ad hoc international - Nefia - Netzwerk für Internationale Aufgaben

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ad hoc international - Nefia - Netzwerk für Internationale Aufgaben
Heft 11: Januar/ Februar 2013
ad hoc
international
Bildungs(um)wege
Was bewegt sich in der
globalen Bildungslandschaft?
Bildungschancen in Spanien (Seite 2)
VIP-Interview mit Xavier Prats-Monné (Seite 6)
Analphabetismus in Deutschland (Seite 10)
Internet als Bildungsinstitution (Seite 12)
Schulbildung in Malawi (Seite 13)
Bildung für Kinder in Syrien (Seite 18)
Impressum
ad hoc international
Zeitschrift des Netzwerks für Internationale Aufgaben – Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e. V. (nefia) und
des CSP-Netzwerks für Internationale Politik und Zusammenarbeit e. V., erscheint halbjährlich.
Titelbild:
Das Bild zeigt eine Mauer im dichtbesiedelten Viertel „Ruzafa“ in Valencia, Spanien. Auf dem verlassenen Grundstück
hinter der Mauer verspricht die Kommunalregierung schon seit zehn Jahren den Bau einer öffentlichen Schule.
Foto: Dorothee Fischer
Bildnachweis:
Dorothee Fischer (Seiten 2–3); blmurch, http://www.flickr.com/photos/blmurch/, wikimedia commons (Seite 4 links);
Leandro Kibisz (Loco085), wikimedia commons (Seite 4 mitte);
Roberto Robles, http://www.flickr.com/photos/roblesr/4625415384, wikimedia commons (Seite 4 rechts);
Cel·lí, wikimedia commons (Seite 5); European Commission (Seite 6); TeachFirst (Seiten 8–9);
Bundesministerium für Bildung und Forschung (Seite 11); Caroline Schmidt (Seite 13); Education First (Schaubild Seite 14);
Friends International (Seite 16); DAAD (Seiten 18–19); UNHCR (Seiten 20–21); UNHCR / A. Rehrl (Seite 21 rechts)
Herausgeber:
Netzwerk für Internationale Aufgaben – Stiftungskolleg und Mercator Kolleg Alumni e. V.
Neue Promenade 6, 10178 Berlin, Telefon +49 (0)30 28873397, Fax +49 (0)30 28873398
[email protected], www.nefia.org
CSP-Netzwerk für internationale Politik und Zusammenarbeit e. V.
c/o Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin,
[email protected], www.csp-network.org
Redaktion:
Hanna Baumann und Friedrich von Heyl (Projektleitung), Sebastian Boll, Silvia Danielak, Else Engel, Birga Friesen,
Camilla Gendolla, Johanna Havemann, Mariko Higuchi, Christina Hübers, Julia Ismar, Anne Knauer, Florian Neutze,
Leana Podeszfa (Fotoredaktion), Marcia C. Schenck, Philippe Seidel, Mara Skaletz, Susanne Skoruppa, Stephanie von Hayek
Autorinnen und Autoren:
Damian Borowski, Dorothee Fischer, Corinna Frey (Gastautorin), Alexander Haridi, Anne Keilig, Steffen Müller,
Leana Podeszfa. Christian E. Rieck, Stefanie Rinaldi, Caroline Schmidt, Mira Schneiders, Stephanie von Hayek (Interview)
Die Beiträge spiegeln die persönliche Meinung der Autorinnen und Autoren wider.
Idee:
Ines Wolfslast
Gestaltung:
Ungermeyer, grafische Angelegenheiten
Druck:
Herforder Druckcenter
Danksagung:
Diese Publikation wurde von der Stiftung Mercator GmbH gefördert.
Editorial
Liebe Leserinnen
und Leser!
Gibt es ein universelles Recht auf Bildung oder ist Bildung ein
Luxus nur für Reiche? Welchen Einfluss haben die Bildungsprogramme internationaler Organisationen? Die Autorinnen
und Autoren1 der ad hoc befassen sich in dieser Ausgabe mit
unterschiedlichen Aspekten von Bildung im internationalen wie
auch im nationalen Kontext.
Unsere ersten zwei Artikel untersuchen Bildungspolitik im
regionalen Kontext. Der eine tut dies im historischen Vergleich
in Lateinamerika und der andere im heutigen Europa, wo sich
das wirtschaftliche Nord-Süd-Gefälle auch im Bildungssektor
immer bemerkbarer macht. Auch im ad hoc-Interview bleiben
wir beim Thema Bildung in Europa. Stephanie von Hayek sprach
mit dem stellvertretenden Generaldirektor für Bildung der
Europäischen Kommission, Xavier Prats-Monné, über die
europäische Bildungsidee, die Herausforderungen, die der
­Arbeitsmarkt an das europäische Bildungssystem stellt und wie
die ideale Schule aussehen sollte.
Wir bleiben auch vor der eigenen Haustür und untersuchen
Bildungslücken in Deutschland. Hier geht es um Analphabetismus, ein immer noch überraschend großes Problem hierzulande und darum, wie sehr Bildungserfolg vom Elternhaus
abhängig ist. Programme wie Teach First Deutschland sind
1 Im Sinne einer guten Lesbarkeit wird in den nachfolgenden Artikeln nur die männliche Form
der Nomen benutzt, ohne damit die weiblichen Begriffe abwerten oder ausschließen zu wollen.
eine Antwort auf diese Probleme. Neue Perspektiven für
Chancengleichheit könnten durch den breiteren Zugriff auf
Informationen eröffnet werden, den das Internet durch e-Learning-Angebote bietet. Die Trends von Open Education-Initiativen untersuchen wir in der Rubrik „Bildung der Zukunft“.
Die im internationalen Bereich gesammelten Erfahrungen
­unserer Autorinnen und Autoren spiegeln sich in Artikeln zur
­Bildung in der Entwicklungspolitik und in Krisensituationen
wider. Hier geht es zunächst auf politischer Ebene um neue
­internationale Initiativen zur Bekämpfung der Bildungsmisere
und dann im konkreten Fallbeispiel um eine NGO, die kambodschanische Straßenkinder durch Berufsausbildungen erfolgreich weiterbildet. Die Beiträge hinterlassen den Eindruck, dass
der universelle Zugang zu Bildung trotz vieler Anstrengungen
keineswegs einfach und selbstverständlich ist. Ob Bildung
während einer Krisensituation lediglich Luxusgut oder ein
­essentielles Grundrecht ist, erörtern wir am Beispiel der der­
zeitigen Situation in Syrien. Außerdem erfahren Sie, wie Bildung
in wohlhabenden Post-Konflikt-Staaten zur Dienstleistung
werden kann, was deutsche Organisationen wie den DAAD
wiederum in die ungewohnte Position des Dienstleisters
drängt. Wie Flüchtlinge, die eine politische Krise überlebt und
eine Ausbildung genossen haben, helfen können ihr Land
­wieder aufzubauen, berichten zwei unserer Autorinnen anhand
des eindrücklichen Schicksals einer jungen Kongolesin.
Hanna Baumann (Mercator Kollegiatin 2011/12) und Dr. Friedrich von Heyl (Stiftungskollegiat 1996/97)
Über Leserbriefe freut sich die Redaktion: [email protected], e­benso
wie über ­Besuche und einen regen Austausch auf ­www.facebook.com/adhocinternational.
nefia
nefia ist der Alumniverein für die Absolventen des Mercator
­Kollegs und des früheren Stiftungskollegs für interntionale Aufgaben der Robert Bosch Stiftung, um nach der Zeit im Kolleg im
Kontakt zu bleiben und berufliche Netzwerke zu p­ flegen. nefia ist
außerdem ein Multiplikator für junge Sichtweisen auf internationale Themen und entwicklungspolitische Frage­stellungen. Mit
Veranstaltungen und Publikationen mischen wir uns in global
relevante Themen ein und vermitteln unser Praxis- und
­
Experten­wissen. nefia ist auch Partner der Stiftung Mercator bei
der Gestaltung des Kollegs. Unsere praxiserfahrenen Mitglieder
­unterstützen die ­aktuellen aktuellen Stipendiatinnen und Stipendiaten bei der Planung und Durchführung ihrer Projektvor­
haben. www.nefia.org. Kontakt: [email protected]
CSP
Das CSP-Netzwerk für internationale Politik und Zusammenarbeit e. V. ist der politisch unabhängige Alumni-Verein des „CarloSchmid-Programms für Praktika in Internationalen Organi­
sationen und EU-Institutionen“ des Deutschen Akademischen
Aus­tauschdienstes (DAAD) und der Studienstiftung des deutschen
Volkes. Derzeit sind im weltweiten CSP-Netzwerk rund 600
­ehemalige Stipendiat/innen mit Praxiserfahrung in der internationalen Politik und Zusammenarbeit organisiert. Das Netzwerk
dient ihnen als Forum für den Wissens- und Erfahrungs­austausch
untereinander, aber auch mit Wissenschaftlern, Praktikern,
Politikern und anderen Engagierten. www.csp-network.org.
­
­Kontakt: [email protected]
1
2
Bildungspolitik im regionalen Kontext
Südeuropa in der Krise:
Wird die Bildung weggekürzt?
von Dorothee Fischer
Europas Zweiteilung in den wohlhabenden Norden und den
armen Süden wird immer deutlicher. Wie wirkt sich dies auf
die Bildungschancen junger Menschen aus? Und welche
Lösungsansätze gibt es aus Südeuropa? Dorothee Fischer
­
­berichtet von ihren Erfahrungen in Spanien und anderen
­südeuropäischen Ländern, deren Bildungssysteme einer harten
Sparpolitik a­ usgesetzt sind.
Zurzeit prägen düstere Bilder den Süden Europas: gewaltsame
Demonstrationen vor dem Parlament in Athen, Generalstreik
in Portugal und lange Schlangen vor den Suppenküchen und
Arbeitsämtern in Spanien. All das scheint in den letzten Monaten schon Alltag geworden zu sein, denn die Regierungen der
südeuropäischen Länder beschließen ein Sparpaket nach dem
anderen. Und die Kürzungen machen vor keinem Sektor halt,
auch nicht vor der Bildung. Und das, obwohl schon jetzt
­Spaniens Schüler Leistungen unter dem Pisa-Durchschnitts­
niveau erbringen, die Schulabbrecherrate bei 25 % liegt und
über 50 % der unter 25-jährigen arbeitslos sind.
In Spanien sind besonders die öffentlichen Schulen von den
Einsparungen betroffen. Stipendien wurden gestrichen, die
­Klassenstärken und die Arbeitszeiten der Lehrer wurden erhöht.
Dabei spielen sich immer öfter soziale Dramen ab: Zunehmend
viele Familien haben kein Einkommen mehr, werden teilweise
aus ihren Häusern zwangsgeräumt, weil sie die Hypotheken
nicht mehr zahlen können. Kein Wunder also, dass Eltern
­immer häufiger verzweifeln, da sie nicht mehr wissen, wie sie
­Bücher und Schulspeisung bezahlen sollen, seitdem die entsprechenden Subventionen gestrichen wurden. So zahlen die
Schüler in vielen Schulen bis zu 6,50 € pro Mittagessen – weitaus mehr als Abgeordnete in der Parlamentskantine. Das stößt
bei vielen auf Unverständnis. Außerdem werden schon Dis­
kussionen darüber geführt, ob nicht alle Schüler in Zukunft
wieder ihr eigenes Essen mitbringen sollen.
p Bei den Bildern handelt es sich um eine Fotoserie über ein verlassenes
Grundstück im Zentrum Valencias, für das die Kommunalregierung
schon seit zehn Jahren den Bau einer öffentlichen Schule verspricht.
Zeugnisse einer Bürgerbewegung im dichtbesiedelten Viertel “Ruzafa”,
wo sich diese Wand befindet. Ähnlich ergeht es den Schülern und ihren Eltern in den
südeuropäischen Nachbarländern. „Wir müssen seit ein paar
Monaten eigenes Klopapier mit in die Schule meines Sohnes
bringen,“ erzählt auch Mauro Salvani aus Florenz. „Die Stadt
hat kein Geld mehr für Schulmaterialien und demnächst werden
die Eltern sicherlich am Wochenende die Schule renovieren.“
Die sozioökonomischen Unterschiede zwischen arm und reich
werden dabei immer größer und darunter leiden auch oft die
Bildungschancen. Nicht nur in Deutschland ist der Grad der
Bildung sehr stark an den sozioökonomischen Hintergrund
der Familie gekoppelt. Diese Tendenz wird durch die Krise und
Kürzungspolitik noch verstärkt. Die Familien in Spanien, die
es sich noch leisten können – und immerhin sind die Reichen
seit Beginn der Krise trotz der wachsenden Armut noch reicher
geworden – schicken ihre Kinder zunehmend auf teure Privatschulen, die von Chinesischkursen bis hin zu e­ igenen Tennisplätzen oder Schwimmbädern alles bieten. Sehr gefragt ist
­dabei auch die deutsche Schule, weil man auf eine Arbeit in
Deutschlande hofft. Für viele Deutsche, die im Ausland leben,
ist das deutsche Gymnasium jedoch unerreichbarer Luxus,
denn es gibt kein Stipendiensystem, es sei denn, der ­Arbeitgeber
kommt für die ca. 600 € Schulgeld pro Monat auf.
Der „Europa-2020-Strategie“ zufolge wird die EU in den
kommenden sieben Jahren in „intelligentes, nachhaltiges
und integratives Wachstum“ investieren. Und auch für die
­Bildungspolitik gibt die Europäische Kommission ganz klare
­Vorgaben wie zum Beispiel die Schulabbrecherquote auf unter
10 % zu reduzieren, das Auslandsstudium zu erleichtern und junge
Menschen besser auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Das
passt aber so gar nicht mit den zuletzt veröffentlichten nationalen Haushaltsplanungen im Bereich Innovation und Entwicklung zusammen. In Spanien allein wurden in den vergangenen
Jahren 30 % des Forschungsetats gekürzt.
Bildungspolitik im regionalen Kontext
p Schon die Jüngsten gehen regelmäßig demonstrieren, .
um für ihre Zukunft zu kämpfen. In diesem Fall
Lola, die Tochter der Autorin.
Die Kürzungen betreffen nicht nur die Schulen, sondern auch
die Universitäten und Forschungsinstitute. Erst im Oktober
2012 machte die Schlagzeile die Runde, dass unter anderem
Spanien und Frankreich das Erasmus-Programm auf ein Minimum zusammen kürzen werden. Und das, obwohl gerade dieser
Austausch zwischen Studenten und Universitätsmitarbeitern
zu den Vorzeigeprojekten der Europäischen Union zählt, welches
mit verhältnismäßig wenig Geld viel erreicht hat. Im gleichen
Monat verfasste eine Gruppe von 42 europäischen Nobelpreisträgern einen Brief an die Europäische Kommission und die
Vertreter der 27 Mitgliedsstaaten und forderte diese auf, nicht
in der Wissenschaft zu sparen. „Im Falle einer drastischen
Kürzung des EU-Budgets für Forschung und Innovation
­
­riskiert Europa, eine ganze Generation talentierter Wissenschaftler zu verlieren – just zu dem Zeitpunkt, in dem sie am
dringendsten gebraucht werden,“ heißt es in dem Schreiben.
Kommissions­präsident Barroso gestand kürzlich selbst ein,
dass die Kommission noch so viele schöne Vorschläge machen
könne; wenn die ­Mitgliedsstaaten nicht bereit sind dafür Geld
auszugeben, seien auch ihm die Hände gebunden.
So scheint das Recht auf Bildung in Gefahr zu sein und sich
eine immer größer werdende Nord-Süd-Schere aufzutun. Erfahrene Lehrer wie Vicente Aguado (54) aus Valencia, der seit
1985 an Grundschulen unterrichtet, können den mangelnden
Weitblick der Politiker nicht verstehen: „In der Bildung zu sparen
ist eine soziale Regression für unsere Gesellschaft. Wir brauchen
einen neuen Bildungspakt auch über religiöse und Parteigrenzen hinaus. Den Erfolg Finnlands in der Bildung kann man mit
einem Satz zusammenfassen: Jeder Schüler ist wichtig.“
Dorothee Fischer, Jg. 1977, lebt mit ihrem Mann und ihren beiden
Töchtern seit vier Jahren in Valencia, Spanien. Dort arbeitet sie als
Communication and Project Development Officer für das INTERACT
Programm der EU. Sie ist aber auch immer wieder als freie Journalistin
tätig und engagiert sich in europäischen Kulturprojekten. Ihr CarloSchmid-Praktikum absolvierte sie 2003 beim Europarat in Strasbourg,
wo sie im Anschluss für die internationale NGO „ALDA“ CapacityBuilding-Projekte in Südosteuropa und im Kaukasus durchführte und
sich um die Medienarbeit kümmerte.
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4
Bildungspolitik im regionalen Kontext
Die Universitätsreform in
Lateinamerika: Eine Bilanz
von Christian E. Rieck
Die lateinamerikanische Universitätsreform von 1918 beeinflusst das Hochschulbildungswesen auf dem gesamten Kontinent
bis heute. Das Hochschulwesen hat sich seitdem in Argentinien
und Mexiko, den Brennpunkten der Reform, sehr unterschiedlich entwickelt, wie hier anhand von Profilen der prominentesten Universitäten der beiden Staaten gezeigt wird.
Vor beinahe einem Jahrhundert fand in Lateinamerika eine
Universitätsreform statt, welche die dortige Hochschullandschaft bis heute nachhaltig prägt. Die Reform von 1918 veränderte nicht nur die Verwaltungsstrukturen, sondern auch das
Selbstverständnis der Universität als Organismus von emanzipatorischem Charakter mit gesamtgesellschaftlichem Auftrag.
Damit ist bis heute die zentrale Stellung der Universitäten in
den lateinamerikanischen Gesellschaften definiert, ebenso wie
ihr kulturelles und soziales Aufgabenprofil.
Argentinien und Mexiko waren dabei die zwei Brennpunkte
der lateinamerikanischen Universitätsreform und Studierendenbewegung von 1918. Es waren zunächst argentinische Studentengruppen, die an der Nationalen Universität in Córdoba
Hochschulautonomie, paritätische Mitbestimmung, Gebührenverbot, Wissenschaftsfreiheit und Einheit von Forschung
und Lehre forderten. Die Verpflichtung der Universität in die
Gesellschaft hineinzuwirken und lateinamerikanische Solidarität waren weitere wichtige Themen für die Studierenden. Diese
Forderungen machte sich der erste internationale Studierendenkongress, der 1921 in Mexiko Stadt stattfand, zu eigen.
s UBA – Facultad de Ingenieria:
Dorische Klassik für Evita, Säulen heilige Argentiniens. Peróns Gattin
ließ für ihre Stiftung 1951 diesen
Monumentalbau am Paseo Colón
fertigen, der 1966 der Ingenieur wissenschaftlichen Fakultät der
UBA übertragen wurde – im Jahr
der Besetzung der Universität durch .
die „Argentinische Revolution“. Bis heute sind die Hochschulen Argentiniens und Mexikos
Vorbilder für die gesamte Region. Die Hauptstadtuniversitäten
Schaufenster zweier sich sehr unterschiedlich entwickelnder
Wissenschaftssysteme und Symbole zweier entgegen gesetzter Nationenbildungsprojekte. Sie sind Gralshüter nationaler academia
– und doch stehen sie auch für die Idee lateinamerikanischer
Einheit durch Wissenschaft, Bildung und Kultur.
Als sich die Universität in Argentinien 1918 von der Fessel
politischer Einflussnahme, religiöser Überwachung und ideologischer Indienstnahme befreite, wurde die koloniale Peripherie
zum Vorreiter der Wissenschaftsfreiheit. Schon 1821 war die
Universidad de Buenos Aires (UBA) nach europäischem Vorbild
als Volluniversität gegründet worden, das heißt als eine Hochschule im Geiste eines universellen Bildungsideales, an der das
Studium aller wichtigen Wissenschaften möglich ist. Die im
Zuge der Masseneinwanderung angeworbene europäische Wissenschaftlergeneration gab dem modernen Forschungsstandort
Argentinien entscheidende Impulse und integrierte das Land
in die globalen Wissensströme.
Das dichter besiedelte und stärker kolonial erschlossene Mexiko
hingegen verfolgte ein entgegengesetztes Nationenbildungsprojekt: Statt auf Europäisierung setzte Mexiko auf Vermischung,
was der Realität der stark hybridisierten Bevölkerung Rechnung trug. Das Bekenntnis zu dieser sollte die ethnische und
kulturelle Fragmentierung der Kolonialgesellschaft überwinden. Die Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM)
wurde erst 1910, kurz vor der Mexikanischen Revolution in
diesem Geiste als republikanische und säkulare Hochschule
gegründet.
sEuropäisch inspirierter Historismus:
Der Bau der Wirtschaftswissenschaftlichen
Fakultät von 1908 der Universität von
Buenos Aires an der Avenida Córdoba
steht für den Glanz der Jahrhundertfeier
und das Selbstverständnis Argentiniens
als ­euro­päischer Staat.
s UNAM – Biblioteca central:
Aztekenkult. Der Campus der Autonomen
­Nationaluniversität von 1954 im Süden von
­Mexiko Stadt beherbergt ein Welterbe, das
die Verschmelzung von indigenem und euro­
päischem Erbe ebenso ausdrückt wie den
­Modernitätsanspruch Nachkriegsmexikos. Bildungspolitik im regionalen Kontext
p
1968 in Mexico City:
“Únete pueblo!” – Am 26. August 1968 besetzte eine Menge unter Führung
der Studentenbewegung den Zentralplatz der Hauptstadt, an dem auch der
Präsidentenpalast liegt. Antwort auf die friedliche Demonstration war dieser
Aufmarsch von Schützenpanzern zwei Tage später. Aufgrund dieser Entwicklung in Mexiko und Argentinien, wie
auch in der ganzen Region, waren Studierende und Lehrpersonal der Universitäten noch ein halbes Jahrhundert später ein
Hort der gesellschaftlichen Modernisierung, aber auch der
­sozialen Radikalisierung. Hochschulautonomie und Wissenschaftsfreiheit blieben denn auch bis in die 1980er Jahre hinein
äußerst fragile Rechtsgüter. Die belagerte Universität musste
weiter um ihre Freiheiten bangen.
Die Attraktivität der Hochschulen blieb trotz dieser Schwierigkeiten ungebrochen: Heute studieren an UBA und UNAM
jeweils über 300 000 Studenten, was sie zu den beiden größten
Universitäten der Region macht. UNAM und UBA werden
meist unter den besten 200 Universitäten der Welt verortet.
Doch während andere mexikanische Universitäten in den
Rankings kontinuierlich regionale Spitzenplätze belegen,
­gelingt es dem argentinischen Wissenschaftssystem außerhalb
von Buenos Aires nicht, zum Niveau der UBA aufzuschließen.
Die Qualitätsunterschiede liegen auch in der unterschiedlichen
Finanzausstattung der beiden Volluniversitäten begründet: Die
UNAM erhält vom Bundesstaat jährlich umgerechnet etwa
1,9 Mrd. Euro (2012), die UBA lediglich ein Achtel dieses Betrages. Was Argentinien neben einer besseren Mittelausstattung
jedoch fehlt, ist eine Vision für sein Wissenschaftssystem im
vernetzten und technologischen 21. Jahrhundert. Nicht zuletzt
mangelt es an einer kohärenten Internationalisierungsstrategie,
die sowohl die positiven Entwicklungen in den Nachbarstaaten
– vor allem in Brasilien und Chile – aufnimmt und als Chance
zur nachhaltigen Zusammenarbeit begreift als auch mit den
USA und den EU-Mitgliedstaaten neue Potentiale der Kooperation erschließt, die über ad hoc Initiativen hinausgehen.
Mexiko startete seine wissenschaftliche Karriere später als
­Argentinien und hat es doch vermocht, im 20. Jahrhundert
­seiner Hauptstadtuniversität durch weniger politischen Druck,
stärkere Mittelkonzentration und vor allem mehr Vollzeitstellen bei besserer Bezahlung günstigere Rahmenbedingungen zu
schaffen. Von der neuen Hochtechnologieförderung im Weltraumbereich profitiert die UNAM ebenfalls. Für die Regierungen
von Vicente Fox und Felipe Calderón im ersten Jahrzehnt des
21. Jahrhunderts spielte Wissenschaftsförderung keine besondere Rolle. Mexiko hat jedoch geschickt seine Nähe zum
nordamerikanischen Bildungsmarkt genutzt, um durch Austauschprogramme und Gastprofessuren den Aufstieg seiner
Universitäten zu flankieren. Seit 1994 wirtschaftlich eng an die
Vereinigten Staaten gebunden, haben mexikanische Hochschulen
vom nordamerikanischen Beispiel gelernt und Studenten- und
Professorenschaft internationalisiert, anstatt in Wissenschaftsprovinzialismus zu verfallen, der mancherorts im argentinischen
Bildungssystem noch immer akzeptiert wird.
Auf einem sehr hohen Niveau der Hochschulbildung gestartet
hat die Qualität der argentinischen Hochschulen immer wieder
stark unter der unsteten politischen und wirtschaftlichen Entwicklung gelitten. In Mexiko gab es im Gegensatz dazu unter
der langen Herrschaft der Partido Revolucionario Institucional
(1929–2000) zwar Korruption, aber keinen einzigen Staatsstreich. Die Ausrichtung argentinischer Hochschulen nach
Europa hin war historisch erfolgreich, dennoch befinden sie
sich seit dem gewaltsamen Einschnitt durch die Militärdiktatur
von 1966, der zu einer Massenemigration von akademischem
Personal führte, in einer Abwärtsbewegung. Die Regierung
von Präsidentin Kirchner seit 2006 versucht durch ein Hochschul- und Hochtechnologieprogramm diese Entwicklung zu
korrigieren. Die gegenwärtigen Finanznöte der Regierung werden diese positive Entwicklung jedoch wieder verlangsamen.
Trotz Rückschritten in Argentinien, einem der regional erfolgreichsten Wissenschaftssysteme im 20. Jahrhundert, scheint zu
Beginn des 21. Jahrhunderts der Aufstieg Mexikos, aber auch
von Ländern wie Brasilien und Chile nicht mehr aufzuhalten
zu sein. Es besteht also Hoffnung für die Gelehrtenrepubliken
Lateinamerikas.
Christian E. Rieck, Jg. 1978, ist Senior Analyst am Global Governance
Institute in Brüssel, mit Schwerpunkt auf aufstrebenden Schwellenländern
und Lateinamerika. Davor arbeitete er sechs Jahre für die KonradAdenauer-Stiftung in Berlin und das Leibniz-Institut für Globale und
Regionale Studien GIGA in Hamburg. Er studierte in Bayreuth, Sevilla,
Berlin, Florenz und Oxford und war 2002 Stipendiat des Carlo-Schmid-­
Programms in der Wirtschafts- und Sozialkommission der Vereinten
Nationen für Lateinamerika CEPAL in Mexiko Stadt. Er ist derzeit
­Forschungsstipendiat des Instituts für Auslandsbeziehungen in Stuttgart
zum Thema Außenwissenschaftspolitik.
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Interview
„A Tsunami in Education“:
Interview mit
Xavier Prats-Monné
Anlässlich der Konferenz des Bundesministeriums für Bildung
und Forschung "Berufliche Bildung in Europa – Perspektiven
für die junge Generation", traf ad hoc den stellvertretenden
Generaldirektor für Bildung der Europäischen Kommission,
Xavier Prats-Monné, 57, zu einem Gespräch im Hotel Maritim
am Potsdamer Platz in Berlin. Der fröhliche Katalane sprach
mit ad hoc über die europäische Dimension der Bildung,
Tsunamis, Don Quijote und Entrepreneurship Education.
ad hoc: You are here in Berlin for a conference on vocational
education organized by the German Ministry of Education and six
other EU member states. – what exactly is the Commission's interest?
Xavier Prats-Monné: Our interest here, apart from being
invited by a member state, is a broader one: We want to give a
European dimension to education and youth employment.
There is actually a problem of skills mismatches.
ad hoc: You mean mismatches between what you learn at school
and what you have to deliver on the labor market?
Prats-Monné: Not just that. We currently have youth unemployment rates of 23 % in the EU, with 55 % in Greece and
Spain, which means five and a half million young people unemployed. This is really staggering. At the same time, you have two
million unfilled jobs in the EU, especially in the health, science
and information technology sectors. This is very striking because it is not just unemployment but a mismatch. And this is
unprecedented. Other recessions did not produce this kind of
mismatch.
ad hoc: Speaking of the European dimension of education: Do you
think there is something specifically 'European' about our education systems compared to those of other countries, such as China?
Prats-Monné: Yes. Not surprisingly, universities are a European
invention. Maybe this is actually the most important European
contribution to humanity. The way we see the link between
education and society: education is not just for productivity
and work, but also for creating critical citizens. The European
idea of education has a very clear sense of the rights of indivi­
duals, of democracy being linked to citizens capable of making
critical judgments. Some emerging economies like China have a
very determined focus on education as a way towards p­ rosperity
and also to address inequalities. They see education as it was
seen in Europe maybe fifty years ago: as an extraordinary way of
social progress.
ad hoc: How does this translate into the understanding
of education?
Prats-Monné: It is a big difference and has many consequences,
for example an extraordinary increase in the quantity and
quality of education. If you look at the PISA indicators you see
that some Asian countries like South Korea or the city of
Shanghai have top results. At the same time, we see evidence
that for the 21st century and the very rapid changes of our
societies, pure accumulation of information are less important
because it is obsolete very quickly. Yet, cognitive skills are the
ones that are easy to teach and on which many emerging
economies focus on, with young people spending up to twenty
years of their lives studying to accumulate knowledge rather
than developing the capacity for creativity, innovation,
­communication and entrepreneurship.
ad hoc: And are these European qualities?
Prats-Monné: Yes, in the sense that in Europe there is a
sophisticated view on what education should be. But we do
have a big challenge in adapting education systems to what I
think is a tsunami in education.
ad hoc: A tsunami in education?
Prats-Monné: Demography, technology and globalization
combined are having an extraordinary impact on education,
promising great potential and opportunity. Ever since school
has existed, the main principle has been that you get informa­
tion at school and do homework at home. Now we actually can
get information at home. This means that we have a much
­nobler function of school, namely to discuss how this information is understood. This is what education is about. This is a
very fundamental change in who provides education and in the
balance between equity and excellence.
With every technological innovation such as the invention of
the radio, the television and the computer there were great ­hopes
that have not been met with regard to their implications for
­education. But I really think that we are now at a turning point.
To give you an example: Don Quijote was written 400 years
ago. For 390 years, the availability of Don Quijote was exclusively based on one thing: the number of hard copies available.
For the past ten years, anybody, at any time, for free, and simultaneously can have a copy of Don Quijote. This is so extraordinary
and such an important change it we have to look at that and
how we can exploit it.
Interview
ad hoc: How is the EU addressing these challenges?
Prats-Monné: It is everybody's task to ensure that we do not
just suffer these tsunami waves, but that we manage change. In
the field of education as in many others, the EU has limited
competencies. We cannot and should not and do not intend to
tell countries what to do, but we should tell them how they are
doing. The first thing is to provide more evidence. The second,
that we have policies and funding, which is significant. We
provide an incentive and a complement to the modernization
strategies of member states in education institutions. Education
systems by nature are very slow to react to social changes, but
now things are so quick that we must provide the support to
institutions, teachers, ministries of education. Former Harvard
Dean Derek Bok once said: "If you think education is expensive,
try ignorance." But not only do we need more money in education, we also must find the ways in which education is effective.
ad hoc: Let's talk about visions. When my 9-year-old son threw a
snowball at school, which is forbidden, he had to write an essay
about the school of his dreams. He started out: "In my school we
would have snowballs made of cotton …". What does the school of
your dreams look like?
Prats-Monné: I would have much more imagination if I were
9 years old. That is actually one of our problems: Somehow, as
we grow, we are gaining in information, but not in fantasy.
What your son said is not just clever, it is out of the box. This is
what we need. I find it very striking that schools are like 19th
century factories which produce products with an expiration
date. Differences between students due to age are much smaller
than the difference due to personality, capacity, inventiveness.
If we really look at the education in the 21st century, classrooms
should look like the society of the 21st century where
differences in age, race, background are less important.
ad hoc: Could you name some of the tools that the EU offers?
Prats-Monné: The Europe 2020 strategy has one merit: From
the broad Christmas tree of policy priorities, there are only a
few top concerns, one of them is education. That means education is at the forefront of EU policy priorities. We have a EU
quantified target for tertiary attainment of 40 % and a target
for the reduction of early school leaving in the EU: 10 %. Also,
not just having education as a satellite but having it as part of a
growth strategy. Important for us is also the EIT, the European
Institute of Innovation and Technology. It links business,
research and education. In November, we published a strategy
paper, "Rethinking Education", where we sum up our policies
and tools.
ad hoc: So would your school mix different ages and cross
boundaries?
Prats-Monné: It would be a school based more on the needs of
the learner instead of what people should learn theoretically.
This should be the focus of education policy, to try to ensure
that teaching and learning become what they were meant to be a
long time ago: interesting – as your son surely also wants it to be.
ad hoc: Thank you very much for this interview. It was a pleasure.
ad hoc: This paper clearly states that good education will
contribute to innovation and growth …
Prats-Monné: The link between education and growth is not
automatic and not a linear relationship. But we must make sure
that the world of education and the world of work are closer
together. And we need to analyze together with countries how
they are ensuring, particularly in times of fiscal discipline,
­investments in education.
ad hoc: Finland and Sweden have integrated entrepreneurship
education in their curricula and foster entrepreneurship education early at school.
Prats-Monné: In Europe there is a pretty low level of interest
in participation in entrepreneurship education compared to
other developed economies like the USA. And this is more
than fear of the crisis, as the US labour market is looking more
and more like the European one – and still you see more young
people interested in entrepreneurship. The Nordic countries
with a strong welfare state and a very high level of social equality
do foster entrepreneurship. This is interesting because the simplistic view sometimes suggests that in order to have entrepreneurs
you have to have a jungle, and that only in a jungle people will
be competitive. This is not true. You can be creative and have a
strong sense of equality, which is exactly the example of social
democracies in Northern Europe.
Das Interview führte Stephanie von Hayek. Fachliche Vorbereitung
in Zusammenarbeit mit Ulrike Storost.
Stephanie von Hayek, Jg. 1971, war 2000/01 Stiftungskollegiatin und
verbrachte ihr Jahr beim United Nations Office for Project Services in
New York sowie bei der Weltbank-Gruppe in Washington D.C. Danach
arbeitete sie als Beraterin in einer Berliner Public Affairs Beratung,
bevor sie mehrere Jahre als Referentin für die Versammlung der
Regionen Europas in Straßburg tätig war. Heute arbeitet sie freiberuflich
als Politikberaterin, Moderatorin und Journalistin in Potsdam. Sie
promoviert an der Humboldt-Universität zum Thema „Berufung.“
Ulrike Storost, Jg. 1977, war 2003 Carlo-Schmid-Stipendiatin in der
­Bildungsabteilung des United Nations High Commissioner for Refugees. In
Bildungsfragen arbeitete sie im Anschluss bei der Studienstiftung des
deutschen Volkes, der UNESCO in Paris und im Brüsseler Büro der
Bertelsmann Stiftung. Heute ist sie bei der Europäischen Kommission
als Policy Co-ordinator im Bereich der Jugendbeschäftigung tätig.
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8
Bildungslücken in Deutschland
Die Abitur AG auf der Hauptschule:
Ein Bericht über die Initiative
Teach First Deutschland
von Steffen Müller
Welche Erfahrungen sammelt ein Absolvent, der nach seinem
Studium an einem zweijährigen Einsatz für Bildungsgerechtigkeit teilnimmt? Der Bericht gibt Einblick in einen oft vernachlässigten Bildungsbereich in Deutschland.
Im Herbst 2009 erfuhr ich durch einen Zeitungsartikel von der
Bildungsinitiative Teach First Deutschland. Die aus den USA
stammende Idee von Teach for Amercia besteht darin, dass Hochschulabsolventen verschiedenster Fachrichtungen nach ihrem
Studium für zwei Jahre an einer Schule in sozial schwierigem
Umfeld arbeiten – und diese Idee wird nun auch in Deutschland
umgesetzt. Mir war sehr schnell klar, dass ich dabei mitarbeiten
wollte. Aber das hieß zunächst eine aufwendige Bewerbung und
ein anstrengendes Assessment Center durchlaufen.
Nach der Zusage erfolgte ein dreimonatiges pädagogisches
Qualifizierungsprogramm von Teach First Deutschland, welches uns 40 Fellows für unsere Einsätze in Schulen in Berlin,
Hamburg, Thüringen, NRW und Baden-Württemberg vorbereitete. Das war gut, denn von Haus aus bin ich Ingenieur für
Elektrotechnik und hatte nach dem Studium mehrere Jahre
lang Kraftwerke in Betrieb gesetzt. Außer meiner eigenen
Schulzeit hatte ich damals wenig Ahnung von Schule, aber ich
war immer davon überzeugt gewesen, dass ich persönlich viel
Glück auf meinem Bildungsweg gehabt hatte – und nun wollte
ich etwas davon an benachteiligte Jugendliche zurückgeben.
Mir wurde eine Schule in der Nähe von Stuttgart vorgeschlagen und ich unterschrieb einen Vertrag für zwei Jahre. So wurde
ich Mitarbeiter an einer Haupt- und Werkrealschule.
Eines meiner Projekte war die Abitur AG. Aus meinen eigenen
Schulerfahrungen kenne ich den zu erwartenden Leistungssprung beim Übergang von der 10. Klasse Werkrealschule auf
ein Gymnasium. Ich wollte Schüler auf Phasen in ihrer
Schullaufbahn vorbereiten, die mir selbst schwer gefallen
waren. Und dieser Wechsel auf ein Gymnasium, den mehrere
meiner Schüler nach ihrer Abschlussprüfung planten, ist
sicherlich so eine Phase.
Ich bestärkte meine Schüler in ihren Plänen und erklärte ihnen
gleichzeitig mit Erzählungen aus meiner eigenen Schulzeit,
welch ein Anforderungssprung auf sie zukommen würde. Das
war sicherlich ungewohnt und führte dazu, dass vier Schüler
mit mir einmal pro Woche freiwillig nachmittags zwei Stunden
schwierigen Stoff in Mathematik und Englisch nacharbeiten
wollten. Trotz Bedenken der Schulleitung und einiger Kollegen wurde die Abi AG gegründet dies obendrein mit Schülern
aus der schlechtesten 10. Klasse seit Jahren! Unter den vier
Schülern war auch Arno, ein besonders schwer zu durchschauender und schwieriger Junge, der aber für die Abi AG motiviert
schien. Er sagte zu mir: „Ich mache da auf jeden Fall mit! Nach
der 10. Klasse werde ich auf ein berufliches Gymnasium gehen.
Mein Ziel ist mindestens ein abgeschlossenes Studium!“ Ich war
beeindruckt, denn Arno sagte nicht: „Ich will“, er sagte: „Ich
werde.“
Trotz aller, auch meiner eigenen, leisen Zweifel lief die erste AG
sehr gut. Während in anderen AGs Fußball gespielt oder Musik
gemacht wurde, paukten wir richtig schweren Mathematikstoff.
Arno entwickelte sich prächtig im Kurs, war schnell der zuverlässigste und pünktlichste Teilnehmer von allen und machte
sogar als einziger immer wieder zuhause Zusatzaufgaben. Erst
später sollte mir klar werden, dass er zwar fachlich gut mitkam,
dass es aber an anderen Stellen ganz andere Probleme für ihn
und seine Mitschüler gab.
Einige Wochen nach dem Start der AG saß ich mit Arno
zusammen an einer Bewerbung für „Talente im Land“, einem
Stipendienprogramm der Robert Bosch Stiftung. Ich hatte
Arno davon erzählt, und er hatte mich gefragt, ob ich ihm vielleicht helfen könne, denn weder seine Mutter noch er wussten,
was er da genau schreiben sollte. Natürlich half ich, denn ich
war bewegt von seinem Willen: Etwas wollen, nicht wissen, wie
es geht und niemand, der einem dabei hilft. Arno hat das
Stipendium am Ende nicht bekommen. In der Rubrik „Soziales,
gesellschaftliches oder politisches Engagement“ hatte er nichts
Bildungslücken in Deutschland
iSchüler in der Abi AG arbeiten konzentiert an anspruchsvollen
Mathematikaufgaben. Auch Gespräche über Weichenstellungen
in der Schullaufbahn waren ein fester Bestandteil der Abi AG.
einzutragen. Alle anderen Bewerbungsvoraussetzungen – aus
­einer Migranten-Familie stammend, wenig Geld im Haushalt,
schwierige Lebensverhältnisse, die einer erfolgreichen Schulkarriere im Wege stehen, besondere schulische Leistungen,
Motivation, Leistungsbereitschaft und Zielstrebigkeit – hätten
ihn geradezu für das Programm empfohlen. Neben Arno haben
sich noch acht weitere Schüler meiner Schule für das Programm beworben. Ich konnte sie alle beim Ausfüllen der
Bewerbung besser kennen lernen, jeder einzelne hat mir viel
von Zuhause erzählt. Und ich musste zu meinem Leidwesen erkennen, dass die meisten meiner Schüler keine Chance auf eine
Förderung hatten, weil sie alle kein soziales Engagement vorweisen konnten. Aber wie denn auch, wenn es ihnen niemand
vorlebt?
Es wurde zum regelmäßigen Bestandteil der Abi AG, dass ich
mich mit meinen Schülern über schwierige Situationen einer
Schullaufbahn austauschte. Dabei wurde mir immer wieder
klar, dass und wie sehr mich meine Eltern unterstützt hatten;
im Gegensatz zu den Eltern meiner Schüler. Die Eltern meiner
Schüler können oder wollen solche Aufgaben oft nicht wahrnehmen. Gerade deshalb ist es ja so wichtig für die Schüler, dass
die Schule von heute das auffängt. Nur so hängt der Bildungserfolg in Deutschland irgendwann nicht mehr vom Elternhaus
ab und wir könnten von Chancengerechtigkeit sprechen. Die
Abi AG war meine Lieblingslerngruppe. Die Schüler machten
gut mit, und ich stellte immer wieder fest: Wenn sie wissen,
­wofür sie lernen, macht es nicht nur ihnen Spaß, sondern auch
mir. Alles, was vorher so schwer und zäh war, wird auf einmal
leicht. So, als ob man plötzlich von der Klasse angeschoben wird,
anstatt mühsam zu versuchen diese zu schieben.
Einige Monate vor den Abschlussprüfungen fuhren wir auf
Studienfahrt nach Berlin. Während der intensiven gemeinsamen Woche fiel sehr deutlich auf, was ich in der Schule schon
oft geahnt hatte. Arno stand sozial am Rand seiner Klasse. Er
begeisterte sich mehr für Naturwissenschaften als für die neueste
Musikgruppe oder angesagte Klamotten. Er war auch gar nicht
darauf bedacht, bei den anderen anzukommen.
Ich machte mir Sorgen, dass diese zwischenmenschlichen
Schwierigkeiten sich auf seine schulischen Leistungen übertragen und ihn von seinen Zielen abkommen lassen könnten. Von
der Klassenlehrerin erfuhr ich außerdem, dass Arno in den
­letzten Jahren bereits mehrfach schwere Situationen in der
Klassengemeinschaft erlebt hatte und dass einmal sogar die
­Polizei zu ihm nach Hause kam, weil er gedroht hatte Amok zu
laufen. Er hatte zwar tatsächlich so etwas gesagt, aber es war
auch so, dass er nicht zu Ende gedacht hatte, was er da sagte.
Denn er stolperte manchmal beim Reden über seine eigenen
Worte, wenn er versuchte, sich so auszudrücken, wie es in den
physikalischen Fachartikeln, die er öfter las, angemessen ge­
wesen wäre, aber nicht auf dem Pausenhof. In Berlin gelang es
uns, Arno immer wieder in verschiedene Kleingruppen zu integrieren, so dass er mit allen mal Kontakt hatte. Tatsächlich
­lernten Arno und die Gruppe so, besser miteinander umzugehen.
Kurz vor Ende des Schuljahres erfuhr ich in der Notenkonferenz, dass Arno bei der Abschlussfeier als bester Schüler des
Jahrgangs geehrt werden sollte! Auch wenn er mit seinen Mitschülern keine besten Freundschaften geschlossen hatte, wurde
ihm bei der Abschlussfeier viel anerkennender Applaus zuteil.
Arno konnte stolz sein. Und er war es – man sah es ihm an.
Ich freue mich, dass zwei Schüler aus meiner AG Abi 2015
den Weg auf ein Berufliches Gymnasium gehen werden. Ein
Schüler entschied sich für das Berufskolleg und wird dort das
Fachabitur anstreben. Ganz bewusst entschied sich Arno, auf
das Biotechnologische Gymnasium zu gehen und zeigt damit
­einmal mehr, wie klar er seinen Weg vor Augen hat.
Die Schüler haben mir versprochen zu berichten, wie es ihnen
weiterhin ergangen ist. Ich bin gespannt und hoffe, dass ich
2015 meinen ehemaligen Schülern zum Abitur gratulieren
kann. Oder bin ich es diesmal, der sagt: ich werde!?
Steffen Müller, Jg. 1982, studierte Elektrotechnik in Karlsruhe und
arbeitete parallel für den Energieversorger EnBW. Seine ersten drei Jahre
internationaler Berufserfahrung sammelte er als Inbetriebsetzungsingenieur
für Siemens mit Projekten in Aserbaidschan, Großbritannien und Italien.
Zuletzt arbeitete er zwei Jahre über die Bildungsinitiative Teach First
Deutschland an einer Hauptschule bei Stuttgart. Im Rahmen des Mercator
Kollegs beschäftigt er sich mit nicht-akademischen Berufsqualifizierungsprogrammen für erneuerbare Energien in Nordafrika.
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Bildungslücken in Deutschland
„Können Sie mir das mal bitte vorlesen?
Ich hab’ meine Brille vergessen …“:
Analphabetismus in Deutschland
von Anne Keilig
In diesem Jahr endet die von den Vereinten Nationen aus­
gerufene Weltalphabetisierungsdekade. Überraschenderweise
ist Deutschland nicht ganz am Ziel, denn auch hier gibt es
­mehrere Millionen Analphabeten. Einige Initiativen versuchen
daher, gegen Unwissenheit, Stigma und letztendlich Analphabetismus selbst anzukämpfen.
Beipackzettel, Antragsformulare, die Führerscheinprüfung –
unüberwindbare Hürden für über sieben Millionen Erwachsene
in Deutschland. Sie können nicht richtig lesen und schreiben
und gelten als sogenannte funktionale Analphabeten. Mit den
Ergebnissen der leo. – Level-One Studie ging 2011 ein Ruck
durch die Gesellschaft. Die empirische Untersuchung der Universität Hamburg brachte erstmals valide Daten hervor und
verwies auf 7,5 Millionen funktionale Analphabeten im Alter
von 18 bis 64 Jahren. Wer als funktionaler Analphabet bezeichnet
wird, hängt davon ab, welcher Grad der Schriftsprachbeherrschung in einer Gesellschaft erforderlich ist, um im alltäglichen
Leben zurechtzukommen.
Der sichere Umgang mit Wort und Schrift wird in Deutschland als selbstverständlich erachtet. Eine Selbstverständlichkeit, die es dennoch für viele nicht gibt. Gebrochene Biografien,
ein schwieriger familiärer Hintergrund oder Krankheit können
Gründe für mangelnde Lesekompetenz sein – trotz eines erreichten Schulabschlusses. Die Betroffenen zeichnen sich oftmals durch überdurchschnittliche Konzentrationsfähigkeit und
Erfindungsreichtum aus, sie haben ein hervorragendes Gedächtnis und sind meistens besonders gute Zuhörer. Über die
Hälfte aller Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten ist
berufstätig. Das sind fast 15 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. Ein Großteil dieser Menschen sind an- oder ungelernte
Hilfskräfte. Sie arbeiten im Baugewerbe, in der Gastronomie
oder der Hauswirtschaft.
In diesem Jahr endet die 2003 von den Vereinten Nationen
ausgerufene und von der UNESCO koordinierte Weltalphabetisierungsdekade. Erklärtes Ziel war es, die Rate der Analpha­
beten weltweit um die Hälfte zu reduzieren. Wie die Zahlen
des aktuellen Education for All Global Monitoring Report
der UNESCO belegen, sind weltweit noch immer etwa
775 Millionen Menschen Analphabeten. In der internationalen Wahrnehmung liegt der Fokus nach wie vor auf Ländern in
Subsahara-Afrika, wie etwa Burkina-Faso mit einer Analpha­
betenquote von 71 Prozent oder Mali mit 69 Prozent Analpha-
beten im Erwachsenenalter. Dass Analphabetismus auch in
westlichen Industrienationen, sogar im wirtschaftlich robusten, fortschrittlichen Deutschland ein Thema ist, wissen die
wenigsten.
Der Deutsche Bundestag beauftragte das Bundesministerium
für Bildung und Forschung (BMBF) daher im Herbst 2011
damit, die Wahrnehmung für das Thema zu stärken und es aus
der Tabuzone in die Öffentlichkeit zu rücken. Gemeinsam mit
verschiedenen Partnern für Alphabetisierung in Deutschland
wie den Ländern, dem Deutschen Volkshochschul-Verband
oder der Stiftung Lesen arbeitet das BMBF aktuell an einer
Informations- und Motivationskampagne zum Thema funktionaler Analphabetismus. Unter dem Motto „Lesen & Schreiben
– Mein Schlüssel zur Welt“ sollen nicht nur die Betroffenen
­angesprochen und ermutigt werden, sich ihrem Defizit zu s­ tellen.
Es geht auch um eine gesellschaftliche Enttabuisierung des
­Themas Analphabetismus und darum, das Umfeld – im Arbeits-,
Freundes- und Familienkreis – zu sensibilisieren und Vorgesetzte,
Bekannte und Verwandte zu ermutigen nicht länger weg­
zuschauen.
Gemeinsam mit Experten und Betroffenen wurden verschiedene
Kommunikationsinstrumente entwickelt, die das Thema über
unterschiedliche Kanäle in die Breite tragen. Im Zentrum
­stehen TV- und Kinospots. Sie erzählen Erfolgsgeschichten
von Betroffenen in verschiedenen Lebenssituationen – im
­Berufsleben, in der Freizeit oder im familiären Umfeld. Gezeigt
werden selbstbewusste Akteure, die den Mut aufbringen, sich
der Herausforderung zu stellen, Lesen und Schreiben zu lernen
– auch noch im fortgeschrittenen Alter. Die Protagonisten der
Spots sind gleichzeitig die Gesichter der Kampagne. Sie tragen
die Botschaft auf Großflächenplakaten in die Bundesrepublik.
Mit dem Zitat „Endlich hab’ ich es gelernt“ vermitteln sie, dass
es nie zu spät ist, um richtig Lesen und Schreiben zu lernen. Im
Zentrum der Kampagne steht ein klarer Handlungsanreiz, der
prominente Verweis auf das kostenlose Serviceangebot des
alfa-Telefons. Hier finden Betroffene und deren Umfeld
Beratung und Unterstützung bei der Suche nach dem passenden Kursangebot.
Um die überraschend hohe Zahl der Betroffenen tatsächlich zu
senken, reicht es jedoch nicht, dem Thema in der Öffentlichkeit mehr Sichtbarkeit zu verleihen. Erfahrungsgemäß nehmen
jährlich höchstens 20 000 Personen an Alphabetisierungskursen
Bildungslücken in Deutschland
i
Entscheidungsträger und Wissenschaftler bei der
Regionalveranstaltung in Trier (v.l.n.r. Brigitte Erzgräber
(Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung
und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz), Rudolf Hahn
(Leiter „Lernen vor Ort“und vhs Trier), Klaus Jensen
(Oberbürgermeister der Stadt Trier), Kornelia Haugg
(BMBF) o
7,5 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben.
Quelle: leo.-Level-One Studie, Universität Hamburg; Bildnachweis: Bundesmini sterium für Bildung und Forschung (BMBF)
teil. Das BMBF fördert seit vielen Jahren arbeitsplatzorientierte Alphabetisierungsmaßnahmen, Fortbildungen für Kursleiter
sowie die Entwicklung von Lehr- und Lernmaterialien. Doch
die Zuständigkeiten auf dem Gebiet der Alphabetisierung sind
geteilt. Alle Verantwortlichen – auf kommunaler, auf Landeswie auf Bundesebene - müssen ihrer Aufgabe nachkommen,
Barrieren abzubauen und Zugänge zu konkreten Hilfsangeboten zu erleichtern. Chancen, aber auch Herausforderungen der
Alphabetisierung diskutieren Wissenschaftler und Politiker
mit Betroffenen im Rahmen von regionalen Fachveranstaltungen. Diese Gesprächsformate tragen dazu bei, die lokalen
Alphabetisierungsangebote bekannter zu machen und das
Engagement der Akteure vor Ort zu würdigen. Zusätzlich eröffnet eine multimediale Ausstellung neuartige und attraktive
Zugänge zum Thema Analphabetismus in Deutschland. Die
Infostellen sind aktuell in zahlreichen Städten Deutschlands zu
sehen. In verschiedenen Interviews, Erklärfilmen und Infographiken halten sie Daten und Fakten bereit, zeigen auf sensible
Weise aber auch, welche Techniken und Kreativität die Betroffenen entwickeln, um ihr Geheimnis zu verbergen und gängigen
Vorurteilen zu entgehen.
Es gibt aber auch im echten Leben wahre Erfolgsgeschichten –
nicht nur in der Kampagne. Tim Thilo-Fellmer zum Beispiel,
der nach zehn zähen Jahren seine Schwäche in eine Stärke verwandelt hat und inzwischen erfolgreicher Kinderbuchautor ist.
Oder Ernst Lorenzen, der seiner Tochter mit 55 Jahren unter
Tränen den ersten Brief geschrieben hat. Da ist auch Jutta Stobbe,
die es nicht mehr ertragen konnte, ihren Kindern nicht bei den
Hausaufgaben helfen zu können und die letztlich erfolgreich
die Meisterprüfung absolviert hat. Sie alle engagieren sich in
Selbsthilfegruppen oder sind als Botschafter des Bundesverbands für Alphabetisierung und Grundbildung e. V. aktiv.
Die Anrufe beim alfa-Telefon sind seit Oktober 2012 von sechs
Anrufen pro Tag auf sechzig signifikant gestiegen. Oft wird die
Hotline nachts gewählt, wenn Partner und Kinder im Bett
­liegen. Nicht selten herrscht Stille am anderen Ende der Leitung
und dann – ein Besetztzeichen. Ein solcher Anruf ist ein erster
Schritt. Er bedeutet aber nicht, dass der Anrufer sich auf den
langen Weg begibt. Und auch nicht, dass er ankommt.
kollegs für internationale Aufgaben ( Jg. 2008/09). Sie hat im UNESCO
Anne Keilig (geb. Darmer), Jg. 1982, war nach ihrem Studium der Kulturwissenschaften, Kommunikations- und Medienwissenschaft und Frankreichstudien an den Universitäten Leipzig und Lyon Stipendiatin des Stiftungs­
Headquarter an der Koordinierung der Weltalphabetisierungsdekade der Vereinten Nationen mitgewirkt und im UNESCO Institute for Lifelong Learning
(UIL) die Umsetzung des Rahmenprogramms LIFE – Literacy Initiative for
­Em­powerment begleitet. Seit 2010 ist sie Referentin im Bundesministerium
für Bildung und Forschung. Aktuell ist sie im Referat Öffentlichkeitsarbeit
für die Koordinierung der Alphabetisierungskampagne „Lesen und Schreiben
– mein Schlüssel zur Welt" zuständig. ([email protected])
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Bildung der Zukunft
Open Education – Wie das Internet
neue Bildungsmodelle schafft
von Damian Borowski
Im vergangenen Jahrzehnt haben sich immer mehr Universitäten
und private Anbieter der freien Verfügbarkeit von ­Informationen
und Lehrmaterialien verschrieben. Doch w
­ elche Trends werden die
Zukunft des sogenannten Open Education-Sektors bestimmen und
wie wird dies traditionelle Bildungsinstitutionen beeinflussen?
Die schnelle Entwicklung des Internets im letzten Jahrzehnt hat
unseren Zugang zu Informationen grundlegend verändert und
somit einen enormen Einfluss auf Bildungssysteme. Wikipedia
oder Google, die uns in wenigen Sekunden Zugang zu enormen
Ressourcen verschaffen, haben neue Möglichkeiten des Lernens
eröffnet. Schüler und Studenten können sich heutzutage nur
schwer vorstellen, ohne das Internet eine Hausarbeit zu schreiben,
aber auch Lehrer und Dozenten erwarten, dass man die im Netz
verfügbaren Ressourcen nutzt. In diesem Sinne hat das Internet
bisher den traditionellen Bildungsprozess unterstützt, doch seit
einigen Jahren werden im Bereich e-Learning Projekte initiiert,
die den Lernprozess als Ganzes in das Internet übertragen. Ein
Aspekt hiervon ist Open Education, die auf volle Zugänglichkeit
durch Reduzierung von Eintrittsbarrieren setzt. Kurz: Jeder, der
einen Internetzugang hat, kann umsonst lernen. Open Education
geht unter anderem auf die Veröffentlichung von Lehrvideos
der Universität Tübingen im Jahr 1999 zurück. Ein Durchbruch
gelang 2002, als das Massachusetts Institute of Technology das
Projekt MIT OpenCourseWare initiierte. Darauf aufbauend
wurde ein Konsortium gegründet, das heute hunderte Hochschulen umfasst. Auch edX, das neben MIT auch die Harvard Universität zu seinen Mitgliedern zählt, wurde als Plattform für kostenlose
Onlinekurse entwickelt, ist aber gleichzeitig ein Forschungsprojekt, welches die Rolle von Technologie im Lernprozess untersucht.
Das Konzept von Open Education ging in der letzten Dekade einen
weiten Weg und wird in Zukunft einen erheblichen Einfluss auf
traditionelle Bildungssysteme haben. Drei Trends spielen dabei
eine besonders wichtige Rolle: Personalisierung, Dezentrali­
sierung und zunehmende Interaktion und Kollaboration.
Während man zu Beginn allenfalls Videoaufzeichungen aus
Vorträgen abrufen konnte, gehört es heute zum Standard, dass
Nutzer von Plattformen wie der Khan Academy Gelerntes durch
individuell gestaltete Übungen vertiefen und ihren Fortschritt
verfolgen können, was den Lernprozess effizienter gestaltet.
Weiter werden immer mehr Start-ups die Position von Schulen
und Universitäten, die als etablierte Institutionen den Bildungsmarkt dominieren und auch im e-Learning-Bereich aktiv sind,
unterminieren und das System dezentralisieren. Außerdem hat
sich mit dem Aufstieg von sozialen Medien das Verständnis des
Internetnutzers als passivem Konsumenten als falsch erwiesen.
Es entstehen immer mehr Lernplattformen, die uns helfen sollen,
direkt von anderen zu lernen, aber auch unser Wissen weiter zu
geben. Die seit 2009 existierende Peer to Peer University (P2PU)
zum Beispiel funktioniert anhand von Kollaboration und ohne
eine klare Einteilung in Lehrende und Lernende. Dass ein personalisiertes, dezentralisiertes und auf Kollaboration basierendes
Lernen im Netz die traditionelle Bildung vollkommen ersetzen
könnte, scheint zumindest heute unrealistisch. Neue Bildungsmodelle stellen noch keine seriösen Alternativen zum traditionellen Bildungssystem dar. Denn neben der Wissensweitergabe
müssen sie noch etwas anderes anbieten können: glaubwürdige
Qualifikationen. Bei den besten Online-Prüfungen ist die
Wahrscheinlichkeit, dass geschummelt wird, viel höher als bei
einer traditionellen Klausur. Dies ist auch der Hauptgrund dafür,
dass man bei keinem der Open Education-Anbieter ein Diplom
erlangen kann. Solange dieses Zertifizierungsproblem nicht
überwunden wird, kann Open Education die Chancen auf dem
Arbeitsmarkt nicht wirklich erhöhen. Deshalb sind neue Bildungsmodelle zur Zeit vor allem für Menschen in der entwickelten
Welt interessant, beispielsweise Studenten aus der Mittelschicht,
die mit dem Kursangebot ihrer Hochschule nicht zufrieden sind.
Doch es gibt auch Ausnahmen. Die Khan Academy engagiert
sich mit ihrem Angebot in den Entwicklungsländern, und eine
der bekanntesten Studentinnen der Lernplattform Udacity
ist die elfjährige Khadijah Niazi aus Lahore (Pakistan), die den
Physics 100 Kurs erfolgreich abgeschlossen hat.
Obwohl der Weg zu einer Bildungsrevolution noch weit ist, spielen neue Bildungsmodelle eine wichtige Rolle und erweitern
somit das klassische Bildungsangebot. Dies ist auch dringend
nötig, denn moderne Bildung muss den Anforderungen der Zeit
standhalten. Verschwimmende Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen, eine Flut von Informationen, der Bedarf an Kreativität – dies sind nur einige Herausforderungen für
Bildung im 21. Jahrhundert. Während die Reaktion der traditionellen Bildungswelt bisher eher langsam war, versuchen neue Bildungsmodelle wie Open Education hierfür Antworten zu finden.
Damian Borowski, Jg. 1986, studierte Internationale Beziehungen in Krakau (­ Polen)
und Siegen, sowie Public Policy und Europäische und Internationale ­Governance
an der Hertie School of Governance in Berlin. Er arbeitete in der Botschaft der
Republik Polen in Berlin als Referent für Wissenschaft und Forschung und untersuchte 2011/12 als Mercator-Kollegiat im Bundesministerium für Bildung und
Forschung, der Europäischen Kommission und dem Unternehmen InnoCentive in
London die EU-Innovationspolitik als Quelle wirtschaftlichen Wachstums.
Bildung als Teil der Entwicklungspolitik
Education First: Neue Initiativen
zur Bekämpfung der Bildungsmisere
in Entwicklungsländern
von Caroline Schmidt
Ein Zusammenhang zwischen verbesserter Bildung und sozialem Aufstieg wird allgemein angenommen. Um auch Kindern
in den ärmsten Ländern die entsprechenden Bildungschancen
zu bieten, liegt jedoch noch ein weiter Weg vor der Entwicklungszusammenarbeit. Neue Initiativen sollen hier einen
Anschub geben.
Vor kurzem unterhielt ich mich mit Joseph, einem 28-jährigen
Gärtner in Lilongwe, Malawi. Ich fragte ihn, ob es ihm wichtig
sei lesen zu können. Dabei bezog ich mich auf das Motto des
Fotowettbewerbs „Reading Changed My Life“ der Global Partnership for Education, für die ich die letzten vier Jahre gearbeitet habe. Ich war überzeugt, dass Lesen wichtig für ihn ist, um
seinen Kindern beim Lernen zu helfen und seinen Betrieb aufzubauen.
Joseph erzählte mir, er sei nur ein paar Jahre zur Schule gegangen, bis er im Alter von elf Jahren zu seinem älteren Bruder zog.
Lesen sei ihm nicht so wichtig, außer wenn er sich in der
Zeitung über Neuigkeiten informieren wolle. Seine Frau sei
überhaupt nicht in der Schule gewesen. Sein ältester Sohn
besuche eine staatliche Grundschule, weil diese bis zur siebten
Klasse bis auf die Kosten für Schulkleidung, Hefte und Bücher
kostenlos sei. Seinen zweiten Sohn werde er auch zur Grundschule schicken, aber Sekundarschulbildung könne er sich für
beide nicht leisten. Für die muss man bezahlen, und weil es
danach sowieso unmöglich ist, die Jungen aufs College zu
schicken, brauchen sie auch nach der Grundschule nicht weiter
zur Schule zu gehen. Mit den Möglichkeiten für ein besseres
Leben, welche Bildung bieten kann, schien sich Joseph nicht
auseinandergesetzt zu haben, vielleicht deshalb, weil es dafür in
seiner Lebensumgebung, einem der ärmsten Viertel in Lilongwe,
keine Anregungen oder Hilfestellung für Eltern gibt. p
Schulklasse einer Grundschule in Lilongwe, Malawi
s
Schülerinnen einer Mädchenschule in Malawi
International wurde in den letzten Jahren viel Arbeit geleistet,
um die Möglichkeiten von Zuschüssen aus nationalen sowie
bi- und multilateralen Bildungsprogrammen zu steigern. Im
Vergleich mit anderen sozialen Bereichen, wie zum Beispiel
dem Gesundheitssektor, gibt es hier noch Nachholbedarf.
Die komplexen Wirkungs- und Abhängigkeitsketten im
Bildungsbereich – von Schulgebäuden über Lehrpläne bis hin
zu Lehrerausbildung, Tests für die Schüler und Finanzierung
des Schulbetriebs – erfordern eine langfristige, kohärente,
umfassende und zuverlässige nationale Zuwendung und internationale Unterstützung. Um Wirkungen einschätzen zu können, bedarf es längerer Zeiträume.
Seit langem setzt sich der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon
für bessere Bildungschancen ein. Um das Profil und die globale
Arbeit für Bildung in Entwicklungsländern zu stärken, setzte
Ban Ki-moon deshalb im Juli 2012 Gordon Brown als Special
Envoy for Global Education ein und rief am 26. September 2012
die neue UN-Initiative Education First! ins Leben. Education
First verfolgt drei übergeordnete Ziele: (1) Jedes Kind im Grundschulalter einzuschulen; (2) die Qualität von Bildung zu erhöhen; und (3) die Förderung globaler Bürgerschaft. Education
First wird helfen, Bildung weiter oben auf die globale Entwicklungsagenda zu setzen und in der Diskussion über die Zeit nach
2015 als Priorität zu erhalten. Gleichzeitig soll mehr Geld für
Bildung beschafft werden: Nationale und internationale Bildungsinvestitionen in Entwicklungsländern sollen auf US$ 24
Milliarden pro Jahr erhöht werden. Dafür sollen die staatliche
Förderung des Bildungssektors bei mindestens fünf bis sechs
Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegen und die Unterstützung von Bildungsmaßnahmen innerhalb humanitärer Hilfe
verdoppelt werden.
p
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Bildung als Teil der Entwicklungspolitik
EDU CAT ION FIRS T
The United Nations Secretary-General’s initiative:
Put every child in school
Improve the quality of learning
Foster global citizenship
WRITE OR COUNT WELL,
250 MILLION CHILDREN CANNOT READ,have
a fundamental right to free primary schooling of
even those with at least four years in school. Children
children yearn for the opportunity to fulfill their
good quality. Parents want their children in school, and
economies, better health, political stability and a
dreams. Educated nations are more likely to enjoy vibrant
respect for human rights.
“When we put Education First, we can reduce poverty and
er
hunger, end wasted potential—and look forward to strong
and better societies for all.” —Ban Ki-moon #EducationFirst
Insbesondere aber muss die Frage geklärt werden, ob die Partnerländer, in denen die Bildungssysteme die meiste Unter­
stützung brauchen, überhaupt mehr Geld effektiv verwenden
und umsetzen können. Die notwendige Aufklärungsarbeit
wird bereits durch lokale zivilgesellschaftliche Organisationen
geleistet und muss von Geberpartnern zuverlässig unterstützt
werden, um offenen Austausch, Transparenz, Vertrauen und
Verantwortung vor allem auf lokaler Ebene zu stärken. Ansätze
wie Eltern-Lehrer-Vereinigungen oder Schulmanagementkomitees, die unter anderem von der Weltbank, UNICEF und
NGOs seit Jahren gefördert werden, gehören zu den Möglichkeiten, Schulbildung besser an lokale Bedürfnisse anzupassen
sowie Kontrollmechanismen und Mitbestimmung zu stärken.
Im September 2012 haben führende Akteure in der internationalen Bildungskooperation den Aktionsplan „Education Cannot Wait“ vereinbart, um Bildung in Katastrophen- und Konfliktsituationen zu schützen. Zur gleichen Zeit haben die
Globale Bildungskampagne und Education International eine
neue Kampagne ins Leben gerufen, die sich auf die zentrale
Rolle von Lehrern für die Gewährleistung von Bildungsqualität bezieht: „Every Child Needs a Teacher“. Beide Organisationen sind wichtige zivilgesellschaftliche Vertreter im Leitungsgremium der Global Partnership for Education, die über große
Netzwerke in Entwicklungsländern verfügen und einen wichtigen Teil zum Informationsaustausch zwischen globaler, nationaler und lokaler Ebene beitragen. Am 10. Oktober 2010 fand
zum ersten Mal der Internationale Mädchentag der Vereinten
Nationen statt, an dem eine neue globale Aktionskampagne,
10 ×10, vorgestellt wurde.
Die Entfernung von Eltern wie Joseph, die arm sind und nur
wenig oder gar keine Schulbildung erfahren haben, zum öffentlichen Sektor, zu Institutionen und der Regierung ist extrem
groß. Sie denken oft, dass man nichts bewirken kann und dass
öffentliche Stellen in die eigene Tasche wirtschaften anstatt für
das Wohl der Familien zu arbeiten. Auch andere Gespräche, die
ich in Lilongwe führte, zeigen, dass Bildung für Kinder nicht
unbedingt als ein Recht von Eltern wahrgenommen wird, sondern als ein Angebot, dass ihnen für einen gewissen Zeitraum
gemacht wird. Ob dieses Angebot bewirkt, dass die Kinder
künftig lesen, schreiben, rechnen und logisch denken können,
scheint weniger wichtig zu sein. Diese Haltung ist insbesondere
bei jenen Eltern ausgeprägt, die selbst nicht zur Schule gegangen sind und ein sehr geringes Einkommen haben, für deren
Kinder weiterführende Schulbildung nicht in Frage kommt
und die bezweifeln, dass mehr Schulbildung zu einer (besseren)
Arbeit führen kann.
Doch die Statistiken scheinen zu belegen, dass Bildung eine
positive Wirkung auf die Gesundheit von Müttern und Kindern, auf Armutsminderung, Wirtschaftswachstum und soziale
Stabilität hat. Zwischen 1970 und 2009 haben 8,2 Millionen
mehr Kinder das fünfte Lebensjahr erreicht. Ein maßgeblicher
Grund dafür war, dass junge Frauen zur Schule gegangen
waren. In Bangladesch fielen die Fälle von Müttersterblichkeit
von 724 pro 100 000 Geburten im Jahr 1990 auf 338 im Jahr
2008, nachdem der Zugang zu kostenloser Grund- und Sekundarschulbildung eingeführt wurde. Ein 2007 erschienenes Arbeitspapier der Weltbank zeigt, dass eine verbesserte Qualität
der Schulbildung zur Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes
beitragen kann. Die UNESCO schätzt, dass die Armutsrate
um bis zu 12 Prozent sinken könnte, wenn alle Kinder eines
Entwicklungslandes lesen könnten. Der Weltentwicklungsbericht 2007 zeigt, das sich jedes zusätzliche Schuljahr, dass ein
Mensch in einem Entwicklungsland abschließt, mit einer bis zu
zehnprozentigen Erhöhung auf sein oder ihr Einkommen
niederschlagen kann. Es lohnt sich also für alle, weiterhin in
Bildungsprogramme zu investieren!
Caroline Schmidt, Jg. 1981, studierte Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Chemnitz. Im Stiftungskolleg für Internationale Aufgaben
2007/08 beschäftigte sich Caroline mit aid effectiveness im Bildungssektor und war im BMZ, in Washington, DC im Sekretariat der Global
Partnership for Education (GPE) und bei UNICEF Sierra Leone. Von
2009 bis 2012 hat Caroline im GPE Sekretariat gearbeitet und ist seit
November Bildungsberaterin in der Deutschen BACKUP-Initiative
„Bildung in Afrika“.
Bildung als Teil der Entwicklungspolitik
Beruf statt Straße: Ein Berufsbildungszentrum in Kambodscha bietet jungen
Menschen einen Weg aus der Armut
von Mira Schneiders
Die Straßenkinder von Phnom Penh haben keine Zeit zum
Lernen, denn jede Stunde auf der Schulbank ist eine Stunde
ohne überlebensnotwendiges Einkommen. Staatliche Hilfe,
um die Straße verlassen zu können, gibt es für diese Kinder
nicht. Eine NGO mit Social Business-Ansatz bietet Lösungen an.
Srey Mom (Name geändert) war 12 Jahre alt, als sie das erste
Mal von ihrer Mutter zum Betteln geschickt wurde. Nachdem
ihr Vater an AIDS gestorben war, trieb die Armut ihre Familie
aus der Provinz nach Phnom Penh, die Hauptstadt Kambodschas. Ohne Wohnung, ohne Geld, mit einem kleinen Bruder
und mit einer von HIV geschwächten Mutter war Srey Mom
alleine für das Überleben ihrer Familie verantwortlich. Durch
Betteln konnte Srey Mom am Tag weniger als einen US-Dollar
einnehmen: kaum genug, um sich über Wasser zu halten. Srey
Mom schnüffelte Klebstoff, um ihren Hunger zu unterdrücken.
Es gibt zahlreiche Schicksale wie das von Srey Mom. Weltweit
leben nach Schätzung von UNICEF zirka 100 Millionen
Kinder und Jugendliche auf der Straße. In Kambodscha sind
es knapp 6 000 in den sechs größten Städten, mehr als die
Hälfte von ihnen lebt in der Hauptstadt Phnom Penh.
Viele dieser Kinder haben keinen Kontakt mehr zu ihren
Familien und einige sind Waisenkinder. Andere leben und
arbeiten zusammen mit ihrer Familie auf der Straße, um durch
Betteln, Verkaufen oder Müllsammeln zum Überleben ihrer
Familien beizutragen. Sie alle sind besonders gefährdet, Opfer
von Gewalt, Menschenhandel und Prostitution zu werden;
viele sind mit HIV infiziert, unterernährt und drogenabhängig. Ohne Schulausbildung und andere Berufsqualifikationen
haben diese Kinder alleine kaum eine Chance, der Armutsspirale zu entkommen.
Das niedrige Bildungsniveau unterscheidet Kambodscha wesentlich von seinen Nachbarn Thailand, Vietnam und Laos. Nur
jeder vierte Kambodschaner über 25 hat heute die Primärschulausbildung abgeschlossen. Das niedrige Bildungsniveau ist
unter anderem ein Erbe der Roten Khmer-Diktatur, die von
1975 bis 1979 in Kambodscha an der Macht war und als gesellschaftliches Ideal eine Bauerngesellschaft propagierte. Die
­darauf folgenden, politisch unstabilen Jahre führten auch in den
1980er und 1990er Jahren zu Ausfällen im Bildungssystem.
Erst im Laufe des letzten Jahrzehnts hat sich das Bildungs­system
Kambodschas etwas erholt: Schätzungen von UNICEF zufolge besuchten 2008 etwa 80 % der 6–14 jährigen wieder
­regelmäßig die Schule, ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu
den Vorjahren. Bei den 15–25 jährigen waren es jedoch nur
noch etwa 50 %, die eine Schule besuchten. Die Straßenkinder
von Phnom Penh sind nicht unter ihnen, denn jede Stunde
auf der Schulbank ist eine Stunde ohne überlebensnotwendiges
Einkommen. Es gibt keine staatlichen Ressourcen oder Programme, die diesen Kindern die Möglichkeit bieten, die Straße
zu verlassen.
Das Mith Samlanh Berufsbildungszentrum in Phnom Penh
greift genau diesen Kindern unter die Arme. Seit 1994 hat sich
die NGO Friends-International hiermit zur Aufgabe gemacht,
den Straßenkindern von Kambodscha durch allgemeine Bildung und Berufsbildung eine bessere Zukunft zu schaffen.
Beruf statt Straße, so lautet das inoffizielle Motto des Berufsbildungszentrums. Mit Hilfe von 250 Mitarbeitern werden
hier jedes Jahr etwa 750 Jugendliche im Alter von 15–24 Jahren
in einem von neun Berufen ausgebildet. Das Programm soll
Kindern und Jugendlichen nicht nur eine Ausbildung und einen Berufsweg, sondern auch ein gefestigtes soziales Umfeld
und einen geregelten Alltag in einem sonst von Unsicherheit
geprägten Leben bieten.
Auch Srey Mom gehört jetzt zur Friends-International-Familie: Mit 15 wurde sie beim Betteln von einem Sozialarbeiter
der NGO angesprochen. Im Berufsbildungszentrum hatte sie
die Wahl, den Beruf der Kosmetikerin, Automechanikerin,
Zweiradmechanikerin, Schneiderin, Friseurin, Schweißerin,
­Computertechnikerin, Elektrikerin oder Köchin zu erlernen.
Srey Mom entschied sich für eine Ausbildung zur Kosmetikerin.
Der Tag von Srey Mom beginnt früh. Um 7 Uhr wird sie von
einem der Mith Samlanh-Busse aus einem Vorort von Phnom
Penh abgeholt und in das Berufsbildungszentrum nahe des
Königspalastes gebracht. Im Zentrum angekommen läuft ihr
Kosmetikkurs bis zum Mittag. Dann versammeln sich alle in
der großen Kantine. Wie jeden Tag haben die Schüler der
Kochschule für alle frisch gekocht. Am Nachmittag stehen abwechselnd Grundkurse wie Lesen, Schreiben, Rechnen,
Khmer Literatur, Englisch und IT und wahlweise Theater,
Sport und Musik auf ihrem Stundenplan.
p
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16
Bildung als Teil der Entwicklungspolitik
Auch Srey Moms kleiner Bruder fand Platz im Bildungs­
zentrum von Mith Samlanh. Hier werden alle Kinder unter
15 Jahren auf den Bildungsstand einer nationalen Schule
­g ebracht, um zu Beginn des akademischen Jahres in das nationale Schulsystem integriert zu werden. In diesem Jahr ist dies
bei 210 der 300 Schüler gelungen. Srey Moms Bruder bleibt
noch ein weiteres Jahr im Bildungszentrum. Einige seiner
­älteren Mitschüler haben eine Ausbildung im Berufsbildungszentrum begonnen.
Für viele Schüler ist es unmöglich, das Berufsbildungszentrum für länger als ein paar Wochen oder Monate zu besuchen,
da der hiermit verbundene Einkommensausfall sie und ihre
Familien finanziell zu sehr belasten würde. Deswegen muss
­jedes Trainingsprogramm zeitlich flexibel sein.
Auch Srey Mom konnte anfangs die Berufsschule nur halbtags
besuchen. In der Kosmetikschule schloss sie daher innerhalb
eines Monats zunächst die erste Stufe ab (die „Basics“ wie Maniküre und Pediküre). Nach Rücksprache mit ihrer Mutter absolvierte sie später die weiteren Stufen des Programms. Egal bis
zu welchem Level es ein Schüler schafft, der jeweilige Betreuer
hilft aktiv mit bei der Suche nach einem Job und betreut die
Schüler auch in der Zeit danach. Nach einem Jahr verbleiben
78 % der Abgänger in ihrem Job.
Mit einem Social Business-Ansatz sichert sich die NGO
Friends-International die nötige finanzielle Unabhängigkeit
und Nachhaltigkeit. In Phnom Penh hat Friends-International
drei große Geschäfte, in denen Produkte aus eigener Her­
stellung verkauft werden, wie z. B. die der Schüler aus der
Schneiderei; e­ inen Kosmetik-Salon, in dem die Schüler der
Beauty-School arbeiten und zwei Restaurants, in denen
­Abgänger der Kochschule kochen, bedienen und managen.
Sie alle sind bei den Touristen und hier ansässigen Ausländern
besonders beliebt, die hier mit ­g utem Gewissen einkaufen,
sich verwöhnen und gut essen können. Das Friends Social
Business-Modell trägt wesentlich zur Finanzierung des Programmes bei: 2011 konnten 54 % der Kosten von Mith Samlanh
durch den Gewinn von US $ 2 030 770 getragen werden. Weitere
finanzielle Unterstützung erhält die NGO von zahlreichen
­Förderern wie der EU, dem Globalen Fond, der Deutschen Bank,
UNICEF, Stiftungen und Privatpersonen.
Auch Srey Moms Mutter wird durch das ganzheitliche Programm von Friends-International unterstützt; sie bekommt
­regelmäßig HIV-Medikamente und verkauft Taschen und
­Ketten über das Friends-Geschäft. Die Familie hat so ein
­gesichertes Einkommen von US $ 30 pro Woche. Srey Mom
hat ihre Ausbildung fast abgeschlossen und bereits einen Job in
einem der zahlreichen Beauty Salons in Phnom Penh in
­Aussicht. Srey Mom wird hoffentlich nie wieder auf der Straße
arbeiten müssen. Das Modell „Beruf statt Straße“ hat Srey
Mom und ihrer Familie einen Weg aus der Armut gezeigt und
ihr das Handwerk für eine bessere Zukunft vermittelt.
Mira Schneiders, Jg. 1988, studierte Psychologie und Global Health
in Manchester und Oxford. Sie ist derzeit Stipendiatin des Mercator
Kollegs. Sie beschäftigt sich mit der Frage, wie internationale
Organisationen effektivere und nachhaltigere HIV-Programme
gestalten können, indem sie sich auf empirische Forschung stützen.
Bis Dezember 2012 arbeitete sie im Drogenprogramm der NGO
Friends-International in Kambodscha im Bereich der HIV-Prävention.
Bildung in und nach der Krise
Das Recht auf Bildung:
Ein Luxus in Krisensituationen?
von Stefanie Rinaldi
In Krisensituationen geht es für die Zivilbevölkerung oft um
das blanke Überleben. Grundversorgung und Sicherheit haben
oberste Priorität, Bildung wird zumeist erst wieder thematisiert, wenn sich die Lage stabilisiert. Doch das eine ist nicht vom
anderen zu trennen, wie die anhaltende Krise in Syrien zeigt.
Seit mehreren Monaten begleiten uns Schreckensbilder aus Syrien
täglich in den Medien. Man sieht verstörte, fliehende Kinder;
­Kinder, die mit Angst und Gewalt leben. Im Juni 2012 legte ein
Bericht des UNO-Sonderberichterstatters für Kinder in bewaffneten Konflikten dar, wie Kinder in Syrien als lebende Schutzschilder missbraucht und Opfer von Folter und Massakern werden. Angesichts solch offensichtlicher Menschenrechtsverletzungen wird
– verständlicherweise – alltäglicheren Verletzungen von Kinderrechten, wie dem Recht auf Bildung, wenig Beachtung geschenkt.
Syrien hat die Kinderrechtskonvention 1993 ratifiziert – nur
ein Jahr nach Deutschland und vier Jahre vor der Schweiz.
Damit verpflichtete sich Syrien, jedem Kind das Recht auf Bildung zu gewähren. 2009 betrug die Einschulungsquote in der
Primarstufe in Syrien noch 94 %, doch angesichts anhaltender
Gewalt ist damit zu rechnen, dass diese Zahl seither beträchtlich gesunken ist und auch weiterhin sinken wird. Darauf
lassen Berichte des UNO-Hilfswerkes für Palästina-Flücht­
linge (UNRWA) schließen, wonach mehrere der 118 Schulen
der Organisation in Syrien nach den Sommerferien ihre Tore
nicht mehr öffnen konnten, weil die Sicherheitslage zu instabil
war oder Vertriebene und Schutzsuchende in den Schulhäusern Zuflucht suchten. In den Sommermonaten waren es bis
zu 10 000 Personen, die hofften, in den Gebäuden der UNRWA in Sicherheit zu sein, mehrheitlich Frauen und Kinder.
Doch weshalb ist es so wichtig, dass Kinder unter allen Umständen in den Genuss von Bildung kommen? Ist es nicht viel dringender, dass sie in Sicherheit sind und ihre Gesundheits- und
Nahrungsmittelversorgung gewährleistet ist? Das organisationsübergreifende Netzwerk für Bildung in Krisensituationen
(INEE) widmet sich genau diesen Fragen. Dort ist man überzeugt, dass Bildung dazu beiträgt, dass die Lernenden zu aktiven,
mündigen und verantwortungsbewussten Mitgliedern der
­Gemeinschaft werden, die informierte Entscheidungen treffen
können. Bildung kann jedoch auch Leben retten, indem sichere
Lernorte zur Verfügung gestellt werden, in denen Kinder vor
Missbrauch und Leid beschützt werden und in denen die Gefahr
gering ist, dass sie von bewaffneten Gruppierungen rekrutiert werden. In Syrien setzen sich aus genau diesen Gründen verschiedene
UN-Unterorganisationen sowie Nichtregierungsorganisationen
dafür ein, dass Kinder von ihrem Recht auf Bildung Gebrauch
machen können. UNRWA beispielweise kündigte an, spezielle
Lernmaterialien zu entwickeln, damit die Kinder den Schulstoff
zu Hause bearbeiten können. Für Kinder, die über die Grenzen
­geflohen und in den Nachbarländern entweder in Flüchtlingscamps untergebracht sind oder von Privatpersonen aufgenommen
werden, suchen UNICEF, UNHCR und die UNESCO nach
­Lösungen. In Jordanien wurde Anfang Oktober eine erste Schule
im Za‘ atari Camp eröffnet. Während die Bereitstellung von
­Infrastruktur und Lehrpersonen für 2 200 Kinder einen Schritt in
die richtige Richtung bedeuten, ist es offensichtlich, dass weitere
­Maßnahmen ergriffen werden müssen, wenn man bedenkt, dass
mehr als 10 000 Kinder im Camp untergebracht sind. Für jene
Kinder, die sich in Privatunterkünften befinden, gestaltet sich der
Zugang zum Bildungssystem noch schwie­riger, weil gezielte Hilfe
oft schwierig ist.
Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage nach Verpflichtungen im Bereich der Bildung in Krisen und Konflikten auf. Wer ist dafür zuständig, dass Kinder Zugang zur
Bildung haben, wenn der Herkunftsstaat im Chaos versinkt
oder ein Aufnahmestaat nicht die notwendigen Mittel und/
oder den notwendigen Willen hat, diesen zu gewähren?
Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft ist in
solchen Fällen nicht nur moralisch geboten, sondern auch
eine menschenrechtliche Verpflichtung, welche die Mitgliedstaaten der UN mit der Anerkennung des Rechts auf Bildung
selbst eingegangen sind. Die internationale Gemeinschaft
muss daher konkrete Schritte einleiten, um das Recht auf
Bildung auch in Krisensituationen zu verwirklichen. Dies soll
nicht nur durch die Bereitstellung von mehr finanziellen
Mitteln zu Händen der UN-Organisationen und der in den
betroffenen Gebieten tätigen Nichtregierungsorganisationen,
sondern auch durch nicht-finanzielle Unterstützung geschehen, wie zum Beispiel durch das zur Verfügung stellen von
­Infrastruktur, ausgebildetem Personal und Lehrmitteln.
Stefanie Rinaldi, Jg. 1984, war 2011/12 als Mercator-Kollegiatin
unter anderem beim UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA)
tätig. Sie hat internationale Beziehungen in Genf und wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte in Galway, Irland studiert. Dazwischen
arbeitete sie beim Schweizerischen Bundesamt für Migration. Seit 2012
ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Zentrum für Menschenrechtsbildung der Pädagogischen Hochschule Luzern.
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Bildung in und nach der Krise
Wenn der Zuwendungsempfänger zum
Kunden wird: Außenwissenschaftspolitik mit reichen Postkonfliktstaaten
von Alexander Haridi
Deutsche Bildungsangebote für ausländische Studenten,
­Akademiker und Universitäten in Postkonfliktstaaten werden
immer mehr als Dienstleistung wahrgenommen, für welche
wohlhabende Partnerländer auch gerne zahlen. Doch Institutionen wie der DAAD sind nicht immer an diese neuen
Umstände angepasst. Durch das Brennglas des Falles Irak
macht der Autor auf ein bislang in der bildungsorientierten
Entwicklungspolitik wenig beachtetes Problem aufmerksam.
Als Frank-Walter Steinmeier im Februar 2009 als erster Bundesaußenminister seit 22 Jahren nach Bagdad reiste, um deutsche
Hilfe beim Wiederaufbau anzubieten, hatte die deutsche Politik
etwas gutzumachen. „Kein Blut für Öl“ überzeugte zwar auf
deutschen Marktplätzen im Wahlkampf, doch warum Deutschland nicht geholfen hatte, den Schlächter des Iraks zu beseitigen,
war auf dem Bazaar von Bagdad schwieriger zu begründen. Es fiel
auch in Washington nicht leicht. Unter den mit Steinmeier reisenden Abgeordneten und Wirtschaftsvertretern befand sich
auch der Repräsentant einer deutschen Institution, die keine
Gewinne macht, doch ihren Umsatz stetig mehrt: Christian
Bode, Generalsekretär des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD).
Einige Wochen zuvor war ein Anruf der für Kultur zuständigen
Abteilung des Auswärtigen Amtes (AA) beim DAAD eingegangen, der ein Millionenbudget für ein Sonderprogramm für Hilfe
beim Wiederaufbau der irakischen Hochschulen in Aussicht
stellte. Der DAAD, der öffentlich finanziert und vom AA als
Instrument der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik eingesetzt wird, hatte aus seinem Baukasten rasch ein attraktives
Maßnahmenbündel zusammengestellt: Mit länderübergreifenden Hochschulpartnerschaften, Stipendienprogrammen für
irakische Master- und Promotionsstudierende, Gerätespenden
und Workshops waren alle Mittel dabei, die sich über die Jahre
im akademischen Austausch bewährt haben.
Rund drei Jahre später ist die offizielle Bilanz noch nicht
gezogen, doch dürfte der akademische Austausch zu den wirkungsvollsten und am besten funktionierenden Instrumenten
der deutschen soft diplomacy im Irak gehören. Wo die schwierige
Sicherheitslage, die grassierende Korruption und die konfessionelle und ethnische Fragmentierung die Kultur- und Spracharbeit, die Aktivitäten der politischen Stiftungen und sogar den
Außenhandel schwierig bis unmöglich machen, funktioniert
die Ausbildung von Hunderten irakischer Nachwuchswissenschaftler an deutschen Hochschulen insgesamt gut – bei allen
Schwierigkeiten im Einzelfall. Wenn die Stipendiaten mit ihren
Master- und Doktorentiteln nach der Ausbildung in den Irak
zurückkehren und an ihren Heimathochschulen die Chance
zur Entfaltung erhalten, werden wir von Dohuk bis Basra
bereits in wenigen Jahren über ein dichtes Netz von exzellenten
Fachleuten mit Deutschlandbindung verfügen. Jeder Einzelne
kann eine neue Generation von Schülern heranziehen und als
Fachmann oder Fachfrau den Wiederaufbau der Gesellschaft
begleiten.
Soweit so gut – und bekannt aus der Entwicklungspolitik.
Tatsächlich zeichnet sich hinter dem bekannten Muster nach
und nach ein neues Paradigma ab, das die Institutionen der
auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik noch nicht wirklich
verstanden haben. Denn der Irak ist nicht nur reich an Konflikten, er ist es auch an Erdöl – und die Einnahmen aus den
Rohölverkäufen steigen rapide an. Obgleich Korruption und
Sicherheitsvorkehrungen einen hohen Preis fordern, bleiben
Milliarden für Investitionen übrig, auch im Bildungsbereich.
Bildung in und nach der Krise
Wenn aus dem Empfänger von außenpolitisch motivierten
Zuwendungen ein Kunde wird, verändert dies die Anforderungen an den Geber, nun: Dienstleister. Der Kunde gibt den
Rhythmus vor, nicht die Jahresplanung des DAAD.
Auf dem Weltmarkt für Bildung sind die angelsächsischen
Systeme bestens aufgestellt und bieten alles an, was ein Hochschul- und Wissenschaftsministerium sich wünschen mag bzw.
sich leisten kann. Doch inzwischen macht sich auch Ernüchterung breit, insbesondere, was den Bildungsstandort Großbritannien betrifft. Zu viele Iraker mit akademischen Titeln
britischer Hochschulen sind ohne ausreichend tiefgreifende
Kenntnisse nach Hause zurückgekehrt, einige sogar angeblich
ohne wirklich Englisch gelernt zu haben. Overseas students,
welche die höchsten Studiengebühren zahlen und damit die
britischen Universitäten maßgeblich finanzieren, erhalten zwar
einen Abschluss für ihr Geld, aber offenbar nicht immer eine
solide Ausbildung.
Demgegenüber erscheint das deutsche Bildungsangebot plötzlich sehr attraktiv. Zwar mag es in mancher Hinsicht sperrig
sein, doch verlangt es seinen Studierenden viel ab – und lässt sie
manchmal gar scheitern. Dies kann auch als Beweis für Ernsthaftigkeit gesehen werden. Immer häufiger wenden sich jedenfalls
Hochschulministerien wohlhabender Partnerländer an den
DAAD, um mit eigenen Mitteln Leistungen aus dem deutschen Hochschulbereich einzukaufen.
Plötzlich wird aus dem Zuwendungsempfänger ein Kunde. Der
Kunde heißt nicht ausschließlich Irak, er könnte auch Libyen,
Tschetschenien, Aserbaidschan oder Angola heißen. Statt der
jährlich 20 von Deutschland finanzierten Stipendien möchte
das Hochschulministerium in Bagdad beispielsweise 100,
bezahlt aus eigenen Mitteln. Zudem ein Managementtraining
für sämtliche Institutsleiter einer Universität, nicht lediglich
einen Platz. Vielleicht sogar eine Fakultät für Medizin mit Lehrkrankenhaus. Oder gleich eine deutsche Universität im Irak.
„Money is not an issue“ lautet der meistgehörte Satz in diesem
Zusammenhang.
Die Reaktionen in den deutschen Institutionen selbst sind
ambivalent. Sicherlich freuen sich deren Haushälter über frei
einsetzbare Mehreinnahmen, doch der Apparat ist darauf ausgerichtet Geld auszugeben, nicht es zu verdienen. Wie sind die
Einnahmen für einen auf Gemeinnützigkeit ausgerichteten
Verein steuerlich zu bewerten? Wie setzen wir Programmwünsche um, die in den eigenen Regelwerken nicht vorgesehen sind,
die wir allerdings gar nicht aus öffentlichen Mitteln finanzieren
müssen? Wie dokumentieren und evaluieren wir unsere Leistung
gegenüber dem Kunden? Wie schulen wir unsere Mitarbeiter,
die bislang trainiert worden sind, die öffentlichen Mittel sachgemäß „abfließen“ zu lassen, darin, Drittmittel zu akquirieren
und zur Zufriedenheit des Kunden umzusetzen?
Hier stehen die Mittlerorganisationen der auswärtigen Kulturund Bildungspolitik, anders als die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, vor einer Veränderung, die heute noch
randständig erscheinen mag, aber an Bedeutung zunehmen
wird. Sollte der große Zuwendungsgeber, das Auswärtige Amt,
die ganze Dynamik im Keim ersticken wollen, hier ein Tipp:
Die eingeworbenen Fremdmittel einfach von der Zuwendung
abziehen. Dann bliebe alles, wie es war, aber schon seit einiger
Zeit nicht mehr gut ist.
Alexander Haridi, Jg. 1967, absolvierte das damalige Bosch-Stiftungskolleg 1997/98. Sein erster Job ergab sich aus seinem Praktikum im
Studienkolleg: Er wurde Büroleiter der NGO „Euro-Arab dialogue from
below“ in Rabat, Marokko. Danach arbeitete er für den DAAD von
1999 bis 2009 erst als Leiter der Außenstelle Kairo, dann im Hochschulmarketing. Seit 2009 ist er Referatsleiter für den Irak und den Iran.
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Bildung in und nach der Krise
Perspektiven für Flüchtlinge durch
Hochschulbildung
von Corinna Frey und Leana Podeszfa
Für Kinder, die in Flüchtlingslagern aufwachsen, ist es bereits
sehr schwierig, die Grundschule zu besuchen. So ist es kein
Wunder, dass nur ein verschwindend kleiner Anteil aller
Flüchtlinge weltweit es schafft, ein Studium zu absolvieren.
Die wenigen, die dieses Glück haben, können jedoch in ihren
Heimatländern eine wichtige Rolle spielen.
Wenn Kave Bulambo spricht, hängt das Publikum an ihren
Lippen. Selbstbewusst sitzt die 26-jährige Kongolesin auf dem
Podium vor Dutzenden von Ministern, Diplomaten und
­UN-Mitarbeitern bei einer Veranstaltung des Flüchtlingswerks
der Vereinten Nationen (UNHCR) zum Thema Hochschulbildung in Afrika. Kave Bulambo hat zu diesem Thema einiges
zu sagen, denn als sie im Jahr 2000 ihr Heimatland, die Demokratische Republik Kongo, verlassen musste und mit ihren
­Brüdern und Schwestern nach Südafrika floh, ­schienen Schule
und Bildung zunächst unerreichbar. Doch jeder hart verdiente
Cent der Geschwister wurde in Schuluniformen und Bücher
gesteckt. Mittlerweile gehört Kave zu den wenigen Flücht­lingen
ihrer Generation, die studieren konnten. Diese Möglichkeit
bot ihr ein Stipendium der Deutschen A
­ kademischen Flüchtlingsintitiative (DAFI).
„Dieses Stipendium hat mein Leben
verändert und mir die Möglichkeit
gegeben, die Person zu werden,
die ich heute bin“.
Das vom UNHCR koordinierte Programm, das von der
deutschen Bundesregierung finanziert wird, unterstützt jedes
Jahr etwa eintausend Flüchtlinge bei einem Hochschulstudium,
meist in ihren Aufnahmeländern.
s
Mapendano Nabulizi: Ein kongolesicher Flüchtling, der
in Tansania studiert und seinen Abschluss gemacht hat.
Fehlende Finanzierung ist allerdings nur ein Grund, warum
weniger als ein Prozent aller Flüchtlinge studieren, im
Gegensatz zu 26 % aller jungen Menschen weltweit. Viele
Flüchtlinge haben keinen Zugang zu Grundschulen, geschweige
denn Sekundarschulen. Zwar besuchen weltweit ca. 76 %
aller Flüchtlingskinder die Grundschule, doch in vielen
­
Krisensituationen liegen die Zahlen weit niedriger. Im
Flüchtlingslager Dadaab in Kenia sind es sogar nur 52 %.
Noch niedriger ist die Zahl der Flüchtlinge in Sekundarschulen. Sie liegt bei nur 36 %, wobei Mädchen besonders
benachteiligt sind. So gehen etwa am Horn von Afrika nur
halb so viele Mädchen wie Jungen zur Schule. Die Schüler, die
das Glück haben, eine Schule zu besuchen, lernen unter
­erschwerten Bedingungen. Die meisten Lehrer haben selbst nur
eine eingeschränkte Ausbildung genossen. Die Klassen
sind viel zu groß und oft wird im Schichtbetrieb unterrichtet; es fehlt an Büchern und anderen Lehrmaterialien.
Unter solchen Umständen verwundert es nicht, dass beispielsweise nur 6 % der eritreischen Flüchtlingskinder in Äthiopien in
der 4. Klasse ihrem Alter entsprechend lesen können.
Woran liegt es, dass Bildung in Flüchtlingssituationen so
vernachlässigt wird? Audrey Nirrengarten, UNHCRBildungsreferentin und Verantwortliche für das DAFI-Stipendienprogramm betont, dass das UNHCR nur über ein
beschränktes Budget verfügt und in Krisensituationen zuerst
die sogenannten „immediate basic needs“ deckt. Darunter fällt
vor allem die Versorgung der Flüchtlinge mit genügend Wasser und Nahrung, einer Unterkunft und Gesundheitsleistungen. Bildung ist keine Priorität – was auf den ersten Blick Sinn
machen mag. Doch bei genauerem Hinsehen wird schnell klar,
dass Bildung nicht von der Bereitstellung von Grundversorgung zu trennen ist. So können beispielsweise ausgegebene
sEin ruandischer Flüchtling. Sie arbeitete als Parkplatzwärterin
und ­bekam dann ein DAFI Stipendium, um Medizin zu studieren.
Sie a­ rbeitet jetzt in einem Krankenhaus in Durban, Südafrika. Bildung in und nach der Krise
f
Viviane Wandja lebt in einem Flüchtlingslager in Kenia. Sie träumt davon
zur Schule zu gehen und Pilotin bei
­Kenyan Airways zu werden.
Medikamente nur richtig eingenommen werden, wenn man
die Packungsbeilage lesen kann. Zudem bieten Schulen Schutz
vor Rekrutierung durch Rebellen und Normalität für traumatisierte Kinder. Laut Nirrengarten ist das überzeugendste
­Argument jedoch, dass Bildung und Wissen persönliche sowie
gesamtgesellschaftliche Perspektiven eröffnen, die Friedens­
förderdung und Wiederaufbau aus eigener Kraft überhaupt
erst ermöglichen. Deshalb schlägt das UNHCR in seiner
­Bildungsstrategie 2012–2016 zum einen „distance-learningprogrammes“ vor. Zum anderen werden Partnerschaften mit
­lokalen Universitäten vor Ort angestrebt, um Hochschul­
bildung auch in Flüchtlingssituationen zu ermöglichen.
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i
Sudanesische Flüchtlinge aus Darfur
konzentrieren sich in einer weiter­
führenden Schule auf Prüfungen, die
­ihnen den Zugang zur Universität in
Chad ­verschaffen können.
Dank ihres Studiums hat auch Kave heute eine Perspektive.
Sie ist nun studierte Psychologin und absolviert derzeit einen
Master in Gender Studies, den sie sich selber finanziert. Ihr
­Erfolg hat auch ihre kleine Schwester, Colette, angespornt,
die nun an der Harvard Universität studiert. Doch ihre
­Motivation und ihr Wissen gibt sie nicht nur an ihr direktes
Umfeld weiter. Sie möchte viele Menschen erreichen und gründete deshalb die NGO Women Across Borders. Diese hilft
­benachteiligten Frauen durch verschiedene Kurse und Workshops bei Familienplanung, Alphabetisierung oder Umgang
mit Geld. Auch andere Flüchtlinge, die eine Hochschulbildung
genossen haben, geben ihren Erfolg an ihre Gemeinden weiter.
Ein DAFI-Stipendiat, der mittlerweile in sein Heimatland
­zurückkehren konnte, ist heute Minister der liberischen Regierung im Bereich Forschung und Kultur. In Ghana legen DAFIStipendiaten einen Teil ihres Stipendiums zusammen und finanzieren dadurch jedes Jahr einem Mädchen aus dem
Flüchtlingslager Krisan in Ghana den Besuch der Oberschule.
­Genau darin liegt die große Chance von Hochschulbildung:
Sie gibt jungen Leuten die Möglichkeit, ihre Gemeinden zu
unter­
stützen, Führungsrollen zu übernehmen und ihre
krisenge­plagten Länder wieder aufzubauen. Auch Kave plant,
in den Kongo zurückzukehren, um mit ihrer NGO anderen
Vertriebenen die Chancen zu geben, die sie selbst in ihrem
Heimatland nicht hatte.
Corinna Frey, Jg. 1987, studierte Sozialpädagogik und Politik-
Leana Podeszfa, Jg. 1986, studierte Politik und Entwicklungsstudien
wissenschaften mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen/
in Nottingham und Oxford und ist derzeit Kollegiatin des Mercator
Friedens- und Konfliktforschung in Erfurt und Frankfurt am Main.
Kollegs. Sie arbeitete für das Rote Kreuz und die Internationale Orga-
Mit besonderem Interesse an langfristigen Lösungen für Flüchtlings-
nisation für Migration im Schutz von Migranten und Flüchtlingen.
situationen arbeitete sie mit Caritas in palästinensischen Flüchtlings-
Zurzeit baut sie für das Fahamu Refugee Programme ein Netzwerk auf,
lagern sowie mit dem Jesuit Refugee Service in Lagern in Südafrika.
welches Organisationen vernetzt, die mit abgelehnten Asylbewerbern
Zur Zeit arbeitet sie in der Bildungsabteilung des UNHCR in Genf
nach der Abschiebung arbeiten. Außerdem arbeitet sie für das UNHCR
mit besonderem Fokus auf Stipendienprogramme für Flüchtlinge.
in der Abteilung Ostafrika im Flüchtlingsschutz.
Heft 12 erscheint im im Herbst 2013