Leseproben Jane Austen E-Book

Transcription

Leseproben Jane Austen E-Book
Leseproben
Jane Austen
Die Romane
Aus dem Englischen übersetzt von
Ursula und Christian Grawe
Nachwort und Anmerkungen
von Christian Grawe
Alle Rechte vorbehalten
© 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2012
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH &
Co. KG, Stuttgart
www.reclam.de
Jane Austen· Stolz und Vorurteil
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 5
1
2
3
4
5
6
Kapitel 1
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein Junggeselle im Besitz eines schönen Vermögens nichts dringender braucht als eine Frau.
Zwar sind die Gefühle oder Ansichten eines solchen
Mannes bei seinem Zuzug in eine neue Gegend meist unbekannt, aber diese Wahrheit sitzt in den Köpfen der ansässigen Familien so fest, dass er gleich als das rechtmäßige
Eigentum der einen oder anderen ihrer Töchter gilt.
»Mein lieber Mr. Bennet«,1 sagte seine Gemahlin eines
Tages zu ihm, »hast du schon gehört, dass Netherfield Park
endlich vermietet ist?«
Das habe er nicht, antwortete Mr. Bennet.
»Doch, doch«, erwiderte sie, »Mrs. Long war nämlich
gerade hier und hat es mir lang und breit erzählt.«
Mr. Bennet gab keine Antwort.
»Willst du denn gar nicht wissen, an wen?«, rief seine
Frau ungeduldig.
»Du willst es mir erzählen; ich habe nichts dagegen, es
mir anzuhören.«
Das genügte ihr als Aufforderung.
»Stell dir vor, mein Lieber, Mrs. Long sagt, dass ein
junger Mann aus dem Norden Englands mit großem Vermögen Netherfield gemietet hat; dass er am Montag in einem Vierspänner heruntergekommen ist, um sich den Besitz anzusehen, und so entzückt war, dass er mit Mr. Morris
sofort einig geworden ist; noch vor Oktober will er angeb5
Jane Austen· Stolz und Vorurteil
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 6
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
lich einziehen, und ein Teil seiner Dienerschaft soll schon
Ende nächster Woche im Haus sein.«
»Wie heißt er denn?«
»Bingley.«
»Ist er verheiratet oder ledig?«
»Na, ledig natürlich! Ein Junggeselle mit großem Vermögen; vier- oder fünftausend pro Jahr. Ist das nicht schön
für unsere Mädchen!«
»Wieso? Was hat das mit ihnen zu tun?«
»Mein lieber Mr. Bennet«, erwiderte seine Frau. »Wie
kannst du nur so schwerfällig sein! Du musst dir doch
denken können, dass er eine von ihnen heiraten soll.«
»Ist er deshalb hierhergezogen?«
»Deshalb! Unsinn, wie kannst du nur so etwas sagen!
Aber es könnte doch gut sein, dass er sich in eine von ihnen verliebt, und darum musst du ihm einen Antrittsbesuch machen, sobald er kommt.«
»Dazu sehe ich gar keine Veranlassung. Warum gehst
du nicht mit den Mädchen hin, oder besser noch, schick sie
allein, sonst wirft Mr. Bingley noch ein Auge auf dich; so
hübsch wie sie bist du allemal.«
»Du schmeichelst mir, mein Lieber. Meine Schönheit –
das war einmal, aber jetzt halte ich mir darauf nicht mehr
viel zugute. Wenn eine Frau fünf erwachsene Töchter hat,
sollte sie nicht mehr von ihrer eigenen Schönheit reden.«
»In solchen Fällen ist ihre Schönheit oft auch nicht
mehr der Rede wert.«
»Trotzdem, mein Lieber, du musst unbedingt Mr. Bingley besuchen, wenn er eingezogen ist.«
»Das ist mehr, als ich versprechen kann.«
»Aber denk doch an deine Töchter. Was für eine Partie
wäre das für eine von ihnen. Sogar Sir William und Lady
Lucas wollen bei ihm vorsprechen, und zwar nur deshalb,
6
Jane Austen· Stolz und Vorurteil
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 7
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
denn im Allgemeinen machen sie neuen Nachbarn ja keine
Besuche. Du musst einfach hingehen. Wie können wir ihn
denn besuchen, wenn du nicht gehst.«
»Du hast zu viele Bedenken. Ich bin überzeugt, Mr. Bingley freut sich über euren Besuch. Ich gebe dir ein paar
Zeilen mit meiner herzlichen Zustimmung mit, diejenige
meiner Töchter zu heiraten, die ihm am besten gefällt. Allerdings muss ich ein gutes Wort für meine kleine Lizzy
einlegen.«
»Das wirst du nicht tun. Lizzy ist keinen Deut besser
als die anderen; wenn du mich fragst, ist sie bei weitem
nicht so hübsch wie Jane und bei weitem nicht so vergnügt
wie Lydia. Aber immer ziehst du sie vor.«
»Keine von ihnen ist besonders empfehlenswert«, antwortete er; »sie sind alle genauso albern und dumm wie
andere Mädchen. Nur begreift Lizzy etwas schneller als
ihre Schwestern.«
»Mr. Bennet, wie kannst du nur über deine eigenen Kinder so abfällig reden! Es macht dir Spaß, mich zu ärgern. Mit
meinen armen Nerven hast du wohl gar kein Mitleid.«
»Du missverstehst mich, meine Liebe. Ich habe großen
Respekt vor deinen Nerven. Sie und ich sind alte Freunde.
Seit mindestens zwanzig Jahren höre ich dich von ihnen
mit großer Besorgnis sprechen.«
»Oh, du ahnst ja nicht, was ich durchmache!«
»Ich hoffe, du wirst es überleben und noch viele junge
Männer mit viertausend pro Jahr hierherziehen sehen.«
»Da du sie nicht besuchen willst, werden uns auch
zwanzig nicht retten.«
»Sei überzeugt, meine Liebe, wenn zwanzig da sind, besuche ich sie einen nach dem anderen.«
In Mr. Bennet vereinigten sich Schlagfertigkeit, sarkastischer Humor, Gelassenheit und kauzige Einfälle zu einer
7
Jane Austen· Stolz und Vorurteil
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 8
1
2
3
4
5
6
7
8
so merkwürdigen Mischung, dass es seiner Frau auch in
dreiundzwanzig Ehejahren nicht gelungen war, ihn zu begreifen. Ihr Gemüt war leichter zu durchschauen. Sie war
eine Frau von geringer Einsicht, wenig Weltkenntnis und
vielen Launen. Wenn sie unzufrieden war, glaubte sie, nervöse Zustände zu haben. Ihre Lebensbeschäftigung war die
Verheiratung ihrer Töchter, Besuche und Neuigkeiten waren ihr Lebenstrost.
9
10
11
12
Kapitel 2
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Mr. Bennet war einer der Ersten, die Mr. Bingley ihre Aufwartung machten. Er hatte von Anfang an vorgehabt, ihn
aufzusuchen, obwohl er seiner Frau bis zuletzt das Gegenteil
versichert hatte; und bis zum Abend nach dem Besuch wusste sie auch nichts davon. Dann aber kam es folgendermaßen
ans Licht: Mr. Bennet sah seiner zweiten Tochter beim Annähen eines Hutbandes zu und sagte plötzlich zu ihr:
»Hoffentlich gefällt der Hut Mr. Bingley, Lizzy.«
»Wie sollen wir denn wissen, was Mr. Bingley gefällt«,
sagte ihre Mutter pikiert, »wenn wir ihn nicht besuchen
dürfen.«
»Aber vergiss nicht, Mama«, sagte Elizabeth, »dass wir
ihm in Gesellschaft begegnen werden und Mrs. Long versprochen hat, ihn uns vorzustellen.«
»Mrs. Long wird nichts dergleichen tun. Sie hat selbst
zwei Nichten und ist eine egoistische Heuchlerin. Ich halte
gar nichts von ihr.«
»Ich auch nicht«, sagte Mr. Bennet, »und wie ich glücklicherweise sagen kann, werdet ihr auf die Gefälligkeit
auch nicht angewiesen sein.«
8
Jane Austen· Stolz und Vorurteil
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 9
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Mrs. Bennet ließ sich zu keiner Antwort herab, aber da
sie sich nicht beherrschen konnte, fing sie an, eine ihrer
Töchter auszuschimpfen.
»Hör auf zu husten, Kitty, um Himmels willen! Nimm
ein bisschen Rücksicht auf meine Nerven. Du trampelst
auf ihnen herum.«
»Kittys Husten ist wirklich rücksichtslos«, sagte ihr Vater, »sie hustet zur falschen Zeit.«
»Ich huste ja schließlich nicht zum Vergnügen«, antwortete Kitty ärgerlich.
»Wann ist dein nächster Ball, Lizzy?«
»Morgen in vierzehn Tagen.«
»Ach, richtig«, rief ihre Mutter, »und Mrs. Long
kommt erst am Tag vorher zurück, und deshalb kann sie
ihn uns auch nicht vorstellen, denn sie kennt ihn selbst
noch nicht.«
»Dann, meine Liebe, wirst du deiner Freundin zuvorkommen und das Vergnügen haben, Mr. Bingley ihr vorzustellen.«
»Ausgeschlossen, Mr. Bennet, ausgeschlossen, wenn ich
ihn doch selbst nicht kenne. Du willst uns auf den Arm
nehmen.«
»Deine Umsicht ehrt dich. Eine vierzehntägige Bekanntschaft ist natürlich nicht viel. Nach vierzehn Tagen
kennt man einen Menschen ja kaum. Aber wenn wir es
nicht wagen, wird es jemand anders tun; schließlich müssen auch Mrs. Long und ihre Nichten ihre Chance wahrnehmen, und deshalb wäre sie dir für diesen Liebesdienst
sicher dankbar. Wenn du es also ablehnst, werde ich es in
die Hand nehmen.«
Die Mädchen starrten ihren Vater an. Mrs. Bennet sagte nur: »Unsinn, Unsinn!«
»Darf ich auch den Sinn dieser so entschiedenen Ableh9
Jane Austen· Stolz und Vorurteil
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 10
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
nung erfahren?«, rief er. »Hältst du die gesellschaftlichen
Umgangsformen für Unsinn? Legst du gar keinen Wert
auf eine korrekte Vorstellung? Da kann ich dir nicht ganz
zustimmen. Was meinst du, Mary? Du bist doch eine
grundgescheite junge Dame, liest gewichtige Bücher und
machst dir Auszüge daraus.«
Mary hätte gerne etwas Tiefsinniges gesagt, aber es fiel
ihr nichts ein.
»Wir wollen«, fuhr er fort, »während Mary ihre Gedanken zurechtlegt, zu Mr. Bingley zurückkehren.«
»Ich habe genug von Mr. Bingley!«, rief seine Frau.
»Das zu hören, bedaure ich. Aber warum hast du mir
das nicht vorher gesagt? Wenn ich das heute Morgen gewusst hätte, hätte ich ihm meine Aufwartung gar nicht
erst gemacht. Eine unglückliche Situation, aber da ich ihn
nun schon einmal aufgesucht habe, lässt sich die Bekanntschaft nicht mehr umgehen.«
Das Erstaunen der Damen war ganz nach seinem
Wunsch. Mrs. Bennets Überraschung war vielleicht am
größten, aber als der erste Freudentaumel vorüber war, erklärte sie, genau das habe sie die ganze Zeit erwartet.
»Wie nett von dir, mein lieber Mr. Bennet. Aber ich
wusste, ich würde dich zu guter Letzt herumkriegen. Ich
habe mir gleich gedacht, dass du deine Töchter zu sehr
liebst, um dir solche Bekanntschaft entgehen zu lassen.
Nein, wie mich das freut! Und es ist ein köstlicher Witz,
dass du heute Morgen hingegangen bist und uns bis eben
nichts davon gesagt hast.«
»Jetzt kannst du so viel husten, wie du willst, Kitty«,
sagte Mr. Bennet und, erschöpft von den Gefühlsausbrüchen seiner Frau, verließ er mit diesen Worten das Zimmer.
»Was habt ihr doch für einen großartigen Vater, ihr
Mädchen!«, sagte sie, als die Tür wieder geschlossen war.
10
Jane Austen· Stolz und Vorurteil
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 11
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
»Ich weiß gar nicht, wie ihr ihm seine Fürsorge je vergelten wollt – von meiner ganz zu schweigen. In unserem
Alter ist es weiß Gott kein Vergnügen, jeden Tag neue
Bekanntschaften zu machen; aber für euch tun wir ja alles.
Lydia, mein Kind, du bist zwar die Jüngste, aber Mr. Bingley wird bestimmt auf dem nächsten Ball mit dir tanzen.«
»Na und!«, sagte Lydia beherzt, »davor habe ich gar
keine Angst; ich bin zwar die Jüngste, aber auch die Größte.«
Den Rest des Abends verbrachten sie mit Überlegungen, wie bald er wohl Mr. Bennets Besuch erwidern würde
und wann sie ihn zum Essen einladen sollten.
13
14
15
16
Kapitel 3
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Trotz aller Fragen, die Mrs. Bennet mit Unterstützung ihrer fünf Töchter zu diesem Thema stellte, ließ sich ihr
Mann keine befriedigende Beschreibung von Mr. Bingley
entlocken. Dabei versuchten sie es mit allen Mitteln: Sie
überfielen ihn mit unverhohlenen Fragen, mit listigen
Unterstellungen und mit weit hergeholten Vermutungen.
Aber er ließ sich trotz all ihrer Geschicklichkeit nicht in
die Falle locken, und so mussten sie zu guter Letzt dankbar
für die Informationen aus zweiter Hand sein, die ihnen
ihre Nachbarin, Lady Lucas, gab. Ihr Bericht fiel ausgesprochen günstig aus. Sir William war entzückt von Mr.
Bingley gewesen. Er war jung, sah hinreißend aus, war äußerst umgänglich, und, um allem die Krone aufzusetzen,
er hatte vor, zum nächsten Ball mit großer Gesellschaft
zu kommen. Nichts hätte vielversprechender sein können.
Gerne tanzen hieß schon halb verliebt sein; und so machte
11
Jane Austen· Stolz und Vorurteil
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 452
1
Nachwort
2
3
»Of all great writers she is the most
difficult to catch in the act of greatness.«
4
5
6
Virginia Woolf über Jane Austen
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
1
»Pride and Prejudice. Ein Roman. In drei Bänden. Von der
Autorin von Sense and Sensibility« erschien anonym zum
Preise von 18 Shilling und in 1500 Exemplaren Ende Januar 1813 in London. Das Buch war innerhalb von sechs Monaten ausverkauft, so dass noch im selben Jahr eine zweite
Auflage herausgebracht werden konnte – bei Publikum
und Kritik, soweit sie damals Romane zur Kenntnis nahmen, durchaus ein Erfolg für die Autorin. Aber wer war
sie? Auch auf dem Titelblatt ihres ersten, zwei Jahre vorher erschienenen Romans hatte es nur geheißen: »by a
lady«, von einer Dame. Und sie genoss ihre Anonymität.
Es traf sich nämlich, dass bei der Ankunft ihrer Belegexemplare von Pride and Prejudice eine Nachbarin zu Besuch war, der die Autorin und ihre Mutter das Geheimnis
nicht verrieten, aber aus dem brandneuen Roman vorlasen:
»Sie fand es ganz witzig, die arme Seele. Das konnte sie
denn doch nicht verhindern bei zwei Leuten, die sie so zum
Lachen anregten, aber Elizabeth gefällt ihr anscheinend
wirklich gut. Ich muss selbst sagen, ich finde sie eine der
hinreißendsten Gestalten, die je gedruckt erschienen sind,
und ich habe keine Ahnung, wie ich mit denen gnädig sein
soll, die nicht wenigstens sie leiden mögen.«
Aber zu dieser Befürchtung war wenig Anlass. Elizabeth
Bennet – so meint Jane Austens Biographin E. Jenkins –
452
Jane Austen· Stolz und Vorurteil
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 453
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
»hat vielleicht mehr Verehrer als jede andere Heldin in der
englischen Literatur«. R. L. Stevenson ging sogar so weit
zu sagen, jedes Mal wenn Elizabeth Bennet den Mund aufmache, würde er am liebsten vor ihr niederknien. Dabei
war schon zur Zeit ihres Erscheinens die Konkurrenz groß:
Es wimmelte von Damen, die Romane schrieben, und
von Heldinnen mit den atemberaubendsten Schicksalen
und so exotischen Namen wie Belinda, Evelina, Cecilia und
Emmeline. Aber schon ein Teil der Zeitgenossen spürte,
dass Elizabeth Bennets Geschichte nicht einer der gängigen
Frauenromane der Zeit war, und kein Geringerer als Walter
Scott hat es 1816 als Erster ausgesprochen: »Statt der großartigen Szenen einer Phantasiewelt eine nicht übertriebene
und treffende Darstellung dessen, was Tag für Tag um [den
Leser] vorgeht.« Das Sensationelle in Jane Austens Romanen war, dass darin nichts Sensationelles geschah. Schon
die alltäglichen Namen ihrer Heldinnen sind Teil dieses
Protests gegen die artifizielle Welt des Romans der Zeit. Er
brachte den Lesern oder eher Leserinnen das Gruseln bei
oder ließ sie sentimentale Frauenschicksale miterleben –
oder beides zugleich.
Die ›Gothic Novel‹, der gotische Roman, war im
Schwange. Grauenhaftes widerfuhr darin unschuldigen
jungen Damen von grausamen Verwandten oder frustrierten Liebhabern in unheimlichen alten Schlössern, auf
Friedhöfen oder in finsteren Wäldern. Anne Radcliffe war
die erfolgreiche Meisterin des Genres, und unsere Autorin
hat sie in Northanger Abbey köstlich parodiert: Die arglose
junge Catherine Morland liest gerade Mysteries of Udolpho (1794) der Anne Radcliffe und hofft, bei ihrem Besuch
auf einem alten Herrensitz ebenso schreckliche Familiengeheimnisse zu entdecken wie in dem Buch – hat der Hausherr seine Frau ermordet, oder hält er sie in einem dunklen
453
Jane Austen· Stolz und Vorurteil
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 454
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Verlies gefangen? –, aber der zweite Sohn des Hauses heilt
sie von ihrem Wahn, gotische Romane für Wirklichkeit zu
halten und – heiratet sie. Es ist die Autorin selbst, die mit
der Heldin denkt: »So reizend all die Werke von Mrs. Radcliffe und so reizend sogar die Werke all ihrer Nachahmer
waren, nach der Wirklichkeitstreue der Charaktere (›human nature‹) durfte man darin nicht fragen.«
Nicht minder beliebt war der sentimentale Frauenroman in der Nachfolge der für uns heute so langatmigen
Briefromane Samuel Richardsons. Ein armes Mädchen,
wenn möglich Waise, wird darin meist in die große Welt
eingeführt und entpuppt sich gern als reiche Erbin. Die populären Vertreterinnen dieses Genres waren die melodramatische Elizabeth Inchbald, Fanny Burney, die von der
Autorin von Pride and Prejudice geschätzt wurde, und Maria Edgeworth, deren Anerkennung sie suchte und nicht
fand und die das Verdienst hat, mit Castle Rackrent (1800)
das irische Lokalkolorit – wie Scott das schottische – für die
Literatur entdeckt zu haben, was etwa bei Charles Maturins
Melmouth the Wanderer (1820) und William Thackerays
Barry Lyndon (1844) weiterwirkt. Die Frivolität des städtischen Lebens wird darin mit leichtem Schaudern ausgemalt, zarte Gefühle werden ausgiebig beschrieben, und Damen brechen gern in Tränen aus oder fallen in Ohnmacht.
Die sanfte und naive Heldin begegnet dem charmanten Bösewicht und der raffinierten Dame von Welt, ist aber keineswegs korrumpierbar und findet schließlich ihr Glück.
Mrs. Burneys Evelina (1778) heißt schon im Untertitel
»Geschichte einer jungen Dame beim Eintritt in die Gesellschaft«, und auch M. Edgeworths Belinda (1801) wird im
Laufe der Handlung »eine junge Dame, die gerade in die
Gesellschaft eintritt« genannt. Die kühle Elizabeth Bennet
ist auch hier ein Gegentyp.
454
Jane Austen· Stolz und Vorurteil
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 455
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Die drei erfolgreichen Schreiberinnen solcher Romane
waren in aller Munde, aber wer war die Verfasserin von
Pride and Prejudice? Mr. Clarke, der Bibliothekar des
Prinzregenten, wusste es durch ihren Bruder. Er war wie
sein Herr ein Bewunderer ihrer Romane und schrieb ihr,
nachdem er sie kurz vorher bei ihrem Besuch in London
auf ausdrücklichen Wunsch Seiner Königlichen Hoheit
durch deren Bibliothek geführt hatte, im Herbst 1815, ob
sie nicht einen Roman ȟber die Lebensgewohnheiten, den
Charakter und den beruflichen Enthusiasmus eines Geistlichen« schreiben könne? Die englische Literatur habe es
bisher versäumt, diesem Berufsstand den ihm gebührenden Tribut zu zollen. – (Trotz Goldsmiths The Vicar of
Wakefield, Mr. Clarke?) – Die Autorin antwortete ihm auf
diesen Brief, dem J. B. Priestley »wegen seines pompösen
Schwachsinns« Unsterblichkeit gewünscht hat, dazu sei sie
nicht imstande: »Eine humanistische Bildung oder wenigstens eine ausgedehnte Kenntnis der älteren und neueren
englischen Literatur erscheint mir unerlässlich für die Romangestalt, die Ihrem Geistlichen gerecht würde […]. Ich
aber kann mich in aller Eitelkeit rühmen, die ungebildetste
und unwissendste Frau zu sein, die sich je ans Romanschreiben gewagt hat.«
Das war übertrieben; und Mr. Clarke hatte wohl das
1814 erschienene Mansfield Park nicht sorgsam genug gelesen, denn darin ist in der Gestalt Edmund Bertrams die
Würdigung des Geistlichen schon enthalten. Oder forderte
er, der selber Geistlicher war, Wiedergutmachung für die
groteske Figur des Mr. Collins? Jedenfalls gab er nicht auf.
Unterdessen mit dem neuesten Roman der Autorin, Emma,
vertraut, der Seiner Königlichen Hoheit auf deren eigenen
Wunsch gewidmet war, und seit kurzem Privatsekretär des
Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg, dessen Hochzeit mit
455
Jane Austen· Stolz und Vorurteil
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21729/2800241-u Seite 456
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
der Tochter des Regenten bevorstand, wandte er sich noch
einmal an die Autorin und riet ihr zu einem historischen
Liebesroman (›historic romance‹), der dem Hause Coburg
Ehre antue und diesmal dem Prinzen gewidmet sein dürfe.
Nun musste die zurückhaltende Schriftstellerin deutlicher werden: »Ich glaube schon«, schrieb sie ihm im Frühjahr 1816, »dass ein historischer Liebesroman über das
Haus Coburg profitabler und populärer wäre als die häuslichen Szenen auf dem Lande, mit denen ich mich beschäftige. Aber ich könnte einen Liebesroman ebenso wenig
schreiben wie ein Versepos […]. Nein, ich muss bei meinem Metier bleiben und meinen eigenen Weg gehen, auch
wenn mir Erfolg dabei nie wieder zuteilwird; auf jede andere Weise würde ich meiner Meinung nach unweigerlich
scheitern.«
Die häuslichen Szenen auf dem Lande – »Drei oder vier
Familien in einem Dorf auf dem Lande, das ist der ideale
Romanstoff (›the very thing to work on‹)« –, die heute zu
den Höhepunkten der englischen Prosaliteratur gehören,
wurden in der Hand der Autorin zu sublimen Kunstwerken. Wie gut, dass sie auf Mr. Clarkes Vorschläge nicht einging, dass sie ihren literarischen Weg unbeirrt verfolgte.
Aber wer war sie? Die Öffentlichkeit erfuhr es offiziell
erst ein halbes Jahr nach ihrem Tode, als ihr Bruder ihre
beiden vollendeten nachgelassenen Romane publizierte und
mit einer biographischen Notiz versah. Alle vier zu ihren
Lebzeiten veröffentlichten Bücher erschienen anonym, obwohl ihr Name ein offenes Geheimnis zu werden begann,
als Jane Austen 1817 im Alter von 42 Jahren starb.
30
31
32
33
456
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 5
1
2
3
4
5
6
Kapitel 1
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Sir Walter Elliot von Kellynch Hall in Somersetshire1 war
ein Mann, der außer dem Adelskalender nie ein Buch zum
Vergnügen in die Hand nahm; dabei aber fand er Beschäftigung in müßigen und Trost in trübsinnigen Stunden; dabei erregte der Gedanke an den ausgesuchten Kreis der
noch überlebenden ältesten Adelsfamilien Bewunderung
und Ehrfurcht in ihm; dabei verwandelten sich alle unangenehmen Empfindungen, die wohl mit seinen häuslichen
Umständen zusammenhingen, unweigerlich in Mitleid und
Verachtung, wenn er die schier endlosen Adelsverleihungen des letzten Jahrhunderts durchblätterte; und dabei las
er, wenn alle anderen Seiten des Buches ihre Wirkung verfehlten, mit nie versagendem Interesse seine eigene Geschichte. Dies war die Stelle, an der sich sein Lieblingsbuch
unterdessen ganz von selbst aufschlug.
Elliot von Kellynch Hall
»Walter Elliot, geb. 1. März 1760, verh. 15. Juli 1784
mit Elizabeth, Tochter von James Stevenson, wohlgeb., von Southpark in der Grafschaft Gloucester.
Seine Gemahlin (die 1800 starb) gebar ihm folgende
Kinder: Elizabeth (1. Juni 1785), Anne (9. August
1787), einen totgeborenen Sohn (5. November
1789), Mary (20. November 1791).«
Genau so war der Absatz ursprünglich aus den Händen
des Druckers gekommen, aber Sir Walter hatte ihn da5
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 6
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
durch verbessert, dass er zu seiner eigenen Information
und zu der seiner Familie hinter Marys Geburtsdatum die
Worte »verh. 16. Dezember 1810 mit Charles, Sohn und
Erbe von Charles Musgrove, wohlgeb., von Uppercross in
der Grafschaft Somerset« ergänzt und präzise Tag und
Monat eingetragen hatte, an dem ihm seine Frau gestorben war.
Dann folgten in den üblichen Formulierungen Geschichte und Aufstieg der alten und angesehenen Familie:
wie sie sich ursprünglich in Cheshire niedergelassen hatten, wie sie in Dugdale als höchste königliche Beamte der
Grafschaft und als Abgeordnete in drei aufeinanderfolgenden Parlamenten mit ihrem Eifer im Dienst der Krone und
der Verleihung der Baronatswürde im ersten Jahr der
Herrschaft Karls II. und all den Marys und Elizabeths, die
sie geheiratet hatten, erwähnt wurden – was alles in allem
zwei eindrucksvolle Duodezseiten füllte und nach dem
Wappen und dem Wahlspruch abschloss mit: »Hauptsitz:
Kellynch Hall in der Grafschaft Somerset«, und dem folgenden Zusatz, wieder in Sir Walters eigener Handschrift:
»Erbe: William Walter Elliot, hochwohlgeb., Urenkel des
zweiten Sir Walter.«
Eitelkeit war das A und O von Sir Walters Charakter –
persönliche und gesellschaftliche Eitelkeit. Er hatte in seiner Jugend bemerkenswert gut ausgesehen und war mit
vierundfünfzig noch immer ein ausgesprochen ansehnlicher Mann. Nur wenige Frauen verschwendeten wohl
mehr Gedanken an ihre äußere Erscheinung als er, und
nicht einmal der Kammerdiener irgendeines gerade geadelten Lords hätte begeisterter über seine Stellung in der Gesellschaft sein können. Seiner Meinung nach wurde der
Segen der Schönheit nur vom Segen eines Baronats übertroffen, und der Sir Walter, der diese Gaben in sich ver6
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 7
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
einigte, war der ständige Gegenstand seiner tiefsten Ehrfurcht und Anbetung.
In einer Hinsicht war sein Stolz auf sein gutes Aussehen
und seinen Rang berechtigt, denn nur ihnen verdankte er
wohl eine Frau, die charakterlich allen Ansprüchen, die er
diesbezüglich stellen durfte, unendlich überlegen war. Lady
Elliot war eine großartige Frau gewesen, vernünftig und liebenswert; und wenn man ihr die jugendliche Verblendung
vergeben kann, durch die sie Lady Elliot wurde, so waren
ihr Urteil und ihre Haltung später auf Nachsicht keineswegs angewiesen. Sie hatte die Schwächen ihres Mannes
hingenommen oder gemildert oder zugedeckt und siebzehn
Jahre lang zu seinem Ansehen beigetragen; und obwohl sie
in ihrem Leben nicht gerade glücklich gewesen war, hatten
ihre Pflichten, ihre Freunde und ihre Kinder ihr das Leben
lebenswert und keineswegs gleichgültig erscheinen lassen,
als die Abschiedsstunde nahte. Drei Mädchen zu hinterlassen, die älteren sechzehn und vierzehn, war ein furchtbares
Vermächtnis für eine Mutter, ja mehr, es war eine furchtbare Belastung, sie der Autorität und dem Schutz eines eitlen,
oberflächlichen Vaters anzuvertrauen. Sie hatte allerdings
eine enge Freundin, eine vernünftige, verdienstvolle Frau,
die sich aus Anhänglichkeit zu ihr ganz in ihrer Nähe, im
Dorf Kellynch, niedergelassen hatte und auf deren Verständnis und Rat bei der Verwirklichung all der soliden
Grundsätze und Anordnungen, auf die sie bei ihren Töchtern solchen Wert gelegt hatte, sie sich vor allem verließ.
Diese Freundin und Sir Walter heirateten aber trotz allem, was ihre Bekannten in dieser Hinsicht vorausgesagt
hatten, nicht. Dreizehn Jahre waren seit Lady Elliots Tod
vergangen, und sie waren immer noch enge Nachbarn und
gute Freunde, und der eine blieb Witwer und die andere
Witwe.
7
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 8
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Dass Lady Russell bei ihrem gefestigten Alter und Charakter und ihrer finanziellen Unabhängigkeit an eine zweite Ehe nicht dachte, bedarf keiner Entschuldigung in den
Augen der Öffentlichkeit, die eher dazu neigt, unvernünftige Entrüstung zu zeigen, wenn eine Frau tatsächlich wieder heiratet, als wenn sie es nicht tut; aber dass Sir Walter
weiter allein blieb, verlangt eine Erklärung. Es sei deshalb
angemerkt, dass Sir Walter (nachdem er bei sehr unvernünftigen Heiratsanträgen ein oder zwei persönliche Enttäuschungen erfahren hatte) wie jeder gute Vater stolz darauf war, um seiner lieben Töchter willen unverheiratet zu
bleiben. Für eine Tochter, für seine älteste, hätte er wirklich auf alles verzichtet – ein Gedanke, der ihm sonst gar
nicht nahelag. Elizabeth hatte mit sechzehn, soweit irgend
möglich, die Rechte und die gesellschaftliche Stellung ihrer
Mutter übernommen; und da sie sehr schön und ihm selbst
sehr ähnlich war, war ihr Einfluss auf ihn immer groß gewesen, und sie hatten sich immer glänzend verstanden.
Seine beiden anderen Kinder bedeuteten ihm sehr viel weniger. Mary hatte sich auf Umwegen ein bisschen Bedeutung erworben, indem sie Mrs. Charles Musgrove geworden war, aber Anne mit ihrer geistigen Überlegenheit und
ihrem ausgeglichenen Charakter, die ihr die Achtung aller
wirklich einsichtigen Menschen einbringen mussten, bedeutete weder ihrem Vater noch ihrer Schwester etwas; ihr
Wort zählte nicht, auf ihre Bequemlichkeit kam es nicht
an; sie war nur Anne.
Aber sie war Lady Russells geliebte und hochgeschätzte
Patentochter, Favoritin und Freundin. Lady Russell liebte
sie alle, aber nur in Anne sah sie das leibhaftige Ebenbild
ihrer Mutter.
Vor ein paar Jahren war Anne Elliot ein sehr hübsches
Mädchen gewesen, aber ihre Schönheit war früh vergan8
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 9
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
gen; und da sie für ihren Vater auch in ihrer vollen Blüte
wenig Bewundernswertes gehabt hatte (so völlig verschieden waren ihre feinen Züge und freundlichen dunklen Augen von seinen eigenen), besaß sie jetzt, wo sie verwelkt
und dünn war, nichts mehr, was seinen Beifall fand. Er hatte sich nie großen Hoffnungen hingegeben und hegte jetzt
gar keine mehr, ihren Namen je auf einer weiteren Seite
seines Lieblingsbuches zu sehen. Eine ebenbürtige Heirat
kam nur für Elizabeth in Frage, denn Mary hatte lediglich
in eine alteingesessene Gutsbesitzerfamilie von Ansehen
und großem Vermögen eingeheiratet und war deshalb
durch ihre Heirat nicht im Rang gestiegen, sondern gesunken. Elizabeth würde irgendwann einmal angemessen heiraten.
Es kommt manchmal vor, dass eine Frau mit neunundzwanzig hübscher ist als zehn Jahre zuvor; und wenn sie
nicht unter Krankheit oder Kummer gelitten hat, handelt
es sich im Allgemeinen um einen Zeitpunkt im Leben, an
dem sie kaum an Charme eingebüßt hat. So war es mit Elizabeth – immer noch dieselbe schöne Miss Elliot, zu der sie
vor dreizehn Jahren herangewachsen war, und man konnte
es Sir Walter deshalb verzeihen, dass er ihr Alter vergaß,
oder ihn jedenfalls nicht für ganz so naiv halten, wenn er
sich und Elizabeth, während das gute Aussehen aller anderen dahin war, blühend fand wie eh und je, denn er konnte
deutlich sehen, wie der Rest seiner Familie und seiner Bekanntschaft alterte. Anne hager, Mary gewöhnlich, jedes
Gesicht in der Nachbarschaft heruntergekommen, und die
rapide Vermehrung von Krähenfüßen in Lady Russells
Augenwinkeln beobachtete er seit langem mit Beklommenheit.
Elizabeth besaß nicht ganz die Selbstgefälligkeit ihres
Vaters. Seit dreizehn Jahren war sie Herrin von Kellynch
9
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 10
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Hall und herrschte und lenkte mit einer Besonnenheit und
Entschiedenheit, die niemals den Gedanken nahelegten, sie
sei jünger, als sie tatsächlich war. Dreizehn Jahre lang hatte
sie die Rolle der Gastgeberin gespielt und die häusliche
Ordnung bestimmt und war zur vierspännigen Kutsche
vorausgeschritten und hatte unmittelbar hinter Lady Russell alle Wohnzimmer und Esszimmer in der Gegend verlassen. Dreizehnmal hatte der wiederkehrende Winterfrost
sie jeden standesgemäßen Ball eröffnen sehen, den eine
dünngesäte Nachbarschaft zustande brachte; und dreizehnmal hatte der Frühling seine Blüten gezeigt, wenn sie mit
ihrem Vater nach London reiste, um jährlich ein paar Wochen die große Welt zu genießen. Sie lebte in der Erinnerung daran. Sie lebte in dem Bewusstsein, neunundzwanzig zu sein; und beides verursachte ihr ein gewisses Bedauern und eine gewisse Beklemmung. Sie war durchaus
überzeugt, dass sie immer noch so schön war wie eh und
je, aber sie spürte, dass sie sich den gefährlichen Jahren näherte; und die Gewissheit, dass jemand von Adel im Laufe
der nächsten ein oder zwei Jahre förmlich um ihre Hand
anhalten würde, hätte sie unendlich erleichtert. Dann
könnte sie das Buch der Bücher wieder mit der gleichen
Freude in die Hand nehmen wie in Kindertagen. Aber jetzt
hatte sie eine Abneigung dagegen. Immer mit dem eigenen
Geburtsdatum konfrontiert zu werden und keine Heirat
folgen zu sehen als die ihrer jüngsten Schwester verleidete
ihr das Buch; und wenn ihr Vater es offen in ihrer Nähe
auf dem Tisch liegengelassen hatte, hatte sie es mehr als
einmal mit abgewandtem Blick zugeklappt und von sich
geschoben.
Sie hatte darüber hinaus eine Enttäuschung erlebt, deren Erinnerung das Buch und besonders die Geschichte ihrer eigenen Familie immer wachhalten würden. Der Erbe,
10
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 11
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
genau jener William Walter Elliot, hochwohlgeb., dessen
Ansprüche so großzügig von ihrem Vater unterstützt worden waren, hatte sie enttäuscht.
Schon als sehr junges Mädchen, sobald sie wusste, dass
er der zukünftige Baron sein würde, wenn sie keinen Bruder haben sollte, hatte sie beschlossen, ihn zu heiraten; und
ihr Vater hatte sie in diesem Entschluss immer bestärkt.
Sie hatten ihn als Jungen nicht gekannt, aber bald nach
Lady Elliots Tod hatte Sir Walter sich um die Bekanntschaft seines Neffen bemüht; und obwohl seine Annäherungsversuche nicht auf Begeisterung gestoßen waren,
hatte er seine Bemühungen fortgesetzt, wobei er ihm die
bescheidene Zurückhaltung der Jugend zugutehielt; und
bei einem ihrer Frühjahrsausflüge nach London, als Elizabeth in ihrer ersten Blüte war, hatten sie Mr. Elliot ihre
Bekanntschaft aufgezwungen.
Er war zu der Zeit noch ein sehr junger Mann, der gerade sein Jurastudium absolvierte. Elizabeth fand ihn ungewöhnlich anziehend, und sein persönlicher Eindruck bestätigte sie in ihren Absichten. Er wurde nach Kellynch Hall
eingeladen. Man sprach von ihm und erwartete ihn für den
Rest des Jahres, aber er kam nie. Im folgenden Frühjahr
traf man ihn wieder in London, fand ihn nicht minder anziehend, ermutigte ihn, lud ihn ein und erwartete ihn, und
wieder kam er nicht; und als Nächstes kam die Nachricht,
dass er verheiratet war. Statt sein Glück auf dem Wege zu
suchen, der für den Erben des Hauses Elliot vorgezeichnet
war, hatte er sich seine Unabhängigkeit durch eine Verbindung mit einer reichen Frau von niederer Herkunft erkauft.
Sir Walter hatte es ihm verübelt. Als Haupt der Familie
fand er, man hätte seinen Rat einholen sollen, besonders
nachdem er sich mit dem jungen Mann in aller Öffentlich11
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 12
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
keit gezeigt hatte. Denn man müsse sie zusammen gesehen
gaben, bemerkte er, einmal bei Tattersall2 und zweimal in
der Vorhalle des Unterhauses. Er gab seiner Missbilligung
Ausdruck, aber offenbar ohne jeden Erfolg. Mr. Elliot hatte
sich zu keiner Entschuldigung veranlasst gesehen und sich
so wenig an weiteren Aufmerksamkeiten von Seiten der
Familie interessiert gezeigt, wie Sir Walter ihn für ihrer
unwürdig hielt; jeder Verkehr zwischen ihnen wurde eingestellt.
Diese sehr peinliche Geschichte mit Mr. Elliot erfüllte
Elizabeth, die den jungen Mann um seiner selbst willen
und mehr noch, weil er der Erbe ihres Vaters war, gemocht
hatte und deren ausgeprägter Familienstolz nur in ihm
eine angemessene Partie für Sir Walters älteste Tochter sehen konnte, noch nach Ablauf mehrerer Jahre mit Ärger.
Es gab von A bis Z keinen Baron, den sie so bereitwillig als
gleichberechtigt empfunden hätte. Aber er hatte sich so
schäbig benommen, dass sie sich trotz der Trauerbinde, die
sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt (im Sommer 1814) um
seiner Frau willen trug, nicht gestatten konnte, ihn noch
einmal in Erwägung zu ziehen. Die Schande seiner ersten
Ehe hätte man, da kein Grund zu der Annahme bestand,
dass sie durch Nachkommen fortgesetzt worden war, verschmerzt, wäre es nicht noch schlimmer gekommen. Aber
er hatte, wie sie durch die übliche Einmischung wohlmeinender Freunde erfahren hatten, sehr abfällig von ihnen
allen, sehr beleidigend von dem Blut, zu dem er gehörte,
und dem Titel gesprochen, der später auf ihn übergehen
würde. So etwas war unverzeihlich.
Das waren Elizabeths Gesinnungen und Gefühle. Das
waren die Sorgen und Aufregungen, die Eintönigkeit und
Vornehmheit, Luxus und Nichtigkeit ihres alltäglichen Lebens erträglicher und abwechslungsreicher machen sollten.
12
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 13
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Das waren die Empfindungen, die einem langen, ereignislosen Aufenthalt in dem immer gleichen ländlichen Zirkel
Interesse geben, die Leere beseitigen sollten, wo nützliche
Tätigkeiten außerhalb, Begabungen und Talente innerhalb
des Hauses fehlten, um sie zu füllen.
Aber jetzt begann eine neue Aufgabe und Sorge ihre
Gedanken zu beschäftigen. Ihr Vater geriet immer mehr in
finanzielle Schwierigkeiten. Sie wusste, dass er den Adelskalender nur noch in die Hand nahm, um die hohen Rechnungen seiner Lieferanten und die unangenehmen Anspielungen von Mr. Shepherd, seinem Rechtsanwalt, darüber
zu vergessen. Der Besitz von Kellynch war ertragreich,
aber den Ansprüchen, die Sir Walter an den Lebensstil seines Besitzers stellte, nicht gewachsen. Solange Lady Elliot
lebte, hatten Überlegung, Bescheidenheit und Sparsamkeit
geherrscht, so dass er mit seinen Einkünften gerade auskam. Aber mit ihr war auch alle Rechtschaffenheit dahingegangen, und seit der Zeit hatte er ständig über seine
Verhältnisse gelebt. Er hatte es nicht fertiggebracht, weniger auszugeben; er hatte nur getan, wozu Sir Walter Elliot
unbedingt verpflichtet war. Aber schuldlos, wie er war, geriet er nicht nur immer tiefer in Schulden, sondern bekam
es auch so oft zu hören, dass es aussichtslos wurde, es auch
nur teilweise länger vor seiner Tochter zu verheimlichen.
Er hatte ihr gegenüber im letzten Frühjahr in London einige Andeutungen gemacht. Er war sogar so weit gegangen
zu fragen: »Können wir uns einschränken? Meinst du, dass
wir uns irgendwo einschränken können?« – und Elizabeth,
das muss man ihr lassen, hatte im ersten Eifer weiblicher
Panik ernsthaft darüber nachgedacht, was zu tun sei, und
schließlich die beiden folgenden Sparmaßnahmen vorgeschlagen: einige unnötige Wohltätigkeitsspenden zu streichen und von einer Neumöblierung des Wohnzimmers ab13
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 14
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
zusehen, wozu ihr später noch der glückliche Einfall kam,
Anne diesmal, wie es sonst ihr jährlicher Brauch gewesen
war, kein Geschenk mitzubringen. Aber diese Maßnahmen, so sinnvoll sie auch sein mochten, wurden dem tatsächlichen Ausmaß des Übels, das in seiner ganzen Tragweite ihr zu gestehen Sir Walter sich bald danach genötigt
sah, bei weitem nicht gerecht. Elizabeth hatte keine tiefergreifenden Hilfsmittel vorzuschlagen. Sie fühlte sich genau wie ihr Vater missbraucht und unglücklich; und sie
waren beide außerstande, Wege zu finden, ihre Ausgaben
einzuschränken, ohne auf unerträgliche Weise ihre Würde
zu beeinträchtigen oder auf ihre Bequemlichkeit zu verzichten.
Es gab nur einen kleinen Teil seines Besitzes, den Sir
Walter veräußern konnte. Aber hätte er sich von jedem
Stückchen Erde trennen können, es hätte nichts genutzt.
Er hatte sich, soweit es in seiner Macht stand, zu Hypotheken herabgelassen, aber er würde sich nie dazu herablassen
zu verkaufen. Nein, so weit würde er den Familiennamen
nicht entehren. Der Besitz von Kellynch würde heil und
ganz, so wie er ihn übernommen hatte, weitergegeben
werden.
Ihre beiden engsten Freunde, Mr. Shepherd, der in der
nächsten Kleinstadt wohnte, und Lady Russell, wurden
um ihren Rat gebeten, und sowohl Vater als auch Tochter
erwarteten anscheinend, dass einer von beiden einen Einfall haben würde, wie man ihnen aus der Verlegenheit helfen und ihre Ausgaben verringern könne, ohne dass ihre
Ansprüche an Geschmack oder Stolz Abbruch erleiden
würden.
31
32
33
14
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 327
1
Nachwort
2
3
5
»Her circle may be restricted, but it is complete.
Her world is a perfect orb, and vital.«
6
George H. Lewes (1817–1878) über Jane Austen
4
7
8
1
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Persuasion ist der letzte von Jane Austens sechs Romanen.
Sie schrieb daran von Mitte 1815 bis Mitte 1816, glättete
dann den Text, arbeitete den Schluss völlig um (s. Abschn. 4)
und konnte im März 1817 einer ihrer Nichten berichten, sie
habe etwas zur Veröffentlichung fertig, was in etwa einem
Jahr erscheinen solle. Aber als die Autorin diesen Brief
schrieb, war sie schon unheilbar krank und hatte nur noch
vier Monate zu leben. Das Erscheinen des Romans hat sie
nicht mehr erlebt. Sie starb am 27. Juli 1817 im Alter von
nur 42 Jahren. Persuasion wurde zusammen mit Northanger Abbey postum erst 1818 herausgegeben.
Die Heldin des Buches, Anne Elliot, hat in den letzten
Jahrzehnten in der englischen und amerikanischen Literaturforschung unter anderem deshalb viel Aufmerksamkeit
gefunden, weil sie so anders ist als die weiblichen Hauptgestalten der fünf früheren Romane Jane Austens. Während
Anne und Elizabeth Bennet in Pride and Prejudice, Elinor
und Marianne Dashwood in Sense and Sensibility, Fanny
Price in Mansfield Park, Emma Woodhouse in Emma und
Catherine Morland in Northanger Abbey um die zwanzig,
zum Teil sogar erst siebzehn Jahre alt sind, geht Anne Elliot auf die Dreißig zu. Sie ist siebenundzwanzig Jahre alt,
hat ihren jugendlichen Charme verloren und resigniert.
Während in den anderen Romanen das Handlungszentrum
327
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 328
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
die erste und einzige große Liebe der Heldin bildet, hat
Anne diese schon lange hinter sich. Die vor acht Jahren
eingegangene Verlobung hat sie nach wenigen Monaten
aufgelöst, weil ihre adelsstolze Familie und ihre mütterliche Freundin Lady Russell, die ebenfalls »Vorurteile in
Fragen des Standes« (Kap. 2) hat, den unvermögenden bürgerlichen jungen Marineoffizier Wentworth für eine Tochter von Sir Walter Elliot aus altem englischen Adel nicht
akzeptierten und mit ihrer »unbilligen Überredung« (im
Original unübersetzbar over-persuasion), den geliebten
Mann aufzugeben – worauf sich der Titel des Buches vor
allem bezieht – Erfolg hatten. Anne hat sich ihrem Urteil
gebeugt, aber die ihrer Überzeugung und ihrer Liebe widersprechende Nachgiebigkeit bitter bereut. Sie hat einen
ihr zwei Jahre später von einem anderen Mann gemachten
Heiratsantrag abgelehnt, sich schweren Herzens mit ihrem
Schicksal abgefunden und geht nun einem trostlosen, einsamen Alter entgegen.
Während also die anderen Heldinnen Jane Austens das
Leben vor sich haben, scheint es hinter Anne Elliot zu liegen. An einer Kleinigkeit wird dieser Unterschied besonders
greifbar. Die jungen Protagonistinnen der anderen fünf Romane tanzen liebend gern, wobei eine ältere Dame die Musik macht; ja, der Tanz hat für die Begegnung mit dem geliebten Mann in mehreren Werken eine besondere Bedeutung, so der Ball zu Ehren von Fanny Price in Mansfield
Park (Kap. 28), Elizabeth Bennets ironisches Wortgeplänkel
mit Darcy beim Tanz in Pride and Prejudice (Kap. 18) oder
Catherine Morlands erster Tanz mit Henry Tilney, der sie
mit seiner gespielten Geckenhaftigkeit verwirrt, in Northanger Abbey (Kap. 3). In Persuasion aber ist es Anne Elliot,
die am Klavier sitzt und spielt, während ihre Schwester und
ihre Schwägerinnen sich beim Tanzen amüsieren:
328
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 329
1
2
3
4
5
6
»Der Abend endete mit Tanz. Als der Vorschlag gemacht wurde, bot Anne wie üblich ihre Dienste an, und
obwohl sich ihre Augen gelegentlich mit Tränen füllten, als sie am Instrument saß, war sie erleichtert, beschäftigt zu sein, und wünschte sich zur Belohnung
nichts, als unbeobachtet zu bleiben.« (Kap. 8)
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Anne weint, weil der immer noch geliebte Kapitän Wentworth, von dem sie annehmen muss, dass sie seine Achtung verloren hat, mit unter den Tanzenden ist. Er fragt
seine Partnerin, ob Anne denn nie tanze, und muss hören,
dass sie es ganz aufgegeben habe – sie wird nicht mehr zur
Jugend gezählt und zählt sich selbst nicht mehr dazu.
Anders als die anderen Romane beginnt Persuasion also
damit, dass die Heldin intensiv leidet. Sie ist um ihre Liebe
betrogen, ihre Schönheit ist früh verblüht, und ihr Vater
und ihre ältere Schwester betrachten sie nur als unliebsames Anhängsel, weil sie einem Schönheitskult huldigen und
Menschen geringschätzen, deren Äußeres ihrem überkritischen Auge nicht standhält. Da die Elliot-Schwestern anders
als Jane und Elizabeth Bennet in Pride and Prejudice und
Elinor und Marianne Dashwood in Sense and Sensibility
sich nicht gut verstehen, ist Anne zudem mit ihrem Kummer ganz allein. Ihre ältere Schwester ist kalt und hochmütig und ihre jüngere egoistisch und wehleidig. Die eine zieht
eine recht ordinäre und durchtriebene geschiedene Frau ihrer eigenen Schwester vor, und die andere benutzt sie nur
als eine Art Haushaltshilfe und Kindermädchen. Anne hat
allen Grund, ihre Schwägerinnen Henrietta und Louisa
Musgrove um ihr ungetrübtes Einvernehmen zu beneiden.
A. W. Letz (s. Literaturhinweise: Southam) hat in der
Einsamkeit Anne Elliots einen dem modernen Leser besonders zugänglichen Aspekt von Persuasion gesehen:
329
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 330
1
2
3
4
»Man könnte aus Persuasion eine Liste von Begriffen
zusammenstellen, die den Roman wie ein Lehrbuch der
modernen Soziologie klingen lassen: Sich Auseinanderleben, Gefangensein, Entfremdung, Entfernung.«
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
Der Ton dieses Romans ist daher insgesamt, bedingt durch
die melancholische Stimmung, die Anne Elliot umgibt, gedämpfter. Die Wehmut der unerfüllten Liebe liegt über
dem größeren Teil des Buches, aber das bedeutet nicht,
dass die Autorin darauf verzichtet, menschliche und gesellschaftliche Schwächen mit gewohnt spitzer Feder dem Gelächter oder dem Schmunzeln des Lesers preiszugeben. Es
wimmelt von grotesken Charakteren und Situationen.
Das schönste Beispiel für dieses Karikieren scheint mir
die Geschichte vom toten Sohn der Musgroves zu sein, der
als Taugenichts, solange er lebte, ein Alptraum der Familie
war, aber nach seinem Tod von seiner korpulenten Mutter
zu einem Helden verklärt wird. Vor allem die Szene, in der
sich Mrs. Musgrove bei Williams früherem Kommandanten Wentworth ausweint, zeigt Jane Austen von ihrer bissigsten Seite, wobei sie aber zugleich Annes Unbehagen
über die Nähe des Kapitäns einfängt:
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
»Sie saßen tatsächlich beide auf demselben Sofa, denn
Mrs. Musgrove hatte bereitwillig Platz für ihn gemacht
– sie waren nur durch Mrs. Musgrove getrennt. Es war
allerdings keine unerhebliche Barriere. Mrs. Musgrove
war von gemütlichem, beträchtlichem Umfang, von der
Natur viel eher dazu bestimmt, Heiterkeit und gute
Laune auszustrahlen als Zärtlichkeit und Gefühl; und
da man darauf vertrauen darf, dass die Erregung in Annes schlanker Gestalt und nachdenklichem Gesicht dadurch vollständig abgeschirmt war, muss man Kapitän
330
Austen, Überredung
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20054/2700560 u Seite 331
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
Wentworth etwas zugutehalten für die Selbstbeherrschung, mit der er ihren herzzerreißenden, fetten Seufzern über das Schicksal eines Sohnes zuhörte, für den
sich zu seinen Lebzeiten niemand interessiert hatte.
Körperlicher Umfang und seelischer Schmerz stehen
natürlich nicht unbedingt in einem bestimmten Verhältnis zueinander. Eine umfangreiche, üppige Figur
hat das gleiche Recht auf tiefen Seelenschmerz wie das
graziöseste Ensemble von Gliedern. Aber, ob recht und
billig oder nicht, es gibt unvorteilhafte Kombinationen,
für die sich der Verstand vergeblich einsetzt – die der
Geschmack nicht dulden kann – die der Lächerlichkeit
zum Opfer fallen.« (Kap. 8)
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
Dem melancholischen Seelenzustand Annes zu Anfang des
Buches entsprechen die herbstliche Stimmung in der Natur, der »Anblick des letzten herbstlichen Lächelns, das
auf rostbraunen Blättern und verwelkten Hecken liegt«,
und der traurige Abschied von Kellynch, dem stolzen alten
Familiensitz, der der Verschwendungssucht Sir Walters
zum Opfer fällt. Anne selbst spricht »von der passenden Analogie zwischen dem sich neigenden Jahr und dem
sich neigenden Glück«, als sie in Gedanken Herbstgedichte
rezitiert.
Der Umzug der Familie nach Bath, der Anne traurig
stimmt und dem sie ohne jedes Gefühl der Erwartung, ja
mit Widerwillen entgegenblickt, auch wenn sie die finanzielle Notwendigkeit dazu einsieht, spiegelt offenbar Jane
Austens eigene Vorbehalte gegen die Übersiedlung ihrer
eigenen Familie in den modischen Kurort, wo die Autorin
von 1802 bis 1806 ungern lebte.
32
33
331
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 5
1
2
3
4
5
6
Kapitel 1
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Die Familie Dashwood war seit langem in Sussex ansässig.
Ihr Besitz war ausgedehnt, und ihr Herrenhaus lag in Norland Park, im Zentrum ihrer Ländereien, wo sie viele Generationen lang auf so achtbare Weise gelebt hatten, dass
sie bei den Bekannten in der Umgebung allgemein in hohem Ansehen standen. Der vorherige Eigentümer des Besitzes war ein Junggeselle, der ein sehr hohes Alter erreicht
und in seiner Schwester viele Jahre lang eine ständige
Gefährtin und Haushälterin gehabt hatte. Aber ihr Tod,
der zehn Jahre vor seinem eigenen eintrat, brachte große
Veränderungen in seinem Haus mit sich, denn um ihren
Verlust zu ersetzen, lud er die Familie seines Neffen Mr.
Henry Dashwood ein, des gesetzlichen Erben von Norland,
dem er den Besitz ohnehin vermachen wollte, in seinem
Haus zu leben. In der Gesellschaft seines Neffen und seiner Nichte und ihrer Kinder verbrachte der alte Herr seine
Tage in großer Behaglichkeit. Alle wuchsen sie ihm mehr
und mehr ans Herz. Die ständige Sorge von Mr. und Mrs.
Henry Dashwood um sein Wohlergehen, die nicht bloßem
Eigennutz, sondern echter Herzensgüte entsprang, gewährte ihm all die Bequemlichkeit, die er in seinem Alter
brauchte, und die Ausgelassenheit der Kinder gab seinem
Leben einen zusätzlichen Reiz.
Aus einer früheren Ehe hatte Mr. Henry Dashwood einen Sohn, von seiner jetzigen Gemahlin drei Töchter. Der
Sohn, ein zuverlässiger, angesehener junger Mann, war
5
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 6
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
durch das beträchtliche Vermögen seiner Mutter, das bei
seiner Volljährigkeit zur Hälfte in seinen Besitz gekommen
war, großzügig versorgt. Durch seine eigene Heirat, die
kurz darauf stattfand, vergrößerte er sein Vermögen noch
weiter. Die Nachfolge auf Norland war also für ihn nicht so
unbedingt wichtig wie für seine Schwestern, denn ihr Vermögen würde ohne das, was ihnen durch den Anspruch ihres Vaters auf den Besitz zufallen würde, nur gering sein.
Ihre Mutter hatte nichts, und ihr Vater nur siebentausend
Pfund zu seiner eigenen Verfügung, denn die restliche
Hälfte des Vermögens seiner ersten Frau sollte ebenfalls an
ihren Sohn übergehen, und er verfügte darüber nur zu seinen Lebzeiten.
Der alte Herr starb, sein Testament wurde eröffnet und
gab wie fast alle Testamente ebenso Anlass zu Enttäuschung wie zu Freude. Er war weder so ungerecht noch so
undankbar, seinem Neffen den Besitz vorzuenthalten, aber
er vermachte ihn ihm unter Bedingungen, die das Erbe zur
Hälfte wieder entwerteten. Mr. Dashwood war daran mehr
um seiner Frau und seiner Töchter willen als seinet- und
seines Sohnes wegen gelegen gewesen, aber eben an diesen
Sohn und dessen Sohn, ein Kind von vier Jahren, ging der
Besitz über, und zwar so, dass der Vater keine Möglichkeit
hatte, durch eine finanzielle Belastung des Grundbesitzes
oder durch den Verkauf seines wertvollen Holzbestandes
für die zu sorgen, die ihm am nächsten standen und die
seine Fürsorge am dringlichsten brauchten. Alles sollte eines Tages diesem Kind zugutekommen, das bei den gelegentlichen Besuchen mit seinem Vater und seiner Mutter
durch Reize, die bei zwei- oder dreijährigen Kindern
durchaus nicht ungewöhnlich sind, wie eine kindliche Aussprache, den unbeirrbaren Wunsch, seinen Willen durchzusetzen, viele ausgelassene Streiche und eine Menge
6
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 7
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Krach, die Zuneigung seines Großonkels so weit gewonnen
hatte, dass all die Fürsorge, die dieser jahrelang von seiner
Nichte und ihren Töchtern empfangen hatte, sie nicht aufwogen. Er hatte allerdings nicht die Absicht, lieblos zu
sein, und als Beweis seiner Zuneigung zu den drei Mädchen hinterließ er jeder eintausend Pfund.
Mr. Dashwoods Enttäuschung war zuerst empfindlich.
Aber er war von Natur heiter und optimistisch und hatte
allen Grund zu der Hoffnung, noch viele Jahre zu leben
und durch sparsames Wirtschaften eine erhebliche Summe
aus dem Ertrag eines Besitzes beiseitezulegen, der ohnehin
schon ergiebig war und fast von heute auf morgen noch
ertragreicher gemacht werden konnte. Aber der Reichtum,
der so lange auf sich hatte warten lassen, sollte ihm nur
ein Jahr lang zugutekommen. Länger überlebte er seinen
Onkel nicht, und zehntausend Pfund, einschließlich der
Summe an die Mädchen, war alles, was für seine Witwe
und seine Töchter übrig blieb.
Sobald sein Gesundheitszustand erkannt war, wurde
sein Sohn gerufen, und mit all der Überzeugungskraft und
Eindringlichkeit, die er bei seiner Krankheit aufbringen
konnte, legte ihm Mr. Dashwood die Sorge um seine Stiefmutter und seine Schwestern ans Herz.
Mr. John Dashwood ließ sich nicht so von Gefühlen leiten wie der Rest der Familie. Aber ein solcher Wunsch zu
einer solchen Zeit verfehlte seine Wirkung auf ihn nicht,
und er versprach, alles in seiner Macht Stehende zu tun,
um ihnen das Leben zu erleichtern. Sein Vater fühlte sich
durch diese Versicherung von einer Last befreit, und Mr.
John Dashwood hatte nun Muße, darüber nachzudenken,
wie weit er bei aller Vorsicht in seiner Hilfsbereitschaft gehen konnte.
Er hatte keinen schlechten Charakter, es sei denn, man
7
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 8
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
hielte eine gewisse Gefühlskälte und einen gewissen Egoismus für einen Mangel an Charakter, aber er war im Allgemeinen recht angesehen, denn er ließ es bei der Erfüllung
seiner alltäglichen Pflichten an Anstand nicht fehlen. Hätte
er eine liebenswürdigere Frau geheiratet, hätte er sich vielleicht zu einem noch angeseheneren, hätte er sich vielleicht sogar zu einem liebenswürdigen Menschen entwickelt, denn er war noch sehr jung, als er heiratete, und
hing sehr an seiner Frau. Aber Mrs. John Dashwood war
eine ausgesprochene Karikatur seiner selbst: nur noch engstirniger und egoistischer.
Als er seinem Vater sein Versprechen gab, dachte er
daran, das Vermögen seiner Schwestern durch ein Geschenk von je eintausend Pfund zu vergrößern. Er glaubte
damals selbst, es über sich bringen zu können. Die Aussicht auf viertausend Pfund pro Jahr zusätzlich zu seinem
gegenwärtigen Einkommen, dazu die restliche Hälfte aus
dem Vermögen seiner Mutter, erwärmte ihm das Herz und
gab ihm das Gefühl, er könne sich Großzügigkeit leisten.
Ja, er würde ihnen dreitausend Pfund geben, das wäre generös und nobel! Es wäre genug, um sie aller Sorgen zu
entheben. Dreitausend Pfund! Er könnte eine so erhebliche
Summe ohne große Einschränkungen entbehren. Er dachte
den ganzen Tag und noch viele weitere Tage darüber nach
und bereute nichts.
Kaum war das Begräbnis seines Vaters vorüber, als Mrs.
John Dashwood, ohne ihre Schwiegermutter vorher von
ihrer Absicht in Kenntnis zu setzen, mit ihrem Kind und
ihrem Personal eintraf. Niemand konnte ihr das Recht zu
kommen streitig machen; das Haus gehörte unmittelbar
mit dem Tod seines Vaters ihrem Mann. Die Ungehörigkeit ihres Benehmens wurde außerordentlich stark empfunden und wäre für jede Frau in Mrs. Dashwoods Lage,
8
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 9
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
die auch nur ein Fünkchen Zartgefühl gehabt hätte, äußerst unangenehm gewesen. Aber sie selbst besaß ein so
ausgeprägtes Ehrgefühl, eine so romantische Großzügigkeit, dass eine derartige Beleidigung, gleichgültig, wer sie
verursachte oder wem sie zugefügt wurde, sie mit unüberwindlicher Abscheu erfüllte. Mrs. John Dashwood war bei
der Familie ihres Mannes nie sehr beliebt gewesen. Aber
sie hatte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Gelegenheit gehabt, ihnen zu zeigen, mit wie wenig Rücksicht auf
das Wohlergehen anderer sie handeln konnte, wenn die
Umstände es erforderten.
So empfindlich traf Mrs. Dashwood dieses unfreundliche Verhalten und so gründlich verachtete sie ihre Schwiegertochter dafür, dass sie bei ihrer Ankunft auf der Stelle
ausgezogen wäre, wenn das Zureden ihrer ältesten Tochter
sie nicht veranlasst hätte, erst noch einmal über die Richtigkeit ihrer Abreise nachzudenken, und wenn ihre eigene
zärtliche Liebe für alle drei Kinder sie anschließend nicht
bewogen hätte, zu bleiben und um ihretwillen den Bruch
mit ihrem Stiefsohn zu vermeiden.
Elinor, die älteste Tochter, deren Rat befolgt wurde, besaß einen so klaren Verstand und ein so nüchternes Urteilsvermögen, die sie trotz ihrer neunzehn Jahre zur Ratgeberin ihrer Mutter machten und es ihr häufig erlaubten,
zum Vorteil aller, der Impulsivität von Mrs. Dashwood
entgegenzuwirken, die sonst zu vorschnellem Handeln geführt hätte. Sie war ein hochherziger Mensch, liebevoll
von Natur, mit starken Empfindungen, aber sie wusste sich
zu beherrschen – eine Kunst, die ihre Mutter noch lernen
musste und die eine ihrer Schwestern entschlossen war,
sich niemals beibringen zu lassen.
Mariannes Fähigkeiten standen denen Elinors keineswegs nach. Sie war gefühlvoll und gescheit, aber in allem
9
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 10
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
überspannt. Ihr Schmerz und ihre Freude kannten kein
Maß. Sie war großzügig, liebenswürdig, interessant, sie
war alles – außer besonnen. Die Ähnlichkeit zwischen ihr
und ihrer Mutter war auffallend groß.
Elinor betrachtete das Übermaß von Empfindsamkeit
bei ihrer Schwester mit Sorge. Aber von Mrs. Dashwood
wurde es geschätzt und ermutigt. Die beiden bestärkten
sich nun gegenseitig in ihrem heftigen Schmerz. Der grenzenlose Jammer, der sie zuerst überwältigt hatte, wurde
neu belebt, absichtlich erneuert, wurde immer wieder aufgerührt. Sie gaben sich ihrem Kummer völlig hin, suchten
ihr Elend durch jedes Thema zu steigern, das sich dazu anbot, und waren entschlossen, auch in Zukunft für keinen
Trost empfänglich zu sein. Auch Elinor litt sehr, aber sie
konnte sich wehren, sie konnte sich überwinden. Sie konnte Beratungen mit ihrem Bruder führen, ihre Schwägerin
bei ihrer Ankunft empfangen und mit der nötigen Aufmerksamkeit behandeln, ihre Mutter zu ähnlicher Selbstüberwindung aufrütteln und zu ähnlicher Nachsicht ermuntern.
Margaret, die dritte Schwester, war ein gutmütiges,
zugängliches Mädchen. Aber da bereits eine Menge von
Mariannes Schwärmerei auf sie abgefärbt hatte, ohne dass
sie deren Einsicht besaß, waren mit dreizehn ihre Aussichten, es später im Leben mit ihren Schwestern aufnehmen
zu können, gering.
27
28
29
30
31
32
33
10
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 11
1
Kapitel 2
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Mrs. John Dashwood ließ sich nun als Hausherrin in Norland nieder, und ihre Schwiegermutter und Schwägerinnen
wurden zu bloßen Besuchern herabgesetzt. Als solche wurden sie von ihr allerdings mit reservierter Höflichkeit und
von ihrem Mann mit so viel Wohlwollen behandelt, wie er
für Menschen außer sich selbst, seiner Frau und seinem
Kind aufzubringen vermochte. Er drang sogar mit einer
gewissen Ehrlichkeit in sie, Norland als ihr Zuhause zu betrachten, und da sich Mrs. Dashwood keine bessere Möglichkeit bot, als zu bleiben, bis sie ein Haus in der Nachbarschaft gefunden hatte, wurde seine Einladung angenommen.
Weiter an einem Ort zu leben, wo alles sie an früheres
Glück erinnerte, war genau das, was sie in ihrer Gemütsverfassung brauchte. An heiteren Tagen strahlte niemand so
viel Heiterkeit aus wie sie oder war in solchem Maße von jener unerschütterlichen Glückserwartung erfüllt, die schon
das Glück selbst bedeutet. Aber im Schmerz ließ sie sich
ebenso von ihrer Einbildungskraft hinreißen und war für
Trost so unzugänglich, wie sie im Glück unbeirrbar war.
Mrs. John Dashwood billigte ganz und gar nicht, was
ihr Mann für seine Schwestern zu tun beabsichtigte. Das
Vermögen ihres lieben kleinen Jungen um dreitausend
Pfund zu schmälern, würde ihn auf den trostlosesten Grad
von Armut reduzieren! Sie drang in ihren Mann, sich die
Sache noch einmal zu überlegen. Wie konnte er es vor sich
selbst verantworten, sein Kind, und noch dazu sein einziges Kind, einer solchen riesigen Summe zu berauben? Und
welchen Anspruch an seine Großzügigkeit auf eine so große Summe hatten denn die Miss Dashwood überhaupt, die
doch nur seine Stiefschwestern waren, was sie als Ver11
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 12
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
wandtschaftsbeziehung gar nicht gelten ließ? Alle Welt
wusste doch, dass von Anhänglichkeit zwischen den Kindern eines Mannes aus verschiedenen Ehen keine Rede
sein konnte, und warum wollte er sich und ihren armen
kleinen Harry ruinieren und all sein Geld an seine Stiefschwestern verschenken?
»Es war meines Vaters letzter Wunsch an mich«, erwiderte ihr Mann, »dass ich seiner Witwe und seinen Töchtern beistehe.«
»Er wusste doch gar nicht, was er sagt. Zehn zu eins, er
war zu der Zeit gar nicht mehr zurechnungsfähig. Wäre er
bei Sinnen gewesen, dann wäre er gar nicht darauf gekommen, dir zuzumuten, das halbe Vermögen deines eigenen
Kindes zu verschenken.«
»Er hat auf keiner bestimmten Summe bestanden, meine liebe Fanny, er hat mich nur ganz allgemein gebeten,
ihnen beizustehen und ihnen das Leben angenehmer zu
machen, als er es vermochte. Vielleicht hätte er die Angelegenheit lieber ganz und gar mir überlassen sollen. Er
konnte sich ja denken, dass ich sie nicht zu kurz kommen
lassen würde. Aber da er auf dem Versprechen bestand,
konnte ich es ihm schlecht abschlagen – jedenfalls schien
es mir damals so. Nun ist das Versprechen einmal gegeben
und muss gehalten werden. Es muss etwas für sie getan
werden, wenn sie Norland einmal verlassen und sich in einem neuen Haus einrichten sollten.«
»Also gut, dann soll eben etwas für sie getan werden,
aber dieses Etwas braucht doch keine dreitausend Pfund zu
sein. Bedenke doch«, fügte sie hinzu, »wenn man sich erst
einmal von dem Geld getrennt hat, ist es ein für allemal
verloren. Deine Schwestern werden heiraten, und dann bist
du es für immer los. Wenn man es allerdings unserem armen kleinen Jungen wieder zukommen lassen könnte …«
12
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 13
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
»Allerdings«, sagte ihr Mann sehr nachdenklich, »dann
sähe die Sache ganz anders aus. Vielleicht kommt einmal
der Zeitpunkt, wo Harry es bedauert, dass wir uns von einer so großen Summe getrennt haben. Sollte er zum Beispiel eine zahlreiche Familie haben, dann wäre dieses Geld
eine sehr willkommene Ergänzung.«
»Allerdings.«
»Vielleicht wäre es dann für alle Beteiligten besser,
wenn man die Summe um die Hälfte verringerte. Fünfhundert Pfund wären ein beträchtlicher Zuwachs ihres
Vermögens.«
»Oh, über alle Maßen! Welcher Bruder würde auch nur
halb so viel für seine Schwestern tun, selbst wenn sie seine
richtigen Schwestern wären! Und wie die Dinge liegen –
nur Stiefschwestern! Aber du bist von Natur so großzügig.«
»Ich möchte auf keinen Fall kleinlich sein«, entgegnete
er. »Man tut bei solchen Gelegenheiten lieber zu viel als
zu wenig. Wenigstens kann niemand behaupten, ich hätte
nicht genug für sie getan. Sogar sie selbst können kaum
mehr erwarten.«
»Was sie erwarten, das weiß man nie«, sagte die Gemahlin, »aber über ihre Erwartungen brauchen wir uns
nicht den Kopf zu zerbrechen. Die Frage ist, was du erübrigen kannst.«
»Natürlich, und ich glaube, ich kann fünfhundert
Pfund für jede erübrigen. Wie die Dinge liegen, wird jede
ohne meine Unterstützung beim Tod ihrer Mutter mehr
als dreitausend Pfund haben – ein sehr anständiges Vermögen für eine junge Frau.«
»Allerdings, und wenn ich es recht bedenke, dann finde
ich, dass sie deine Unterstützung gar nicht brauchen. Sie
besitzen gemeinsam zehntausend Pfund. Wenn sie heiraten, machen sie bestimmt eine gute Partie, und wenn nicht,
13
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 14
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
dann können sie alle zusammen sehr anständig von den
Zinsen ihrer zehntausend Pfund leben.«
»Eigentlich hast du recht, und deshalb weiß ich nicht,
ob es alles in allem nicht ratsamer wäre, etwas für die
Mutter zu ihren Lebzeiten statt für die Mädchen zu tun –
ich denke an so etwas wie eine Leibrente. Das käme meinen Schwestern genauso zugute wie ihr selbst. Mit einhundert Pfund pro Jahr hätten sie ein ausgesprochen anständiges Auskommen.«
Seine Frau zögerte jedoch ein wenig, diesem Plan ihre
Zustimmung zu geben.
»Allerdings«, sagte sie, »ist das besser, als sich auf einmal von fünfzehnhundert Pfund zu trennen. Aber was,
wenn Mrs. Dashwood noch fünfzehn Jahre lebt, dann sind
wir ganz und gar die Dummen.«
»Fünfzehn Jahre! Meine liebe Fanny, ihr Leben kann
doch höchstens halb so lange dauern.«
»Sicher, aber achte einmal darauf: Leute leben immer
ewig, wenn es darum geht, ihnen eine Leibrente zu zahlen.
Und sie ist sehr robust und gesund und noch keine vierzig.
Eine Leibrente ist eine ernste Angelegenheit, sie will Jahr
für Jahr gezahlt sein, und man wird sie nie wieder los. Du
ahnst ja nicht, worauf du dich da einlässt. Ich habe eine
Menge Ärger mit Leibrenten erlebt, denn für meine Mutter war die im Testament meines Vaters festgelegte Zahlung an drei alte, arbeitsunfähige Diener ein wahrer Klotz
am Bein, und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie lästig
ihr das war. Zweimal im Jahr mussten die Leibrenten gezahlt werden, und dann wusste man nicht, wie man ihnen
das Geld zukommen lassen sollte, und dann war angeblich
einer gestorben, und hinterher stellte sich heraus, dass es
gar nicht stimmte. Meine Mutter war die Sache gründlich
leid. Bei diesen ständigen Forderungen, sagte sie, war sie
14
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 15
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
nicht Herr über ihr eigenes Geld. Und es war um so rücksichtsloser von meinem Vater, als das Geld meiner Mutter
sonst ausschließlich zur Verfügung gestanden hätte, ohne
irgendwelche Einschränkungen. Ich habe seitdem einen
solchen Horror vor Leibrenten, dass ich mich um nichts in
der Welt auf eine solche Zahlung festnageln lassen würde.«
»Es ist zweifellos eine unangenehme Sache«, erwiderte
Mr. Dashwood, »sein jährliches Einkommen auf diese Weise zu belasten. Wie deine Mutter ganz richtig sagt, ist man
nicht Herr über sein eigenes Vermögen. Zur regelmäßigen
Zahlung einer solchen Summe verpflichtet zu sein, an jedem Zahltag, ist nicht gerade wünschenswert. Es raubt
einem die Unabhängigkeit.«
»Zweifellos, und man erntet noch nicht einmal Dank
dafür. Sie haben ausgesorgt, du hast ja nur deine Pflicht
getan, und von Dankbarkeit kann keine Rede sein. Wenn
ich du wäre, würde ich mir bei allem, was ich täte, völlige
Handlungsfreiheit bewahren. Ich würde mich nicht darauf
festlegen, ihnen jährlich etwas zukommen zu lassen. Es
mögen Jahre kommen, wo uns die Ausgabe von hundert, ja
sogar fünfzig Pfund von unserem eigenen Geld sehr ungelegen kommt.«
»Ich glaube, du hast recht, mein Schatz. Es ist wohl
besser, wenn von einer Leibrente gar nicht die Rede ist.
Wenn ich ihnen von Zeit zu Zeit etwas gebe, kommt ihnen
das mehr zugute als eine jährliche Rente, denn ihr Lebensstil würde nur aufwendiger werden, wenn sie sich auf ein
größeres Einkommen verlassen könnten, und am Ende des
Jahres wären sie keinen Pfennig reicher. Das ist auf jeden
Fall die beste Lösung. Hin und wieder ein Geschenk von
fünfzig Pfund wird sie, glaube ich, vor allen Geldsorgen
bewahren und das Versprechen meinem Vater gegenüber
voll und ganz erfüllen.«
15
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 16
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
»Allerdings. Ja, um die Wahrheit zu gestehen, ich bin
innerlich davon überzeugt, dass dein Vater gar nicht daran
gedacht hat, dass du ihnen überhaupt Geld gibst. Die Unterstützung, die er im Sinn hatte, bezog sich bestimmt nur
auf das, was im Rahmen des Vernünftigen von dir erwartet
werden kann. Zum Beispiel, sich nach einem kleinen Haus
für sie umzusehen, ihnen beim Umzug zu helfen und Fisch
und Wild und so weiter als Geschenk zu schicken, wann
immer sie verfügbar sind. Ich lege meine Hand dafür ins
Feuer, dass er weiter nichts im Sinn hatte, ja, es wäre sehr
merkwürdig und unvernünftig, wenn es anders wäre. Bedenke doch nur, mein lieber Mr. Dashwood, wie überaus
anständig deine Stiefmutter und ihre Töchter von den Zinsen der siebentausend Pfund leben können, abgesehen von
den eintausend Pfund der einzelnen Mädchen, die ihnen je
fünfzig Pfund pro Jahr einbringen und wovon sie ihrer
Mutter natürlich den Unterhalt bezahlen. Alles in allem
haben sie gemeinsam fünfhundert Pfund pro Jahr, und
wozu um alles in der Welt brauchen vier Frauen mehr? Sie
haben doch keine Ausgaben. Ihr Lebensunterhalt ist nicht
der Rede wert. Sie haben keine Kutsche, keine Pferde und
kaum Personal; sie haben keine gesellschaftlichen Verpflichtungen und können deshalb keinerlei Ausgaben haben. Denk doch nur, wie anständig sie leben können! Fünfhundert pro Jahr! Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie
auch nur die Hälfte davon ausgeben wollen. Und was den
Zuschuss von dir angeht, so ist der Gedanke daran absurd.
Viel eher könnten sie dir etwas abgeben.«
»Tatsächlich«, sagte Mr. Dashwood, »ich glaube, du
hast völlig recht. Mein Vater hatte mit seinem Wunsch bestimmt nichts anderes im Sinn, als du sagst. Mir ist es jetzt
völlig klar, und ich werde meine Verpflichtungen Punkt
für Punkt erfüllen, indem ich ihnen mit hilfreichen und
16
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 17
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
freundlichen Gesten, wie du sie beschrieben hast, unter die
Arme greife. Wenn meine Mutter umzieht, will ich ihr, soweit ich kann, bereitwillig zur Seite stehen. Vielleicht ist
dann auch das eine oder andere Möbelstück als Geschenk
angebracht.«
»Natürlich«, entgegnete Mrs. John Dashwood. »Aber
wie auch immer, eins darf man nicht vergessen. Als dein
Vater und deine Mutter nach Norland zogen, wurden zwar
die Möbel von Stanhill verkauft, aber das ganze Geschirr,
Silber und die ganze Tisch- und Bettwäsche wurden behalten, und nun hat sie deine Mutter geerbt. Ihr Haus
wird deshalb fast vollständig eingerichtet sein, sobald sie
einzieht.«
»Das ist zweifellos ein wesentlicher Gesichtspunkt.
Eine wahrhaft wertvolle Erbschaft! Und einiges von dem
Silber wäre eine sehr erfreuliche Ergänzung unserer eigenen Sammlung hier gewesen.«
»Ja, und das Frühstücksgeschirr ist zweimal so hübsch
wie das, was in dieses Haus gehört. Meiner Meinung nach
bei weitem zu hübsch für die Häuser, die sie sich je werden
leisten können. Aber wie auch immer, so ist es nun einmal.
Dein Vater hat nur an sie gedacht. Und eins muss ich noch
betonen: Du brauchst ihm weder besonders dankbar zu
sein noch auf seine Wünsche Rücksicht zu nehmen, denn
wir wissen genau, wenn er gekonnt hätte, hätte er fast
alles, was er hatte, ihnen hinterlassen.«
Dieses Argument war unwiderlegbar. Es gab seinen Absichten die Entschlossenheit, die ihnen bisher noch gefehlt
hatte, und er war schließlich überzeugt, dass es völlig unnötig, wenn nicht höchst ungehörig war, der Witwe und
den Kindern seines Vaters mehr zu helfen als durch solche
Gesten nachbarlichen Wohlwollens, wie seine eigene Frau
sie angedeutet hatte.
17
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 445
1
Nachwort
2
3
5
»She cannot be said to have created or invented;
Jane Austen had an infinitely rarer gift – she saw.«
6
Julia Kavanagh (1824–1877) über Jane Austen
4
7
8
1
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Zusammen mit Pride and Prejudice und Northanger Abbey bildet Sense and Sensibility das Trio der frühen Romane Jane Austens. Sie wurden alle zwischen 1795 und 1798
von der gut Zwanzigjährigen geschrieben, aber vor ihrer
Veröffentlichung etwa 15 bis 20 Jahre später umgearbeitet,
Sense and Sensibility sogar zweimal. Wie bei allen Austen-Romanen sind allerdings die früheren Fassungen auch
hier verloren. Das Buch hieß ursprünglich Elinor and Marianne und war ein Briefroman. Aus der Kenntnis der endgültigen Fassung klingt das recht unwahrscheinlich, denn
die beiden Schwestern, die doch den Hauptteil der Briefe
hätten schreiben müssen, weil nur sie ihre Empfindungen
mitteilen können, sind dort niemals getrennt. Vermutlich
schon 1797 wurde diese früheste Version in die jetzige Erzählform umgegossen, die dann aber etwa 1809 bis 1810
noch einmal revidiert wurde, bevor das Buch 1811 anonym
– »by a lady« – und auf eigene Kosten der Autorin in London erschien. Als einziger Roman Jane Austens wurde
Sense and Sensibility dann zu ihren Lebzeiten nach der
Erstausgabe noch einmal bearbeitet. 1813 kam nach der
Veröffentlichung von Pride and Prejudice eine zweite Auflage heraus, die einige, wenn auch nicht tiefgreifende Änderungen vornahm. Wie die meisten englischen Ausgaben
– auch Chapmans autoritative – bietet die vorliegende
445
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 446
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Übersetzung, von geringfügigen Korrekturen abgesehen,
den Text der zweiten Auflage, gewissermaßen der »Ausgabe letzter Hand«.
Mit den beiden anderen frühen Romanen verbindet
Sense and Sensibility aber mehr als die äußere Entstehungsgeschichte. Es ist wie Northanger Abbey aus der Parodie einer zeitgenössischen Mode hervorgegangen, in diesem Falle der Empfindsamkeit, einem in der Literatur und
im Leben zur Schau getragenen Gefühlsüberschwang, der
das eigene Lieben und Leiden zum Mittelpunkt der Welt
macht. Der deutsche Leser braucht nur an Goethes Die Leiden des jungen Werthers erinnert zu werden, wo das Thema
mit höchster geistiger Durchdringung behandelt wird.
Während aber Northanger Abbey den Roman im Wesentlichen um die parodistischen Elemente baut, vor allem um
die Mode des »Gotischen«, und den humoristischen Ton
weitgehend wahrt, entwickelt Sense and Sensibility nicht so
sehr die komödiantischen Züge, sondern erfasst in der an
Marianne kritisierten Empfindsamkeit, die sie blind für alles außer ihrer von Illusionen genährten Liebe macht, Haltungen und Einstellungen zum Leben und setzt die Heldinnen einem intensiven Leiden aus, das sich in Mariannes Fall
in einer beinahe tödlichen körperlichen Krankheit äußert.
Diese ernstere Entwicklung des Themas nun wieder
verbindet diesen Roman mit Pride and Prejudice, mit dem
es schon den alliterierenden Titel gemeinsam hat, dessen
Begriffe auf menschliche Verhaltensweisen und damit auf
Tugenden oder Verfehlungen der Romanfiguren hinweisen. Im Zentrum beider Romane steht im Gegensatz zu
Northanger Abbey auch ein Schwesternpaar, dessen Liebeserwartung, -enttäuschung und -erfüllung die eigentliche Handlung bildet. In Sense and Sensibility lässt sich das
schon aus dem Aufbau des Buches ablesen. Der Roman er446
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 447
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
schien, wie das damals üblich war, in mehreren Bänden,
und zwar in diesem Fall in drei, deren Kapitel einzeln gezählt wurden (Kap. 1–22 = 1. Band, Kap. 1–22; Kap. 23–37
= 2. Band, Kap. 1–14; Kap. 38–51 = 3. Band, Kap. 1–14),
und die oben angegebenen Stichwörter für die Entwicklung
der Liebesgeschichte entsprechen den einzelnen Bänden:
Im ersten Band lernen Elinor und Marianne ihre Verehrer
kennen und erhoffen sich die Heirat. Um die Handlungsspannung zu erhalten, erscheint dabei Willoughby erst, als
Edward vorübergehend von der Bildfläche verschwunden
ist, so dass die so gegensätzlichen Liebeserlebnisse der
Mädchen nacheinander berichtet werden. Als Willoughby
dann abreist, taucht Edward wieder auf. Im zweiten Band,
der vor allem in London spielt, verlieren beide Schwestern
vorübergehend ihren Geliebten an andere Frauen und erleben ihre Krise. Im dritten Band gewinnt Elinor ihren Edward wieder, und Marianne heiratet ausgerechnet Brandon
statt Willoughby – ein Zeichen, dass sie von ihren Gefühlsillusionen geheilt ist, denn wie er für sie, ist sie für
ihn eine zweite Liebe, also etwas, was nach Mariannes ursprünglicher Einstellung gar nicht existieren kann. Sie verbindet sich nun mit dem Mann, von dem sie behauptet hat,
er sei seines Alters wegen unfähig, tief zu empfinden, sei
überhaupt zu alt zum Heiraten, habe Rheumatismus und
trage Wollwesten – mit dem Mann also, der den Träumen
einer Siebzehnjährigen so ganz und gar nicht entspricht.
Während aber in Sense and Sensibility die beiden
Schwestern die in den Titelbegriffen angesprochenen Eigenschaften repräsentieren und sich damit beide gleichgewichtig als Protagonistinnen gegenüberstehen, hat Pride
and Prejudice trotz der zwei liebenden Schwestern nur
eine Heldin, Elizabeth Bennet, und die Titelbegriffe beziehen sich auf sie und die Spannungen mit ihrem Verehrer
447
Austen, Verstand und Gefühl
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub21730/2700558-u Seite 448
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
Darcy. Erst dieser zweite Roman entwickelt also die dann
für alle weiteren Romane von Jane Austen typische Erzählperspektive, bei der der Leser die Welt durch die Augen und mit dem Herzen der Heldin erlebt und nur mit ihr
empfindet. Wohl identifiziert sich die Autorin in Sense and
Sensibility deutlich mit Elinor und nicht mit Marianne, die
ja von ihren Irrtümern geheilt werden muss, aber die Erzählperspektive schwankt noch.
Man hat das als Mangel betrachtet, und überhaupt wird
von der Literaturwissenschaft Sense and Sensibility öfter
als das schwächste der Bücher Jane Austens angesehen:
»Keiner würde dies als seinen Lieblingsroman von Jane
Austen wählen, während jeder andere seine Fanatiker hat,
die gerade ihn allen anderen vorziehen.« (F. Farren, 1917,
in: B. C. Southam, vgl. Literaturhinweise, S. 444.) Zu diesen künstlerischen Schwächen kann man etwa die gelegentlich gouvernantenhaft moralisierende Art Elinors, die
funktionslose Blässe der jüngsten Dashwood-Schwester
Margaret oder den unerklärlichen Wandel zählen, den
Mrs. Jennings im Laufe des Buches durchmacht, die zu
Anfang der Handlung eine unausstehlich penetrante
Klatschbase ist, sich später aber als mutige, kritische und
gütige ältere Dame entpuppt.
24
25
26
2
27
28
29
30
31
32
33
Andererseits sollte man über den künstlerischen Mängeln
aus heutiger sozialkritisch geschulter Sicht nicht übersehen, dass Sense and Sensibility das mutigste und enthüllendste Buch Jane Austens, ihre gnadenloseste Darstellung
von gewissen sozialen Sünden ist. In keinem ihrer anderen
Romane wird menschliches Fehlverhalten mit so distan448
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 5
1
2
3
4
5
6
Kapitel 1
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Wer Catherine Morland als Kind gesehen hatte, wäre nie
auf den Gedanken gekommen, dass sie zur Romanheldin
bestimmt war. Ihre Lebensumstände, der Charakter ihres
Vaters und ihrer Mutter, ihre äußere Erscheinung und ihr
Naturell – alles sprach gleichermaßen gegen sie. Ihr Vater
war Pfarrer, dabei aber durchaus nicht zu kurz gekommen
oder verarmt, sondern ein sehr angesehener Mann, obwohl
er Richard hieß1 – und eine Schönheit war er auch nie gewesen. Er besaß neben seinen beiden einträglichen Pfarrstellen ein beträchtliches Vermögen und hatte ganz und
gar nicht die Angewohnheit, seine Töchter hinter Schloss
und Riegel zu sperren. Ihre Mutter war eine schlichte, lebenstüchtige Frau von gleichmäßiger Freundlichkeit und –
man höre und staune – unverwüstlicher Konstitution. Sie
hatte schon drei Söhne, als Catherine zur Welt kam, und
anstatt, wie man doch wohl erwarten durfte, bei ihrer Geburt zu sterben, lebte sie einfach weiter – lebte weiter und
gebar sechs weitere Kinder, sah sie alle um sich herum aufwachsen und erfreute sich dabei selbst auch noch bester
Gesundheit. Eine Familie mit zehn Kindern kann immer
Anspruch auf das Wort »stattlich« erheben; dafür sorgt
schließlich schon die Zahl der Köpfe und Arme und Beine,
aber bei den Morlands gründete sich das Anrecht auf diese
Auszeichnung auf wenig anderes, denn sie waren im Großen und Ganzen recht bieder, und ausgesprochen bieder
war viele Jahre lang auch Catherine. Sie war mager und
5
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 6
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
ungelenk, hatte einen blassen, glanzlosen Teint, glattes,
dunkles Haar und ausgeprägte Züge. Soweit ihre äußere
Erscheinung; ihre geistigen Gaben ließen die zukünftige
Romanheldin auch nicht gerade ahnen. Sie liebte alle Jungenspiele und zog Cricket bei weitem nicht nur Puppen,
sondern auch den Kindheitsvergnügen vor, mit denen sich
Romanheldinnen im Allgemeinen die Zeit vertreiben, wie
der Pflege einer kleinen Hausmaus, dem Füttern eines Kanarienvogels oder dem Gießen eines Rosenstrauchs. Ohnehin hatte sie mit Gärten nichts im Sinn, und wenn sie
überhaupt Blumen pflückte, dann hauptsächlich aus Schabernack – jedenfalls musste man das daraus schließen, dass
sie immer gerade die aussuchte, die sie auf keinen Fall nehmen sollte. So stand es um ihre Neigungen; um ihre Talente war es nicht minder vielversprechend bestellt. Sie lernte
oder verstand nie etwas, bevor man es ihr erklärte – und
manchmal nicht einmal dann, denn sie war oft unaufmerksam und gelegentlich sogar begriffsstutzig. Ihre Mutter
brauchte volle drei Monate dazu, ihr »Des Bettlers Bitte«
beizubringen, und sogar dann konnte ihre nächstjüngere
Schwester Sally es immer noch besser als sie. Aber nicht,
dass Catherine durchweg begriffsstutzig war, keineswegs;
sie lernte die Fabel vom »Hasen und seinen vielen Freunden« im Handumdrehen.2 Ihre Mutter wollte, dass sie Klavierspielen lerne, und Catherine war Feuer und Flamme,
denn es machte ihr großen Spaß, auf dem alten, unbenutzt
herumstehenden Spinett zu klimpern, und so fing sie mit
acht Jahren an. Nach einem Jahr war’s mit der Lust vorbei,
und Mrs. Morland, die nicht darauf bestand, dass ihre
Töchter sich trotz mangelnder Begabung und mangelndem
Geschmack Bildung aneigneten, erlaubte ihr, damit aufzuhören. Der Tag, an dem ihr Klavierlehrer entlassen wurde,
war einer der glücklichsten in Catherines Leben. Auch ihr
6
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 7
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Talent zum Zeichnen war nicht überragend, obwohl sie
sich damit alle Mühe gab und mehr oder minder gleich
aussehende Häuser und Bäume, Hühner und Küken zeichnete, wenn sie der Rückseite eines Briefes ihrer Mutter
habhaft werden oder irgendein anderes Stück Papier erwischen konnte. Schreiben und Rechnen lernte sie von ihrem
Vater, Französisch von ihrer Mutter, aber in keinem waren
ihre Kenntnisse überwältigend, und sie schwänzte die Stunden, wann immer sie konnte. Was für ein sonderbarer, unergründlicher Charakter! Denn trotz all dieser Anzeichen
von Verworfenheit im zarten Alter von zehn Jahren hatte
sie weder ein schlechtes Herz noch einen schlechten Charakter, war selten bockig, fast nie unverträglich und trotz
gelegentlicher tyrannischer Anfälle rührend zu den Kleinen; obendrein war sie laut und wild, hasste Stubenarrest
und Sauberkeit und liebte es über alle Maßen, den grünen
Abhang hinter dem Haus hinunterzurollen.
So war Catherine Morland mit zehn. Mit fünfzehn
wuchs sie sich zurecht; sie fing an, sich Locken zu drehen
und für Bälle zu interessieren; ihr Teint wurde klarer; Fülle
und Farbe machten ihre Züge weicher; ihre Augen wurden
lebhafter und ihre Figur betonter. Ihre Vorliebe für
Schmutz wich der Freude an Samt und Seide, und mit dem
Verstand kam auch die Sauberkeit. Mit Vergnügen hörte
sie nun manchmal ihre Eltern sagen, wie sehr sie sich zu
ihrem Vorteil verändert habe. »Catherine wird ein richtig
gutaussehendes Mädchen. Heute sieht sie beinahe hübsch
aus«, fing sie jetzt von Zeit zu Zeit auf, und solche Sätze
waren Musik in ihren Ohren. Beinahe hübsch zu sein, bereitet einem Mädchen, das die ersten fünfzehn Jahre ihres
Lebens unscheinbar war, größeres Entzücken als jemandem, der schon in der Wiege als Schönheit galt.
Mrs. Morland war eine herzensgute Frau und hatte die
7
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 8
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
besten Absichten mit ihren Kindern, aber sie war so völlig
mit ihrem Wochenbett und der Beschäftigung mit den
Kleinen ausgelastet, dass ihre älteren Töchter notgedrungen allein zurechtkommen mussten, und daher war es
auch nicht verwunderlich, dass Catherine, die von Natur so
gar nichts von einer Heldin hatte, im Alter von vierzehn
Jahren Cricket, Baseball, Reiten und Herumstromern den
Büchern vorzog – oder wenigstens den Büchern, aus denen
man etwas lernen konnte, denn vorausgesetzt, dass sich ihnen keinerlei nützliches Wissen entnehmen ließ, vorausgesetzt, dass sie nichts Theoretisches, sondern nur Handlung
enthielten, hatte sie gegen Bücher gar nichts einzuwenden.
Aber zwischen fünfzehn und siebzehn bereitete sie sich auf
ihre Rolle als Romanheldin vor; sie las all die Werke, die
Heldinnen gelesen haben müssen, um sich die Zitate einprägen zu können, die in den Wechselfällen ihres ereignisreichen Lebens so brauchbar und tröstlich sind.
Von Pope lernte sie, die zu verurteilen, die
»Scherz treiben mit dem Schmerz der andern«;
von Gray, dass
»Manch Blume muss verblühn in Einsamkeit
Und ihren Duft im Wüstensand verströmen«;
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
von Thompson, dass
»Es ist ein köstliches Bemühen,
Des Geistes jungen Trieb zu ziehen«;
und Shakespeare versorgte sie mit einem großen Vorrat an
Wissen, unter anderem, dass
»Dinge, leicht wie Luft,
Sind für die Eifersucht Beweise, stark
Wie Bibelsprüche«;
8
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 9
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
dass
»Der arme Käfer, den dein Fuß zertritt,
Fühlt körperlich ein Leiden, ganz so groß,
Als wenn ein Riese stirbt«;
und dass eine verliebte junge Frau immer aussieht
»Wie die Geduld auf einer Gruft
Dem Grame lächelnd«.3
So weit hatte sie also zufriedenstellende Fortschritte gemacht, und in manch anderer Hinsicht war sie auf dem besten Wege, denn obwohl sie keine Sonette schreiben konnte,
zwang sie sich dazu, welche zu lesen, und obwohl anscheinend keine Aussicht für sie bestand, eine ganze Gesellschaft
mit der Darbietung eines eigenen Préludes auf dem Klavier
in Verzückung zu versetzen, konnte sie dem Spiel anderer
zuhören, ohne merklich zu ermüden. Nur mit dem Zeichenstift wusste sie ganz und gar nicht umzugehen – sie
hatte zum Zeichnen einfach kein Talent; es langte nicht einmal dazu, das Profil ihres Verehrers so zu skizzieren, dass
ihre künstlerische Handschrift darin zu erkennen war. Hier
blieb sie kläglich hinter der wahren Größe einer Romanheldin zurück. Aber vorläufig ahnte sie nichts von ihrer Unzulänglichkeit, denn sie hatte gar keinen Verehrer, den
sie hätte porträtieren können. Sie hatte das Alter von siebzehn erreicht, ohne einen einzigen liebenswürdigen jungen
Mann gesehen zu haben, der ihre Gefühle geweckt hätte,
ohne eine einzige wahre Leidenschaft hervorgerufen zu haben, ja, ohne mehr als höchst mäßige und flüchtige Bewunderung erregt zu haben. Das war wirklich sonderbar! Aber
sonderbare Dinge hören auf, es zu sein, wenn man ihnen
auf den Grund geht. Es gab keinen einzigen Lord in der
Nachbarschaft, ja, nicht einmal einen Baron. In ihrem ge9
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 10
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
samten Bekanntenkreis hatte nicht eine einzige Familie einen Jungen großzuziehen, den sie zufällig vor ihrer Tür gefunden hatte – nicht einen einzigen jungen Mann, dessen
Herkunft unbekannt war. Ihr Vater hatte kein Mündel und
der reichste Mann der Gegend keine Kinder.
Aber wenn eine junge Dame dazu bestimmt ist, Romanheldin zu werden, können auch die widrigsten Umstände in noch so vielen Familien der Umgebung sie nicht
davon abhalten. Etwas muss und wird geschehen, damit ihr
der Held über den Weg läuft.
Mr. Allen, dem die Ländereien um Fullerton – das Dorf
in Wiltshire, wo die Morlands wohnten – zum größeren
Teil gehörten, wurde wegen seiner Gichtanfälle ein Aufenthalt in Bath verschrieben, und seine Gattin, eine gutmütige Dame, die an Miss Morland Gefallen fand und sich
vermutlich darüber im Klaren war, dass eine junge Dame
Abenteuer anderswo suchen muss, wenn sie diese in ihrem
eigenen Dorf nicht findet, lud sie ein, sie zu begleiten. Mr.
und Mrs. Morland war es eine große Ehre und Catherine
eine große Freude.
21
22
23
24
Kapitel 2
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Zu allem, was über Catherine Morlands äußere und innere
Gaben bereits gesagt worden ist, darf angesichts der bevorstehenden Schwierigkeiten und Gefahren eines sechswöchigen Aufenthalts in Bath zur genaueren Information des
Lesers, und da die folgenden Seiten sonst ihr Ziel verfehlen
würden, ein angemessenes Bild ihres Charakters zu geben,
noch hinzugefügt werden, dass sie ein liebevolles Herz besaß, ein heiteres, offenes Gemüt ohne alle Einbildung oder
10
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 12
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
so auffällig wie möglich zu ändern) in diesem Alter als ihre
nächstjüngere Schwester ihre enge Freundin und Vertraute
ist. Wie eigenartig aber, dass sie weder darauf bestand, Catherine solle mit jeder Post schreiben, noch ihr das Versprechen abrang, ihr ein Bild der Persönlichkeit jedes neuen
Bekannten oder die Einzelheiten jeder interessanten Unterhaltung, die sich in Bath ergeben mochte, mitzuteilen.
Überhaupt wurde von Seiten der Morlands alles, was diese
bedeutsame Reise anging, mit einem Grad von Mäßigung
und Gefasstheit getan, die eher den alltäglichen Empfindungen alltäglicher Menschen entsprach als den hochgespannten Erwartungen, den zärtlichen Gefühlen, die die
erste Trennung einer Romanheldin von ihrer Familie eigentlich auslösen sollte, und anstatt ihr bei seiner Bank
unbeschränkte Verfügungsgewalt über sein Konto zu geben oder gar eine Hundertpfundnote in die Hand zu drücken, überreichte der Vater ihr nur zehn Guineen und versprach ihr mehr, wenn sie mehr brauchen sollte.
Unter diesen nicht gerade vielversprechenden Auspizien fand die Trennung statt, begann die Reise. Sie ging
mit angemessener Ruhe und eintöniger Gefahrlosigkeit
vonstatten. Kein Räuber, kein Unwetter suchte sie heim,
und kein segensreicher Wagenbruch führte sie mit dem
Helden zusammen. Nichts Schrecklicheres passierte, als
dass Mrs. Allen fürchtete, ihre Pantoffeln in einem Gasthaus zurückgelassen zu haben, und auch diese Befürchtung
erwies sich glücklicherweise als grundlos.
So kamen sie in Bath an; Catherine war voll gespannter
Erwartung, ihre Augen waren hier und dort und überall,
als sie sich der gepflegten, eindrucksvollen Umgebung von
Bath näherten und anschließend durch die Straßen fuhren,
die sie zum Hotel führten. Sie war gekommen, um glücklich zu sein, und fühlte sich schon jetzt glücklich.
12
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 13
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Bald waren sie in bequemen Räumlichkeiten in der Pulteney Street4 untergebracht.
Es ist an dieser Stelle angebracht, eine ungefähre Beschreibung von Mrs. Allen zu geben, damit der Leser beurteilen kann, auf welche Weise ihre Handlungen später zur
unglückseligen Wendung des Buches beitragen und inwiefern sie voraussichtlich – sei es durch ihre Unklugheit, Gewöhnlichkeit oder Eifersucht, sei es, indem sie die Briefe
der armen Catherine abfängt, ihren Charakter verdirbt
oder sie aus dem Hause weist – für all das verzweiflungsvolle Elend, das im letzten Band5 auf den Leser zukommt,
mitverantwortlich ist.
Mrs. Allen war eine der zahlreichen Frauen, in deren
Gesellschaft man nichts anderes empfindet als Erstaunen
darüber, dass es auf dieser Welt sage und schreibe Männer
gibt, die genug Sympathie für sie aufbringen, sie zu heiraten. Sie besaß weder Schönheit noch Geist, Bildung oder
Geschmack. Damenhaftes Auftreten, eine gehörige Portion
von unaufdringlicher, passiver Gutmütigkeit und ein Hang
zur Oberflächlichkeit waren alles, was sie dazu berechtigte,
dass die Wahl eines so vernünftigen, intelligenten Mannes
wie Mr. Allen auf sie gefallen war. In einer Hinsicht allerdings war sie vorzüglich geeignet, eine junge Dame in die
Gesellschaft einzuführen, denn es machte ihr selbst ebensoviel Spaß, überall hinzugehen und alles anzusehen wie
den jungen Damen selbst. Kleider waren ihre Leidenschaft;
ihr ganzer harmloser Lebensinhalt bestand darin, sich herauszuputzen, und das gesellschaftliche Debüt unserer Heldin konnte erst stattfinden, als die beiden drei oder vier
Tage damit verbracht hatten, herauszufinden, was man
denn trug, und Catherines mütterliche Begleiterin sich ein
Kleid nach der neuesten Mode zugelegt hatte. Catherine
machte ebenfalls einige Einkäufe, und als all dies erledigt
13
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 14
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
war, nahte der bedeutende Abend, der sie in die Oberen
Gesellschaftsräume6 führen sollte. Ihr Haar war vom ersten Friseur am Platze geschnitten und gelegt, ihre Toilette
mit Sorgfalt arrangiert, und sowohl Mrs. Allen als auch
ihre Zofe erklärten, sie könne gar nicht besser aussehen.
Bei solchem Zuspruch hoffte Catherine, vor den Augen der
Menge bestehen zu können. Wenn sie Bewunderung erregte, war es ihr sehr recht, aber sie suchte sie nicht und
war nicht darauf angewiesen.
Mrs. Allen brauchte so lange zum Anziehen, dass sie
den Ballsaal erst sehr spät betraten. Die Saison war auf
dem Höhepunkt, der Saal überfüllt, und die beiden Damen
drängten sich hinein, so gut es ging. Was Mr. Allen betraf,
so begab er sich direkt ins Kartenzimmer und überließ es
ihnen, allein an dem Gewimmel ihren Spaß zu haben.
Mehr um die Sicherheit ihres neuen Kleides als um
das Wohlbefinden ihres Schützlings besorgt, bahnte sich
Mrs. Allen, so schnell es die nötige Vorsicht erlaubte, einen
Weg durch die Traube von Männern an der Tür, aber
Catherine hielt sich dicht an ihrer Seite und hakte sich so
fest bei ihrer Freundin ein, dass auch die vereinte Anstrengung einer wogenden Menge sie nicht auseinanderreißen
konnte. Zu ihrer größten Verblüffung musste sie jedoch
feststellen, dass bei weiterem Vordringen in den Saal das
Gedränge keineswegs abnahm; es schien eher schlimmer
zu werden, je weiter sie vorankamen, während Catherine
sich vorgestellt hatte, dass sie mühelos Platz finden und
den Tänzen in aller Bequemlichkeit zusehen könnten, sobald sie erst einmal die Tür hinter sich gelassen hätten.
Aber das Gegenteil war der Fall, und obwohl sie dank unermüdlichem Eifer sogar das obere Ende des Saales erreichten, war ihre Lage unverändert. Von den Tänzern sahen sie
nichts als den herausragenden Kopfputz einiger Damen.
14
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 15
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Sie drangen trotzdem weiter vor; etwas Besseres stand in
Aussicht, und unter Aufbietung aller Energie und Findigkeit gelangten sie schließlich in den Gang hinter der
höchsten Bank. Hier war das Gedränge etwas weniger
dicht als unten, und deshalb hatte Miss Morland einen
umfassenden Überblick über die Gesellschaft unter sich
und die soeben überstandenen Gefahren in ihrer Mitte. Es
war ein großartiger Anblick, und zum erstenmal an diesem
Abend hatte sie das Gefühl, auf einem Ball zu sein; sie hätte für ihr Leben gern getanzt, aber sie kannte nicht einen
einzigen Menschen im ganzen Saal. Mrs. Allen tat alles,
was sich in einem solchen Fall tun ließ, indem sie von Zeit
zu Zeit ungerührt sagte: »Schade, dass Sie nicht tanzen
können, mein Kind! Schade, dass Sie keinen Partner haben!« Eine Zeitlang fühlte ihre junge Freundin sich ihr zu
Dank verpflichtet für die guten Wünsche, aber sie wurden
so oft wiederholt und erwiesen sich als so völlig wirkungslos, dass Catherine ihrer schließlich überdrüssig wurde und
aufhörte, sich zu bedanken.
Allerdings durften sie ihren erhöhten Zufluchtsort, den
sie sich so mühsam erkämpft hatten, nicht lange genießen.
Bald setzten sich alle zum Teebüfett in Bewegung, und
auch sie mussten sich mit den anderen hinausdrängen.
Catherine überkam allmählich ein Gefühl der Enttäuschung; sie war es leid, ständig von Leuten herumgestoßen
zu werden, deren Gesichtern sie im Großen und Ganzen
nicht das mindeste Interesse abgewinnen konnte und die
ihr alle so gänzlich unbekannt waren, dass sie die lästige
Gefangenschaft nicht einmal durch ein freundliches Wort
mit einem ihrer Mitgefangenen lindern konnte; und als sie
schließlich das Teezimmer erreichten, kam ihr der Umstand, dass sie sich keiner Gruppe, keinem bekannten Gesicht anschließen konnten, dass keiner der Herren sich um
15
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 16
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
sie kümmerte, noch peinlicher zum Bewusstsein. Mr. Allen
war nirgendwo zu sehen, und nachdem sie vergeblich nach
einem geeigneten Platz Ausschau gehalten hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als am Ende eines Tisches Platz
zu nehmen, an dem bereits eine größere Gruppe saß und
wo sie nichts verloren hatten und sich mit niemandem unterhalten konnten als miteinander.
Mrs. Allen beglückwünschte sich, sobald sie saßen, ihr
Kleid vor Schaden bewahrt zu haben. »Wie schrecklich,
wenn es zerrissen worden wäre«, sagte sie, »finden Sie
nicht? Es ist ein so empfindlicher Musselin. Was mich betrifft, ich habe im ganzen Saal nichts gesehen, was mir so
gut gefallen hat, das können Sie mir glauben.«
»Wie lästig«, flüsterte Catherine, »nicht einen einzigen
Bekannten hier zu haben.«
»Ja, mein Kind«, erwiderte Mrs. Allen, ohne sich sonderlich dafür zu interessieren, »das ist wirklich sehr lästig.«
»Was machen wir denn nun? Die Herrschaften an diesem Tisch sehen auch aus, als ob sie sich fragten, was wir
hier wollen. Wir drängen uns ihnen förmlich auf.«
»Ja, das stimmt. Es ist sehr unangenehm. Ich wünschte,
wir hätten eine Menge Bekannte hier.«
»Ich wünschte, wir hätten überhaupt welche hier. Dann
könnten wir uns wenigstens jemandem anschließen.«
»Ganz richtig, mein Kind, und wenn wir Bekannte hätten, würden wir uns gleich zu ihnen setzen. Letztes Jahr
waren die Skinners hier. Schade, dass sie jetzt nicht hier
sind.«
»Sollten wir nicht lieber aufbrechen? Für uns ist hier
sowieso nicht gedeckt.«
»Tatsächlich, Sie haben ganz recht. Das ist ja unerhört!
Aber ich finde, wir sollten lieber still sitzenbleiben, denn
man wird in dem Gedränge so herumgestoßen. Wie sieht
16
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 17
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
meine Frisur aus, mein Kind? Jemand hat mir einen
Schubs gegeben und dabei ist sie, fürchte ich, ganz verrutscht.«
»Nein, gar nicht, sie sitzt sehr gut. Aber liebe Mrs. Allen, sind Sie ganz sicher, dass Sie in dieser riesigen Menschenmenge keine Menschenseele kennen? Sie müssen
doch irgend jemanden kennen.«
»Beim besten Willen nicht, schade. Wirklich jammerschade, dass ich nicht mehr Bekannte hier habe, sonst würde ich Ihnen einen Tanzpartner besorgen. Ich wäre so froh,
wenn Sie tanzen könnten. Da geht eine merkwürdig aussehende Frau! Was für ein komisches Kleid sie anhat! Wie
altmodisch! Sehen Sie nur den Rücken!«
Nach einer Weile wurde ihnen von einem ihrer Nachbarn Tee angeboten; er wurde dankbar akzeptiert, und daraus entspann sich eine kurze Unterhaltung mit dem Herrn,
und das war das einzige Mal während des ganzen Abends,
dass irgendjemand mit ihnen sprach, bis Mr. Allen sie nach
Beendigung des Tanzes entdeckte und sich zu ihnen gesellte.
»Nun, Miss Morland«, sagte er gleich zu ihr, »ich hoffe,
Sie haben einen unterhaltsamen Abend verbracht.«
»Sehr unterhaltsam«, antwortete sie und versuchte
vergeblich, ein herzhaftes Gähnen zu unterdrücken.
»Schade, dass sie nicht tanzen konnte«, sagte seine
Frau, »schade, dass ich keinen Partner für sie hatte. Ich
sagte schon zu Miss Morland, wie froh ich wäre, wenn die
Skinners diesen und nicht letzten Winter hiergewesen wären, oder wenn die Parrys gekommen wären, wie sie einmal angedeutet haben, dann hätte sie mit George Parry
tanzen können. Es tut mir so leid, dass sie keinen Partner
hatte.«
»Ein andermal haben Sie mehr Glück, hoffe ich«, war
Mr. Allens ganzer Trost.
17
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 18
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
Als der Tanz zu Ende war, begann sich die Gesellschaft
zu zerstreuen, was den Zurückbleibenden genügend Platz
ließ, um in einiger Bequemlichkeit umherzuwandern, und
jetzt war der Augenblick gekommen, wo es sich für jede
Romanheldin gehört, die im Laufe des Abends noch keine
hervorragende Rolle gespielt hat, bemerkt und bewundert
zu werden. Alle fünf Minuten verringerte sich die Menge
und gab Catherine mehr Spielraum, ihren Charme zu entfalten. Das Auge vieler junger Männer fiel nun auf sie, die
vorher nicht in ihre Nähe gekommen waren. Nicht einer
allerdings blieb, von sprachlosem Entzücken hingerissen,
bei ihrem Anblick stehen, kein neugieriges, fragendes Flüstern machte die Runde im Saale, auch wurde sie kein einziges Mal eine göttliche Schönheit genannt. Und doch sah
Catherine sehr gut aus, und hätte die Gesellschaft sie drei
Jahre früher gesehen, dann hätte man sie jetzt für ungewöhnlich hübsch gehalten.
Sie wurde allerdings betrachtet, und zwar mit einiger
Bewunderung, denn wie sie selbst mit anhörte, erklärten
zwei Herren sie für ein hübsches Mädchen. Solche Worte
verfehlten ihre Wirkung nicht; der Abend erschien ihr auf
der Stelle erfreulicher als vorher, ihre anspruchslose Eitelkeit war befriedigt. Sie war den beiden jungen Männern
dankbarer für dieses bescheidene Kompliment als eine
wahre Heldin für fünfzehn Sonette zur Feier ihrer Reize
und ging versöhnt mit aller Welt und vollkommen zufrieden mit ihrem Anteil an allgemeiner Aufmerksamkeit zu
ihrer Sänfte.
29
30
31
32
33
18
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 298
1
Nachwort
2
3
»That young lady had a talent for describing
the involvement and feelings and characters of
ordinary life which is to me the most wunderful
I ever met with.«
4
5
6
7
8
Walter Scott über Jane Austen
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
1
Northanger Abbey hat von allen Romanen Jane Austens
die ungewöhnlichste Textgeschichte. Das Buch wird zwischen 1797 und 1803 von der erst gut Zwanzigjährigen geschrieben, begonnen aber möglicherweise schon 1790 und
heißt Susan. Dass der erste, in Bath spielende Teil die Spuren von Janes eigenem dortigen Leben zwischen 1801 und
1806 trägt, wird in der genauen Schilderung der Örtlichkeiten deutlich. Wie alle frühen Manuskripte der Autorin
erlebt es seine »Uraufführung« wohl im Familienkreis,
dem Jane mit dem Vorlesen ihrer witzigen und parodistischen Geschichten viel Vergnügen bereitet. Über eine Mittelsperson ihres Bruders Henry wird das Manuskript im
Frühjahr 1803 an den Verleger Crosby für zehn Pfund zur
unmittelbaren Veröffentlichung verkauft. Es muss ein stolzer Augenblick für die junge Dame gewesen sein, der sich
mit der Publikation dieses ersten Buches binnen Jahresfrist
eine literarische Karriere zu eröffnen scheint. Aber obwohl
der Verleger das Autorenhonorar bezahlt hat, unternimmt
er weiter nichts; er kündigt den Band an, ohne ihn je erscheinen zu lassen. Sechs Jahre später schreibt Jane Austen
anonym an Crosby und erkundigt sich nach dem Manuskript. Sie könne nur vermuten, dass es verlorengegangen
298
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 299
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
sei, da es entgegen der Absprache nicht veröffentlicht wurde, und sie erklärt sich bereit, ein zweites Exemplar zu
übersenden, falls das sonst unerklärliche Nichterscheinen
darauf zurückzuführen sei. Crosby antwortet mit dem Angebot, ihr das Manuskript zum selben Preis wieder zu
überlassen. Eine Erklärung gibt er nicht, nur verbittet er
sich die anderweitige Veröffentlichung, solange er rechtmäßig im Besitz des Manuskriptes sei. Erst 1816, als Jane
Austen schon mehrere Romane publiziert hat und sich ihre
Anonymität langsam zu lüften beginnt, macht sie von dem
Angebot des Rückkaufs Gebrauch. Dass die geachtete Autorin von Sense and Sensibility, Pride and Prejudice,
Mansfield Park und Emma die Verfasserin des Buches ist,
das er so vernachlässigt hat, erfährt Crosby erst, als er die
Rechte daran wieder abgetreten hat.
Jane Austen bearbeitet das unterdessen gut fünfzehn
Jahre alte Manuskript, legt es dann aber zunächst zugunsten ihres neuen Romans Persuasion vorläufig wieder zur
Seite. Daher kommt es wieder nicht zur unmittelbaren Publikation und diesmal mit tragischen Folgen: 1817 stirbt
Jane Austen im Alter von zweiundvierzig Jahren. Ihr Bruder nimmt sich ihrer beiden noch unveröffentlichten Romane an, und so erscheinen 1818 ihr frühes und ihr letztes
Werk postum und mit einer biographischen Notiz, aus der
die Öffentlichkeit zum erstenmal erfährt, wer sich hinter
den immer größere Aufmerksamkeit findenden Romanen
verbirgt, die ohne Autorennamen, nur mit dem Hinweis
»by a lady« erschienen sind. »Ihr der Nützlichkeit, Literatur und Religion gewidmetes Leben«, schreibt Henry Austen, »war keineswegs ein ereignisreiches Leben.« Warum
Crosby das Manuskript zurückgehalten hat, lässt sich nur
vermuten. Fürchtete er einen finanziellen Misserfolg? Passte es nicht in sein Verlagsprogramm? War die »gothic no299
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 300
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
vel«, der gotische Schauerroman der Zeit, ihm noch zu populär, als dass er es riskieren wollte, mit einer offensichtlichen Parodie dieses in den neunziger Jahren unglaublich
beliebten und erfolgreichen Romantyps ans Licht zu treten? Jedenfalls raubte die verspätete Publikation dem Buch
einen Teil seiner unmittelbaren Aktualität, denn 1818 war
die große Zeit des gotischen Romans vorüber, obwohl gerade in dieser Zeit noch zwei späte Meisterwerke der Gattung
erschienen: Frankenstein or the Modern Prometheus (1818)
von Mary Shelley (1797–1851) und Melmouth the Wanderer (1820) von Charles Maturin (1780–1824). In diesen späteren Werken des Genres fällt auf, dass in ihrem Mittelpunkt nicht mehr das beschützenswerte junge Mädchen
steht, sondern der »romantische« Held, von seinen Begierden getrieben, dem Teufel verfallen oder dem Wissensdurst
hingegeben. Der gotische Roman ist noch heute weitgehend tot, oder, anders gesagt: paradoxerweise lebt er heute
am intensivsten gerade in Jane Austens Parodie. Henry
Austen hat recht gehabt, als er in seiner biographischen
Notiz auch bemerkte: »Aber vielleicht leben ja die Werke
der Autorin ebensolange wie die, die mit mehr éclat über
die Welt hereingebrochen sind.«
Während Northanger Abbey durch die Verzögerungen
unzeitgemäß spät erscheint, macht gerade diese Verspätung deutlich, dass Jane Austens literarische Produktion
enger mit dem Beginn des realistischen englischen Romans
im 19. Jahrhundert zusammengehört. Nicht der Schauerroman erregt um 1820 die Gemüter; das Interesse hat sich
anderen Romantypen zugewandt, in denen die genaue, detaillierte und unsensationelle Beschreibung der tatsächlich
gelebten und erlebten Wirklichkeit eine größere Rolle
spielt und für die der Name Walter Scott repräsentativ ist.
In seinen Romanen verbindet sich die Vorliebe für die nun
300
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 301
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
nicht mehr so phantastisch übersteigerte und entwirklichte
Historie mit dem Gefallen an der unverwechselbaren Eigenart einzelner britischer Regionen: Waverley, die Darstellung des letzten Versuchs der Stuarts, in der Mitte des
18. Jahrhunderts den englischen Thron von Schottland aus
zurückzuerobern, erscheint 1814 und Ivanhoe, die Geschichte des edlen Ritters zur Zeit von Richard Löwenherz
und Robin Hood, 1819. Bei Scott oder in Susan Ferriers
(1782–1854) Roman Marriage, der im selben Jahr wie
Northanger Abbey herauskommt und öfter mit Jane Austens Büchern verglichen worden ist, gibt Schottland den literarischen Reiz her.
Fast programmatisch weist Jane Austen den Leser schon
im zweiten Kapitel darauf hin, dass sie vorhat, seine aufs
Unwahrscheinlich-Phantastische gerichteten Erwartungen
zu enttäuschen, indem sie das Märchenhafte im Leben einer Heldin ausmalt, aber dann als nicht wirklich entlarvt.
In diesem Fall beschreibt sie Catherines Abschied, wie er
nach den Romankonventionen der Zeit stattfinden müsste
und wie er sich wirklich abgespielt hat, und dabei betont sie
den eben skizzierten Gegensatz zwischen dem alten und
dem neuen Typ von Roman: Ȇberhaupt wurde von Seiten
der Morlands alles, was diese bedeutsame Reise anging, mit
einem Grad von Mäßigung und Gefasstheit getan, die eher
den alltäglichen Empfindungen alltäglicher Menschen entsprach als den hochgespannten Erwartungen, den zärtlichen Gefühlen, die die erste Trennung einer Romanheldin
von ihrer Familie eigentlich auslösen sollte […].«
Und so erscheint denn letztlich der Publikationstermin
von Jane Austens verspätetem Jugendwerk doch als recht
glücklich: Ihr Buch braucht den Abstand zum gotischen
Roman, damit erkennbar wird, wie sie ihn im Bewusstsein
neuerer Entwicklungen kritisiert, zu denen sie selbst beige301
Austen, Kloster Northanger
7.9.11 Z:/UB/Pageone/ub20061/2700571-u Seite 302
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
tragen hat. Aber außerdem erscheint es nun im selben Jahr
wie die andere glänzende, wenn auch intellektuellere und
mehr auf die Romantik zielende Parodie des gotischen
Romans, Nightmare Abbey von William Love Peacock
(1785– 1866), das mit der ironischen Beschreibung eines
mittelalterlichen Familiensitzes beginnt, wie ihn Catherine
Morland erst im zweiten Teil von Northanger Abbey zu sehen bekommt: »Kloster Alptraum, ein ehrwürdiger Familiensitz im höchst malerischen Zustand von Halbverfallenheit […].«
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
2
Die für die Entwicklung der gotischen Mode im England
des 18. Jahrhunderts wichtigste Gestalt, die freilich auf
früheren Ansätzen aufbauen kann, ist Horace Walpole
(1717–97), vierter Earl of Oxford und langjähriges Mitglied des Parlaments. Er lässt sich in den sechziger Jahren
sein Landhaus Strawberry Hill in gotischem Stil und mit
unregelmäßigem Grundriss bauen und veröffentlicht 1764
den ersten gotischen Roman: The Castle of Otranto. Auch
in Deutschland beginnt ja etwa um diese Zeit die Mittelalter-Begeisterung, für die Goethes Kult des Straßburger
Münsters und sein Götz von Berlichingen (1773) frühe
und bekannte Beispiele sind. Aber während sich in
Deutschland diese gotischen Elemente erst in der Romantik wirklich durchsetzen und Teil einer Weltanschauung
werden, bestimmen sie in England schon in den letzten
dreißig Jahren des 18. Jahrhunderts die Mode. Man baut
gotische Gebäude oder lässt sich seine Bibliothek mit gotischen Ornamenten verzieren, zimmert gotisches Mobiliar
oder malt gotische Bilder mit pittoresk verfallenen Burgen,
schreibt Friedhofsdichtung oder gotische Romane, die in
302
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 5
1
2
3
4
5
6
Kapitel 1
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Schön, aufgeweckt und reich, bei einem sorgenfreien Zuhause und einem glücklichen Naturell war Emma Woodhouse offenbar mit einigen der erfreulichsten Vorzüge des
Daseins gesegnet und hatte beinahe einundzwanzig Jahre
fast ohne jeden Anlass zu Kummer und Verdruss auf dieser Welt verbracht.
Sie war die jüngere von zwei Töchtern eines höchst zärtlichen und nachsichtigen Vaters und durch die Heirat ihrer
Schwester schon recht früh Herrin seines Hauses geworden.
Ihre Mutter war schon zu lange tot, als dass sich für Emma
mit der Erinnerung an sie mehr als unbestimmte Vorstellungen von Zärtlichkeit verbunden hätten, und ihren Platz
hatte eine ausgezeichnete Erzieherin eingenommen, deren
liebende Zuneigung der einer Mutter kaum nachstand.
Sechzehn Jahre hatte Miss Taylor in Mr. Woodhouses
Familie mehr als Freundin denn als Erzieherin verbracht
und zu beiden Töchtern, besonders aber zu Emma ein enges Verhältnis gehabt. Zwischen ihnen herrschte eher die
Vertrautheit von Schwestern. Schon lange bevor Miss Taylor aufgehört hatte, ihr Amt als Erzieherin auszuüben, hatte sie in ihrer Nachsicht Emma fast immer gewähren lassen, und da auch der bloße Schatten von Autorität längst
verschwunden war, lebten sie als unzertrennliche Freundinnen miteinander, wobei Emma tat, was sie wollte: Zwar
schätzte sie Miss Taylors Urteil sehr, aber sie folgte im
Wesentlichen ihrem eigenen.
5
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 6
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Das eigentliche Problem bestand deshalb darin, dass
Emma zu leicht ihren Willen bekam und dazu neigte, eher
zu viel von sich zu halten. Hier lauerten Gefahren, die ihrem ungetrübten Dasein drohten. Vorläufig allerdings war
sie sich ihrer so wenig bewusst, dass sie sie durchaus nicht
als Verhängnis empfand.
Und doch stand ihr Kummer bevor, gelinder Kummer
allerdings und keineswegs in Gestalt von unliebsamer
Selbsterkenntnis. Miss Taylor heiratete. Der Abschied von
Miss Taylor brachte Emma den ersten seelischen Schmerz.
Am Hochzeitstag ihrer geliebten Freundin hing sie zum
ersten Mal längere Zeit trüben Gedanken nach. Die Feier
war vorüber, das Brautpaar fort, und ihr Vater und sie
mussten sich allein und ohne Aussicht auf Gesellschaft, die
ihnen den langen Abend verkürzen half, zum Dinner1 niedersetzen. Ihr Vater legte sich wie üblich nach dem Essen
hin, und ihr blieb nichts übrig, als dazusitzen und über ihren Verlust nachzudenken.
Ihrer Freundin versprach die Heirat alle Aussicht auf
dauerhaftes Glück. Mr. Weston war ein Mann von vortrefflichem Charakter, beträchtlichem Vermögen, passendem Alter und angenehmen Umgangsformen, und es lag
ein gewisser Trost darin, dass sie aus Freundschaft die Partie uneigennützig und großzügig immer selbst gewünscht
und gefördert hatte; aber leicht fiel es ihr nicht. Tagtäglich
und von morgens bis abends würde ihnen Miss Taylor fehlen. Sie rief sich ihre Herzlichkeit ins Gedächtnis zurück,
die Herzlichkeit und Zuneigung von sechzehn Jahren: wie
sie sie seit ihrem fünften Lebensjahr unterrichtet und mit
ihr gespielt hatte; wie sie alles getan hatte, um sie anzuregen und zu unterhalten, wenn sie gesund war, und sie bei
den verschiedenen Kinderkrankheiten gepflegt hatte. Sie
war ihr zu großem Dank verpflichtet, aber das Beisammen6
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 7
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
sein der letzten sieben Jahre, der Umgang auf gleichem
Fuß und das völlige gegenseitige Vertrauen, das sich eingestellt hatte, als sie nach Isabellas Heirat noch mehr aufeinander angewiesen waren, war ihr in der Erinnerung noch
teurer und lieber. Sie war eine Freundin und Gefährtin gewesen, wie nur wenige sie besaßen, lebensklug, gebildet,
unentbehrlich, gleichmäßig freundlich, mit allen Familienangelegenheiten vertraut, an allen familiären Problemen
interessiert und besonders an ihr, an all ihren Vergnügungen und Plänen. Mit ihr konnte sie alles besprechen, was
ihr in den Sinn kam, und Miss Taylor liebte sie zu sehr, als
dass sie an ihr jemals etwas auszusetzen gehabt hätte.
Wie sollte sie diese Umstellung nur ertragen? Es
stimmte zwar, dass ihre Freundin nicht mehr als eine halbe
Meile entfernt wohnte, aber Emma wusste nur zu gut,
welcher Unterschied zwischen einer Mrs. Weston, nicht
mehr als eine halbe Meile entfernt, und einer Miss Taylor
im Haus bestehen würde, und bei all ihren natürlichen Gaben und häuslichen Möglichkeiten war sie nun in Gefahr,
geistig zu verkümmern. Sie liebte ihren Vater herzlich,
aber er war keine Gesellschaft für sie. Er war ihr im ernsten und scherzhaften Gespräch nicht gewachsen.
Ihr unglückseliger Altersunterschied (und Mr. Woodhouse hatte nicht gerade früh geheiratet) wurde noch wesentlich durch seinen Gesundheitszustand und seine Gewohnheiten vergrößert, denn da er in seiner geistigen und
körperlichen Unbeweglichkeit sein Leben lang ein kränkelnder Mann gewesen war, wirkte er älter, als er war; und
wenn er auch wegen seiner Herzensgüte und seiner immer
gleichbleibenden Freundlichkeit überall sehr beliebt war,
hatte er doch nie durch Talente geglänzt.
Obwohl Emmas Schwester nur sechzehn Meilen entfernt in London wohnte, also durch die Heirat nicht ei7
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 8
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
gentlich von ihrer Familie getrennt war, war sie natürlich
für den täglichen Umgang zu weit weg, und man musste in
Hartfield viele lange Oktober- und Novemberabende überstehen, bevor Isabella und ihr Mann mit ihren kleinen
Kindern zu Weihnachten zu Besuch kamen, um das Haus
endlich wieder mit ihrer unterhaltsamen Gesellschaft zu
füllen.
Highbury, das große und seiner Einwohnerzahl nach
fast städtische Dorf, zu dem Hartfield trotz seines eigenen
Namens und seines getrennten Grund und Bodens eigentlich gehörte, konnte ihr keine ebenbürtige Gesellschaft bieten. Die Woodhouses waren dort die angesehenste Familie.
Man sah allgemein zu ihnen auf. Sie hatten zwar viele Bekannte, denn ihr Vater war zuvorkommend zu jedermann,
aber es gab niemand unter ihnen, den sie anstelle von Miss
Taylor auch nur einen halben Tag akzeptiert hätte. Es war
schon eine trostlose Umstellung, und Emma konnte darüber nur seufzen und sich Unerfüllbares wünschen, bis
ihr Vater erwachte und sie wieder Heiterkeit ausstrahlen
musste, denn er brauchte Aufmunterung. Er war kein ausgeglichener Mensch, sondern neigte zu Depressionen; er
hing an Menschen, an die er gewöhnt war, und ließ sie ungern gehen, denn jeder Wechsel war ihm zuwider. Die Ehe
als Quelle der Veränderung war immer eine leidige Sache,
und er hatte sich noch nicht einmal mit der Heirat seiner
eigenen Tochter abgefunden und sprach von ihr immer in
mitleidigem Ton, obwohl es doch ganz und gar eine Liebesheirat gewesen war, als er sich nun auch noch von Miss
Taylor trennen sollte. Da er auf seine leise Art zum Egoismus neigte und sich nicht vorstellen konnte, dass andere
Menschen nicht seiner Meinung waren, zweifelte er nicht
daran, dass Miss Taylor sich selbst und ihnen einen
schlechten Dienst erwiesen hatte und viel glücklicher ge8
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 9
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
wesen wäre, wenn sie den Rest ihres Lebens in Hartfield
verbracht hätte. Emma lächelte und plauderte, so heiter sie
nur konnte, damit er nicht auf solche trüben Gedanken
verfiel, aber als der Tee serviert wurde, konnte er sich nicht
enthalten zu wiederholen, was er schon bei Tisch gesagt
hatte:
»Arme Miss Taylor! Wenn sie nur wieder hier wäre. Es
ist ein wahrer Jammer, dass Mr. Weston ausgerechnet auf
sie verfallen musste.«
»Ich kann dir nicht zustimmen, Papa, das weißt du genau. Mr. Weston ist ein so umgänglicher, angenehmer und
ausgezeichneter Mann, dass er eine gute Frau von Herzen
verdient, und du kannst doch nicht wollen, dass Miss Taylor ihr Leben bei uns verbringt und meine Launen über
sich ergehen lässt, wenn sie ein eigenes Haus haben kann.«
»Ein eigenes Haus! Wo ist der Vorteil bei einem eigenen Haus? Unseres ist dreimal so groß, und du hast doch
gar keine Launen, mein Kind.«
»Und wie oft wir uns gegenseitig besuchen werden!
Wir werden uns ständig sehen! Wir müssen den Anfang
machen, wir müssen ihnen möglichst bald einen Hochzeitsbesuch machen.«
»Mein Kind, wie soll ich denn zu ihnen hinkommen?
Randalls ist doch viel zu weit. Wie soll ich denn zu Fuß zu
ihnen hinkommen?«
»Nein, Papa, wer denkt denn an zu Fuß gehen? Wir
fahren natürlich mit der Kutsche.«
»Mit der Kutsche! Aber es ist James bestimmt nicht
recht, für einen so kurzen Weg die Pferde anzuspannen,
und wo sollen die armen Pferde bleiben, während wir den
Besuch machen?«
»In Mr. Westons Stall natürlich, Papa. Das haben wir
doch alles schon besprochen. Wir haben alles gestern
9
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 10
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Abend mit Mr. Weston verabredet. Und was James betrifft,
so kannst du sicher sein, dass er immer gerne nach Randalls
fährt, weil seine Tochter dort Dienstmädchen ist. Ich bezweifle höchstens, dass er uns noch irgendwo anders hinfahren will. Dafür hast du gesorgt, Papa. Du hast Hannah
die gute Stelle besorgt. Niemand hat an Hannah gedacht,
bis du darauf gekommen bist. James ist dir so dankbar.«
»Ich bin froh, dass ich daran gedacht habe. Es ist ein
Glück, denn ich möchte auf keinen Fall, dass der arme
James denkt, wir übergehen ihn, und außerdem bin ich
überzeugt, dass sie ein sehr adrettes Hausmädchen ist. Sie
ist ein höfliches Kind und weiß sich nett auszudrücken. Ich
halte viel von ihr. Immer wenn ich sie sehe, knickst sie und
fragt mich sehr adrett, wie es mir geht, und wenn sie zum
Handarbeiten hier ist, dann fällt mir immer auf, dass sie
den Türknopf richtig dreht und nicht mit der Tür knallt.
Sie wird bestimmt ein ausgezeichnetes Stubenmädchen,
und es ist eine Wohltat für die arme Miss Taylor, jemanden um sich zu haben, den sie schon kennt. Immer wenn
James seine Tochter besucht, hört Miss Taylor dann auch
gleich von uns. Er kann ihr erzählen, wie es uns allen
geht.«
Emma gab sich alle Mühe, das Gespräch in diesem erfreulicheren Fahrwasser zu halten, und hoffte, mit Hilfe
von Backgammon ihren Vater einigermaßen durch den
Abend zu schleusen, so dass sie nur mit ihrer eigenen Niedergeschlagenheit zu kämpfen hatte. Aber kaum war der
Spieltisch aufgestellt, da trat ein Besucher ins Zimmer und
machte diese Mühe überflüssig.
Mr. Knightley, ein Mann von Charakter, etwa siebenoder achtunddreißig Jahre alt, war nicht nur ein sehr alter
und enger Freund der Familie, sondern ihr als älterer Bruder von Isabellas Mann noch besonders verbunden. Er
10
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 11
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
wohnte ungefähr eine Meile von Highbury entfernt und
war ein ständiger, immer willkommener Besucher – heute
mehr denn je, da er gerade von ihren gemeinsamen Verwandten aus London zurückkam. Er war einige Tage fort
gewesen und hatte, zu einem späten Dinner heimgekehrt,
nun einen Spaziergang nach Hartfield gemacht, um zu berichten, am Brunswick Square2 gehe es allen gut. Es war
ein glücklicher Umstand, und er hielt Mr. Woodhouse eine
Zeitlang bei guter Laune. Mr. Knightley wirkte anregend,
was Emmas Vater immer guttat, und seine vielen Fragen
nach der »armen Isabella« und ihren Kindern wurden zu
seiner vollen Zufriedenheit beantwortet. Als seine Neugier
gestillt war, bemerkte Mr. Woodhouse dankbar: »Wie nett
von Ihnen, Mr. Knightley, noch zu dieser späten Stunde
herüberzukommen. Es muss ein scheußlicher Gang gewesen sein.«
»Keineswegs, Sir3, es ist eine wunderschöne Mondnacht und so milde, dass ich weiter von Ihrem großen Kaminfeuer wegrücken muss.«
»Aber es muss doch nasskalt und schmutzig draußen
sein. Hoffentlich haben Sie sich keine Erkältung geholt.«
»Schmutzig, Sir! Sehen Sie meine Schuhe an. Nicht ein
Spritzer!«
»Nanu, das ist ja eigenartig, denn hier hat es richtig gegossen. Beim Frühstück hat es eine halbe Stunde lang
furchtbar gegossen. Ich wollte sogar die Hochzeit verschieben lassen.«
»Apropos, ich habe Ihnen noch gar nicht zu dem freudigen Ereignis gratuliert. Aber da ich ja weiß, wie Sie beide
sich bei dem freudigen Ereignis fühlen, war es mir mit den
Glückwünschen nicht eilig. Ich hoffe, es ist alles gut verlaufen? Wie war Ihnen allen zumute? Wer hat am meisten
geschluchzt?«
11
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 12
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
»Ach, die arme Miss Taylor! Was für eine traurige Geschichte!«
»Die armen Woodhouses, wenn ich bitten darf, denn
›die arme Miss Taylor‹ kann ich beim besten Willen nicht
sagen. Ich schätze Emma und Sie sehr, aber wenn es um
Abhängigkeit und Unabhängigkeit geht, kein Zweifel, man
dient lieber einem Herrn als zweien.«
»Besonders, wenn einer von beiden ein so launisches,
anspruchsvolles Geschöpf ist«, rief Emma halb im Scherz.
»Das wollten Sie doch damit sagen, nicht wahr? Und Sie
hätten es auch gesagt, wenn mein Vater nicht hier wäre.«
»Ich glaube, er hat völlig recht, mein Kind«, sagte
Mr. Woodhouse mit einem Seufzer. »Ich fürchte, manchmal bin ich wirklich launisch und anspruchsvoll.«
»Aber liebster Papa! Du glaubst doch nicht im Ernst,
Mr. Knightley oder ich hätten dich gemeint. Was für ein
haarsträubender Gedanke! Nein, nein, ich habe nur mich
gemeint. Mr. Knightley hat immer etwas an mir auszusetzen, im Spaß natürlich, alles nur im Spaß. Wir sagen uns
immer offen die Meinung.«
Mr. Knightley war tatsächlich einer der wenigen Menschen, die an Emma Woodhouse etwas auszusetzen hatten,
und der einzige, der es ihr auch sagte; und wenn schon
Emma selbst das nicht besonders schätzte, ihrem Vater gefiel es, wie sie wusste, so ganz und gar nicht, dass er auf
keinen Fall Verdacht schöpfen sollte, sie werde nicht von
jedermann für vollkommen gehalten.
»Emma weiß genau, dass ich ihr niemals schmeichle«,
sagte Mr. Knightley, »aber ich hatte an niemanden im Besonderen gedacht. Miss Taylor war daran gewöhnt, zwei
Herren zu dienen; jetzt hat sie nur noch einen. Dabei kann
sie doch nur gewinnen.«
»Gut«, sagte Emma, geneigt, den Fall auf sich beruhen
12
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 13
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
zu lassen. »Sie wollten von der Hochzeit hören, und ich
berichte Ihnen gern davon, denn wir haben uns alle ganz
reizend benommen. Alle waren pünktlich, zeigten sich von
ihrer besten Seite, keine Tränen, kaum lange Gesichter.
Nein, nein, wir wussten ja alle, dass wir auch nur eine halbe Meile voneinander entfernt sein und uns natürlich täglich sehen würden.«
»Die liebe Emma, sie trägt alles so gefasst«, sagte ihr
Vater, »aber in Wirklichkeit, Mr. Knightley, geht ihr der
Verlust Miss Taylors sehr nahe, und ich bin sicher, sie wird
ihr viel mehr fehlen, als sie ahnt.«
Emma wandte sich, zwischen Lachen und Weinen
schwankend, ab.
»Es ist ganz ausgeschlossen, dass eine solche Freundin
Emma nicht fehlen sollte«, sagte Mr. Knightley. »Wenn wir
das annehmen müssten, Sir, würden wir sie weniger gernhaben. Aber sie weiß auch, wie vorteilhaft die Heirat für
Miss Taylor ist; sie weiß, wie erfreulich es für Miss Taylor
sein muss, in ihrem Alter Herrin eines eigenen Zuhause
und unter so günstigen Bedingungen für ihr Leben versorgt
zu sein, und daher muss ihre Freude ihren Schmerz überwiegen. Alle wahren Freunde von Miss Taylor können nur
froh sein, dass sie sich so glücklich verheiratet hat.«
»Und einen Anlass zur Freude für mich haben Sie noch
vergessen«, sagte Emma, »und zwar einen ganz besonderen: dass ich die Ehe zustande gebracht habe. Ich habe die
Ehe nämlich vor vier Jahren zustande gebracht; und sie tatsächlich stattfinden zu sehen und recht zu behalten, obwohl so viele Leute überzeugt waren, Mr. Weston werde
nicht wieder heiraten, ist Entschädigung genug für mich.«
Mr. Knightley sah sie kopfschüttelnd an. Ihr Vater antwortete liebevoll: »Ach, mein Kind, wenn du nur nicht
immer Heiratspläne schmieden und Voraussagen machen
13
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 14
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
würdest, denn alles, was du sagst, geht in Erfüllung. Lass
bitte die Finger davon.«
»Für mich selbst will ich das gern versprechen, Papa,
aber für andere Leute muss ich unbedingt weiter Heiratspläne schmieden. Das ist das größte Vergnügen der Welt!
Und dann noch nach diesem Erfolg! Alle waren überzeugt,
Mr. Weston werde nicht wieder heiraten. Um Gottes willen, nein, Mr. Weston, der schon so lange Witwer war und
anscheinend ohne Frau so vollkommen zufrieden, ständig
mit seinen Geschäften in London befasst und immer gut
gelaunt, Mr. Weston brauchte doch nicht einen einzigen
Abend im Jahr alleine zu Hause zu verbringen, wenn er
nicht wollte. O nein, Mr. Weston würde bestimmt nicht
wieder heiraten. Einige Leute wollten sogar von einem
Versprechen wissen, das er seiner Frau auf dem Totenbett
gegeben, und andere davon, dass sein Sohn und dessen
Onkel es ihm verboten hatten. Aller möglicher Unsinn
wurde verkündet, aber ich hielt kein Wort davon für wahr.
Seit dem Tag (vor ungefähr vier Jahren), als Miss Taylor
und ich ihn auf der Broadway Lane trafen und er, weil es
zu nieseln anfing, mit so viel Galanterie davonschoss und
für uns zwei Regenschirme von Bauer Mitchell lieh, war es
für mich beschlossene Sache. Von dem Augenblick an habe
ich die Ehe sorgfältig geplant, und jetzt, wo mein Werk
von solchem Erfolg gekrönt worden ist, lieber Papa, soll ich
das Heiratspläneschmieden aufgeben?«
»Ich verstehe nicht, was du mit ›Erfolg‹ meinst«, sagte
Mr. Knightley. »Erfolg setzt Bemühung voraus. Du hast
deine Zeit wahrlich sinnvoll und angemessen verbracht,
wenn du dich die letzten vier Jahre bemüht hast, diese Ehe
zustande zu bringen. Eine würdige Beschäftigung für eine
junge Dame! Aber wenn, was ich fast vermute, dein Heiratspläneschmieden, wie du es nennst, nur heißen soll,
14
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 15
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
dass du sie geplant hast, indem du eines schönen Tages zu
dir gesagt hast: ›Ich glaube, Mr. Weston wäre eine gute
Partie für Miss Taylor‹, und wenn du dir das lang genug
eingeredet hast, warum sprichst du dann von Erfolg? Wo
ist dein Verdienst? Worauf bist du stolz? Du hast richtig
geraten, das ist alles.«
»Und kennen Sie nicht das Vergnügen und den Triumph, richtig geraten zu haben? Dann tun Sie mir leid. Ich
hatte Sie für klüger gehalten, denn verlassen Sie sich darauf, richtig zu raten ist niemals bloßes Glück. Eine gewisse
Begabung gehört immer dazu, und was mein unglückliches
Wort ›Erfolg‹ angeht, um das Sie sich zanken wollen, so
glaube ich nicht, dass ich keinerlei Anspruch darauf habe.
Sie haben zwei hübsche Standpunkte formuliert, aber ich
finde, es gibt noch einen dritten, eine Möglichkeit zwischen
Nichtstun und Allestun. Wenn ich Mr. Westons Besuche
bei uns nicht ermutigt und hier und da ein bisschen nachgeholfen und allerlei Unebenheiten geglättet hätte, wäre
aus allem vielleicht gar nichts geworden. Sie kennen ja
Hartfield gut genug, um zu wissen, was ich meine.«
»Ein aufrichtiger und offener Mann wie Mr. Weston
und eine vernünftige und unaffektierte Frau wie Miss Taylor kann man getrost sich selbst überlassen. Wahrscheinlich hast du mit deinem Eingreifen eher dir selbst geschadet als ihnen genützt.«
»Emma denkt nie an sich selbst, wenn sie anderen helfen kann«, mischte sich Mr. Woodhouse wieder ein, der
nur die Hälfte verstand. »Aber, Kind, tu mir den Gefallen,
schmiede keine Heiratspläne mehr. Ehen sind Unsinn. Es
ist traurig, wie sie die häusliche Gemütlichkeit zerstören.«
»Nur eine Ehe noch, Papa, nur Mr. Eltons. Der arme
Mr. Elton! Du magst ihn gern, Papa. Ich muss mich nach
einer Frau für ihn umsehen. In Highbury gibt es niemand,
15
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 16
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
der ihn verdient. Er ist nun schon ein ganzes Jahr hier und
hat sein Haus so gemütlich eingerichtet, dass es ein Jammer wäre, wenn er nicht bald heiratete. Und als er heute
die Hände des Brautpaars zusammentat, sah er aus, als ließe er sich diesen freundlichen Dienst auch nicht ungern
gefallen.«
»Mr. Elton ist ein adretter junger Mann, ohne Frage,
und ein ausgezeichneter junger Mann, und ich mag ihn
wirklich gern. Aber wenn du ihm einen Gefallen tun
willst, mein Kind, lade ihn eines Tages zum Essen bei uns
ein. Das scheint mir sinnvoller. Mr. Knightley ist sicher so
freundlich, auch zu kommen.«
»Mit dem größten Vergnügen, Sir, jederzeit«, sagte
Mr. Knightley lachend, »und ich bin völlig Ihrer Meinung,
dass es viel sinnvoller wäre. Lade ihn zum Essen ein,
Emma, setz ihm einen schönen Braten vor, aber um eine
Frau lass ihn sich selber kümmern. Verlass dich darauf, ein
Mann von sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren kann für sich selber sorgen.«
20
21
22
23
Kapitel 2
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Mr. Weston stammte aus einer angesehenen Familie in
Highbury, die seit zwei oder drei Generationen immer
mehr zu Ansehen und Wohlstand gelangt war. Er hatte
eine gute Erziehung erhalten, aber da er schon früh zu finanzieller Unabhängigkeit gekommen war, hatte er sich
für die solide berufliche Laufbahn seiner Brüder nicht
interessiert und seinen lebendigen, aufgeschlossenen Geist
und sein Bedürfnis nach Geselligkeit dadurch befriedigt,
dass er Offizier geworden war.
16
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 584
1
Nachwort
2
3
4
»The balance of her gifts was singularly perfect.«
5
Virginia Woolf über Jane Austen
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
1
»Emma. Ein Roman. In drei Bänden. Von der Autorin von Pride
and Prejudice etc. etc.« erschien – mit dem Druckdatum 1816 –
im Dezember 1815 und bildet in jeder Hinsicht den Höhepunkt
von Jane Austens (1775–1817) Karriere. Schon der Name des
Verlegers deutet darauf hin, denn John Murray, der zusammen
mit den Rechten an Emma auch die der Neuauflagen der schon
erschienenen Werke der Schriftstellerin erwarb, war der berühmteste Londoner Verleger seiner Zeit und betreute solche literarischen Zelebritäten wie Lord Byron und Walter Scott. Wenn man
sich erinnert, dass Jane Austen 1803 ihr erstes Romanmanuskript, das spätere Northanger Abbey, für zehn Pfund an den
Verleger Crosby verkaufte, ohne dass dieser es je veröffentlichte,
und sie es 1816 zum selben Preis wieder zurückerwarb, dann wird
der literarische Aufstieg der Autorin deutlich, deren Bücher von
nun an bei Murray erschienen.
Emma verschaffte Jane Austen allerdings auch außerhalb der
literarischen Welt ein Ansehen, wie sie es vorher nicht gekannt
hatte: Der Prinzregent, der spätere König Georg IV., lud sie für
den 13. November 1815 zu einer Besichtigung der Bibliothek seiner Londoner Residenz Carlton House ein und ließ ihr durch seinen Bibliothekar ausrichten, dass ihm eine Widmung ihres
nächsten Romans willkommen sein würde. So erschien Emma
einen Monat später mit einer Widmung an den Regenten »von
seiner königlichen Hoheit pflichtbewusster und gehorsamer, untertäniger Dienerin«, und die Autorin ließ drei Tage vor dem eigentlichen Erscheinungstermin ein in rotes Leder gebundenes
Exemplar nach Carlton House schicken.
Aber sie erhielt nicht nur ein solches Zeichen königlicher
Huld; auch die angesehenste Autorität des Landes im Hinblick
auf den Roman richtete ihre Aufmerksamkeit wohlwollend auf
sie. Im März 1816 erschien in der Quarterly Review, die aller584
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 585
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
dings wiederum der Verleger Murray herausgab, ein anonymer
Artikel von Walter Scott, der sich mit Emma beschäftigte und mit
seinem Umfang von über zehn Seiten als Kritik eines einzelnen
Romans ungewöhnlich lang war, denn dieser eher als minderwertig geltenden literarischen Gattung – Scott selbst hob durch seine
Werke ihr Ansehen beträchtlich – wurden im Allgemeinen nur
kurze, halbseitige Rezensionen zugebilligt. Der schottische Romancier erkannte das im literarischen Kontext der Zeit Charakteristische und Neue an Jane Austens Romanen außerordentlich
klar. Er schreibt:
»Jane Austens Werke gehören zu einem Typ von Roman, der beinahe
erst in unserer eigenen Zeit entstanden ist und der die darin vorkommenden Charaktere und Ereignisse in stärkerem Maße dem alltäglichen Leben entnimmt, als die Regeln des Romans das bisher gestatteten. […] Wir machen der Autorin deshalb kein kleines Kompliment,
wenn wir sagen: Indem sie sich eng an alltägliche Ereignisse und an
Charaktere hält, die ein Durchschnittsleben führen [occupy the ordinary walks of life], hat sie Skizzen von solcher Lebendigkeit und Originalität geschaffen, dass wir auf den Reiz gar nicht angewiesen sind,
den uns eine Erzählung voller außergewöhnlicher Ereignisse verschafft, indem sie uns die Begegnung mit Menschen vermittelt, die
uns an Geist, Gefühl und Lebensart weit überlegen sind. Diesen neuen Typ vertritt sie nahezu allein. [Es folgt die Inhaltsangabe.] Das ist
die einfache Handlung der Geschichte, die wir mit Vergnügen, wenn
nicht mit tieferer Anteilnahme durchlesen und die wir vielleicht lieber wieder in die Hand nehmen als eine der Erzählungen, wo wir
beim ersten Lesen durch starke Neugier aufgeregt und gefesselt werden. […] Die Weltkenntnis der Autorin und der bemerkenswerte
Takt, mit dem sie die Charaktere darstellt, die der Leser nicht umhinkann, wiederzuerkennen, erinnert uns an die malerischen Verdienste
der holländischen Schule. Die Schilderungen sind nicht vornehm und
gewiss niemals grandios, aber sie sind vollkommen lebensgetreu und
mit einer Genauigkeit gezeichnet, die den Leser entzückt.«
Das war zweifellos der Beginn des Ruhms, der großen öffentlichen und literarischen Anerkennung, und keiner konnte ahnen,
dass Emma Jane Austens letzter zu Lebzeiten erscheinender Roman bleiben, dass sie gut ein Jahr später sterben würde. Selten
hat der Tod ein Künstlerleben zu einem unglücklicheren Zeitpunkt beendet.
Die spätere Kritik hat Scotts Eindruck bestätigt, dass Emma
585
Austen, Emma
7.9.11 /Z=/ub/pageone/ub20008/2700570-u Seite 586
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
eine der größten, wenn nicht die größte Leistung Jane Austens,
ihre komplexeste Schöpfung ist: »Das Buch der Bücher […]
Emma ist der Gipfel von Jane Austens Werk; die richtige Würdigung von Emma ist die entscheidende Prüfung für die Anerkennung als Bürger in ihrem Königreich« (R. Farrer, 1917); »Jane
Austens tiefsinnigste Komödie« (D. Cecil, 1935); »Emma bildet
den Höhepunkt ihrer literarischen Leistungen. […] Hier ist ihr
Können am größten, ihre Beherrschung der Materie am sichersten« (M. Shorer, 1959); »Gerade in Emma, wo die Chancen zum
Scheitern aus technischen Gründen besonders groß sind, haben
wir es mit einem der unbezweifelbaren Meister der Erzählkunst
zu tun« (W. Booth, 1961); »ihr vollkommenstes und repräsentativstes Werk« (D. Lodge, 1968).
So wie Pride and Prejudice den Höhepunkt von Jane Austens
früher literarischer Entwicklung darstellt, bildet Emma den Gipfel ihrer reifen Zeit. Der nur dreijährige Abstand bei der Veröffentlichung beider Werke täuscht darüber hinweg, denn ihrer
Entstehungszeit nach zerfallen die sechs vollendeten Romane
Jane Austens in zwei Gruppen: Sense and Sensibility, Pride and
Prejudice und Northanger Abbey sind eigentlich Jugendwerke.
Auch wenn sie 15 bis 20 Jahre später und zum Teil erheblich umgearbeitet erschienen, wurden sie doch in den neunziger Jahren
des 18. Jahrhunderts entworfen und zum Teil auch ausgeführt.
Dann folgten Fragmente, die nie vollendet wurden (Lady Susan,
The Watsons), und dann die drei späten Romane: Mansfield Park,
im Wesentlichen 1813 geschrieben, erschien 1814; Emma, 1814
geschaffen, kam 1815 heraus; und Persuasion (Entstehungszeit
1815/16) wurde 1818, also nach dem Tod der Autorin publiziert.
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
2
Jane Austens früher Tod und das Erscheinen aller ihrer Romane
innerhalb eines Zeitraums von nur sieben Jahren verführen dazu,
die Unterschiede zwischen den früh konzipierten Werken und
den späteren Romanen zu übersehen. Wenn man aber etwa
Emma neben Pride and Prejudice hält, sind durchaus Entwicklungen zu erkennen. Eine recht oberflächliche besteht schon darin,
dass sich die Einstellung der Autorin zu ihrer Heldin – im Zentrum aller Romane Jane Austens steht eine Heldin, aus deren
586
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 5
1
2
3
4
5
6
Kapitel 1
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Vor ungefähr dreißig Jahren hatte Miss Maria Ward aus
Huntingdon mit nur 7000 Pfund Vermögen das große
Glück, Sir Thomas Bertram von Mansfield Park in der
Grafschaft Northampton zu erobern und dadurch mit all
den Annehmlichkeiten und gesellschaftlichen Vorteilen eines stattlichen Hauses und eines ansehnlichen Einkommens in den Rang einer Baronin aufzusteigen. Ganz Huntingdon wusste sich über diese großartige Partie nicht zu
lassen, und sogar ihr eigener Onkel, der Rechtsanwalt, gab
zu, dass ihr mindestens 3000 Pfund fehlten, um solche Ansprüche stellen zu können. Sie hatte zwei Schwestern, denen diese Standeserhöhung nur zugutekommen konnte,
und alle die Bekannten, die Miss Ward und Miss Frances
für mindestens so hübsch wie Miss Maria1 hielten, scheuten sich nicht, ihnen eine beinahe ebenso vorteilhafte Heirat vorauszusagen. Aber natürlich gibt es auf der Welt
nicht so viele Männer mit ansehnlichem Vermögen, wie es
hübsche Frauen gibt, die sie verdienen. Miss Ward sah sich
deshalb nach einem halben Dutzend Jahren genötigt, sich
mit dem Pastor Mr. Norris zu verbinden, einem Freund ihres Schwagers, fast ohne eigenes Vermögen, und Miss
Frances erging es noch schlechter. Ja, Miss Wards Verbindung erwies sich, als es soweit war, als durchaus nicht zu
verachten, da Sir Thomas zum Glück imstande war, seinen
Freund durch die Pfarre von Mansfield mit einem Einkommen zu versorgen, und so begannen Mr. und Mrs. Norris
5
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 6
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
den Werdegang ihres ehelichen Glücks mit kaum weniger
als 1000 Pfund im Jahr. Aber Miss Frances enttäuschte
durch ihre Heirat – wie man so schön sagt – die Erwartungen ihrer Familie, und sie tat das, indem sie einen Marineleutnant ohne Erziehung, Vermögen oder Verbindungen
wählte, ausgesprochen gründlich. Sie hätte kaum eine unvorteilhaftere Wahl treffen können.
Sir Thomas hatte Beziehungen, die er ebenso aus Prinzip wie aus Ehrgefühl, aus einem generellen Wunsch, das
Rechte zu tun, und aus dem Bedürfnis, alle, die mit ihm
verwandt waren, in angemessenen Positionen zu sehen,
gerne zugunsten von Lady Bertrams Schwester hätte spielen lassen, aber bei dem Beruf ihres Mannes war mit seinen Beziehungen nichts zu erreichen; und bevor er Zeit
hatte, sich andere Möglichkeiten der Unterstützung auszudenken, hatte ein endgültiges Zerwürfnis zwischen den
Schwestern stattgefunden. Es ergab sich ganz zwangsläufig
aus dem Verhalten beider Parteien und war bei einer so unklugen Heirat auch kaum anders zu erwarten. Um sich unnötige Vorwürfe zu ersparen, erwähnte Mrs. Price in den
Briefen an ihre Familie das Thema nie, bevor die Heirat
tatsächlich stattgefunden hatte. Lady Bertram, die eine
Frau von ausgesprochen friedfertigem Naturell und bemerkenswert ausgeglichenem Temperament war, hätte sich damit begnügt, ihre Schwester einfach aufzugeben und nicht
weiter an die Sache zu denken; aber Mrs. Norris hatte viel
Unternehmungsgeist, der ihr keine Ruhe ließ, bis sie
Frances einen langen und empörten Brief geschrieben hatte, um ihr die Torheit ihres Schrittes vor Augen zu führen
und ihr alle seine möglichen üblen Folgen anzudrohen.
Mrs. Price ihrerseits war gekränkt und empört; und ihre
Antwort, die beide Schwestern mit Vorwürfen bedachte
und so ausgesprochen abfällige Bemerkungen über Sir
6
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 7
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Thomas’ Ehrgefühl enthielt, dass Mrs. Norris sie auf keinen Fall für sich behalten konnte, machte allem Umgang
zwischen ihnen auf Jahre hinaus ein Ende.
Sie wohnten so weit auseinander und bewegten sich in
so verschiedenen Kreisen, dass während der folgenden elf
Jahre jede Möglichkeit, voneinander zu hören, beinahe
ausgeschlossen war oder es jedenfalls Sir Thomas als ein
Wunder erscheinen ließ, dass Mrs. Norris überhaupt imstande war, ihnen von Zeit zu Zeit mit empörter Stimme
zu erzählen, dass Frances schon wieder ein Kind bekommen habe. Nach Ablauf von elf Jahren allerdings konnte
Mrs. Price es sich nicht länger leisten, sich Stolz oder Gekränktheit hinzugeben oder auf eine Verbindung zu verzichten, von der sie womöglich Hilfe zu erwarten hatte.
Eine große und immer noch wachsende Familie, ein Ehemann, untauglich zu aktivem Dienst, aber Gesellschaft und
teurem Alkohol durchaus nicht abgeneigt, und ein zu geringes Einkommen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen,
ließen es ihr geraten erscheinen, die Freunde wiederzugewinnen, die sie so unbekümmert geopfert hatte, und sie
wandte sich in einem Brief an Lady Bertram, aus dem so
viel Zerknirschung und Verzweiflung sprach, ein solcher
Überfluss an Kindern und ein solcher Mangel an fast allem
anderen, dass eine Versöhnung ihnen allen unerlässlich erschien. Ihr neuntes Kindbett stand bevor, und als sie darüber gejammert und sie um ihre Unterstützung bei der Erziehung des erwarteten Kindes gebeten hatte, ließ sie
durchblicken, wie unentbehrlich sie ihr in Zukunft beim
Unterhalt ihrer acht schon vorhandenen Kinder waren. Ihr
Ältester war ein Junge von zehn Jahren, ein vielversprechender, lebhafter Bursche, der unbedingt in die Welt hinaus wollte – aber was konnte sie tun? Bestand die Möglichkeit, dass er sich Sir Thomas bei der Verwaltung seiner
7
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 8
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Besitzungen in der Karibik nützlich machen konnte? Er
wäre sich für keine Arbeit zu schade? Oder was hielt Sir
Thomas von Woolwich2? Oder wie fing man es an, einen
Jungen in den Orient zu schicken?
Der Brief verfehlte seine Wirkung nicht. Er stellte Frieden und Einvernehmen wieder her. Sir Thomas sandte gutgemeinte Ratschläge und Versicherungen, Lady Bertram
schickte Geld und Babywäsche, und Mrs. Norris schrieb die
Briefe.
Darin bestand der unmittelbare Erfolg, und innerhalb
eines Jahres ergab sich daraus ein noch wesentlicherer Vorteil für Mrs. Price. Mrs. Norris bemerkte oft zu den anderen, dass ihr ihre arme Schwester und deren Familie nicht
aus dem Kopf ging; soviel sie alle auch für sie getan hatten,
sie wollte anscheinend noch mehr tun; und zu guter Letzt
konnte sie nicht umhin, offen zuzugeben, dass es ihr
Wunsch war, die arme Mrs. Price von der Verantwortung
und den Kosten für eins aus der großen Schar ihrer Kinder
gänzlich zu befreien. Wie nun, wenn sie gemeinsam die
Sorge für die Erziehung ihrer ältesten Tochter übernähmen, eines Mädchens von jetzt neun Jahren, einem Alter
also, in dem sie mehr Aufmerksamkeit erfordere, als ihre
Mutter ihr auch beim besten Willen geben könne? Die
Mühe und die Kosten für sie fielen im Verhältnis zu der
dadurch bewirkten Wohltat gar nicht ins Gewicht. Lady
Bertram stimmte ihr auf der Stelle zu: »Ich finde, wir können nichts Besseres tun«, sagte sie. »Wir wollen das Kind
holen lassen.«
Sir Thomas konnte seine Zustimmung nicht so spontan
und ohne weiteres geben. Er widersprach und zögerte. Es
sei eine schwere Verantwortung; wenn man ein Mädchen
aufziehe, müsse man auch später angemessen für sie sorgen, sonst wäre es Grausamkeit und nicht Freundlichkeit,
8
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 9
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
sie ihrer Familie wegzunehmen. Er denke an seine eigenen
vier Kinder, an seine beiden Söhne, an verliebte Vettern
usw. Aber kaum hatte er begonnen, seine Einwände im
Einzelnen vorzutragen, da unterbrach ihn Mrs. Norris mit
einer Antwort, die alle seine Argumente widerlegte – unabhängig davon, ob er sie vorgetragen hatte oder nicht.
»Mein lieber Sir Thomas, ich verstehe Sie vollkommen
und ehre die Großzügigkeit und das Zartgefühl ihrer Empfindungen, die ja auch ganz Ihren sonstigen Einstellungen
entsprechen, und ich stimme in der Hauptsache völlig mit
Ihnen überein, dass es nämlich angebracht ist, alles zu tun,
was man kann, um für ein Kind zu sorgen, für das man auf
diese Weise die Verantwortung übernommen hat, und ich
bin gewiss die Letzte, die bei solcher Gelegenheit nicht ihr
Scherflein beisteuern würde. Da ich selbst keine Kinder
habe, wem soll ich denn das Bisschen hinterlassen, das ich
eines Tages zu vererben habe, wenn nicht den Kindern
meiner Schwestern? Und Mr. Norris ist bestimmt zu großzügig … aber Sie wissen ja, ich bin eine Frau, die nicht
gern große Worte und Bekenntnisse macht. Wir wollen
uns nicht durch eine Kleinigkeit von einer guten Sache abschrecken lassen. Geben Sie einem Mädchen eine Erziehung und führen Sie sie richtig in die Gesellschaft ein, und
ich wette zehn zu eins, dass sie die besten Voraussetzungen
hat, sich gut zu verheiraten, ohne irgendjemandem weitere
Ausgaben zu machen. Eine Nichte von uns, Sir Thomas,
das darf ich wohl sagen, oder wenigstens von Ihnen, würde
nicht ohne wesentliche Vorteile in unserer Gegend aufwachsen … Ich behaupte ja nicht, dass sie so vollkommen
würde wie ihre Kusinen. Das will ich denn doch nicht behaupten, aber sie würde unter so ungewöhnlich günstigen
Umständen in das gesellschaftliche Leben unserer Nachbarschaft eingeführt, dass sie nach menschlichem Ermessen
9
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 10
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
dadurch eine passende Verbindung finden müsste. Sie denken an Ihre Söhne … aber wissen Sie denn nicht, dass das
von allen Möglichkeiten die unwahrscheinlichste ist – so
wie sie aufwachsen würden, immer zusammen wie Geschwister? Es ist nahezu ausgeschlossen. So etwas habe ich
noch nie gehört. Ja, es ist die einzig sichere Methode, die
Verbindung zu verhindern. Angenommen, sie ist ein hübsches Mädchen, und Tom oder Edmund würden sie in sieben Jahren zum ersten Mal sehen, dann gäbe es bestimmt
Ärger. Der bloße Gedanke, dass sie so weit entfernt von
uns allen arm und vernachlässigt aufwachsen musste, würde schon genügen, um einen der beiden lieben, zartfühlenden Jungen für sie entflammen zu lassen. Aber sorgen Sie
dafür, dass sie mit ihnen gemeinsam aufwächst, und angenommen sogar, sie ist schön wie ein Engel, dann wird sie
ihnen niemals mehr sein als eine Schwester.«
»Es steckt viel Wahrheit in dem, was Sie sagen«, erwiderte Sir Thomas, »und es liegt mir denkbar fern, gegen einen Plan, der den Lebensumständen beider Parteien so entspräche, irgendwelche weit hergeholten Einwände zu erheben. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass man sich nicht
leichtfertig darauf einlassen sollte und wir, wenn Mrs. Price
es später nicht bereuen und wir uns vor uns selbst nicht
schämen sollen, für das Kind sorgen oder uns für verpflichtet halten müssen, für sie unter Umständen wie für eine
junge Dame von Stand zu sorgen, wenn sich die Heirat, auf
die Sie so optimistisch vertrauen, nicht anbietet.«
»Ich verstehe Sie voll und ganz«, rief Mrs. Norris, »Sie
sind die Großzügigkeit und Güte selbst, und in diesem
Punkt wird es zwischen uns bestimmt keine Meinungsverschiedenheiten geben. Wenn ich denen, die ich liebe, etwas
Gutes tun kann, tue ich es von Herzen; das wissen Sie ja;
und obwohl ich für dieses kleine Mädchen nie auch nur ei10
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 11
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
nen Bruchteil dessen empfinden könnte, was ich an Zuneigung für Ihre eigenen lieben Kinder aufbringe, oder sie
ebenso wie sie für mein eigen Fleisch und Blut halten
könnte, würde ich es mir doch nie verzeihen, wenn ich imstande wäre, sie zu vernachlässigen. Schließlich ist sie eine
Tochter meiner Schwester, und wie könnte ich es mit ansehen, dass sie Mangel leidet, solange ich noch ein Stück Brot
mit ihr teilen kann? Mein lieber Sir Thomas, bei all meinen
Fehlern habe ich doch ein empfindsames Herz; und arm
wie ich bin, würde ich mir lieber das Nötigste vom Munde absparen, als selbstsüchtig zu handeln. Wenn Sie also
nichts dagegen haben, schreibe ich gleich morgen an meine
arme Schwester und mache ihr den Vorschlag, und sobald
die Angelegenheit geregelt ist, sorge ich dafür, dass das
Kind nach Mansfield kommt; Sie brauchen sich damit keine
Mühe zu machen, und meine eigene Mühe fällt ja niemals
ins Gewicht. Ich werde Nanny deswegen nach London
schicken, und sie kann bei ihrem Vetter, dem Sattler, übernachten, und das Kind soll beauftragt werden, sie dort zu
treffen. Von Portsmouth nach London kann man es unter
der Obhut irgendeiner verlässlichen Person, die zufällig
auch dorthin fährt, ohne weiteres mit der Postkutsche schicken. Die eine oder andere achtbare Kaufmannsfrau fährt
immer nach London.«
Außer gegen den Überfall auf Nannys Vetter erhob Sir
Thomas keine weiteren Einwände; und als man sich dementsprechend für einen respektableren, wenn auch weniger
preisgünstigen Treffpunkt entschieden hatte, galt die Sache
als abgemacht, und man gab sich schon der Vorfreude über
einen so menschenfreundlichen Plan hin. Strenggenommen hätten die Gefühle der Genugtuung nicht gleich verteilt sein dürfen, denn Sir Thomas war fest entschlossen,
der eigentliche und ständige Wohltäter des erwählten Kin11
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 12
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
des zu sein, und Mrs. Norris hatte nicht die geringste Absicht, sich für seinen Unterhalt auch nur im mindesten in
Unkosten zu stürzen. Solange es ans Planen, Mahnen und
Organisieren ging, war sie die Menschenfreundlichkeit
selbst, und niemand wusste besser, wie man andere zu Freigebigkeit zwingen konnte; aber ihre Liebe zum Geld hielt
ihrer Liebe zum Kommandieren durchaus die Waage, und
sie verstand es ganz genauso gut, ihr eigenes zu sparen, wie
das ihrer Freunde auszugeben. Da das Einkommen ihres
Mannes eigentlich ihren Erwartungen nicht entsprach, hatte sie von Anfang an eine sehr strikte Sparsamkeit für
angebracht gehalten, und was als Vorsichtsmaßnahme begonnen hatte, entwickelte sich, obwohl die Kinder als Begründung der ständigen Sorge fehlten, bald zu einer lieben
Gewohnheit. Hätte sie eine Familie zu versorgen gehabt,
hätte Mrs. Norris ihr Geld vielleicht nie gespart; da sie
Sorgen dieser Art aber nicht hatte, gab es nichts, was ihre
Sparsamkeit gebremst oder ihr die angenehme Aussicht
gemindert hätte, ihr Einkommen, das sie ohnehin nie aufbrauchte, jedes Jahr weiter zu vergrößern. Mit dieser herzerwärmenden Einstellung, die von keiner echten Zuneigung
zu ihrer Schwester erschüttert wurde, konnte sie unmöglich mehr für sich in Anspruch nehmen als das Verdienst,
eine so kostspielige gute Tat geplant und arrangiert zu haben, obwohl sie sich womöglich so wenig kannte, dass sie
nach dieser Unterhaltung in dem beglückenden Glauben
nach Hause ins Pfarrhaus zurückging, die großzügigste
Schwester und Tante der Welt zu sein.
Als das Thema zum zweiten Mal erörtert wurde, drückte sie ihre Ansichten deutlicher aus, und Sir Thomas hörte
in Erwiderung auf Lady Bertrams ruhige Frage »Bei wem
soll das Kind zuerst bleiben, Schwester, bei euch oder bei
uns?« mit einiger Überraschung, dass Mrs. Norris völlig
12
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 13
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
außerstande sei, irgendwelche persönliche Verantwortung
für den Schützling zu übernehmen. Er hatte immer angenommen, sie würde als Familienmitglied, als erwünschte
Gefährtin einer Tante, die keine eigenen Kinder hatte, im
Pfarrhaus besonders willkommen sein – aber da hatte er
sich gründlich getäuscht. Mrs. Norris bedauerte sagen zu
müssen, es sei völlig ausgeschlossen, dass das kleine Mädchen, jedenfalls so wie die Dinge augenblicklich lägen, zu
ihnen komme. Der arme Mr. Norris und sein bedenklicher
Gesundheitszustand machten es ganz unmöglich; eher
könne er sich in die Luft erheben als Kinderlärm ertragen.
Wenn er sich aber eines Tages von seiner Gicht erholt habe,
lasse sich natürlich darüber reden. Dann werde sie sie gern
eine Zeitlang übernehmen und die Mühe nicht scheuen;
aber gerade jetzt, wo der arme Mr. Norris ihre ganze freie
Zeit beanspruche … die bloße Erwähnung von so etwas
würde für seine Nerven bestimmt zu viel sein.
»Dann kommt sie wohl besser zu uns«, sagte Lady
Bertram mit äußerster Gefasstheit. Sir Thomas fügte nach
einer kurzen Pause würdevoll hinzu: »Ja, in diesem Haus
soll sie ihre Heimat finden. Wir werden uns bemühen, unsere Pflicht ihr gegenüber zu erfüllen; und hier hat sie wenigstens den Vorteil, gleichaltrige Gefährten und eine ständige Gouvernante zu haben.«
»Ganz recht«, rief Mrs. Norris, »beides sind entscheidende Argumente, und für Miss Lee ist es doch schließlich
ganz gleich, ob sie drei Mädchen zu unterrichten hat oder
nur zwei – das spielt doch keine Rolle für sie. Ich wünschte
nur, dass ich mich nützlicher machen könnte, aber ich tue
wirklich alles, was in meiner Macht steht. Ich gehöre, weiß
Gott, nicht zu denen, die irgendwelche Mühe scheuen, und
Nanny soll sie abholen, auch wenn ich eigentlich meine einzige Stütze im Haus drei Tage gar nicht entbehren kann. Ich
13
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 14
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
nehme an, Schwester, du wirst das Kind in der kleinen weißen Bodenkammer unterbringen, dicht bei den alten Kinderzimmern. Das ist bei weitem der beste Platz für sie, so
dicht bei Miss Lee und nicht weit von euren Töchtern und
in der Nähe der Hausmädchen, die ihr ja beide beim Anziehen helfen und sich um ihre Kleidung kümmern können,
denn ich nehme nicht an, du hältst es für angebracht, dass
Ellis sie ebenso wie eure Mädchen bedient. Ja, ich wüsste
wirklich gar nicht, wo du sie sonst unterbringen könntest.«
Lady Bertram erhob keine Einwände.
»Ich hoffe, sie erweist sich als gutmütig veranlagtes
Mädchen«, fuhr Mrs. Norris fort, »und weiß das ungewöhnliche Glück zu schätzen, dass sie solche Freunde hat.«
»Sollte sie wirklich eine schlechte Veranlagung haben«,
sagte Sir Thomas, »dann dürfen wir sie um unserer eigenen Kinder willen nicht in der Familie behalten; aber es
gibt keinen Grund, ein so großes Übel zu befürchten. Wir
werden sicher vieles an ihr ändern wollen und müssen auf
haarsträubende Unbedarftheit, recht einfältige Ansichten
und eine bestürzende Gewöhnlichkeit ihrer Umgangsformen gefasst sein; aber das sind keine unkorrigierbaren Fehler, und auch für ihre Gefährtinnen sind sie bestimmt keine
Gefahr. Wären meine Töchter jünger als sie, dann hätte ich
ihren Umgang mit einer solchen Hausgenossin als sehr bedenklich angesehen, aber wie die Dinge liegen, hoffe ich,
gibt es von dem Umgang für sie nichts zu befürchten und
für das Kind alles zu hoffen.«
»Da bin ich völlig Ihrer Meinung«, rief Mrs. Norris,
»und das habe ich meinem Mann heute Vormittag auch gesagt. ›Schon das bloße Zusammensein mit ihren Kusinen‹,
hab’ ich gesagt, ›wird eine gute Schule für das Kind sein;
wenn Miss Lee ihr nichts beibrächte, würde sie von ihnen
lernen, gut und geschickt zu sein‹.«
14
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 15
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
»Ich hoffe nur, dass sie meinen armen Mops nicht ärgert«, sagte Lady Bertram, »ich habe Julia gerade erst soweit, dass sie ihn in Ruhe lässt.«
»Wir werden im Hinblick auf den angemessenen Standesunterschied, den man zwischen den Mädchen machen
muss, wenn sie zusammen aufwachsen, mit einigen
Schwierigkeiten rechnen müssen, Mrs. Norris«, sagte Sir
Thomas, »wie man bei meinen Töchtern das Bewusstsein,
wer sie sind, erhalten kann, ohne dass sie deshalb zu gering von ihrer Kusine denken, und wie man diese, ohne sie
zu sehr zu entmutigen, daran erinnert, dass sie keine Miss
Bertram ist. Ich sähe es gern, wenn sie gute Freundinnen
würden, und möchte meinen Mädchen auf keinen Fall erlauben, ihrer Verwandten gegenüber auch nur den geringsten Hochmut zu zeigen; und doch können sie nicht
ebenbürtig sein. Ihr Rang, Vermögen, ihre Rechte und Erwartungen werden immer verschieden sein. Es ist ein äußerst heikler Punkt, und Sie müssen uns bei unseren Versuchen unterstützen, genau den richtigen Umgangston zu
finden.«
Mrs. Norris war ihm gern zu Diensten, und obwohl sie
völlig mit ihm einer Meinung war, dass es sich dabei
um eine äußerst delikate Sache handle, bestärkte sie seine Hoffnung, dass man es gemeinsam schon schaffen
werde.
Man kann sich leicht vorstellen, dass Mrs. Norris nicht
vergeblich an ihre Schwester schrieb. Mrs. Price schien
eher überrascht, dass man sich auf ein Mädchen geeinigt
hatte, wo sie doch so viele vielversprechende Jungen hatte,
aber sie nahm das Angebot äußerst dankbar an, versicherte
ihnen, dass ihre Tochter ein sehr gutmütig veranlagtes,
umgängliches Mädchen sei, und war überzeugt, dass sie
keinen Anlass haben würden, sie zurückzuschicken. Sie
15
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 16
1
2
3
4
5
beschrieb sie dann als ein bisschen empfindlich und zart,
war aber zuversichtlich, dass ihr die Luftveränderung entschieden guttun würde. Die arme Frau! Sie dachte wahrscheinlich, dass Luftveränderung vielen ihrer Kinder guttun würde.
6
7
8
9
Kapitel 2
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
Das kleine Mädchen überstand die Reise wohlbehalten und
wurde in Northampton von Mrs. Norris abgeholt, die sich
in dem Verdienst, sie als Erste willkommen zu heißen, und
in der Würde sonnte, sie den anderen zuzuführen und ihrer Güte zu empfehlen.
Fanny Price war zu dieser Zeit gerade zehn Jahre alt,
und obwohl es auf den ersten Blick nichts an ihr gab, was
besonders einnehmend war, so gab es andererseits doch
auch nichts, was den Widerwillen ihrer Verwandten erregte. Sie war klein für ihr Alter, ohne leuchtenden Teint oder
sonst wie auffallende Schönheit, übermäßig ängstlich und
schüchtern und darauf bedacht, sich jeder Aufmerksamkeit
zu entziehen; und obwohl unbeholfen, hatte ihre Erscheinung doch nichts Gewöhnliches; ihre Stimme war lieblich,
und wenn sie sprach, war ihr Gesichtsausdruck hübsch. Sir
Thomas und Lady Bertram empfingen sie sehr freundlich,
und da Sir Thomas sah, wie sehr sie Ermutigung nötig hatte, versuchte er ganz besonders entgegenkommend zu sein,
aber dabei war ihm sein äußerst würdevolles Benehmen im
Wege, so dass Lady Bertram, ohne sich halb soviel Mühe
zu geben oder ein Wort zu sagen, wo er zehn sagte, nur mit
Hilfe eines gutmütigen Lächelns sofort die weniger furchterregende Gestalt von beiden wurde.
16
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 595
1
Nachwort
2
3
»She has given us a multitude of characters, all
in a certain sense, common place, all such as we
meet every day. Yet they are all as perfectly
discriminated from each other as if they were
the most eccentric of human beings.«
4
5
6
7
8
9
Thomas Macauley (1800–59) über Jane Austen
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
1
Mansfield Park ist der dritte der sechs Romane Jane Austens (1775–1817), die von 1811 bis 1818, also innerhalb
von nur sieben Jahren in London erschienen und, abgesehen von kurzen satirischen Jugenddichtungen und drei Romanfragmenten (Lady Susan, The Watsons, Sanditon), das
gesamte Œuvre dieser Schriftstellerin ausmachen. Seinem
geringen Umfang nach steht es in keinem Verhältnis zu
seiner weltweiten Beliebtheit in der englischsprachigen
Welt und zu der unendlich zahlreichen Sekundärliteratur,
die darüber geschrieben wurde und wird. Jane Austen bildet das Musterbeispiel eines Klassikertyps, wie er in der
deutschen Literatur allzu selten ist, ja, wie ihn eigentlich
nur Theodor Fontane darstellt: Sie befriedigt zugleich das
elementare Lesevergnügen eines riesigen Publikums und
die Forschungsbedürfnisse der Literaturwissenschaft. Die
eine Seite wird repräsentiert durch J. B. Priestleys Beurteilung, Jane Austen »hat wahrscheinlich mehr englischsprachigen Menschen Entzücken bereitet als irgendeine andere
Frau, die je gelebt hat«, die andere durch den Vergleich mit
Shakespeare, der öfter in den Studien über Jane Austen
595
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 596
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
auftaucht – zum ersten Mal übrigens bei dem oben zitierten Thomas Macauley in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Innerhalb der sechs Romane stellen Mansfield Park und
der darauf folgende, Emma (1815), insofern eine eigene
Gruppe dar, als nur sie von der Autorin unmittelbar in
Druck gegeben wurden, nachdem sie konzipiert und geschrieben waren. Die beiden früheren Werke (Sense and
Sensibility, 1811, und Pride and Prejudice, 1813) sind umgearbeitete Jugendwerke, und die beiden folgenden (Persuasion und Northanger Abbey, 1818, letzteres ebenfalls eine
Jugendarbeit) wurden nicht mehr von der Schriftstellerin
selbst, die inzwischen gestorben war, sondern von ihrem
Bruder herausgegeben. Mansfield Park und Emma bilden
daher die eigentlichen Werke der Reifezeit Jane Austens,
und vielleicht ist schon ihr größerer Umfang ein Zeichen
dafür, dass die etwa vierzigjährige Autorin sich bei ihnen
ganz auf der Höhe ihres literarischen Könnens fühlte.
Die erste Auflage von Mansfield Park, das 1814 anonym, aber mit dem Zusatz »von der Autorin von Sense
and Sensibility und Pride and Prejudice« erschien, war, wie
aus einem Brief Jane Austens an ihre Lieblingsnichte Fanny Knight – die sich später aristokratisch verheiratete und
in viktorianischer Engstirnigkeit auf ihre früher so geliebte
Tante und deren Familie mit einer gewissen Geringschätzung zurückblickte – hervorgeht, schon im November desselben Jahres vergriffen. Jane Austen freute sich darüber
unter anderem deshalb, weil sie bei einer Neuauflage wieder Geld verdienen konnte. (»Ich bin schrecklich habgierig
und möchte das meiste herausholen.«) Eine zweite Auflage
wurde tatsächlich 1816 veranstaltet, und die Verfasserin
nahm die Gelegenheit wahr, Druckfehler der ersten zu berichtigen und geringfügige Änderungen am Text anzubringen. (Die vorliegende Übersetzung folgt der Penguin-Aus596
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 597
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
gabe von Tony Tanner, die mit ganz wenigen Ausnahmen
den Text dieser zweiten Auflage wiedergibt, nimmt allerdings eine Textkorrektur vor; vgl. Anm. 19.)
Alle Romane Jane Austens haben die vielfältigsten
Deutungen erfahren, alle sind vielfach miteinander verglichen und gegeneinander abgewogen worden, alle haben
ihre leidenschaftlichen Anhänger und Kritiker, ja, für gewisse Experten und Leser ist die Welt geradezu in »Janites«
und »Anti-Janites«, in Austen-Liebhaber und Austen-Gegner aufgeteilt. Mansfield Park hat dabei eher im Schatten
des vorausgehenden und des nachfolgenden Werks gestanden. Dafür ist zu einem guten Teil die unscheinbare Heldin
Fanny Price verantwortlich, die den Vergleich mit der
geistreichen Elizabeth Bennet aus Pride and Prejudice und
der naiv-raffinierten Emma Woodhouse aus Emma nicht
aushält und öfter als bigott, rechthaberisch oder gar dünkelhaft empfunden worden ist. So bemerkte der amerikanische Literaturwissenschaftler Lionel Trilling 1954:
»Niemandem, glaube ich, ist es je gelungen, die Heldin
von Mansfield Park zu mögen.«
Und 1957 schrieb der englische Romancier Kingsley
Amis unter dem provozierenden Titel »Was ist aus Jane
Austen in Mansfield Park geworden?« eine Einleitung zu
dem Buch, in der er nach mancherlei Lob das seiner Meinung nach konventionelle und langweilige Heldenpaar mit
dem Satz charakterisierte:
»Zu einer Abendeinladung an Mr. und Mrs. Edmund
Bertram würde man sich wohl nur schweren Herzens entschließen.«
Andererseits pries die englische Kritikerin Q. D. Leavis
gerade Mansfield Park im selben Jahr mit folgenden Worten:
597
Austen · Mansfield Park
7.9.11 Z:/UB/Pageone/UB20036/2800240-U.pod Seite 598
1
2
3
4
5
»In Technik, Thema, Prosastil und in der behutsamen
Erforschung menschlicher Beziehungen deutet Mansfield
Park auf George Eliot und Henry James voraus; Mansfield
Park ist daher der erste moderne Roman Englands.« (Zu
den drei Aufsätzen vgl. die Literaturhinweise: Southam.)
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
An Esprit, Präzision der Figurencharakterisierung, Lebensechtheit der Situationen, Lebendigkeit des Dialogs und
Geschick der Szenengestaltung steht Mansfield Park den anderen Romanen sicher nicht nach. Mrs. Norris etwa gebührt
ein Ehrenplatz in Jane Austens Galerie der satirisch gezeichneten komischen Charaktere. Ist aber das Heldenpaar Fanny
Price und Edmund Bertram misslungen? Zu ihrem Verständnis muss man sich die Thematik des Buches vergegenwärtigen.
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
2
Fanny ist nicht wie Elizabeth Bennet oder Emma Woodhouse die Tochter eines angesehenen Gentlemans, sie
nimmt daher in der Gesellschaft auch nicht deren Rang
ein, kann nicht deren Anspruch auf Selbstsicherheit erheben, sondern sie ist die im Haus ihres reichen Onkels
aufwachsende arme, abhängige Verwandte, wie sie bis ins
20. Jahrhundert, bis sich die rechtliche und gesellschaftliche Stellung der Frau so weit gebessert hatte, dass diese
unabhängig leben oder sich ihren Lebensunterhalt selbst
verdienen konnte, eine vertraute Erscheinung in vielen
Familien war. Eine solche mittellose, aus Barmherzigkeit
aufgenommene Nichte, deren Leben und Verhalten viele
zeitgenössische Leser und Leserinnen Jane Austens aus
eigener Erfahrung bestens kannten, konnte keinerlei Ansprüche stellen und hatte sich immer bescheiden im Hintergrund zu halten. Wenn sie nicht schon von Natur
598
Erhältlich in allen bekannten
E-Book-Shops und unter
buchversand-stein.de:
Kloster Northanger
Stolz und Vorurteil
Überredung
Verstand und Gefühl
Emma
Mansfield Park