste man nicht, wie man ihnen das Geld zukommen lassen sollte, und dann war angeblich einer gestorben, und hinterher stellte sich heraus, dass es gar nicht stimmte. Meine Mutter war die Sache gründlich leid. Bei diesen ständigen Forderungen, sagte sie, war sie 14 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 15 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 nicht Herr über ihr eigenes Geld. Und es war um so rücksichtsloser von meinem Vater, als das Geld meiner Mutter sonst ausschließlich zur Verfügung gestanden hätte, ohne irgendwelche Einschränkungen. Ich habe seitdem einen solchen Horror vor Leibrenten, dass ich mich um nichts in der Welt auf eine solche Zahlung festnageln lassen würde.« »Es ist zweifellos eine unangenehme Sache«, erwiderte Mr. Dashwood, »sein jährliches Einkommen auf diese Weise zu belasten. Wie deine Mutter ganz richtig sagt, ist man nicht Herr über sein eigenes Vermögen. Zur regelmäßigen Zahlung einer solchen Summe verpflichtet zu sein, an jedem Zahltag, ist nicht gerade wünschenswert. Es raubt einem die Unabhängigkeit.« »Zweifellos, und man erntet noch nicht einmal Dank dafür. Sie haben ausgesorgt, du hast ja nur deine Pflicht getan, und von Dankbarkeit kann keine Rede sein. Wenn ich du wäre, würde ich mir bei allem, was ich täte, völlige Handlungsfreiheit bewahren. Ich würde mich nicht darauf festlegen, ihnen jährlich etwas zukommen zu lassen. Es mögen Jahre kommen, wo uns die Ausgabe von hundert, ja sogar fünfzig Pfund von unserem eigenen Geld sehr ungelegen kommt.« »Ich glaube, du hast recht, mein Schatz. Es ist wohl besser, wenn von einer Leibrente gar nicht die Rede ist. Wenn ich ihnen von Zeit zu Zeit etwas gebe, kommt ihnen das mehr zugute als eine jährliche Rente, denn ihr Lebensstil würde nur aufwendiger werden, wenn sie sich auf ein größeres Einkommen verlassen könnten, und am Ende des Jahres wären sie keinen Pfennig reicher. Das ist auf jeden Fall die beste Lösung. Hin und wieder ein Geschenk von fünfzig Pfund wird sie, glaube ich, vor allen Geldsorgen bewahren und das Versprechen meinem Vater gegenüber voll und ganz erfüllen.« 15 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 16 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 »Allerdings. Ja, um die Wahrheit zu gestehen, ich bin innerlich davon überzeugt, dass dein Vater gar nicht daran gedacht hat, dass du ihnen überhaupt Geld gibst. Die Unterstützung, die er im Sinn hatte, bezog sich bestimmt nur auf das, was im Rahmen des Vernünftigen von dir erwartet werden kann. Zum Beispiel, sich nach einem kleinen Haus für sie umzusehen, ihnen beim Umzug zu helfen und Fisch und Wild und so weiter als Geschenk zu schicken, wann immer sie verfügbar sind. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass er weiter nichts im Sinn hatte, ja, es wäre sehr merkwürdig und unvernünftig, wenn es anders wäre. Bedenke doch nur, mein lieber Mr. Dashwood, wie überaus anständig deine Stiefmutter und ihre Töchter von den Zinsen der siebentausend Pfund leben können, abgesehen von den eintausend Pfund der einzelnen Mädchen, die ihnen je fünfzig Pfund pro Jahr einbringen und wovon sie ihrer Mutter natürlich den Unterhalt bezahlen. Alles in allem haben sie gemeinsam fünfhundert Pfund pro Jahr, und wozu um alles in der Welt brauchen vier Frauen mehr? Sie haben doch keine Ausgaben. Ihr Lebensunterhalt ist nicht der Rede wert. Sie haben keine Kutsche, keine Pferde und kaum Personal; sie haben keine gesellschaftlichen Verpflichtungen und können deshalb keinerlei Ausgaben haben. Denk doch nur, wie anständig sie leben können! Fünfhundert pro Jahr! Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie auch nur die Hälfte davon ausgeben wollen. Und was den Zuschuss von dir angeht, so ist der Gedanke daran absurd. Viel eher könnten sie dir etwas abgeben.« »Tatsächlich«, sagte Mr. Dashwood, »ich glaube, du hast völlig recht. Mein Vater hatte mit seinem Wunsch bestimmt nichts anderes im Sinn, als du sagst. Mir ist es jetzt völlig klar, und ich werde meine Verpflichtungen Punkt für Punkt erfüllen, indem ich ihnen mit hilfreichen und 16 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 17 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 freundlichen Gesten, wie du sie beschrieben hast, unter die Arme greife. Wenn meine Mutter umzieht, will ich ihr, soweit ich kann, bereitwillig zur Seite stehen. Vielleicht ist dann auch das eine oder andere Möbelstück als Geschenk angebracht.« »Natürlich«, entgegnete Mrs. John Dashwood. »Aber wie auch immer, eins darf man nicht vergessen. Als dein Vater und deine Mutter nach Norland zogen, wurden zwar die Möbel von Stanhill verkauft, aber das ganze Geschirr, Silber und die ganze Tisch- und Bettwäsche wurden behalten, und nun hat sie deine Mutter geerbt. Ihr Haus wird deshalb fast vollständig eingerichtet sein, sobald sie einzieht.« »Das ist zweifellos ein wesentlicher Gesichtspunkt. Eine wahrhaft wertvolle Erbschaft! Und einiges von dem Silber wäre eine sehr erfreuliche Ergänzung unserer eigenen Sammlung hier gewesen.« »Ja, und das Frühstücksgeschirr ist zweimal so hübsch wie das, was in dieses Haus gehört. Meiner Meinung nach bei weitem zu hübsch für die Häuser, die sie sich je werden leisten können. Aber wie auch immer, so ist es nun einmal. Dein Vater hat nur an sie gedacht. Und eins muss ich noch betonen: Du brauchst ihm weder besonders dankbar zu sein noch auf seine Wünsche Rücksicht zu nehmen, denn wir wissen genau, wenn er gekonnt hätte, hätte er fast alles, was er hatte, ihnen hinterlassen.« Dieses Argument war unwiderlegbar. Es gab seinen Absichten die Entschlossenheit, die ihnen bisher noch gefehlt hatte, und er war schließlich überzeugt, dass es völlig unnötig, wenn nicht höchst ungehörig war, der Witwe und den Kindern seines Vaters mehr zu helfen als durch solche Gesten nachbarlichen Wohlwollens, wie seine eigene Frau sie angedeutet hatte. 17 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 445 1 Nachwort 2 3 5 »She cannot be said to have created or invented; Jane Austen had an infinitely rarer gift – she saw.« 6 Julia Kavanagh (1824–1877) über Jane Austen 4 7 8 1 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Zusammen mit Pride and Prejudice und Northanger Abbey bildet Sense and Sensibility das Trio der frühen Romane Jane Austens. Sie wurden alle zwischen 1795 und 1798 von der gut Zwanzigjährigen geschrieben, aber vor ihrer Veröffentlichung etwa 15 bis 20 Jahre später umgearbeitet, Sense and Sensibility sogar zweimal. Wie bei allen Austen-Romanen sind allerdings die früheren Fassungen auch hier verloren. Das Buch hieß ursprünglich Elinor and Marianne und war ein Briefroman. Aus der Kenntnis der endgültigen Fassung klingt das recht unwahrscheinlich, denn die beiden Schwestern, die doch den Hauptteil der Briefe hätten schreiben müssen, weil nur sie ihre Empfindungen mitteilen können, sind dort niemals getrennt. Vermutlich schon 1797 wurde diese früheste Version in die jetzige Erzählform umgegossen, die dann aber etwa 1809 bis 1810 noch einmal revidiert wurde, bevor das Buch 1811 anonym – »by a lady« – und auf eigene Kosten der Autorin in London erschien. Als einziger Roman Jane Austens wurde Sense and Sensibility dann zu ihren Lebzeiten nach der Erstausgabe noch einmal bearbeitet. 1813 kam nach der Veröffentlichung von Pride and Prejudice eine zweite Auflage heraus, die einige, wenn auch nicht tiefgreifende Änderungen vornahm. Wie die meisten englischen Ausgaben – auch Chapmans autoritative – bietet die vorliegende 445 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 446 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Übersetzung, von geringfügigen Korrekturen abgesehen, den Text der zweiten Auflage, gewissermaßen der »Ausgabe letzter Hand«. Mit den beiden anderen frühen Romanen verbindet Sense and Sensibility aber mehr als die äußere Entstehungsgeschichte. Es ist wie Northanger Abbey aus der Parodie einer zeitgenössischen Mode hervorgegangen, in diesem Falle der Empfindsamkeit, einem in der Literatur und im Leben zur Schau getragenen Gefühlsüberschwang, der das eigene Lieben und Leiden zum Mittelpunkt der Welt macht. Der deutsche Leser braucht nur an Goethes Die Leiden des jungen Werthers erinnert zu werden, wo das Thema mit höchster geistiger Durchdringung behandelt wird. Während aber Northanger Abbey den Roman im Wesentlichen um die parodistischen Elemente baut, vor allem um die Mode des »Gotischen«, und den humoristischen Ton weitgehend wahrt, entwickelt Sense and Sensibility nicht so sehr die komödiantischen Züge, sondern erfasst in der an Marianne kritisierten Empfindsamkeit, die sie blind für alles außer ihrer von Illusionen genährten Liebe macht, Haltungen und Einstellungen zum Leben und setzt die Heldinnen einem intensiven Leiden aus, das sich in Mariannes Fall in einer beinahe tödlichen körperlichen Krankheit äußert. Diese ernstere Entwicklung des Themas nun wieder verbindet diesen Roman mit Pride and Prejudice, mit dem es schon den alliterierenden Titel gemeinsam hat, dessen Begriffe auf menschliche Verhaltensweisen und damit auf Tugenden oder Verfehlungen der Romanfiguren hinweisen. Im Zentrum beider Romane steht im Gegensatz zu Northanger Abbey auch ein Schwesternpaar, dessen Liebeserwartung, -enttäuschung und -erfüllung die eigentliche Handlung bildet. In Sense and Sensibility lässt sich das schon aus dem Aufbau des Buches ablesen. Der Roman er446 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 447 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 schien, wie das damals üblich war, in mehreren Bänden, und zwar in diesem Fall in drei, deren Kapitel einzeln gezählt wurden (Kap. 1–22 = 1. Band, Kap. 1–22; Kap. 23–37 = 2. Band, Kap. 1–14; Kap. 38–51 = 3. Band, Kap. 1–14), und die oben angegebenen Stichwörter für die Entwicklung der Liebesgeschichte entsprechen den einzelnen Bänden: Im ersten Band lernen Elinor und Marianne ihre Verehrer kennen und erhoffen sich die Heirat. Um die Handlungsspannung zu erhalten, erscheint dabei Willoughby erst, als Edward vorübergehend von der Bildfläche verschwunden ist, so dass die so gegensätzlichen Liebeserlebnisse der Mädchen nacheinander berichtet werden. Als Willoughby dann abreist, taucht Edward wieder auf. Im zweiten Band, der vor allem in London spielt, verlieren beide Schwestern vorübergehend ihren Geliebten an andere Frauen und erleben ihre Krise. Im dritten Band gewinnt Elinor ihren Edward wieder, und Marianne heiratet ausgerechnet Brandon statt Willoughby – ein Zeichen, dass sie von ihren Gefühlsillusionen geheilt ist, denn wie er für sie, ist sie für ihn eine zweite Liebe, also etwas, was nach Mariannes ursprünglicher Einstellung gar nicht existieren kann. Sie verbindet sich nun mit dem Mann, von dem sie behauptet hat, er sei seines Alters wegen unfähig, tief zu empfinden, sei überhaupt zu alt zum Heiraten, habe Rheumatismus und trage Wollwesten – mit dem Mann also, der den Träumen einer Siebzehnjährigen so ganz und gar nicht entspricht. Während aber in Sense and Sensibility die beiden Schwestern die in den Titelbegriffen angesprochenen Eigenschaften repräsentieren und sich damit beide gleichgewichtig als Protagonistinnen gegenüberstehen, hat Pride and Prejudice trotz der zwei liebenden Schwestern nur eine Heldin, Elizabeth Bennet, und die Titelbegriffe beziehen sich auf sie und die Spannungen mit ihrem Verehrer 447 Austen, Verstand und Gefühl 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 448 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Darcy. Erst dieser zweite Roman entwickelt also die dann für alle weiteren Romane von Jane Austen typische Erzählperspektive, bei der der Leser die Welt durch die Augen und mit dem Herzen der Heldin erlebt und nur mit ihr empfindet. Wohl identifiziert sich die Autorin in Sense and Sensibility deutlich mit Elinor und nicht mit Marianne, die ja von ihren Irrtümern geheilt werden muss, aber die Erzählperspektive schwankt noch. Man hat das als Mangel betrachtet, und überhaupt wird von der Literaturwissenschaft Sense and Sensibility öfter als das schwächste der Bücher Jane Austens angesehen: »Keiner würde dies als seinen Lieblingsroman von Jane Austen wählen, während jeder andere seine Fanatiker hat, die gerade ihn allen anderen vorziehen.« (F. Farren, 1917, in: B. C. Southam, vgl. Literaturhinweise, S. 444.) Zu diesen künstlerischen Schwächen kann man etwa die gelegentlich gouvernantenhaft moralisierende Art Elinors, die funktionslose Blässe der jüngsten Dashwood-Schwester Margaret oder den unerklärlichen Wandel zählen, den Mrs. Jennings im Laufe des Buches durchmacht, die zu Anfang der Handlung eine unausstehlich penetrante Klatschbase ist, sich später aber als mutige, kritische und gütige ältere Dame entpuppt. 24 25 26 2 27 28 29 30 31 32 33 Andererseits sollte man über den künstlerischen Mängeln aus heutiger sozialkritisch geschulter Sicht nicht übersehen, dass Sense and Sensibility das mutigste und enthüllendste Buch Jane Austens, ihre gnadenloseste Darstellung von gewissen sozialen Sünden ist. In keinem ihrer anderen Romane wird menschliches Fehlverhalten mit so distan448 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 5 1 2 3 4 5 6 Kapitel 1 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Wer Catherine Morland als Kind gesehen hatte, wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass sie zur Romanheldin bestimmt war. Ihre Lebensumstände, der Charakter ihres Vaters und ihrer Mutter, ihre äußere Erscheinung und ihr Naturell – alles sprach gleichermaßen gegen sie. Ihr Vater war Pfarrer, dabei aber durchaus nicht zu kurz gekommen oder verarmt, sondern ein sehr angesehener Mann, obwohl er Richard hieß1 – und eine Schönheit war er auch nie gewesen. Er besaß neben seinen beiden einträglichen Pfarrstellen ein beträchtliches Vermögen und hatte ganz und gar nicht die Angewohnheit, seine Töchter hinter Schloss und Riegel zu sperren. Ihre Mutter war eine schlichte, lebenstüchtige Frau von gleichmäßiger Freundlichkeit und – man höre und staune – unverwüstlicher Konstitution. Sie hatte schon drei Söhne, als Catherine zur Welt kam, und anstatt, wie man doch wohl erwarten durfte, bei ihrer Geburt zu sterben, lebte sie einfach weiter – lebte weiter und gebar sechs weitere Kinder, sah sie alle um sich herum aufwachsen und erfreute sich dabei selbst auch noch bester Gesundheit. Eine Familie mit zehn Kindern kann immer Anspruch auf das Wort »stattlich« erheben; dafür sorgt schließlich schon die Zahl der Köpfe und Arme und Beine, aber bei den Morlands gründete sich das Anrecht auf diese Auszeichnung auf wenig anderes, denn sie waren im Großen und Ganzen recht bieder, und ausgesprochen bieder war viele Jahre lang auch Catherine. Sie war mager und 5 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 6 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 ungelenk, hatte einen blassen, glanzlosen Teint, glattes, dunkles Haar und ausgeprägte Züge. Soweit ihre äußere Erscheinung; ihre geistigen Gaben ließen die zukünftige Romanheldin auch nicht gerade ahnen. Sie liebte alle Jungenspiele und zog Cricket bei weitem nicht nur Puppen, sondern auch den Kindheitsvergnügen vor, mit denen sich Romanheldinnen im Allgemeinen die Zeit vertreiben, wie der Pflege einer kleinen Hausmaus, dem Füttern eines Kanarienvogels oder dem Gießen eines Rosenstrauchs. Ohnehin hatte sie mit Gärten nichts im Sinn, und wenn sie überhaupt Blumen pflückte, dann hauptsächlich aus Schabernack – jedenfalls musste man das daraus schließen, dass sie immer gerade die aussuchte, die sie auf keinen Fall nehmen sollte. So stand es um ihre Neigungen; um ihre Talente war es nicht minder vielversprechend bestellt. Sie lernte oder verstand nie etwas, bevor man es ihr erklärte – und manchmal nicht einmal dann, denn sie war oft unaufmerksam und gelegentlich sogar begriffsstutzig. Ihre Mutter brauchte volle drei Monate dazu, ihr »Des Bettlers Bitte« beizubringen, und sogar dann konnte ihre nächstjüngere Schwester Sally es immer noch besser als sie. Aber nicht, dass Catherine durchweg begriffsstutzig war, keineswegs; sie lernte die Fabel vom »Hasen und seinen vielen Freunden« im Handumdrehen.2 Ihre Mutter wollte, dass sie Klavierspielen lerne, und Catherine war Feuer und Flamme, denn es machte ihr großen Spaß, auf dem alten, unbenutzt herumstehenden Spinett zu klimpern, und so fing sie mit acht Jahren an. Nach einem Jahr war’s mit der Lust vorbei, und Mrs. Morland, die nicht darauf bestand, dass ihre Töchter sich trotz mangelnder Begabung und mangelndem Geschmack Bildung aneigneten, erlaubte ihr, damit aufzuhören. Der Tag, an dem ihr Klavierlehrer entlassen wurde, war einer der glücklichsten in Catherines Leben. Auch ihr 6 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 7 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Talent zum Zeichnen war nicht überragend, obwohl sie sich damit alle Mühe gab und mehr oder minder gleich aussehende Häuser und Bäume, Hühner und Küken zeichnete, wenn sie der Rückseite eines Briefes ihrer Mutter habhaft werden oder irgendein anderes Stück Papier erwischen konnte. Schreiben und Rechnen lernte sie von ihrem Vater, Französisch von ihrer Mutter, aber in keinem waren ihre Kenntnisse überwältigend, und sie schwänzte die Stunden, wann immer sie konnte. Was für ein sonderbarer, unergründlicher Charakter! Denn trotz all dieser Anzeichen von Verworfenheit im zarten Alter von zehn Jahren hatte sie weder ein schlechtes Herz noch einen schlechten Charakter, war selten bockig, fast nie unverträglich und trotz gelegentlicher tyrannischer Anfälle rührend zu den Kleinen; obendrein war sie laut und wild, hasste Stubenarrest und Sauberkeit und liebte es über alle Maßen, den grünen Abhang hinter dem Haus hinunterzurollen. So war Catherine Morland mit zehn. Mit fünfzehn wuchs sie sich zurecht; sie fing an, sich Locken zu drehen und für Bälle zu interessieren; ihr Teint wurde klarer; Fülle und Farbe machten ihre Züge weicher; ihre Augen wurden lebhafter und ihre Figur betonter. Ihre Vorliebe für Schmutz wich der Freude an Samt und Seide, und mit dem Verstand kam auch die Sauberkeit. Mit Vergnügen hörte sie nun manchmal ihre Eltern sagen, wie sehr sie sich zu ihrem Vorteil verändert habe. »Catherine wird ein richtig gutaussehendes Mädchen. Heute sieht sie beinahe hübsch aus«, fing sie jetzt von Zeit zu Zeit auf, und solche Sätze waren Musik in ihren Ohren. Beinahe hübsch zu sein, bereitet einem Mädchen, das die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens unscheinbar war, größeres Entzücken als jemandem, der schon in der Wiege als Schönheit galt. Mrs. Morland war eine herzensgute Frau und hatte die 7 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 8 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 besten Absichten mit ihren Kindern, aber sie war so völlig mit ihrem Wochenbett und der Beschäftigung mit den Kleinen ausgelastet, dass ihre älteren Töchter notgedrungen allein zurechtkommen mussten, und daher war es auch nicht verwunderlich, dass Catherine, die von Natur so gar nichts von einer Heldin hatte, im Alter von vierzehn Jahren Cricket, Baseball, Reiten und Herumstromern den Büchern vorzog – oder wenigstens den Büchern, aus denen man etwas lernen konnte, denn vorausgesetzt, dass sich ihnen keinerlei nützliches Wissen entnehmen ließ, vorausgesetzt, dass sie nichts Theoretisches, sondern nur Handlung enthielten, hatte sie gegen Bücher gar nichts einzuwenden. Aber zwischen fünfzehn und siebzehn bereitete sie sich auf ihre Rolle als Romanheldin vor; sie las all die Werke, die Heldinnen gelesen haben müssen, um sich die Zitate einprägen zu können, die in den Wechselfällen ihres ereignisreichen Lebens so brauchbar und tröstlich sind. Von Pope lernte sie, die zu verurteilen, die »Scherz treiben mit dem Schmerz der andern«; von Gray, dass »Manch Blume muss verblühn in Einsamkeit Und ihren Duft im Wüstensand verströmen«; 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 von Thompson, dass »Es ist ein köstliches Bemühen, Des Geistes jungen Trieb zu ziehen«; und Shakespeare versorgte sie mit einem großen Vorrat an Wissen, unter anderem, dass »Dinge, leicht wie Luft, Sind für die Eifersucht Beweise, stark Wie Bibelsprüche«; 8 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 9 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 dass »Der arme Käfer, den dein Fuß zertritt, Fühlt körperlich ein Leiden, ganz so groß, Als wenn ein Riese stirbt«; und dass eine verliebte junge Frau immer aussieht »Wie die Geduld auf einer Gruft Dem Grame lächelnd«.3 So weit hatte sie also zufriedenstellende Fortschritte gemacht, und in manch anderer Hinsicht war sie auf dem besten Wege, denn obwohl sie keine Sonette schreiben konnte, zwang sie sich dazu, welche zu lesen, und obwohl anscheinend keine Aussicht für sie bestand, eine ganze Gesellschaft mit der Darbietung eines eigenen Préludes auf dem Klavier in Verzückung zu versetzen, konnte sie dem Spiel anderer zuhören, ohne merklich zu ermüden. Nur mit dem Zeichenstift wusste sie ganz und gar nicht umzugehen – sie hatte zum Zeichnen einfach kein Talent; es langte nicht einmal dazu, das Profil ihres Verehrers so zu skizzieren, dass ihre künstlerische Handschrift darin zu erkennen war. Hier blieb sie kläglich hinter der wahren Größe einer Romanheldin zurück. Aber vorläufig ahnte sie nichts von ihrer Unzulänglichkeit, denn sie hatte gar keinen Verehrer, den sie hätte porträtieren können. Sie hatte das Alter von siebzehn erreicht, ohne einen einzigen liebenswürdigen jungen Mann gesehen zu haben, der ihre Gefühle geweckt hätte, ohne eine einzige wahre Leidenschaft hervorgerufen zu haben, ja, ohne mehr als höchst mäßige und flüchtige Bewunderung erregt zu haben. Das war wirklich sonderbar! Aber sonderbare Dinge hören auf, es zu sein, wenn man ihnen auf den Grund geht. Es gab keinen einzigen Lord in der Nachbarschaft, ja, nicht einmal einen Baron. In ihrem ge9 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 samten Bekanntenkreis hatte nicht eine einzige Familie einen Jungen großzuziehen, den sie zufällig vor ihrer Tür gefunden hatte – nicht einen einzigen jungen Mann, dessen Herkunft unbekannt war. Ihr Vater hatte kein Mündel und der reichste Mann der Gegend keine Kinder. Aber wenn eine junge Dame dazu bestimmt ist, Romanheldin zu werden, können auch die widrigsten Umstände in noch so vielen Familien der Umgebung sie nicht davon abhalten. Etwas muss und wird geschehen, damit ihr der Held über den Weg läuft. Mr. Allen, dem die Ländereien um Fullerton – das Dorf in Wiltshire, wo die Morlands wohnten – zum größeren Teil gehörten, wurde wegen seiner Gichtanfälle ein Aufenthalt in Bath verschrieben, und seine Gattin, eine gutmütige Dame, die an Miss Morland Gefallen fand und sich vermutlich darüber im Klaren war, dass eine junge Dame Abenteuer anderswo suchen muss, wenn sie diese in ihrem eigenen Dorf nicht findet, lud sie ein, sie zu begleiten. Mr. und Mrs. Morland war es eine große Ehre und Catherine eine große Freude. 21 22 23 24 Kapitel 2 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Zu allem, was über Catherine Morlands äußere und innere Gaben bereits gesagt worden ist, darf angesichts der bevorstehenden Schwierigkeiten und Gefahren eines sechswöchigen Aufenthalts in Bath zur genaueren Information des Lesers, und da die folgenden Seiten sonst ihr Ziel verfehlen würden, ein angemessenes Bild ihres Charakters zu geben, noch hinzugefügt werden, dass sie ein liebevolles Herz besaß, ein heiteres, offenes Gemüt ohne alle Einbildung oder 10 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 so auffällig wie möglich zu ändern) in diesem Alter als ihre nächstjüngere Schwester ihre enge Freundin und Vertraute ist. Wie eigenartig aber, dass sie weder darauf bestand, Catherine solle mit jeder Post schreiben, noch ihr das Versprechen abrang, ihr ein Bild der Persönlichkeit jedes neuen Bekannten oder die Einzelheiten jeder interessanten Unterhaltung, die sich in Bath ergeben mochte, mitzuteilen. Überhaupt wurde von Seiten der Morlands alles, was diese bedeutsame Reise anging, mit einem Grad von Mäßigung und Gefasstheit getan, die eher den alltäglichen Empfindungen alltäglicher Menschen entsprach als den hochgespannten Erwartungen, den zärtlichen Gefühlen, die die erste Trennung einer Romanheldin von ihrer Familie eigentlich auslösen sollte, und anstatt ihr bei seiner Bank unbeschränkte Verfügungsgewalt über sein Konto zu geben oder gar eine Hundertpfundnote in die Hand zu drücken, überreichte der Vater ihr nur zehn Guineen und versprach ihr mehr, wenn sie mehr brauchen sollte. Unter diesen nicht gerade vielversprechenden Auspizien fand die Trennung statt, begann die Reise. Sie ging mit angemessener Ruhe und eintöniger Gefahrlosigkeit vonstatten. Kein Räuber, kein Unwetter suchte sie heim, und kein segensreicher Wagenbruch führte sie mit dem Helden zusammen. Nichts Schrecklicheres passierte, als dass Mrs. Allen fürchtete, ihre Pantoffeln in einem Gasthaus zurückgelassen zu haben, und auch diese Befürchtung erwies sich glücklicherweise als grundlos. So kamen sie in Bath an; Catherine war voll gespannter Erwartung, ihre Augen waren hier und dort und überall, als sie sich der gepflegten, eindrucksvollen Umgebung von Bath näherten und anschließend durch die Straßen fuhren, die sie zum Hotel führten. Sie war gekommen, um glücklich zu sein, und fühlte sich schon jetzt glücklich. 12 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 13 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Bald waren sie in bequemen Räumlichkeiten in der Pulteney Street4 untergebracht. Es ist an dieser Stelle angebracht, eine ungefähre Beschreibung von Mrs. Allen zu geben, damit der Leser beurteilen kann, auf welche Weise ihre Handlungen später zur unglückseligen Wendung des Buches beitragen und inwiefern sie voraussichtlich – sei es durch ihre Unklugheit, Gewöhnlichkeit oder Eifersucht, sei es, indem sie die Briefe der armen Catherine abfängt, ihren Charakter verdirbt oder sie aus dem Hause weist – für all das verzweiflungsvolle Elend, das im letzten Band5 auf den Leser zukommt, mitverantwortlich ist. Mrs. Allen war eine der zahlreichen Frauen, in deren Gesellschaft man nichts anderes empfindet als Erstaunen darüber, dass es auf dieser Welt sage und schreibe Männer gibt, die genug Sympathie für sie aufbringen, sie zu heiraten. Sie besaß weder Schönheit noch Geist, Bildung oder Geschmack. Damenhaftes Auftreten, eine gehörige Portion von unaufdringlicher, passiver Gutmütigkeit und ein Hang zur Oberflächlichkeit waren alles, was sie dazu berechtigte, dass die Wahl eines so vernünftigen, intelligenten Mannes wie Mr. Allen auf sie gefallen war. In einer Hinsicht allerdings war sie vorzüglich geeignet, eine junge Dame in die Gesellschaft einzuführen, denn es machte ihr selbst ebensoviel Spaß, überall hinzugehen und alles anzusehen wie den jungen Damen selbst. Kleider waren ihre Leidenschaft; ihr ganzer harmloser Lebensinhalt bestand darin, sich herauszuputzen, und das gesellschaftliche Debüt unserer Heldin konnte erst stattfinden, als die beiden drei oder vier Tage damit verbracht hatten, herauszufinden, was man denn trug, und Catherines mütterliche Begleiterin sich ein Kleid nach der neuesten Mode zugelegt hatte. Catherine machte ebenfalls einige Einkäufe, und als all dies erledigt 13 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 14 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 war, nahte der bedeutende Abend, der sie in die Oberen Gesellschaftsräume6 führen sollte. Ihr Haar war vom ersten Friseur am Platze geschnitten und gelegt, ihre Toilette mit Sorgfalt arrangiert, und sowohl Mrs. Allen als auch ihre Zofe erklärten, sie könne gar nicht besser aussehen. Bei solchem Zuspruch hoffte Catherine, vor den Augen der Menge bestehen zu können. Wenn sie Bewunderung erregte, war es ihr sehr recht, aber sie suchte sie nicht und war nicht darauf angewiesen. Mrs. Allen brauchte so lange zum Anziehen, dass sie den Ballsaal erst sehr spät betraten. Die Saison war auf dem Höhepunkt, der Saal überfüllt, und die beiden Damen drängten sich hinein, so gut es ging. Was Mr. Allen betraf, so begab er sich direkt ins Kartenzimmer und überließ es ihnen, allein an dem Gewimmel ihren Spaß zu haben. Mehr um die Sicherheit ihres neuen Kleides als um das Wohlbefinden ihres Schützlings besorgt, bahnte sich Mrs. Allen, so schnell es die nötige Vorsicht erlaubte, einen Weg durch die Traube von Männern an der Tür, aber Catherine hielt sich dicht an ihrer Seite und hakte sich so fest bei ihrer Freundin ein, dass auch die vereinte Anstrengung einer wogenden Menge sie nicht auseinanderreißen konnte. Zu ihrer größten Verblüffung musste sie jedoch feststellen, dass bei weiterem Vordringen in den Saal das Gedränge keineswegs abnahm; es schien eher schlimmer zu werden, je weiter sie vorankamen, während Catherine sich vorgestellt hatte, dass sie mühelos Platz finden und den Tänzen in aller Bequemlichkeit zusehen könnten, sobald sie erst einmal die Tür hinter sich gelassen hätten. Aber das Gegenteil war der Fall, und obwohl sie dank unermüdlichem Eifer sogar das obere Ende des Saales erreichten, war ihre Lage unverändert. Von den Tänzern sahen sie nichts als den herausragenden Kopfputz einiger Damen. 14 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 15 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Sie drangen trotzdem weiter vor; etwas Besseres stand in Aussicht, und unter Aufbietung aller Energie und Findigkeit gelangten sie schließlich in den Gang hinter der höchsten Bank. Hier war das Gedränge etwas weniger dicht als unten, und deshalb hatte Miss Morland einen umfassenden Überblick über die Gesellschaft unter sich und die soeben überstandenen Gefahren in ihrer Mitte. Es war ein großartiger Anblick, und zum erstenmal an diesem Abend hatte sie das Gefühl, auf einem Ball zu sein; sie hätte für ihr Leben gern getanzt, aber sie kannte nicht einen einzigen Menschen im ganzen Saal. Mrs. Allen tat alles, was sich in einem solchen Fall tun ließ, indem sie von Zeit zu Zeit ungerührt sagte: »Schade, dass Sie nicht tanzen können, mein Kind! Schade, dass Sie keinen Partner haben!« Eine Zeitlang fühlte ihre junge Freundin sich ihr zu Dank verpflichtet für die guten Wünsche, aber sie wurden so oft wiederholt und erwiesen sich als so völlig wirkungslos, dass Catherine ihrer schließlich überdrüssig wurde und aufhörte, sich zu bedanken. Allerdings durften sie ihren erhöhten Zufluchtsort, den sie sich so mühsam erkämpft hatten, nicht lange genießen. Bald setzten sich alle zum Teebüfett in Bewegung, und auch sie mussten sich mit den anderen hinausdrängen. Catherine überkam allmählich ein Gefühl der Enttäuschung; sie war es leid, ständig von Leuten herumgestoßen zu werden, deren Gesichtern sie im Großen und Ganzen nicht das mindeste Interesse abgewinnen konnte und die ihr alle so gänzlich unbekannt waren, dass sie die lästige Gefangenschaft nicht einmal durch ein freundliches Wort mit einem ihrer Mitgefangenen lindern konnte; und als sie schließlich das Teezimmer erreichten, kam ihr der Umstand, dass sie sich keiner Gruppe, keinem bekannten Gesicht anschließen konnten, dass keiner der Herren sich um 15 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 16 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 sie kümmerte, noch peinlicher zum Bewusstsein. Mr. Allen war nirgendwo zu sehen, und nachdem sie vergeblich nach einem geeigneten Platz Ausschau gehalten hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als am Ende eines Tisches Platz zu nehmen, an dem bereits eine größere Gruppe saß und wo sie nichts verloren hatten und sich mit niemandem unterhalten konnten als miteinander. Mrs. Allen beglückwünschte sich, sobald sie saßen, ihr Kleid vor Schaden bewahrt zu haben. »Wie schrecklich, wenn es zerrissen worden wäre«, sagte sie, »finden Sie nicht? Es ist ein so empfindlicher Musselin. Was mich betrifft, ich habe im ganzen Saal nichts gesehen, was mir so gut gefallen hat, das können Sie mir glauben.« »Wie lästig«, flüsterte Catherine, »nicht einen einzigen Bekannten hier zu haben.« »Ja, mein Kind«, erwiderte Mrs. Allen, ohne sich sonderlich dafür zu interessieren, »das ist wirklich sehr lästig.« »Was machen wir denn nun? Die Herrschaften an diesem Tisch sehen auch aus, als ob sie sich fragten, was wir hier wollen. Wir drängen uns ihnen förmlich auf.« »Ja, das stimmt. Es ist sehr unangenehm. Ich wünschte, wir hätten eine Menge Bekannte hier.« »Ich wünschte, wir hätten überhaupt welche hier. Dann könnten wir uns wenigstens jemandem anschließen.« »Ganz richtig, mein Kind, und wenn wir Bekannte hätten, würden wir uns gleich zu ihnen setzen. Letztes Jahr waren die Skinners hier. Schade, dass sie jetzt nicht hier sind.« »Sollten wir nicht lieber aufbrechen? Für uns ist hier sowieso nicht gedeckt.« »Tatsächlich, Sie haben ganz recht. Das ist ja unerhört! Aber ich finde, wir sollten lieber still sitzenbleiben, denn man wird in dem Gedränge so herumgestoßen. Wie sieht 16 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 17 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 meine Frisur aus, mein Kind? Jemand hat mir einen Schubs gegeben und dabei ist sie, fürchte ich, ganz verrutscht.« »Nein, gar nicht, sie sitzt sehr gut. Aber liebe Mrs. Allen, sind Sie ganz sicher, dass Sie in dieser riesigen Menschenmenge keine Menschenseele kennen? Sie müssen doch irgend jemanden kennen.« »Beim besten Willen nicht, schade. Wirklich jammerschade, dass ich nicht mehr Bekannte hier habe, sonst würde ich Ihnen einen Tanzpartner besorgen. Ich wäre so froh, wenn Sie tanzen könnten. Da geht eine merkwürdig aussehende Frau! Was für ein komisches Kleid sie anhat! Wie altmodisch! Sehen Sie nur den Rücken!« Nach einer Weile wurde ihnen von einem ihrer Nachbarn Tee angeboten; er wurde dankbar akzeptiert, und daraus entspann sich eine kurze Unterhaltung mit dem Herrn, und das war das einzige Mal während des ganzen Abends, dass irgendjemand mit ihnen sprach, bis Mr. Allen sie nach Beendigung des Tanzes entdeckte und sich zu ihnen gesellte. »Nun, Miss Morland«, sagte er gleich zu ihr, »ich hoffe, Sie haben einen unterhaltsamen Abend verbracht.« »Sehr unterhaltsam«, antwortete sie und versuchte vergeblich, ein herzhaftes Gähnen zu unterdrücken. »Schade, dass sie nicht tanzen konnte«, sagte seine Frau, »schade, dass ich keinen Partner für sie hatte. Ich sagte schon zu Miss Morland, wie froh ich wäre, wenn die Skinners diesen und nicht letzten Winter hiergewesen wären, oder wenn die Parrys gekommen wären, wie sie einmal angedeutet haben, dann hätte sie mit George Parry tanzen können. Es tut mir so leid, dass sie keinen Partner hatte.« »Ein andermal haben Sie mehr Glück, hoffe ich«, war Mr. Allens ganzer Trost. 17 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 18 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 Als der Tanz zu Ende war, begann sich die Gesellschaft zu zerstreuen, was den Zurückbleibenden genügend Platz ließ, um in einiger Bequemlichkeit umherzuwandern, und jetzt war der Augenblick gekommen, wo es sich für jede Romanheldin gehört, die im Laufe des Abends noch keine hervorragende Rolle gespielt hat, bemerkt und bewundert zu werden. Alle fünf Minuten verringerte sich die Menge und gab Catherine mehr Spielraum, ihren Charme zu entfalten. Das Auge vieler junger Männer fiel nun auf sie, die vorher nicht in ihre Nähe gekommen waren. Nicht einer allerdings blieb, von sprachlosem Entzücken hingerissen, bei ihrem Anblick stehen, kein neugieriges, fragendes Flüstern machte die Runde im Saale, auch wurde sie kein einziges Mal eine göttliche Schönheit genannt. Und doch sah Catherine sehr gut aus, und hätte die Gesellschaft sie drei Jahre früher gesehen, dann hätte man sie jetzt für ungewöhnlich hübsch gehalten. Sie wurde allerdings betrachtet, und zwar mit einiger Bewunderung, denn wie sie selbst mit anhörte, erklärten zwei Herren sie für ein hübsches Mädchen. Solche Worte verfehlten ihre Wirkung nicht; der Abend erschien ihr auf der Stelle erfreulicher als vorher, ihre anspruchslose Eitelkeit war befriedigt. Sie war den beiden jungen Männern dankbarer für dieses bescheidene Kompliment als eine wahre Heldin für fünfzehn Sonette zur Feier ihrer Reize und ging versöhnt mit aller Welt und vollkommen zufrieden mit ihrem Anteil an allgemeiner Aufmerksamkeit zu ihrer Sänfte. 29 30 31 32 33 18 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 298 1 Nachwort 2 3 »That young lady had a talent for describing the involvement and feelings and characters of ordinary life which is to me the most wunderful I ever met with.« 4 5 6 7 8 Walter Scott über Jane Austen 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 1 Northanger Abbey hat von allen Romanen Jane Austens die ungewöhnlichste Textgeschichte. Das Buch wird zwischen 1797 und 1803 von der erst gut Zwanzigjährigen geschrieben, begonnen aber möglicherweise schon 1790 und heißt Susan. Dass der erste, in Bath spielende Teil die Spuren von Janes eigenem dortigen Leben zwischen 1801 und 1806 trägt, wird in der genauen Schilderung der Örtlichkeiten deutlich. Wie alle frühen Manuskripte der Autorin erlebt es seine »Uraufführung« wohl im Familienkreis, dem Jane mit dem Vorlesen ihrer witzigen und parodistischen Geschichten viel Vergnügen bereitet. Über eine Mittelsperson ihres Bruders Henry wird das Manuskript im Frühjahr 1803 an den Verleger Crosby für zehn Pfund zur unmittelbaren Veröffentlichung verkauft. Es muss ein stolzer Augenblick für die junge Dame gewesen sein, der sich mit der Publikation dieses ersten Buches binnen Jahresfrist eine literarische Karriere zu eröffnen scheint. Aber obwohl der Verleger das Autorenhonorar bezahlt hat, unternimmt er weiter nichts; er kündigt den Band an, ohne ihn je erscheinen zu lassen. Sechs Jahre später schreibt Jane Austen anonym an Crosby und erkundigt sich nach dem Manuskript. Sie könne nur vermuten, dass es verlorengegangen 298 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 299 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 sei, da es entgegen der Absprache nicht veröffentlicht wurde, und sie erklärt sich bereit, ein zweites Exemplar zu übersenden, falls das sonst unerklärliche Nichterscheinen darauf zurückzuführen sei. Crosby antwortet mit dem Angebot, ihr das Manuskript zum selben Preis wieder zu überlassen. Eine Erklärung gibt er nicht, nur verbittet er sich die anderweitige Veröffentlichung, solange er rechtmäßig im Besitz des Manuskriptes sei. Erst 1816, als Jane Austen schon mehrere Romane publiziert hat und sich ihre Anonymität langsam zu lüften beginnt, macht sie von dem Angebot des Rückkaufs Gebrauch. Dass die geachtete Autorin von Sense and Sensibility, Pride and Prejudice, Mansfield Park und Emma die Verfasserin des Buches ist, das er so vernachlässigt hat, erfährt Crosby erst, als er die Rechte daran wieder abgetreten hat. Jane Austen bearbeitet das unterdessen gut fünfzehn Jahre alte Manuskript, legt es dann aber zunächst zugunsten ihres neuen Romans Persuasion vorläufig wieder zur Seite. Daher kommt es wieder nicht zur unmittelbaren Publikation und diesmal mit tragischen Folgen: 1817 stirbt Jane Austen im Alter von zweiundvierzig Jahren. Ihr Bruder nimmt sich ihrer beiden noch unveröffentlichten Romane an, und so erscheinen 1818 ihr frühes und ihr letztes Werk postum und mit einer biographischen Notiz, aus der die Öffentlichkeit zum erstenmal erfährt, wer sich hinter den immer größere Aufmerksamkeit findenden Romanen verbirgt, die ohne Autorennamen, nur mit dem Hinweis »by a lady« erschienen sind. »Ihr der Nützlichkeit, Literatur und Religion gewidmetes Leben«, schreibt Henry Austen, »war keineswegs ein ereignisreiches Leben.« Warum Crosby das Manuskript zurückgehalten hat, lässt sich nur vermuten. Fürchtete er einen finanziellen Misserfolg? Passte es nicht in sein Verlagsprogramm? War die »gothic no299 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 300 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 vel«, der gotische Schauerroman der Zeit, ihm noch zu populär, als dass er es riskieren wollte, mit einer offensichtlichen Parodie dieses in den neunziger Jahren unglaublich beliebten und erfolgreichen Romantyps ans Licht zu treten? Jedenfalls raubte die verspätete Publikation dem Buch einen Teil seiner unmittelbaren Aktualität, denn 1818 war die große Zeit des gotischen Romans vorüber, obwohl gerade in dieser Zeit noch zwei späte Meisterwerke der Gattung erschienen: Frankenstein or the Modern Prometheus (1818) von Mary Shelley (1797–1851) und Melmouth the Wanderer (1820) von Charles Maturin (1780–1824). In diesen späteren Werken des Genres fällt auf, dass in ihrem Mittelpunkt nicht mehr das beschützenswerte junge Mädchen steht, sondern der »romantische« Held, von seinen Begierden getrieben, dem Teufel verfallen oder dem Wissensdurst hingegeben. Der gotische Roman ist noch heute weitgehend tot, oder, anders gesagt: paradoxerweise lebt er heute am intensivsten gerade in Jane Austens Parodie. Henry Austen hat recht gehabt, als er in seiner biographischen Notiz auch bemerkte: »Aber vielleicht leben ja die Werke der Autorin ebensolange wie die, die mit mehr éclat über die Welt hereingebrochen sind.« Während Northanger Abbey durch die Verzögerungen unzeitgemäß spät erscheint, macht gerade diese Verspätung deutlich, dass Jane Austens literarische Produktion enger mit dem Beginn des realistischen englischen Romans im 19. Jahrhundert zusammengehört. Nicht der Schauerroman erregt um 1820 die Gemüter; das Interesse hat sich anderen Romantypen zugewandt, in denen die genaue, detaillierte und unsensationelle Beschreibung der tatsächlich gelebten und erlebten Wirklichkeit eine größere Rolle spielt und für die der Name Walter Scott repräsentativ ist. In seinen Romanen verbindet sich die Vorliebe für die nun 300 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 301 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 nicht mehr so phantastisch übersteigerte und entwirklichte Historie mit dem Gefallen an der unverwechselbaren Eigenart einzelner britischer Regionen: Waverley, die Darstellung des letzten Versuchs der Stuarts, in der Mitte des 18. Jahrhunderts den englischen Thron von Schottland aus zurückzuerobern, erscheint 1814 und Ivanhoe, die Geschichte des edlen Ritters zur Zeit von Richard Löwenherz und Robin Hood, 1819. Bei Scott oder in Susan Ferriers (1782–1854) Roman Marriage, der im selben Jahr wie Northanger Abbey herauskommt und öfter mit Jane Austens Büchern verglichen worden ist, gibt Schottland den literarischen Reiz her. Fast programmatisch weist Jane Austen den Leser schon im zweiten Kapitel darauf hin, dass sie vorhat, seine aufs Unwahrscheinlich-Phantastische gerichteten Erwartungen zu enttäuschen, indem sie das Märchenhafte im Leben einer Heldin ausmalt, aber dann als nicht wirklich entlarvt. In diesem Fall beschreibt sie Catherines Abschied, wie er nach den Romankonventionen der Zeit stattfinden müsste und wie er sich wirklich abgespielt hat, und dabei betont sie den eben skizzierten Gegensatz zwischen dem alten und dem neuen Typ von Roman: »Überhaupt wurde von Seiten der Morlands alles, was diese bedeutsame Reise anging, mit einem Grad von Mäßigung und Gefasstheit getan, die eher den alltäglichen Empfindungen alltäglicher Menschen entsprach als den hochgespannten Erwartungen, den zärtlichen Gefühlen, die die erste Trennung einer Romanheldin von ihrer Familie eigentlich auslösen sollte […].« Und so erscheint denn letztlich der Publikationstermin von Jane Austens verspätetem Jugendwerk doch als recht glücklich: Ihr Buch braucht den Abstand zum gotischen Roman, damit erkennbar wird, wie sie ihn im Bewusstsein neuerer Entwicklungen kritisiert, zu denen sie selbst beige301 Austen, Kloster Northanger 7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 302 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 tragen hat. Aber außerdem erscheint es nun im selben Jahr wie die andere glänzende, wenn auch intellektuellere und mehr auf die Romantik zielende Parodie des gotischen Romans, Nightmare Abbey von William Love Peacock (1785– 1866), das mit der ironischen Beschreibung eines mittelalterlichen Familiensitzes beginnt, wie ihn Catherine Morland erst im zweiten Teil von Northanger Abbey zu sehen bekommt: »Kloster Alptraum, ein ehrwürdiger Familiensitz im höchst malerischen Zustand von Halbverfallenheit […].« 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 2 Die für die Entwicklung der gotischen Mode im England des 18. Jahrhunderts wichtigste Gestalt, die freilich auf früheren Ansätzen aufbauen kann, ist Horace Walpole (1717–97), vierter Earl of Oxford und langjähriges Mitglied des Parlaments. Er lässt sich in den sechziger Jahren sein Landhaus Strawberry Hill in gotischem Stil und mit unregelmäßigem Grundriss bauen und veröffentlicht 1764 den ersten gotischen Roman: The Castle of Otranto. Auch in Deutschland beginnt ja etwa um diese Zeit die Mittelalter-Begeisterung, für die Goethes Kult des Straßburger Münsters und sein Götz von Berlichingen (1773) frühe und bekannte Beispiele sind. Aber während sich in Deutschland diese gotischen Elemente erst in der Romantik wirklich durchsetzen und Teil einer Weltanschauung werden, bestimmen sie in England schon in den letzten dreißig Jahren des 18. Jahrhunderts die Mode. Man baut gotische Gebäude oder lässt sich seine Bibliothek mit gotischen Ornamenten verzieren, zimmert gotisches Mobiliar oder malt gotische Bilder mit pittoresk verfallenen Burgen, schreibt Friedhofsdichtung oder gotische Romane, die in 302 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 5 1 2 3 4 5 6 Kapitel 1 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Schön, aufgeweckt und reich, bei einem sorgenfreien Zuhause und einem glücklichen Naturell war Emma Woodhouse offenbar mit einigen der erfreulichsten Vorzüge des Daseins gesegnet und hatte beinahe einundzwanzig Jahre fast ohne jeden Anlass zu Kummer und Verdruss auf dieser Welt verbracht. Sie war die jüngere von zwei Töchtern eines höchst zärtlichen und nachsichtigen Vaters und durch die Heirat ihrer Schwester schon recht früh Herrin seines Hauses geworden. Ihre Mutter war schon zu lange tot, als dass sich für Emma mit der Erinnerung an sie mehr als unbestimmte Vorstellungen von Zärtlichkeit verbunden hätten, und ihren Platz hatte eine ausgezeichnete Erzieherin eingenommen, deren liebende Zuneigung der einer Mutter kaum nachstand. Sechzehn Jahre hatte Miss Taylor in Mr. Woodhouses Familie mehr als Freundin denn als Erzieherin verbracht und zu beiden Töchtern, besonders aber zu Emma ein enges Verhältnis gehabt. Zwischen ihnen herrschte eher die Vertrautheit von Schwestern. Schon lange bevor Miss Taylor aufgehört hatte, ihr Amt als Erzieherin auszuüben, hatte sie in ihrer Nachsicht Emma fast immer gewähren lassen, und da auch der bloße Schatten von Autorität längst verschwunden war, lebten sie als unzertrennliche Freundinnen miteinander, wobei Emma tat, was sie wollte: Zwar schätzte sie Miss Taylors Urteil sehr, aber sie folgte im Wesentlichen ihrem eigenen. 5 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 6 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Das eigentliche Problem bestand deshalb darin, dass Emma zu leicht ihren Willen bekam und dazu neigte, eher zu viel von sich zu halten. Hier lauerten Gefahren, die ihrem ungetrübten Dasein drohten. Vorläufig allerdings war sie sich ihrer so wenig bewusst, dass sie sie durchaus nicht als Verhängnis empfand. Und doch stand ihr Kummer bevor, gelinder Kummer allerdings und keineswegs in Gestalt von unliebsamer Selbsterkenntnis. Miss Taylor heiratete. Der Abschied von Miss Taylor brachte Emma den ersten seelischen Schmerz. Am Hochzeitstag ihrer geliebten Freundin hing sie zum ersten Mal längere Zeit trüben Gedanken nach. Die Feier war vorüber, das Brautpaar fort, und ihr Vater und sie mussten sich allein und ohne Aussicht auf Gesellschaft, die ihnen den langen Abend verkürzen half, zum Dinner1 niedersetzen. Ihr Vater legte sich wie üblich nach dem Essen hin, und ihr blieb nichts übrig, als dazusitzen und über ihren Verlust nachzudenken. Ihrer Freundin versprach die Heirat alle Aussicht auf dauerhaftes Glück. Mr. Weston war ein Mann von vortrefflichem Charakter, beträchtlichem Vermögen, passendem Alter und angenehmen Umgangsformen, und es lag ein gewisser Trost darin, dass sie aus Freundschaft die Partie uneigennützig und großzügig immer selbst gewünscht und gefördert hatte; aber leicht fiel es ihr nicht. Tagtäglich und von morgens bis abends würde ihnen Miss Taylor fehlen. Sie rief sich ihre Herzlichkeit ins Gedächtnis zurück, die Herzlichkeit und Zuneigung von sechzehn Jahren: wie sie sie seit ihrem fünften Lebensjahr unterrichtet und mit ihr gespielt hatte; wie sie alles getan hatte, um sie anzuregen und zu unterhalten, wenn sie gesund war, und sie bei den verschiedenen Kinderkrankheiten gepflegt hatte. Sie war ihr zu großem Dank verpflichtet, aber das Beisammen6 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 7 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 sein der letzten sieben Jahre, der Umgang auf gleichem Fuß und das völlige gegenseitige Vertrauen, das sich eingestellt hatte, als sie nach Isabellas Heirat noch mehr aufeinander angewiesen waren, war ihr in der Erinnerung noch teurer und lieber. Sie war eine Freundin und Gefährtin gewesen, wie nur wenige sie besaßen, lebensklug, gebildet, unentbehrlich, gleichmäßig freundlich, mit allen Familienangelegenheiten vertraut, an allen familiären Problemen interessiert und besonders an ihr, an all ihren Vergnügungen und Plänen. Mit ihr konnte sie alles besprechen, was ihr in den Sinn kam, und Miss Taylor liebte sie zu sehr, als dass sie an ihr jemals etwas auszusetzen gehabt hätte. Wie sollte sie diese Umstellung nur ertragen? Es stimmte zwar, dass ihre Freundin nicht mehr als eine halbe Meile entfernt wohnte, aber Emma wusste nur zu gut, welcher Unterschied zwischen einer Mrs. Weston, nicht mehr als eine halbe Meile entfernt, und einer Miss Taylor im Haus bestehen würde, und bei all ihren natürlichen Gaben und häuslichen Möglichkeiten war sie nun in Gefahr, geistig zu verkümmern. Sie liebte ihren Vater herzlich, aber er war keine Gesellschaft für sie. Er war ihr im ernsten und scherzhaften Gespräch nicht gewachsen. Ihr unglückseliger Altersunterschied (und Mr. Woodhouse hatte nicht gerade früh geheiratet) wurde noch wesentlich durch seinen Gesundheitszustand und seine Gewohnheiten vergrößert, denn da er in seiner geistigen und körperlichen Unbeweglichkeit sein Leben lang ein kränkelnder Mann gewesen war, wirkte er älter, als er war; und wenn er auch wegen seiner Herzensgüte und seiner immer gleichbleibenden Freundlichkeit überall sehr beliebt war, hatte er doch nie durch Talente geglänzt. Obwohl Emmas Schwester nur sechzehn Meilen entfernt in London wohnte, also durch die Heirat nicht ei7 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 8 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 gentlich von ihrer Familie getrennt war, war sie natürlich für den täglichen Umgang zu weit weg, und man musste in Hartfield viele lange Oktober- und Novemberabende überstehen, bevor Isabella und ihr Mann mit ihren kleinen Kindern zu Weihnachten zu Besuch kamen, um das Haus endlich wieder mit ihrer unterhaltsamen Gesellschaft zu füllen. Highbury, das große und seiner Einwohnerzahl nach fast städtische Dorf, zu dem Hartfield trotz seines eigenen Namens und seines getrennten Grund und Bodens eigentlich gehörte, konnte ihr keine ebenbürtige Gesellschaft bieten. Die Woodhouses waren dort die angesehenste Familie. Man sah allgemein zu ihnen auf. Sie hatten zwar viele Bekannte, denn ihr Vater war zuvorkommend zu jedermann, aber es gab niemand unter ihnen, den sie anstelle von Miss Taylor auch nur einen halben Tag akzeptiert hätte. Es war schon eine trostlose Umstellung, und Emma konnte darüber nur seufzen und sich Unerfüllbares wünschen, bis ihr Vater erwachte und sie wieder Heiterkeit ausstrahlen musste, denn er brauchte Aufmunterung. Er war kein ausgeglichener Mensch, sondern neigte zu Depressionen; er hing an Menschen, an die er gewöhnt war, und ließ sie ungern gehen, denn jeder Wechsel war ihm zuwider. Die Ehe als Quelle der Veränderung war immer eine leidige Sache, und er hatte sich noch nicht einmal mit der Heirat seiner eigenen Tochter abgefunden und sprach von ihr immer in mitleidigem Ton, obwohl es doch ganz und gar eine Liebesheirat gewesen war, als er sich nun auch noch von Miss Taylor trennen sollte. Da er auf seine leise Art zum Egoismus neigte und sich nicht vorstellen konnte, dass andere Menschen nicht seiner Meinung waren, zweifelte er nicht daran, dass Miss Taylor sich selbst und ihnen einen schlechten Dienst erwiesen hatte und viel glücklicher ge8 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 9 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 wesen wäre, wenn sie den Rest ihres Lebens in Hartfield verbracht hätte. Emma lächelte und plauderte, so heiter sie nur konnte, damit er nicht auf solche trüben Gedanken verfiel, aber als der Tee serviert wurde, konnte er sich nicht enthalten zu wiederholen, was er schon bei Tisch gesagt hatte: »Arme Miss Taylor! Wenn sie nur wieder hier wäre. Es ist ein wahrer Jammer, dass Mr. Weston ausgerechnet auf sie verfallen musste.« »Ich kann dir nicht zustimmen, Papa, das weißt du genau. Mr. Weston ist ein so umgänglicher, angenehmer und ausgezeichneter Mann, dass er eine gute Frau von Herzen verdient, und du kannst doch nicht wollen, dass Miss Taylor ihr Leben bei uns verbringt und meine Launen über sich ergehen lässt, wenn sie ein eigenes Haus haben kann.« »Ein eigenes Haus! Wo ist der Vorteil bei einem eigenen Haus? Unseres ist dreimal so groß, und du hast doch gar keine Launen, mein Kind.« »Und wie oft wir uns gegenseitig besuchen werden! Wir werden uns ständig sehen! Wir müssen den Anfang machen, wir müssen ihnen möglichst bald einen Hochzeitsbesuch machen.« »Mein Kind, wie soll ich denn zu ihnen hinkommen? Randalls ist doch viel zu weit. Wie soll ich denn zu Fuß zu ihnen hinkommen?« »Nein, Papa, wer denkt denn an zu Fuß gehen? Wir fahren natürlich mit der Kutsche.« »Mit der Kutsche! Aber es ist James bestimmt nicht recht, für einen so kurzen Weg die Pferde anzuspannen, und wo sollen die armen Pferde bleiben, während wir den Besuch machen?« »In Mr. Westons Stall natürlich, Papa. Das haben wir doch alles schon besprochen. Wir haben alles gestern 9 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Abend mit Mr. Weston verabredet. Und was James betrifft, so kannst du sicher sein, dass er immer gerne nach Randalls fährt, weil seine Tochter dort Dienstmädchen ist. Ich bezweifle höchstens, dass er uns noch irgendwo anders hinfahren will. Dafür hast du gesorgt, Papa. Du hast Hannah die gute Stelle besorgt. Niemand hat an Hannah gedacht, bis du darauf gekommen bist. James ist dir so dankbar.« »Ich bin froh, dass ich daran gedacht habe. Es ist ein Glück, denn ich möchte auf keinen Fall, dass der arme James denkt, wir übergehen ihn, und außerdem bin ich überzeugt, dass sie ein sehr adrettes Hausmädchen ist. Sie ist ein höfliches Kind und weiß sich nett auszudrücken. Ich halte viel von ihr. Immer wenn ich sie sehe, knickst sie und fragt mich sehr adrett, wie es mir geht, und wenn sie zum Handarbeiten hier ist, dann fällt mir immer auf, dass sie den Türknopf richtig dreht und nicht mit der Tür knallt. Sie wird bestimmt ein ausgezeichnetes Stubenmädchen, und es ist eine Wohltat für die arme Miss Taylor, jemanden um sich zu haben, den sie schon kennt. Immer wenn James seine Tochter besucht, hört Miss Taylor dann auch gleich von uns. Er kann ihr erzählen, wie es uns allen geht.« Emma gab sich alle Mühe, das Gespräch in diesem erfreulicheren Fahrwasser zu halten, und hoffte, mit Hilfe von Backgammon ihren Vater einigermaßen durch den Abend zu schleusen, so dass sie nur mit ihrer eigenen Niedergeschlagenheit zu kämpfen hatte. Aber kaum war der Spieltisch aufgestellt, da trat ein Besucher ins Zimmer und machte diese Mühe überflüssig. Mr. Knightley, ein Mann von Charakter, etwa siebenoder achtunddreißig Jahre alt, war nicht nur ein sehr alter und enger Freund der Familie, sondern ihr als älterer Bruder von Isabellas Mann noch besonders verbunden. Er 10 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 11 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 wohnte ungefähr eine Meile von Highbury entfernt und war ein ständiger, immer willkommener Besucher – heute mehr denn je, da er gerade von ihren gemeinsamen Verwandten aus London zurückkam. Er war einige Tage fort gewesen und hatte, zu einem späten Dinner heimgekehrt, nun einen Spaziergang nach Hartfield gemacht, um zu berichten, am Brunswick Square2 gehe es allen gut. Es war ein glücklicher Umstand, und er hielt Mr. Woodhouse eine Zeitlang bei guter Laune. Mr. Knightley wirkte anregend, was Emmas Vater immer guttat, und seine vielen Fragen nach der »armen Isabella« und ihren Kindern wurden zu seiner vollen Zufriedenheit beantwortet. Als seine Neugier gestillt war, bemerkte Mr. Woodhouse dankbar: »Wie nett von Ihnen, Mr. Knightley, noch zu dieser späten Stunde herüberzukommen. Es muss ein scheußlicher Gang gewesen sein.« »Keineswegs, Sir3, es ist eine wunderschöne Mondnacht und so milde, dass ich weiter von Ihrem großen Kaminfeuer wegrücken muss.« »Aber es muss doch nasskalt und schmutzig draußen sein. Hoffentlich haben Sie sich keine Erkältung geholt.« »Schmutzig, Sir! Sehen Sie meine Schuhe an. Nicht ein Spritzer!« »Nanu, das ist ja eigenartig, denn hier hat es richtig gegossen. Beim Frühstück hat es eine halbe Stunde lang furchtbar gegossen. Ich wollte sogar die Hochzeit verschieben lassen.« »Apropos, ich habe Ihnen noch gar nicht zu dem freudigen Ereignis gratuliert. Aber da ich ja weiß, wie Sie beide sich bei dem freudigen Ereignis fühlen, war es mir mit den Glückwünschen nicht eilig. Ich hoffe, es ist alles gut verlaufen? Wie war Ihnen allen zumute? Wer hat am meisten geschluchzt?« 11 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 »Ach, die arme Miss Taylor! Was für eine traurige Geschichte!« »Die armen Woodhouses, wenn ich bitten darf, denn ›die arme Miss Taylor‹ kann ich beim besten Willen nicht sagen. Ich schätze Emma und Sie sehr, aber wenn es um Abhängigkeit und Unabhängigkeit geht, kein Zweifel, man dient lieber einem Herrn als zweien.« »Besonders, wenn einer von beiden ein so launisches, anspruchsvolles Geschöpf ist«, rief Emma halb im Scherz. »Das wollten Sie doch damit sagen, nicht wahr? Und Sie hätten es auch gesagt, wenn mein Vater nicht hier wäre.« »Ich glaube, er hat völlig recht, mein Kind«, sagte Mr. Woodhouse mit einem Seufzer. »Ich fürchte, manchmal bin ich wirklich launisch und anspruchsvoll.« »Aber liebster Papa! Du glaubst doch nicht im Ernst, Mr. Knightley oder ich hätten dich gemeint. Was für ein haarsträubender Gedanke! Nein, nein, ich habe nur mich gemeint. Mr. Knightley hat immer etwas an mir auszusetzen, im Spaß natürlich, alles nur im Spaß. Wir sagen uns immer offen die Meinung.« Mr. Knightley war tatsächlich einer der wenigen Menschen, die an Emma Woodhouse etwas auszusetzen hatten, und der einzige, der es ihr auch sagte; und wenn schon Emma selbst das nicht besonders schätzte, ihrem Vater gefiel es, wie sie wusste, so ganz und gar nicht, dass er auf keinen Fall Verdacht schöpfen sollte, sie werde nicht von jedermann für vollkommen gehalten. »Emma weiß genau, dass ich ihr niemals schmeichle«, sagte Mr. Knightley, »aber ich hatte an niemanden im Besonderen gedacht. Miss Taylor war daran gewöhnt, zwei Herren zu dienen; jetzt hat sie nur noch einen. Dabei kann sie doch nur gewinnen.« »Gut«, sagte Emma, geneigt, den Fall auf sich beruhen 12 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 13 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 zu lassen. »Sie wollten von der Hochzeit hören, und ich berichte Ihnen gern davon, denn wir haben uns alle ganz reizend benommen. Alle waren pünktlich, zeigten sich von ihrer besten Seite, keine Tränen, kaum lange Gesichter. Nein, nein, wir wussten ja alle, dass wir auch nur eine halbe Meile voneinander entfernt sein und uns natürlich täglich sehen würden.« »Die liebe Emma, sie trägt alles so gefasst«, sagte ihr Vater, »aber in Wirklichkeit, Mr. Knightley, geht ihr der Verlust Miss Taylors sehr nahe, und ich bin sicher, sie wird ihr viel mehr fehlen, als sie ahnt.« Emma wandte sich, zwischen Lachen und Weinen schwankend, ab. »Es ist ganz ausgeschlossen, dass eine solche Freundin Emma nicht fehlen sollte«, sagte Mr. Knightley. »Wenn wir das annehmen müssten, Sir, würden wir sie weniger gernhaben. Aber sie weiß auch, wie vorteilhaft die Heirat für Miss Taylor ist; sie weiß, wie erfreulich es für Miss Taylor sein muss, in ihrem Alter Herrin eines eigenen Zuhause und unter so günstigen Bedingungen für ihr Leben versorgt zu sein, und daher muss ihre Freude ihren Schmerz überwiegen. Alle wahren Freunde von Miss Taylor können nur froh sein, dass sie sich so glücklich verheiratet hat.« »Und einen Anlass zur Freude für mich haben Sie noch vergessen«, sagte Emma, »und zwar einen ganz besonderen: dass ich die Ehe zustande gebracht habe. Ich habe die Ehe nämlich vor vier Jahren zustande gebracht; und sie tatsächlich stattfinden zu sehen und recht zu behalten, obwohl so viele Leute überzeugt waren, Mr. Weston werde nicht wieder heiraten, ist Entschädigung genug für mich.« Mr. Knightley sah sie kopfschüttelnd an. Ihr Vater antwortete liebevoll: »Ach, mein Kind, wenn du nur nicht immer Heiratspläne schmieden und Voraussagen machen 13 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 14 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 würdest, denn alles, was du sagst, geht in Erfüllung. Lass bitte die Finger davon.« »Für mich selbst will ich das gern versprechen, Papa, aber für andere Leute muss ich unbedingt weiter Heiratspläne schmieden. Das ist das größte Vergnügen der Welt! Und dann noch nach diesem Erfolg! Alle waren überzeugt, Mr. Weston werde nicht wieder heiraten. Um Gottes willen, nein, Mr. Weston, der schon so lange Witwer war und anscheinend ohne Frau so vollkommen zufrieden, ständig mit seinen Geschäften in London befasst und immer gut gelaunt, Mr. Weston brauchte doch nicht einen einzigen Abend im Jahr alleine zu Hause zu verbringen, wenn er nicht wollte. O nein, Mr. Weston würde bestimmt nicht wieder heiraten. Einige Leute wollten sogar von einem Versprechen wissen, das er seiner Frau auf dem Totenbett gegeben, und andere davon, dass sein Sohn und dessen Onkel es ihm verboten hatten. Aller möglicher Unsinn wurde verkündet, aber ich hielt kein Wort davon für wahr. Seit dem Tag (vor ungefähr vier Jahren), als Miss Taylor und ich ihn auf der Broadway Lane trafen und er, weil es zu nieseln anfing, mit so viel Galanterie davonschoss und für uns zwei Regenschirme von Bauer Mitchell lieh, war es für mich beschlossene Sache. Von dem Augenblick an habe ich die Ehe sorgfältig geplant, und jetzt, wo mein Werk von solchem Erfolg gekrönt worden ist, lieber Papa, soll ich das Heiratspläneschmieden aufgeben?« »Ich verstehe nicht, was du mit ›Erfolg‹ meinst«, sagte Mr. Knightley. »Erfolg setzt Bemühung voraus. Du hast deine Zeit wahrlich sinnvoll und angemessen verbracht, wenn du dich die letzten vier Jahre bemüht hast, diese Ehe zustande zu bringen. Eine würdige Beschäftigung für eine junge Dame! Aber wenn, was ich fast vermute, dein Heiratspläneschmieden, wie du es nennst, nur heißen soll, 14 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 15 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 dass du sie geplant hast, indem du eines schönen Tages zu dir gesagt hast: ›Ich glaube, Mr. Weston wäre eine gute Partie für Miss Taylor‹, und wenn du dir das lang genug eingeredet hast, warum sprichst du dann von Erfolg? Wo ist dein Verdienst? Worauf bist du stolz? Du hast richtig geraten, das ist alles.« »Und kennen Sie nicht das Vergnügen und den Triumph, richtig geraten zu haben? Dann tun Sie mir leid. Ich hatte Sie für klüger gehalten, denn verlassen Sie sich darauf, richtig zu raten ist niemals bloßes Glück. Eine gewisse Begabung gehört immer dazu, und was mein unglückliches Wort ›Erfolg‹ angeht, um das Sie sich zanken wollen, so glaube ich nicht, dass ich keinerlei Anspruch darauf habe. Sie haben zwei hübsche Standpunkte formuliert, aber ich finde, es gibt noch einen dritten, eine Möglichkeit zwischen Nichtstun und Allestun. Wenn ich Mr. Westons Besuche bei uns nicht ermutigt und hier und da ein bisschen nachgeholfen und allerlei Unebenheiten geglättet hätte, wäre aus allem vielleicht gar nichts geworden. Sie kennen ja Hartfield gut genug, um zu wissen, was ich meine.« »Ein aufrichtiger und offener Mann wie Mr. Weston und eine vernünftige und unaffektierte Frau wie Miss Taylor kann man getrost sich selbst überlassen. Wahrscheinlich hast du mit deinem Eingreifen eher dir selbst geschadet als ihnen genützt.« »Emma denkt nie an sich selbst, wenn sie anderen helfen kann«, mischte sich Mr. Woodhouse wieder ein, der nur die Hälfte verstand. »Aber, Kind, tu mir den Gefallen, schmiede keine Heiratspläne mehr. Ehen sind Unsinn. Es ist traurig, wie sie die häusliche Gemütlichkeit zerstören.« »Nur eine Ehe noch, Papa, nur Mr. Eltons. Der arme Mr. Elton! Du magst ihn gern, Papa. Ich muss mich nach einer Frau für ihn umsehen. In Highbury gibt es niemand, 15 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 16 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 der ihn verdient. Er ist nun schon ein ganzes Jahr hier und hat sein Haus so gemütlich eingerichtet, dass es ein Jammer wäre, wenn er nicht bald heiratete. Und als er heute die Hände des Brautpaars zusammentat, sah er aus, als ließe er sich diesen freundlichen Dienst auch nicht ungern gefallen.« »Mr. Elton ist ein adretter junger Mann, ohne Frage, und ein ausgezeichneter junger Mann, und ich mag ihn wirklich gern. Aber wenn du ihm einen Gefallen tun willst, mein Kind, lade ihn eines Tages zum Essen bei uns ein. Das scheint mir sinnvoller. Mr. Knightley ist sicher so freundlich, auch zu kommen.« »Mit dem größten Vergnügen, Sir, jederzeit«, sagte Mr. Knightley lachend, »und ich bin völlig Ihrer Meinung, dass es viel sinnvoller wäre. Lade ihn zum Essen ein, Emma, setz ihm einen schönen Braten vor, aber um eine Frau lass ihn sich selber kümmern. Verlass dich darauf, ein Mann von sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren kann für sich selber sorgen.« 20 21 22 23 Kapitel 2 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Mr. Weston stammte aus einer angesehenen Familie in Highbury, die seit zwei oder drei Generationen immer mehr zu Ansehen und Wohlstand gelangt war. Er hatte eine gute Erziehung erhalten, aber da er schon früh zu finanzieller Unabhängigkeit gekommen war, hatte er sich für die solide berufliche Laufbahn seiner Brüder nicht interessiert und seinen lebendigen, aufgeschlossenen Geist und sein Bedürfnis nach Geselligkeit dadurch befriedigt, dass er Offizier geworden war. 16 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 584 1 Nachwort 2 3 4 »The balance of her gifts was singularly perfect.« 5 Virginia Woolf über Jane Austen 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 1 »Emma. Ein Roman. In drei Bänden. Von der Autorin von Pride and Prejudice etc. etc.« erschien – mit dem Druckdatum 1816 – im Dezember 1815 und bildet in jeder Hinsicht den Höhepunkt von Jane Austens (1775–1817) Karriere. Schon der Name des Verlegers deutet darauf hin, denn John Murray, der zusammen mit den Rechten an Emma auch die der Neuauflagen der schon erschienenen Werke der Schriftstellerin erwarb, war der berühmteste Londoner Verleger seiner Zeit und betreute solche literarischen Zelebritäten wie Lord Byron und Walter Scott. Wenn man sich erinnert, dass Jane Austen 1803 ihr erstes Romanmanuskript, das spätere Northanger Abbey, für zehn Pfund an den Verleger Crosby verkaufte, ohne dass dieser es je veröffentlichte, und sie es 1816 zum selben Preis wieder zurückerwarb, dann wird der literarische Aufstieg der Autorin deutlich, deren Bücher von nun an bei Murray erschienen. Emma verschaffte Jane Austen allerdings auch außerhalb der literarischen Welt ein Ansehen, wie sie es vorher nicht gekannt hatte: Der Prinzregent, der spätere König Georg IV., lud sie für den 13. November 1815 zu einer Besichtigung der Bibliothek seiner Londoner Residenz Carlton House ein und ließ ihr durch seinen Bibliothekar ausrichten, dass ihm eine Widmung ihres nächsten Romans willkommen sein würde. So erschien Emma einen Monat später mit einer Widmung an den Regenten »von seiner königlichen Hoheit pflichtbewusster und gehorsamer, untertäniger Dienerin«, und die Autorin ließ drei Tage vor dem eigentlichen Erscheinungstermin ein in rotes Leder gebundenes Exemplar nach Carlton House schicken. Aber sie erhielt nicht nur ein solches Zeichen königlicher Huld; auch die angesehenste Autorität des Landes im Hinblick auf den Roman richtete ihre Aufmerksamkeit wohlwollend auf sie. Im März 1816 erschien in der Quarterly Review, die aller584 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 585 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 dings wiederum der Verleger Murray herausgab, ein anonymer Artikel von Walter Scott, der sich mit Emma beschäftigte und mit seinem Umfang von über zehn Seiten als Kritik eines einzelnen Romans ungewöhnlich lang war, denn dieser eher als minderwertig geltenden literarischen Gattung – Scott selbst hob durch seine Werke ihr Ansehen beträchtlich – wurden im Allgemeinen nur kurze, halbseitige Rezensionen zugebilligt. Der schottische Romancier erkannte das im literarischen Kontext der Zeit Charakteristische und Neue an Jane Austens Romanen außerordentlich klar. Er schreibt: »Jane Austens Werke gehören zu einem Typ von Roman, der beinahe erst in unserer eigenen Zeit entstanden ist und der die darin vorkommenden Charaktere und Ereignisse in stärkerem Maße dem alltäglichen Leben entnimmt, als die Regeln des Romans das bisher gestatteten. […] Wir machen der Autorin deshalb kein kleines Kompliment, wenn wir sagen: Indem sie sich eng an alltägliche Ereignisse und an Charaktere hält, die ein Durchschnittsleben führen [occupy the ordinary walks of life], hat sie Skizzen von solcher Lebendigkeit und Originalität geschaffen, dass wir auf den Reiz gar nicht angewiesen sind, den uns eine Erzählung voller außergewöhnlicher Ereignisse verschafft, indem sie uns die Begegnung mit Menschen vermittelt, die uns an Geist, Gefühl und Lebensart weit überlegen sind. Diesen neuen Typ vertritt sie nahezu allein. [Es folgt die Inhaltsangabe.] Das ist die einfache Handlung der Geschichte, die wir mit Vergnügen, wenn nicht mit tieferer Anteilnahme durchlesen und die wir vielleicht lieber wieder in die Hand nehmen als eine der Erzählungen, wo wir beim ersten Lesen durch starke Neugier aufgeregt und gefesselt werden. […] Die Weltkenntnis der Autorin und der bemerkenswerte Takt, mit dem sie die Charaktere darstellt, die der Leser nicht umhinkann, wiederzuerkennen, erinnert uns an die malerischen Verdienste der holländischen Schule. Die Schilderungen sind nicht vornehm und gewiss niemals grandios, aber sie sind vollkommen lebensgetreu und mit einer Genauigkeit gezeichnet, die den Leser entzückt.« Das war zweifellos der Beginn des Ruhms, der großen öffentlichen und literarischen Anerkennung, und keiner konnte ahnen, dass Emma Jane Austens letzter zu Lebzeiten erscheinender Roman bleiben, dass sie gut ein Jahr später sterben würde. Selten hat der Tod ein Künstlerleben zu einem unglücklicheren Zeitpunkt beendet. Die spätere Kritik hat Scotts Eindruck bestätigt, dass Emma 585 Austen, Emma 7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 586 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 eine der größten, wenn nicht die größte Leistung Jane Austens, ihre komplexeste Schöpfung ist: »Das Buch der Bücher […] Emma ist der Gipfel von Jane Austens Werk; die richtige Würdigung von Emma ist die entscheidende Prüfung für die Anerkennung als Bürger in ihrem Königreich« (R. Farrer, 1917); »Jane Austens tiefsinnigste Komödie« (D. Cecil, 1935); »Emma bildet den Höhepunkt ihrer literarischen Leistungen. […] Hier ist ihr Können am größten, ihre Beherrschung der Materie am sichersten« (M. Shorer, 1959); »Gerade in Emma, wo die Chancen zum Scheitern aus technischen Gründen besonders groß sind, haben wir es mit einem der unbezweifelbaren Meister der Erzählkunst zu tun« (W. Booth, 1961); »ihr vollkommenstes und repräsentativstes Werk« (D. Lodge, 1968). So wie Pride and Prejudice den Höhepunkt von Jane Austens früher literarischer Entwicklung darstellt, bildet Emma den Gipfel ihrer reifen Zeit. Der nur dreijährige Abstand bei der Veröffentlichung beider Werke täuscht darüber hinweg, denn ihrer Entstehungszeit nach zerfallen die sechs vollendeten Romane Jane Austens in zwei Gruppen: Sense and Sensibility, Pride and Prejudice und Northanger Abbey sind eigentlich Jugendwerke. Auch wenn sie 15 bis 20 Jahre später und zum Teil erheblich umgearbeitet erschienen, wurden sie doch in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts entworfen und zum Teil auch ausgeführt. Dann folgten Fragmente, die nie vollendet wurden (Lady Susan, The Watsons), und dann die drei späten Romane: Mansfield Park, im Wesentlichen 1813 geschrieben, erschien 1814; Emma, 1814 geschaffen, kam 1815 heraus; und Persuasion (Entstehungszeit 1815/16) wurde 1818, also nach dem Tod der Autorin publiziert. 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 2 Jane Austens früher Tod und das Erscheinen aller ihrer Romane innerhalb eines Zeitraums von nur sieben Jahren verführen dazu, die Unterschiede zwischen den früh konzipierten Werken und den späteren Romanen zu übersehen. Wenn man aber etwa Emma neben Pride and Prejudice hält, sind durchaus Entwicklungen zu erkennen. Eine recht oberflächliche besteht schon darin, dass sich die Einstellung der Autorin zu ihrer Heldin – im Zentrum aller Romane Jane Austens steht eine Heldin, aus deren 586 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 5 1 2 3 4 5 6 Kapitel 1 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Vor ungefähr dreißig Jahren hatte Miss Maria Ward aus Huntingdon mit nur 7000 Pfund Vermögen das große Glück, Sir Thomas Bertram von Mansfield Park in der Grafschaft Northampton zu erobern und dadurch mit all den Annehmlichkeiten und gesellschaftlichen Vorteilen eines stattlichen Hauses und eines ansehnlichen Einkommens in den Rang einer Baronin aufzusteigen. Ganz Huntingdon wusste sich über diese großartige Partie nicht zu lassen, und sogar ihr eigener Onkel, der Rechtsanwalt, gab zu, dass ihr mindestens 3000 Pfund fehlten, um solche Ansprüche stellen zu können. Sie hatte zwei Schwestern, denen diese Standeserhöhung nur zugutekommen konnte, und alle die Bekannten, die Miss Ward und Miss Frances für mindestens so hübsch wie Miss Maria1 hielten, scheuten sich nicht, ihnen eine beinahe ebenso vorteilhafte Heirat vorauszusagen. Aber natürlich gibt es auf der Welt nicht so viele Männer mit ansehnlichem Vermögen, wie es hübsche Frauen gibt, die sie verdienen. Miss Ward sah sich deshalb nach einem halben Dutzend Jahren genötigt, sich mit dem Pastor Mr. Norris zu verbinden, einem Freund ihres Schwagers, fast ohne eigenes Vermögen, und Miss Frances erging es noch schlechter. Ja, Miss Wards Verbindung erwies sich, als es soweit war, als durchaus nicht zu verachten, da Sir Thomas zum Glück imstande war, seinen Freund durch die Pfarre von Mansfield mit einem Einkommen zu versorgen, und so begannen Mr. und Mrs. Norris 5 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 6 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 den Werdegang ihres ehelichen Glücks mit kaum weniger als 1000 Pfund im Jahr. Aber Miss Frances enttäuschte durch ihre Heirat – wie man so schön sagt – die Erwartungen ihrer Familie, und sie tat das, indem sie einen Marineleutnant ohne Erziehung, Vermögen oder Verbindungen wählte, ausgesprochen gründlich. Sie hätte kaum eine unvorteilhaftere Wahl treffen können. Sir Thomas hatte Beziehungen, die er ebenso aus Prinzip wie aus Ehrgefühl, aus einem generellen Wunsch, das Rechte zu tun, und aus dem Bedürfnis, alle, die mit ihm verwandt waren, in angemessenen Positionen zu sehen, gerne zugunsten von Lady Bertrams Schwester hätte spielen lassen, aber bei dem Beruf ihres Mannes war mit seinen Beziehungen nichts zu erreichen; und bevor er Zeit hatte, sich andere Möglichkeiten der Unterstützung auszudenken, hatte ein endgültiges Zerwürfnis zwischen den Schwestern stattgefunden. Es ergab sich ganz zwangsläufig aus dem Verhalten beider Parteien und war bei einer so unklugen Heirat auch kaum anders zu erwarten. Um sich unnötige Vorwürfe zu ersparen, erwähnte Mrs. Price in den Briefen an ihre Familie das Thema nie, bevor die Heirat tatsächlich stattgefunden hatte. Lady Bertram, die eine Frau von ausgesprochen friedfertigem Naturell und bemerkenswert ausgeglichenem Temperament war, hätte sich damit begnügt, ihre Schwester einfach aufzugeben und nicht weiter an die Sache zu denken; aber Mrs. Norris hatte viel Unternehmungsgeist, der ihr keine Ruhe ließ, bis sie Frances einen langen und empörten Brief geschrieben hatte, um ihr die Torheit ihres Schrittes vor Augen zu führen und ihr alle seine möglichen üblen Folgen anzudrohen. Mrs. Price ihrerseits war gekränkt und empört; und ihre Antwort, die beide Schwestern mit Vorwürfen bedachte und so ausgesprochen abfällige Bemerkungen über Sir 6 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 7 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Thomas’ Ehrgefühl enthielt, dass Mrs. Norris sie auf keinen Fall für sich behalten konnte, machte allem Umgang zwischen ihnen auf Jahre hinaus ein Ende. Sie wohnten so weit auseinander und bewegten sich in so verschiedenen Kreisen, dass während der folgenden elf Jahre jede Möglichkeit, voneinander zu hören, beinahe ausgeschlossen war oder es jedenfalls Sir Thomas als ein Wunder erscheinen ließ, dass Mrs. Norris überhaupt imstande war, ihnen von Zeit zu Zeit mit empörter Stimme zu erzählen, dass Frances schon wieder ein Kind bekommen habe. Nach Ablauf von elf Jahren allerdings konnte Mrs. Price es sich nicht länger leisten, sich Stolz oder Gekränktheit hinzugeben oder auf eine Verbindung zu verzichten, von der sie womöglich Hilfe zu erwarten hatte. Eine große und immer noch wachsende Familie, ein Ehemann, untauglich zu aktivem Dienst, aber Gesellschaft und teurem Alkohol durchaus nicht abgeneigt, und ein zu geringes Einkommen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ließen es ihr geraten erscheinen, die Freunde wiederzugewinnen, die sie so unbekümmert geopfert hatte, und sie wandte sich in einem Brief an Lady Bertram, aus dem so viel Zerknirschung und Verzweiflung sprach, ein solcher Überfluss an Kindern und ein solcher Mangel an fast allem anderen, dass eine Versöhnung ihnen allen unerlässlich erschien. Ihr neuntes Kindbett stand bevor, und als sie darüber gejammert und sie um ihre Unterstützung bei der Erziehung des erwarteten Kindes gebeten hatte, ließ sie durchblicken, wie unentbehrlich sie ihr in Zukunft beim Unterhalt ihrer acht schon vorhandenen Kinder waren. Ihr Ältester war ein Junge von zehn Jahren, ein vielversprechender, lebhafter Bursche, der unbedingt in die Welt hinaus wollte – aber was konnte sie tun? Bestand die Möglichkeit, dass er sich Sir Thomas bei der Verwaltung seiner 7 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 8 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Besitzungen in der Karibik nützlich machen konnte? Er wäre sich für keine Arbeit zu schade? Oder was hielt Sir Thomas von Woolwich2? Oder wie fing man es an, einen Jungen in den Orient zu schicken? Der Brief verfehlte seine Wirkung nicht. Er stellte Frieden und Einvernehmen wieder her. Sir Thomas sandte gutgemeinte Ratschläge und Versicherungen, Lady Bertram schickte Geld und Babywäsche, und Mrs. Norris schrieb die Briefe. Darin bestand der unmittelbare Erfolg, und innerhalb eines Jahres ergab sich daraus ein noch wesentlicherer Vorteil für Mrs. Price. Mrs. Norris bemerkte oft zu den anderen, dass ihr ihre arme Schwester und deren Familie nicht aus dem Kopf ging; soviel sie alle auch für sie getan hatten, sie wollte anscheinend noch mehr tun; und zu guter Letzt konnte sie nicht umhin, offen zuzugeben, dass es ihr Wunsch war, die arme Mrs. Price von der Verantwortung und den Kosten für eins aus der großen Schar ihrer Kinder gänzlich zu befreien. Wie nun, wenn sie gemeinsam die Sorge für die Erziehung ihrer ältesten Tochter übernähmen, eines Mädchens von jetzt neun Jahren, einem Alter also, in dem sie mehr Aufmerksamkeit erfordere, als ihre Mutter ihr auch beim besten Willen geben könne? Die Mühe und die Kosten für sie fielen im Verhältnis zu der dadurch bewirkten Wohltat gar nicht ins Gewicht. Lady Bertram stimmte ihr auf der Stelle zu: »Ich finde, wir können nichts Besseres tun«, sagte sie. »Wir wollen das Kind holen lassen.« Sir Thomas konnte seine Zustimmung nicht so spontan und ohne weiteres geben. Er widersprach und zögerte. Es sei eine schwere Verantwortung; wenn man ein Mädchen aufziehe, müsse man auch später angemessen für sie sorgen, sonst wäre es Grausamkeit und nicht Freundlichkeit, 8 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 9 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 sie ihrer Familie wegzunehmen. Er denke an seine eigenen vier Kinder, an seine beiden Söhne, an verliebte Vettern usw. Aber kaum hatte er begonnen, seine Einwände im Einzelnen vorzutragen, da unterbrach ihn Mrs. Norris mit einer Antwort, die alle seine Argumente widerlegte – unabhängig davon, ob er sie vorgetragen hatte oder nicht. »Mein lieber Sir Thomas, ich verstehe Sie vollkommen und ehre die Großzügigkeit und das Zartgefühl ihrer Empfindungen, die ja auch ganz Ihren sonstigen Einstellungen entsprechen, und ich stimme in der Hauptsache völlig mit Ihnen überein, dass es nämlich angebracht ist, alles zu tun, was man kann, um für ein Kind zu sorgen, für das man auf diese Weise die Verantwortung übernommen hat, und ich bin gewiss die Letzte, die bei solcher Gelegenheit nicht ihr Scherflein beisteuern würde. Da ich selbst keine Kinder habe, wem soll ich denn das Bisschen hinterlassen, das ich eines Tages zu vererben habe, wenn nicht den Kindern meiner Schwestern? Und Mr. Norris ist bestimmt zu großzügig … aber Sie wissen ja, ich bin eine Frau, die nicht gern große Worte und Bekenntnisse macht. Wir wollen uns nicht durch eine Kleinigkeit von einer guten Sache abschrecken lassen. Geben Sie einem Mädchen eine Erziehung und führen Sie sie richtig in die Gesellschaft ein, und ich wette zehn zu eins, dass sie die besten Voraussetzungen hat, sich gut zu verheiraten, ohne irgendjemandem weitere Ausgaben zu machen. Eine Nichte von uns, Sir Thomas, das darf ich wohl sagen, oder wenigstens von Ihnen, würde nicht ohne wesentliche Vorteile in unserer Gegend aufwachsen … Ich behaupte ja nicht, dass sie so vollkommen würde wie ihre Kusinen. Das will ich denn doch nicht behaupten, aber sie würde unter so ungewöhnlich günstigen Umständen in das gesellschaftliche Leben unserer Nachbarschaft eingeführt, dass sie nach menschlichem Ermessen 9 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 dadurch eine passende Verbindung finden müsste. Sie denken an Ihre Söhne … aber wissen Sie denn nicht, dass das von allen Möglichkeiten die unwahrscheinlichste ist – so wie sie aufwachsen würden, immer zusammen wie Geschwister? Es ist nahezu ausgeschlossen. So etwas habe ich noch nie gehört. Ja, es ist die einzig sichere Methode, die Verbindung zu verhindern. Angenommen, sie ist ein hübsches Mädchen, und Tom oder Edmund würden sie in sieben Jahren zum ersten Mal sehen, dann gäbe es bestimmt Ärger. Der bloße Gedanke, dass sie so weit entfernt von uns allen arm und vernachlässigt aufwachsen musste, würde schon genügen, um einen der beiden lieben, zartfühlenden Jungen für sie entflammen zu lassen. Aber sorgen Sie dafür, dass sie mit ihnen gemeinsam aufwächst, und angenommen sogar, sie ist schön wie ein Engel, dann wird sie ihnen niemals mehr sein als eine Schwester.« »Es steckt viel Wahrheit in dem, was Sie sagen«, erwiderte Sir Thomas, »und es liegt mir denkbar fern, gegen einen Plan, der den Lebensumständen beider Parteien so entspräche, irgendwelche weit hergeholten Einwände zu erheben. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass man sich nicht leichtfertig darauf einlassen sollte und wir, wenn Mrs. Price es später nicht bereuen und wir uns vor uns selbst nicht schämen sollen, für das Kind sorgen oder uns für verpflichtet halten müssen, für sie unter Umständen wie für eine junge Dame von Stand zu sorgen, wenn sich die Heirat, auf die Sie so optimistisch vertrauen, nicht anbietet.« »Ich verstehe Sie voll und ganz«, rief Mrs. Norris, »Sie sind die Großzügigkeit und Güte selbst, und in diesem Punkt wird es zwischen uns bestimmt keine Meinungsverschiedenheiten geben. Wenn ich denen, die ich liebe, etwas Gutes tun kann, tue ich es von Herzen; das wissen Sie ja; und obwohl ich für dieses kleine Mädchen nie auch nur ei10 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 11 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 nen Bruchteil dessen empfinden könnte, was ich an Zuneigung für Ihre eigenen lieben Kinder aufbringe, oder sie ebenso wie sie für mein eigen Fleisch und Blut halten könnte, würde ich es mir doch nie verzeihen, wenn ich imstande wäre, sie zu vernachlässigen. Schließlich ist sie eine Tochter meiner Schwester, und wie könnte ich es mit ansehen, dass sie Mangel leidet, solange ich noch ein Stück Brot mit ihr teilen kann? Mein lieber Sir Thomas, bei all meinen Fehlern habe ich doch ein empfindsames Herz; und arm wie ich bin, würde ich mir lieber das Nötigste vom Munde absparen, als selbstsüchtig zu handeln. Wenn Sie also nichts dagegen haben, schreibe ich gleich morgen an meine arme Schwester und mache ihr den Vorschlag, und sobald die Angelegenheit geregelt ist, sorge ich dafür, dass das Kind nach Mansfield kommt; Sie brauchen sich damit keine Mühe zu machen, und meine eigene Mühe fällt ja niemals ins Gewicht. Ich werde Nanny deswegen nach London schicken, und sie kann bei ihrem Vetter, dem Sattler, übernachten, und das Kind soll beauftragt werden, sie dort zu treffen. Von Portsmouth nach London kann man es unter der Obhut irgendeiner verlässlichen Person, die zufällig auch dorthin fährt, ohne weiteres mit der Postkutsche schicken. Die eine oder andere achtbare Kaufmannsfrau fährt immer nach London.« Außer gegen den Überfall auf Nannys Vetter erhob Sir Thomas keine weiteren Einwände; und als man sich dementsprechend für einen respektableren, wenn auch weniger preisgünstigen Treffpunkt entschieden hatte, galt die Sache als abgemacht, und man gab sich schon der Vorfreude über einen so menschenfreundlichen Plan hin. Strenggenommen hätten die Gefühle der Genugtuung nicht gleich verteilt sein dürfen, denn Sir Thomas war fest entschlossen, der eigentliche und ständige Wohltäter des erwählten Kin11 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 des zu sein, und Mrs. Norris hatte nicht die geringste Absicht, sich für seinen Unterhalt auch nur im mindesten in Unkosten zu stürzen. Solange es ans Planen, Mahnen und Organisieren ging, war sie die Menschenfreundlichkeit selbst, und niemand wusste besser, wie man andere zu Freigebigkeit zwingen konnte; aber ihre Liebe zum Geld hielt ihrer Liebe zum Kommandieren durchaus die Waage, und sie verstand es ganz genauso gut, ihr eigenes zu sparen, wie das ihrer Freunde auszugeben. Da das Einkommen ihres Mannes eigentlich ihren Erwartungen nicht entsprach, hatte sie von Anfang an eine sehr strikte Sparsamkeit für angebracht gehalten, und was als Vorsichtsmaßnahme begonnen hatte, entwickelte sich, obwohl die Kinder als Begründung der ständigen Sorge fehlten, bald zu einer lieben Gewohnheit. Hätte sie eine Familie zu versorgen gehabt, hätte Mrs. Norris ihr Geld vielleicht nie gespart; da sie Sorgen dieser Art aber nicht hatte, gab es nichts, was ihre Sparsamkeit gebremst oder ihr die angenehme Aussicht gemindert hätte, ihr Einkommen, das sie ohnehin nie aufbrauchte, jedes Jahr weiter zu vergrößern. Mit dieser herzerwärmenden Einstellung, die von keiner echten Zuneigung zu ihrer Schwester erschüttert wurde, konnte sie unmöglich mehr für sich in Anspruch nehmen als das Verdienst, eine so kostspielige gute Tat geplant und arrangiert zu haben, obwohl sie sich womöglich so wenig kannte, dass sie nach dieser Unterhaltung in dem beglückenden Glauben nach Hause ins Pfarrhaus zurückging, die großzügigste Schwester und Tante der Welt zu sein. Als das Thema zum zweiten Mal erörtert wurde, drückte sie ihre Ansichten deutlicher aus, und Sir Thomas hörte in Erwiderung auf Lady Bertrams ruhige Frage »Bei wem soll das Kind zuerst bleiben, Schwester, bei euch oder bei uns?« mit einiger Überraschung, dass Mrs. Norris völlig 12 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 13 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 außerstande sei, irgendwelche persönliche Verantwortung für den Schützling zu übernehmen. Er hatte immer angenommen, sie würde als Familienmitglied, als erwünschte Gefährtin einer Tante, die keine eigenen Kinder hatte, im Pfarrhaus besonders willkommen sein – aber da hatte er sich gründlich getäuscht. Mrs. Norris bedauerte sagen zu müssen, es sei völlig ausgeschlossen, dass das kleine Mädchen, jedenfalls so wie die Dinge augenblicklich lägen, zu ihnen komme. Der arme Mr. Norris und sein bedenklicher Gesundheitszustand machten es ganz unmöglich; eher könne er sich in die Luft erheben als Kinderlärm ertragen. Wenn er sich aber eines Tages von seiner Gicht erholt habe, lasse sich natürlich darüber reden. Dann werde sie sie gern eine Zeitlang übernehmen und die Mühe nicht scheuen; aber gerade jetzt, wo der arme Mr. Norris ihre ganze freie Zeit beanspruche … die bloße Erwähnung von so etwas würde für seine Nerven bestimmt zu viel sein. »Dann kommt sie wohl besser zu uns«, sagte Lady Bertram mit äußerster Gefasstheit. Sir Thomas fügte nach einer kurzen Pause würdevoll hinzu: »Ja, in diesem Haus soll sie ihre Heimat finden. Wir werden uns bemühen, unsere Pflicht ihr gegenüber zu erfüllen; und hier hat sie wenigstens den Vorteil, gleichaltrige Gefährten und eine ständige Gouvernante zu haben.« »Ganz recht«, rief Mrs. Norris, »beides sind entscheidende Argumente, und für Miss Lee ist es doch schließlich ganz gleich, ob sie drei Mädchen zu unterrichten hat oder nur zwei – das spielt doch keine Rolle für sie. Ich wünschte nur, dass ich mich nützlicher machen könnte, aber ich tue wirklich alles, was in meiner Macht steht. Ich gehöre, weiß Gott, nicht zu denen, die irgendwelche Mühe scheuen, und Nanny soll sie abholen, auch wenn ich eigentlich meine einzige Stütze im Haus drei Tage gar nicht entbehren kann. Ich 13 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 14 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 nehme an, Schwester, du wirst das Kind in der kleinen weißen Bodenkammer unterbringen, dicht bei den alten Kinderzimmern. Das ist bei weitem der beste Platz für sie, so dicht bei Miss Lee und nicht weit von euren Töchtern und in der Nähe der Hausmädchen, die ihr ja beide beim Anziehen helfen und sich um ihre Kleidung kümmern können, denn ich nehme nicht an, du hältst es für angebracht, dass Ellis sie ebenso wie eure Mädchen bedient. Ja, ich wüsste wirklich gar nicht, wo du sie sonst unterbringen könntest.« Lady Bertram erhob keine Einwände. »Ich hoffe, sie erweist sich als gutmütig veranlagtes Mädchen«, fuhr Mrs. Norris fort, »und weiß das ungewöhnliche Glück zu schätzen, dass sie solche Freunde hat.« »Sollte sie wirklich eine schlechte Veranlagung haben«, sagte Sir Thomas, »dann dürfen wir sie um unserer eigenen Kinder willen nicht in der Familie behalten; aber es gibt keinen Grund, ein so großes Übel zu befürchten. Wir werden sicher vieles an ihr ändern wollen und müssen auf haarsträubende Unbedarftheit, recht einfältige Ansichten und eine bestürzende Gewöhnlichkeit ihrer Umgangsformen gefasst sein; aber das sind keine unkorrigierbaren Fehler, und auch für ihre Gefährtinnen sind sie bestimmt keine Gefahr. Wären meine Töchter jünger als sie, dann hätte ich ihren Umgang mit einer solchen Hausgenossin als sehr bedenklich angesehen, aber wie die Dinge liegen, hoffe ich, gibt es von dem Umgang für sie nichts zu befürchten und für das Kind alles zu hoffen.« »Da bin ich völlig Ihrer Meinung«, rief Mrs. Norris, »und das habe ich meinem Mann heute Vormittag auch gesagt. ›Schon das bloße Zusammensein mit ihren Kusinen‹, hab’ ich gesagt, ›wird eine gute Schule für das Kind sein; wenn Miss Lee ihr nichts beibrächte, würde sie von ihnen lernen, gut und geschickt zu sein‹.« 14 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 15 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 »Ich hoffe nur, dass sie meinen armen Mops nicht ärgert«, sagte Lady Bertram, »ich habe Julia gerade erst soweit, dass sie ihn in Ruhe lässt.« »Wir werden im Hinblick auf den angemessenen Standesunterschied, den man zwischen den Mädchen machen muss, wenn sie zusammen aufwachsen, mit einigen Schwierigkeiten rechnen müssen, Mrs. Norris«, sagte Sir Thomas, »wie man bei meinen Töchtern das Bewusstsein, wer sie sind, erhalten kann, ohne dass sie deshalb zu gering von ihrer Kusine denken, und wie man diese, ohne sie zu sehr zu entmutigen, daran erinnert, dass sie keine Miss Bertram ist. Ich sähe es gern, wenn sie gute Freundinnen würden, und möchte meinen Mädchen auf keinen Fall erlauben, ihrer Verwandten gegenüber auch nur den geringsten Hochmut zu zeigen; und doch können sie nicht ebenbürtig sein. Ihr Rang, Vermögen, ihre Rechte und Erwartungen werden immer verschieden sein. Es ist ein äußerst heikler Punkt, und Sie müssen uns bei unseren Versuchen unterstützen, genau den richtigen Umgangston zu finden.« Mrs. Norris war ihm gern zu Diensten, und obwohl sie völlig mit ihm einer Meinung war, dass es sich dabei um eine äußerst delikate Sache handle, bestärkte sie seine Hoffnung, dass man es gemeinsam schon schaffen werde. Man kann sich leicht vorstellen, dass Mrs. Norris nicht vergeblich an ihre Schwester schrieb. Mrs. Price schien eher überrascht, dass man sich auf ein Mädchen geeinigt hatte, wo sie doch so viele vielversprechende Jungen hatte, aber sie nahm das Angebot äußerst dankbar an, versicherte ihnen, dass ihre Tochter ein sehr gutmütig veranlagtes, umgängliches Mädchen sei, und war überzeugt, dass sie keinen Anlass haben würden, sie zurückzuschicken. Sie 15 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 16 1 2 3 4 5 beschrieb sie dann als ein bisschen empfindlich und zart, war aber zuversichtlich, dass ihr die Luftveränderung entschieden guttun würde. Die arme Frau! Sie dachte wahrscheinlich, dass Luftveränderung vielen ihrer Kinder guttun würde. 6 7 8 9 Kapitel 2 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 Das kleine Mädchen überstand die Reise wohlbehalten und wurde in Northampton von Mrs. Norris abgeholt, die sich in dem Verdienst, sie als Erste willkommen zu heißen, und in der Würde sonnte, sie den anderen zuzuführen und ihrer Güte zu empfehlen. Fanny Price war zu dieser Zeit gerade zehn Jahre alt, und obwohl es auf den ersten Blick nichts an ihr gab, was besonders einnehmend war, so gab es andererseits doch auch nichts, was den Widerwillen ihrer Verwandten erregte. Sie war klein für ihr Alter, ohne leuchtenden Teint oder sonst wie auffallende Schönheit, übermäßig ängstlich und schüchtern und darauf bedacht, sich jeder Aufmerksamkeit zu entziehen; und obwohl unbeholfen, hatte ihre Erscheinung doch nichts Gewöhnliches; ihre Stimme war lieblich, und wenn sie sprach, war ihr Gesichtsausdruck hübsch. Sir Thomas und Lady Bertram empfingen sie sehr freundlich, und da Sir Thomas sah, wie sehr sie Ermutigung nötig hatte, versuchte er ganz besonders entgegenkommend zu sein, aber dabei war ihm sein äußerst würdevolles Benehmen im Wege, so dass Lady Bertram, ohne sich halb soviel Mühe zu geben oder ein Wort zu sagen, wo er zehn sagte, nur mit Hilfe eines gutmütigen Lächelns sofort die weniger furchterregende Gestalt von beiden wurde. 16 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 595 1 Nachwort 2 3 »She has given us a multitude of characters, all in a certain sense, common place, all such as we meet every day. Yet they are all as perfectly discriminated from each other as if they were the most eccentric of human beings.« 4 5 6 7 8 9 Thomas Macauley (1800–59) über Jane Austen 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 1 Mansfield Park ist der dritte der sechs Romane Jane Austens (1775–1817), die von 1811 bis 1818, also innerhalb von nur sieben Jahren in London erschienen und, abgesehen von kurzen satirischen Jugenddichtungen und drei Romanfragmenten (Lady Susan, The Watsons, Sanditon), das gesamte Œuvre dieser Schriftstellerin ausmachen. Seinem geringen Umfang nach steht es in keinem Verhältnis zu seiner weltweiten Beliebtheit in der englischsprachigen Welt und zu der unendlich zahlreichen Sekundärliteratur, die darüber geschrieben wurde und wird. Jane Austen bildet das Musterbeispiel eines Klassikertyps, wie er in der deutschen Literatur allzu selten ist, ja, wie ihn eigentlich nur Theodor Fontane darstellt: Sie befriedigt zugleich das elementare Lesevergnügen eines riesigen Publikums und die Forschungsbedürfnisse der Literaturwissenschaft. Die eine Seite wird repräsentiert durch J. B. Priestleys Beurteilung, Jane Austen »hat wahrscheinlich mehr englischsprachigen Menschen Entzücken bereitet als irgendeine andere Frau, die je gelebt hat«, die andere durch den Vergleich mit Shakespeare, der öfter in den Studien über Jane Austen 595 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 596 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 auftaucht – zum ersten Mal übrigens bei dem oben zitierten Thomas Macauley in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Innerhalb der sechs Romane stellen Mansfield Park und der darauf folgende, Emma (1815), insofern eine eigene Gruppe dar, als nur sie von der Autorin unmittelbar in Druck gegeben wurden, nachdem sie konzipiert und geschrieben waren. Die beiden früheren Werke (Sense and Sensibility, 1811, und Pride and Prejudice, 1813) sind umgearbeitete Jugendwerke, und die beiden folgenden (Persuasion und Northanger Abbey, 1818, letzteres ebenfalls eine Jugendarbeit) wurden nicht mehr von der Schriftstellerin selbst, die inzwischen gestorben war, sondern von ihrem Bruder herausgegeben. Mansfield Park und Emma bilden daher die eigentlichen Werke der Reifezeit Jane Austens, und vielleicht ist schon ihr größerer Umfang ein Zeichen dafür, dass die etwa vierzigjährige Autorin sich bei ihnen ganz auf der Höhe ihres literarischen Könnens fühlte. Die erste Auflage von Mansfield Park, das 1814 anonym, aber mit dem Zusatz »von der Autorin von Sense and Sensibility und Pride and Prejudice« erschien, war, wie aus einem Brief Jane Austens an ihre Lieblingsnichte Fanny Knight – die sich später aristokratisch verheiratete und in viktorianischer Engstirnigkeit auf ihre früher so geliebte Tante und deren Familie mit einer gewissen Geringschätzung zurückblickte – hervorgeht, schon im November desselben Jahres vergriffen. Jane Austen freute sich darüber unter anderem deshalb, weil sie bei einer Neuauflage wieder Geld verdienen konnte. (»Ich bin schrecklich habgierig und möchte das meiste herausholen.«) Eine zweite Auflage wurde tatsächlich 1816 veranstaltet, und die Verfasserin nahm die Gelegenheit wahr, Druckfehler der ersten zu berichtigen und geringfügige Änderungen am Text anzubringen. (Die vorliegende Übersetzung folgt der Penguin-Aus596 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 597 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 gabe von Tony Tanner, die mit ganz wenigen Ausnahmen den Text dieser zweiten Auflage wiedergibt, nimmt allerdings eine Textkorrektur vor; vgl. Anm. 19.) Alle Romane Jane Austens haben die vielfältigsten Deutungen erfahren, alle sind vielfach miteinander verglichen und gegeneinander abgewogen worden, alle haben ihre leidenschaftlichen Anhänger und Kritiker, ja, für gewisse Experten und Leser ist die Welt geradezu in »Janites« und »Anti-Janites«, in Austen-Liebhaber und Austen-Gegner aufgeteilt. Mansfield Park hat dabei eher im Schatten des vorausgehenden und des nachfolgenden Werks gestanden. Dafür ist zu einem guten Teil die unscheinbare Heldin Fanny Price verantwortlich, die den Vergleich mit der geistreichen Elizabeth Bennet aus Pride and Prejudice und der naiv-raffinierten Emma Woodhouse aus Emma nicht aushält und öfter als bigott, rechthaberisch oder gar dünkelhaft empfunden worden ist. So bemerkte der amerikanische Literaturwissenschaftler Lionel Trilling 1954: »Niemandem, glaube ich, ist es je gelungen, die Heldin von Mansfield Park zu mögen.« Und 1957 schrieb der englische Romancier Kingsley Amis unter dem provozierenden Titel »Was ist aus Jane Austen in Mansfield Park geworden?« eine Einleitung zu dem Buch, in der er nach mancherlei Lob das seiner Meinung nach konventionelle und langweilige Heldenpaar mit dem Satz charakterisierte: »Zu einer Abendeinladung an Mr. und Mrs. Edmund Bertram würde man sich wohl nur schweren Herzens entschließen.« Andererseits pries die englische Kritikerin Q. D. Leavis gerade Mansfield Park im selben Jahr mit folgenden Worten: 597 Austen · Mansfield Park 7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 598 1 2 3 4 5 »In Technik, Thema, Prosastil und in der behutsamen Erforschung menschlicher Beziehungen deutet Mansfield Park auf George Eliot und Henry James voraus; Mansfield Park ist daher der erste moderne Roman Englands.« (Zu den drei Aufsätzen vgl. die Literaturhinweise: Southam.) 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 An Esprit, Präzision der Figurencharakterisierung, Lebensechtheit der Situationen, Lebendigkeit des Dialogs und Geschick der Szenengestaltung steht Mansfield Park den anderen Romanen sicher nicht nach. Mrs. Norris etwa gebührt ein Ehrenplatz in Jane Austens Galerie der satirisch gezeichneten komischen Charaktere. Ist aber das Heldenpaar Fanny Price und Edmund Bertram misslungen? Zu ihrem Verständnis muss man sich die Thematik des Buches vergegenwärtigen. 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 2 Fanny ist nicht wie Elizabeth Bennet oder Emma Woodhouse die Tochter eines angesehenen Gentlemans, sie nimmt daher in der Gesellschaft auch nicht deren Rang ein, kann nicht deren Anspruch auf Selbstsicherheit erheben, sondern sie ist die im Haus ihres reichen Onkels aufwachsende arme, abhängige Verwandte, wie sie bis ins 20. Jahrhundert, bis sich die rechtliche und gesellschaftliche Stellung der Frau so weit gebessert hatte, dass diese unabhängig leben oder sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen konnte, eine vertraute Erscheinung in vielen Familien war. Eine solche mittellose, aus Barmherzigkeit aufgenommene Nichte, deren Leben und Verhalten viele zeitgenössische Leser und Leserinnen Jane Austens aus eigener Erfahrung bestens kannten, konnte keinerlei Ansprüche stellen und hatte sich immer bescheiden im Hintergrund zu halten. Wenn sie nicht schon von Natur 598 Erhältlich in allen bekannten E-Book-Shops und unter buchversand-stein.de: Kloster Northanger Stolz und Vorurteil Überredung Verstand und Gefühl Emma Mansfield Park