5. internationaler Essay-Wettbewerb der Goethe

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5. internationaler Essay-Wettbewerb der Goethe
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MARTIN BLUM
War Goethe der erste Romantiker der deutschen Literaturgeschichte?
„Wolkenangetan“1 – Eine meteorologische Annäherung
Einleitung
Beobachtungen, was für ein Verhältnis Goethe zur Romantik hatte, sind in der
Forschung bereits mehrfach angestellt worden.2 Im vorliegenden Essay
verschiebt sich der Neigungswinkel der Betrachtung in die Vertikale. Der Kopf
gleitet in den Nacken. Der Blick steigt himmelwärts. Wir sehen, nein, keine
Sonne, keinen Mond, keine Sterne und auch keine Nordlichter. Was wir erblicken
sind Wolken. Um genau zu sein handelt es sich um Lyrikwolken. Sie bestehen
aus dispersen Wortteilchen und heterogenen Lexempartikeln, den sogenannten
Logos-Aerosolen. Diese poetischen Schwebstoffe bündeln sich im Verlauf des
ästhetischen Kondensationsprozesses und sorgen letztlich für die Bildung von
strophischen Wolkenformationen. Natürlich lässt sich die meteorologische
Entstehung von Gedichten auch ‚romantischer’ umschreiben. Etwa so: Goethe
hat die Lyrikwolken mit seinem großen poetischen Atem an den blauen Himmel
gepustet. Danach blies er sie vom Firmament, gab ihnen formvollendete Gestalt,
um sie schließlich gehaltvoll auf das Papier zu übertragen. Lyrikwolken wurden
Wolkenlyrik. Goethe war ein Wolkenpoet.3
1
Johann Wolfgang von Goethe: Gedichte. Bd. 1. Hamburger Ausgabe. Hrsg. und komm. von
Erich Trunz. München 1996, S. 102. (In „Ich saug’ an meiner Nabelschnur“ (1775))
2
Vgl. (Auswahl) Kurt Karl Eberlein: Goethe und die bildende Kunst der Romantik. In: GJb 1928,
S. 1-77; Erich Jenisch: „Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das
Kranke“. Goethes Kritik der Romantik. In: GJb 1957, S. 50-79; Karl-Heinz Hahn: Goethes
Verhältnis zur Romantik. In: GJb 1967, S. 43-64; Jan Aler: Goethe und die Romantik. In: GJb
1967, S. 294-323; Andreas B. Wachsmuth: Zwei Kapitel zu dem Problem Goethe und die
Romantik. In: GJb 1968, S. 1-42; Frederick Burwick: Goethes „Farbenlehre“ und ihre Wirkung auf
die deutsche und englische Romantik. In: GJb 1994, S. 213-229; Ernst Osterkamp: Die Geburt
der Romantik aus dem Geist des Klassizismus. Goethe als Mentor der Maler seiner Zeit. In: GJb
1995, S. 135-148; Luciano Zagari: Goethe und die europäische Romantik in ihrer Wirkung und
Gegenwirkung. In: GJb 1995, S. 213-226; Hartmut Fröschle: Goethes Verhältnis zur Romantik.
Würzburg 2002.
3
Allgemein zum aktuellen Trend die Meteorologie als literaturwissenschaftliches Forschungsgebiet neu zu entdecken vgl. Michael Gamper: Meteorologie als vergleichende Wissenschaft
zwischen Empirie und Fiktion, ca. 1770–1850. In: Von Ähnlichkeiten und Unterschieden.
Vergleich, Analogie und Klassifikation in Wissenschaft und Literatur (18./19. Jahrhundert). Hrsg.
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Hinsichtlich der veranschlagten wetterkundlichen Perspektivierung ist die
Fragestellung neu zu formulieren. Sie lautet jetzt: War Goethe der erste
romantische Wolkendichter der deutschen Literaturgeschichte?
Die Herangehensweise erfolgt in einem Zweischritt. Zu Beginn werden Wolken
und Wolkenbilder in Eichendorffs Lyrik betrachtet. Sie gelten in diesem Essay als
Prototyp romantischer Wolkendichtung. Vergleichend werden im Anschluss die
lyrischen Wolkenerscheinungen des jungen ‚Sturm-und-Drang-Goethe’4 hinzugezogen, um sie auf das Vorhandensein einer protoromantischen5 Meteorologie
zu befragen.6
Eichendorffs Wolkenlyrik
Wolken, wälderwärts gegangen,
Wolken, fliegend übers Haus,
Könnt ich an euch fest mich hangen,
Mit euch fliegen weit hinaus!7
Mit dieser Strophe beginnt der sechste Abschnitt von Eichendorffs Gedicht „Der
verliebte Reisende“ (1810-1813). In den ersten beiden Versen erscheinen die
von Michael Eggers. Heidelberg 2011, S. 223-250, zu Goethe S. 232-241; Michael Gamper: Der
Mensch und sein Wetter. Meteo-Anthropologie der Lyrik nach 1750. In: Zs. für Germanistik 23
(2013), H. 1, S. 79-97, zu Goethe S. 92-94; Michael Gamper: Rätsel der Atmosphäre. Umrisse
einer ‚literarischen Meteorologie‘. In: Zs. für Germanistik 24, (2014), H. 2, S. 229-243.
4
Von Interesse sind die Gedichte, die Erich Trunz unter dem Titel „Sturm und Drang“
zusammenfasste. Vgl. Goethe (Anm. 1), S. 25-105.
5
Mit der terminologischen Bezeichnung „protoromantisch“ wird von einer allgemeinen Annahme
der Romantik als literaturgeschichtlichen Epoche ausgegangen, dessen poetologische und
ästhetische Tendenzen aber bereits vorepochal auftreten können – in diesem Fall in der Zeit, die
die Bezeichnung „Sturm und Drang“ trägt. Die Romantik ist eine Epoche im Zeitraum von 17891830. Der Sturm und Drang ist eine literarische Bewegung der Aufklärung im Zeitraum von 17702
1780. Vgl. Detlef Kremer: Romantik. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart (u.a.) 2003 , S. 47-50;
Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren, Texte, Themen. Stuttgart 2006, S. 9.
6
Einführend zum Naturverständnis bei Goethe und Eichendorff vgl. Wilhelm Gössmann:
Naturverständnis als Kunstverständnis: Goethe-Eichendorff-Droste. In: Joseph von Eichendorff:
Seine literarische und kulturelle Bedeutung. Hrsg. von Wilhem Gössmann und Theresia
Schüllner. Paderborn 1995, S. 27-60, bes. S. 30-51.
7
Joseph von Eichendorff: Gedichte, Bd. 1/1. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. von Harry
Fröhlich und Ursula Regener. Stuttgart (u.a.) 1993, S. 28.
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„Wolken“ anaphorisch herausgehoben am Zeilenanfang und verleihen so dem
Gedicht einen strukturierten und rhythmisierten Auftakt. Sie ziehen über Wald
und „Haus“, über Land und Stadt. Eine Verlebendigung der „Wolken“ gelingt
durch das verwendete Verb „gegangen“ und das Partizip „fliegend“. Die „Wolken“
gehen und fliegen. Sie leben.8 Hier ist bereits die ästhetische Tendenz der
Romantiker umgesetzt, an keiner bloßen Nachahmung von Wirklichkeit
interessiert zu sein. Eichendorff geht es weit mehr um die Erzeugung einer
eigenen imaginären Realität innerhalb des lyrischen Kunstwerkes.9 Die
Imagination gegenüber einer Mimesis-Konzeption vorzuziehen, ist in den zwei
weiteren Versen erneut und verstärkt eingelöst. Das lyrische Ich wünscht sich an
die Wolken zu hängen, um mit ihnen zusammen fortzufliegen. Die Wolken
fungieren dabei zum einen metaphorisch als Flug- und Transportmittel und zum
anderen
allegorisch
als
topischer
Fluchtraum
der
vom
lyrischen
Ich
herbeigesehnten Ferne. Über diesen Weg gelingt eine Verknüpfung von Subjekt
und Welt. Das poetische Medium, das eine Verbindung von Außen und Innen
herzustellen vermag, sind die Wolken. Gelänge dem lyrischen Ich der Wunsch
sich an die Wolken zu hängen, so gelänge eine Sphären-Synthese mit dem
Ergebnis einer buchstäblich romantischen So-Seins-Aufhebung im UtopischUnendlichen.
Diese Vorstellung eines Wolkenbildnisses oder besser eines Wolkengleichnisses
ist kein singuläres Phänomen bei Eichendorff. So heißt die erste Strophe von
„Leid und Lust“ (1810):
Euch Wolken beneid’ ich
In blauer Luft,
Wie schwingt ihr euch freudig
Über Berg und Kluft!10
8
Die Anthropomorphisierung der Wolken mithilfe des Verbs „gehen“ findet sich auch in
Eichendorffs Gedicht „Der Gefangene“ (1810-1812): „Die Wolken sah er gehen“. Eichendorff
(Anm. 7), S. 373.
9
Vgl. Kremer (Anm. 5) zur Poetik der Romantik, S. 89-113; zur Lyrik der Romantik S. 268-316;
zur Lyrik Eichendorffs S. 294-300; vgl. auch zum Konstruktivitätscharakter der Lyrik Eichendorffs:
Helmut Koopmann: Konstruierte Wirklichkeiten. Zu Eichendorffs Lyrik. In: Aurora: Jb. der
Eichendorff-Gesellschaft 70-71 (2012), S. 35-54.
10
Eichendorff (Anm. 7), S. 241.
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4
Das lyrische Ich vergleicht sich mit den „Wolken“, die es beneidet, da sie seiner
Vorstellung nach eine heitere Stimmung hervorrufen und „in blauer Luft“ volle
Bewegungsfreiheit besitzen. Die Wanderschaft der Wolken ist ohne Hindernisse,
kein „Berg“, keine „Kluft“, die mühselig überwunden werden müssen, denn auch
hierüber schweben die Wolken einfach und leicht hinweg. Mit diesen positiven
Zuschreibungen wird ein stimmungsreiches Wolkenbild erzeugt, zu der sich die
Disposition des lyrischen Subjekts ambivalent verhält. Der neidvoll bekundete
Kontrast ist dabei erneut Ausdruck imaginierter Vereinigung mit den Wolken, was
in letzter Konsequenz auf das Metamorphosen-Gleichnis hinausläuft, selbst eine
Wolke sein zu wollen. Am Ende des Gedichtes wird der Wunsch zur WolkenVerwandlung jedoch zurückgenommen, denn im Verlauf gelingt dem lyrischen
Subjekt die präferierte Einswerdung mit seiner Geliebten – „Dein bin ich ganz“ (V.
40) –, eine irdische Vereinigung, die nur von Mensch zu Mensch möglich ist. Das
himmlische Aggregat eines Wolkendaseins wäre beim kohabitierenden Vorhaben
der Liebenden auch eher unvorteilhaft:
So segelt denn traurig
In öder Pracht!
Euch Wolken bedaur’ ich
Bei süßer Nacht.11
Goethes Wolkenlyrik
„Es blitzt und donnert, stürmt und kracht.“12 Es soll hier nicht um die späten
Wolkengedichte Goethes aus den Jahren 1820/22 gehen, die in der Forschung
bereits ausführlich untersucht worden sind13 und für die bereits Emil Staiger das
11
Eichendorff (Anm. 7), S. 242.
12
Goethe (Anm. 1), S. 82. (In „Der König in Thule“ Spätere Fassung (1774)).
13
Werner Keller: „Die antwortenden Gegenbilder“. Eine Studie zu Goethes Wolkendichtung. In:
Jb. des Freien Deutschen Hochstifts 1968, S. 191-236; Albrecht Schöne: Über Goethes
Wolkenlehre. In: Der Berliner Germanistentag 1968. Vorträge und Berichte. Hrsg. von K. Borck
und R. Henns. Heidelberg 1970, S. 26-48; Emil Staiger: Goethes Wolkengedichte. In: Spätzeit:
Studien zur deutschen Literatur. Hrsg. von Emil Staiger. Zürich (u.a.) 1973, S. 57-78; Günther
Martin: Goethes Wolkenlehre im Atomzeitalter. In: GJb 1992, S. 199-206; Mark Sommerhalder:
Pulsschlag der Erde! Die Meteorologie in Goethes Naturwissenschaft und Dichtung. Bern (u.a.)
1993; Günther Martin: Goethes Wolkentheologie. In: Zs. für Deutsche Philologie 114 (1995), S.
182-198; Werner Busch: Die Ordnung im Flüchtigen. Wolkenstudien in Goethezeit. In: Goethe
und die Kunst. Hrsg. von Sabine Schulz. Stuttgart 1998, S. 519-527; Christian-Dietrich
Schönwiese: Meteorologie. In: Quer durch Europa. Naturwissenschaftlich Reisen mit J. W. v.
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immer noch gültige Urteil traf: „Er [Goethe] ist kein Romantiker.“14 Vielmehr
geraten die frühen Gedichte des jungen Stürmer und Drängers in den Blick, um
über
diesen
Weg
den
Versuch
zu
unternehmen,
protoromantische
Wolkendichtungssegmente freizulegen. Gelingt dieses Vorhaben, kann Goethe
als erster romantischer Wolkendichter bezeichnet werden.
Die erste Wolkenerwähnung in Goethes Lyrik erscheint in der vierten Strophe
vom „Maifest“ (1771):
O Lieb’, o Liebe,
So golden schön
Wie Morgenwolken –
Auf jenen Höhn,15
In einem ekstatischen Jubel und Freudenausruf wird die Geliebte wie die „Liebe“
im Allgemeinen mit der himmlischen Erscheinung der „Morgenwolken“
verglichen. Natur und Mensch fusionieren in diesem Bild zu einer Einheit. Die an
den Himmel projizierte Liebe spiegelt ihr So-Sein in der angepriesenen
Schönheit der Wolken und findet in dieser Imagination ihren meteorologischkosmischen Ausdruck. Eine harmonisierende Synthese von Innen- und
Außenwelt tritt ein. In diesem Verständnis ist eine Seelenbegegnung des
lyrischen Ich und seiner Angebeteten in einem firmamentlosen und naturfernen
Ort nicht denkbar. Das hier gedeutete Phänomen bei Goethe kann mit Kremers
Terminologie
„romantische[r]
Doppelreflexion“16
angemessen
beschrieben
werden, die sich gekennzeichnet sieht in einer objektiven Welt-Reflexion und
einer subjektiven Selbst-Reflexion. Die Welt mit ihren Naturerscheinungen wird
Goethe. Hrsg. von K. Borck und R. Henns. Frankfurt a. M. 1999, S. 90; Christian-Dietrich
Schönwiese: Wolken und Witterung aus der Sicht Goethes und heute – „Ein Angehäuftes, flockig
löst sich’s auf“. In: Durchgeistete Natur. Ihre Präsenz in Goethes Dichtung, Wissenschaft und
Philosophie. Hrsg. von Alfred Schmidt und Klaus-Jürgen Grün. Frankfurt a. M. (u.a.) 2000, S.
177-185; Keiko Maiwa: Die „Neun Briefe über die Landschaftsmalerei“ von Carus und „Howards
Wolken“ von Goethe. In: Herder-Studien 7 (2001), S. 119-140; Gerhard Neumann: 1820.
Wolkenspuren. Goethes Erfindung der Poetik des Übergänglichen. In: Kalender kleiner
Innovationen. Hrsg. von Roland Borgards, Almuth Hammer und Christiane Holm. Würzburg 2006,
S. 303-317; Christian Begemann: Wolken. Sprache. Goethe, Howard, die Wissenschaft und die
Poesie. In: Die Gabe des Gedichts. Goethes Lyrik im Wechsel der Töne. Hrsg. von Gerhard
Neumann und David E. Wellbery. Freiburg 2008, S. 225-242.
14
Staiger (Anm. 13), S. 62.
15
Goethe (Anm. 1), S. 31.
16
Kremer (Anm. 5), S. 91.
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6
bei Goethe zunächst empirisch-mimetisch aufgerufen, um sie im Weiteren
emphatisch mit der subjektiven Gefühls- und Stimmungslage des lyrischen Ich zu
kombinieren, der sein Liebesbegehren in der Erscheinung der „Morgenwolken“
wiedererkennt. Neologistisch formuliert sind Goethes Geliebte im „Mailied“
Morgenwolkengeliebte. Auf diese Art bilden sie ihr eigenes progressives
Transzendental-Universum aus.
In einem weiteren frühen Gedicht Goethes erscheinen die Wolken erneut im
Konnex eines meteorologischen Liebes-Topos. Es ist das Gedicht „Ganymed“
(1774). Die letzte Strophe lautet:
Hinauf, hinaus strebt’s,
Es schweben die Wolken
Abwärts, die Wolken
Neigen sich der sehnenden Liebe,
Mir, mir!
In eurem Schoße
Aufwärts,
Umfangend umfangen!
Aufwärts
An deinen Busen,
Alliebender Vater!17
Ganymed lobpreist in dieser Hymne den frühlingshaften Anbeginn und Aufbruch
der Natur, die sich am Ende des Gedichtes offenbart im mythologischen Urbild
einer personifizierten Natur-Gottheit. Der Jüngling besingt die Liebe, die Liebe
zum Frühling, zur Natur und seinem Schöpfergott. Die Liebe zwischen Ganymed
und Gott strebt nach Vereinigung. Doch wie kann die Distanz von Oben und
Unten, von Himmel und Erde überbrückt werden? Die Losung lautet: mithilfe der
„Wolken“. Sie nehmen in diesem Gedicht eine Vermittlerfunktion ein. Sie dienen
als Aufzug bzw. als Lift. So „schweben“ sie zunächst „abwärts“, „neigen“ sich
Ganymed zu, um mit ihm gemeinsam „aufwärts“ zu steigen an den „Busen“ des
„[a]lliebende[n] Vater[s]“.18
17
Goethe (Anm. 1), S. 47.
18
Weitere Wolkenerwähnungen in den frühen Gedichten Goethes werden an dieser Stelle ohne
weitere Erläuterung zitiert: „Regenwolke“ (in „Wanderers Sturmlied“ (1772)), ebd. S. 33,
„Wolkendunst“ (in „Prometheus“ (1773)), ebd. S. 44, „Morgenwolken“, „umwölkten Blick“ und
„Goldwolken“ (in „Harzreise im Winter“ (1777)), ebd. S. 50-52.
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Eichendorffs und Goethes Wolkenlyrik
In diesem Verständnis lassen sich Parallelen ausmachen bei der poetischen InSzene-Setzung der Wolkenerscheinungen zwischen Eichendorff und Goethe,
denn auch bei Eichendorffs Gedicht „Der verliebte Reisende“ wollte das lyrische
Ich mithilfe der Wolken eine Ortsbewegung vornehmen, um mit ihnen
gemeinsam eine Strecke von A nach B zurückzulegen. Im Detail sind dabei aber
auch Unterschiede zu beobachten. Der Raum ist bei Eichendorff in der
Horizontalen vermessen und verbleibt atmosphärisch auf der Erde. Bei Goethe
ist der Raum in die Vertiakle ausgerichtet und überschreitet transzendental die
Erdgebundenheit.
Außerdem
unterbleibt
das
Emporgehobenwerden
bei
Eichendorff. Bei Goethes „Ganymed“ nimmt es seinen Vollzug. Trotz dieser
Differenzen ist das Wolkenbild bei beiden auf das Engste verbunden mit der
Liebesthematik. Das lyrische Ich in Eichendorffs „Leid und Lust“ wünscht eine
Wolken-Metamorphose, um in dieser luftigen Gestalt leichter und schneller zu
seiner Geliebten zu gelangen. In Goethes „Mailied“ gelingt die Einswerdung der
Geliebten in den Wolken. Sie sind Morgenwolkengeliebte und vereinigen sich als
solche naturharmonisch am Firmament. Wollte man wettkampforientiert Goethe
und Eichendorff in ein Wolkenduell schicken, lautet der derzeitige Stand 2:0 für
Goethe. Seine liebeskonzeptualisierten Vereinigungsszenerien gelingen in
beiden Fällen und gehen himmlisch als Wolkengleichnisse auf. Bei Eichendorff
scheitern sie in beiden Gedichten. Die Vereinigung mit den Wolken ist bei
Eichendorff ein Wunschbild im Irrealis.
Löst man die vergleichende Betrachtung im Hinblick der Kategorien Zeit und
Raum sowie Gelingen und Scheitern und wendet den Blick auf die romantische
Ästhetik einer „Theorie der Imagination“19, die in diesem Essay als zentralste
Poetik der Romantik festgelegt wird, ist eine Annäherung zwischen Eichendorff
und Goethe möglich. Bei beiden überwiegt eine durch Sprache erzeugte
Imaginationsleistung, die an dem mimetischen Grundzug gebunden bleibt von
Wolken als realen meteorologischen Artefakten auszugehen. Innerhalb des
Gedichtes werden sie Teil einer eigens erzeugten Wirklichkeit. Dabei erscheinen
die Wolken nicht einfach in natura als weiße Himmelsgebilde. Sie erhalten eine
19
Kremer (Anm. 5), S. 101.
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allegorische
Bedeutung
im
Konnex
einer
ästhetisch
konfigurierten
Liebeskonzeption. Sie werden Wolken der Ferne, der Sehnsucht, der
Vereinigung und Einswerdung. In diesem Verständnis dienen die Wolken zur
Darstellung und Entäußerung der subjektiven Disposition des lyrischen
Sprechers. Dabei steigert sich die Metaphorisierung bei Goethe („Maifest“) wie
auch
bei
Eichendorff
Anthropomorphisierung
Metamorphorisierung
(„Leid
der
der
und
Lust“)
Wolken
Subjekte
in
in
in
das
Subjekte
Wolken.
Das
Extrem
und
in
Ergebnis
einer
einer
sind
Menschenwolken bzw. Wolkenmenschen. Beide Dichter entwerfen somit ein
romantisches
Liebesbild,
in
dem
Mensch
und
Wolke
untrennbar
und
ununterscheidbar miteinander verschmelzen.
Schluss
Die vergleichende Analyse von Wolken und Wolkenbildern in der Lyrik Goethes
und Eichendorffs hat gezeigt, dass beide – trotz oberflächlichen Unterschieden –
in der Tiefenstruktur die Theorie einer Imagination und Doppelreflexion als
ästhetische Poetiken der Romantik anwandten. Für Goethes Lyrik ist dieser
Befund außerordentlich, denn es wurden seine frühen Gedichte der 1770er
Jahre ausgewählt, die in die Zeit des Sturm und Drang fallen. Die Epoche der
Romantik ist erst in dem Zeitraum von 1789 bis 1830 periodisiert.20 Somit konnte
in diesem Essay bereits in den frühen Gedichten Goethes das Vorkommen von
protoromantischen Wolkenbildern nachgewiesen werden. Dies lässt folgenden
Schluss zu: Goethe war der erste (vor)romantische Wolkendichter der deutschen
Literaturgeschichte.
20
Vgl. ebd. S. 47-50.
5. internationaler Essay-Wettbewerb der Goethe-Gesellschaft 2015