Die Rezeption der „Winterreise“ von Franz Schubert in der Moderne
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Die Rezeption der „Winterreise“ von Franz Schubert in der Moderne
MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 1 - JANINE CHRISTGEN Die Rezeption der „Winterreise“ von Franz Schubert in der Moderne. Hans Zenders komponierte Interpretation I Problemstellung und Zielsetzungen 3 II Das Sujet 4 1 Überlegungen zur Überzeitlichkeit ...................................................................................... 4 2 Von aufkeimendem Subjekt- zum Selbst-bewusstsein ........................................................ 5 3 Wenn die Heimat zur Fremde wird - Müllers „Winterreise“ ............................................... 7 A Die real lokale Entfremdung ............................................................................................ 8 B Die Selbstentfremdung................................................................................................... 10 C Sinn- und Zielkonfiguration ........................................................................................... 11 D Kommunikation in der Isolation .................................................................................... 17 4 „Der epochale Winter“ - Bestimmungen zur Diskursbreite............................................... 17 5 Die Determination der Moderne durch die Winterreisethematik....................................... 20 III Bedingung und Notwendigkeit von Interpretation 23 1 Krisenerfahrung und Genese der Interpretationsnotwendigkeit ........................................ 23 2 „Lebendige Interpretation“ ................................................................................................ 24 3 Musik lesen: Zeichensysteme - oder Musik als Sprache ................................................... 25 A Musik im Fluss .............................................................................................................. 25 B Musikalische Zeichen .................................................................................................... 26 C Interpretation von Zeichensystemen .............................................................................. 28 4 Gründe der und Wahrheitsgehalt von Interpretation ......................................................... 36 A Die Verantwortung des Interpreten ............................................................................... 36 B Das Erwachsen der Verantwortung ............................................................................... 37 C Die Implikate der Verantwortung .................................................................................. 38 5 Die Rolle des Rezipienten .................................................................................................. 40 IV Zenders komponierte Interpretation 42 1 Wege zu Zender ................................................................................................................. 42 A Die Transkriptionen Liszts ............................................................................................ 42 B Die „Winterreise“ Bredemeyers .................................................................................... 43 C Die Rezeption Döhls ...................................................................................................... 45 D Das „Experiment“ Rühms.............................................................................................. 46 2 „Lecture“ als Vermittlung einer „verlorenen“ Sprache – Zenders Weg zu Schubert ........ 47 3 Schubert und Zender - Gemeinsamkeiten und Divergenzen ............................................. 48 A Zyklusbildung und Tonartendisposition ........................................................................ 48 B Die Bedeutung von und der Umgang mit den Tongeschlechtern .................................. 51 C Onomatopoesie und Stimuli – Textausdeutung durch Malerei...................................... 54 D Die Bewegungen der Musiker ....................................................................................... 58 4 Analyse einzelner Aspekte ausgewählter Lieder ............................................................... 62 5 Schubert, Zender, Neumeier – Treffpunkt Zukunft? ......................................................... 77 VI Schlussbetrachtung 79 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 2 Literaturverzeichnis - JANINEVII CHRISTGEN VIII Anhangverzeichnis IX Anhang MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 3 Problemstellung und Zielsetzungen - JANINEICHRISTGEN „Der Mensch lebt überall noch in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer Rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der [...] schaffende, die Gegebenheiten überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung [...] begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war, Heimat.“1 Ernst Bloch thematisiert in seinem Hauptwerk „Prinzip Hoffnung“ die Vorstellung, dass die Menschheit erst nach Krisenerfahrung und Durchleben einer aus ihr resultierenden Entwicklung einen Zustand erreicht, der sich als wahrhaftige Heimat erweist. Heimat muss erarbeitet werden. In diesem Prozess offenbaren sich wesentliche Gesichtspunkte, die im Sujet der „Winterreisen“ verankert sind und sich auf ihre überzeitliche Verbreitung und ihren allgemein anthropologischen Grundgedanken beziehen. Die Entfremdung des Menschen, die Dezentrierung des Subjekts, die Solipsie2, die Heimatlosigkeit als grundlegende Eigenschaften der menschlichen Gesellschaft. All diese Faktoren, die für Bloch der Überwindung bedürfen, der Transformation ihrer negativen Vorzeichen in die konstruktive Formierung eines neuen heimatlichen Gefüges, erscheinen als zentrale Botschaften der „Winterreise“ und begründen gerade auch ihre fortwährende Rezeption. In dieser Arbeit sollen diese konstitutiven Faktoren der „Winterreise“ herausgearbeitet werden. Dabei wird zunächst der literarische Kontext betrachtet und anhand dessen aufgezeigt werden, wie die Überzeitlichkeit des Sujets zu immerwährender Transformation desselben anregte und gerade auch in der Sprachkrise der Moderne zu fassen ist. Ausgehend von dieser Problematik soll erläutert werden, wie die Sprachfähigkeit von Texten in einer immer heterogener werdenden Gesellschaft zurückgewonnen werden kann. Wie können Texte, und dies inkludiert hier auch gerade die musikalischen Texte, die Notation, von „Abnutzung“ befreit und in ihre existentielle Wirksamkeit zurückübersetzt werden, so dass ihr ursprünglicher Ausdrucksgehalt wiederhergestellt und die Modernität und immense Aussagekraft, die gerade in der Schubertschen „Winterreise“ zu finden sind, hervortreten? Eben diese Gedankengänge beschäftigen Hans Zender. Durch Erläuterungen seiner zahlreichen Texte soll diese Problematik eingehend untersucht werden. Schließlich wird die praktische Umsetzung der theoretischen Grundlegungen Zenders anhand seiner komponierten Interpretation der Schubertschen „Winterreise“ darzustellen sein. Zudem sind die Vorläufer 1 2 Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, S. 1628. Solipsie: Vereinsamung des Subjekts, dadurch, dass das Ich seine eigenen Bewusstseinsinhalte als einzig Wirkliche gelten lässt und alle Erscheinungen der Außenwelt nur als dessen Projektionen betrachtet. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 4 - JANINEfür CHRISTGEN Zenders Arbeit zu untersuchen und gleichfalls herauszustellen, in welcher Weise sein Werk und dessen Rezeption Schuberts „Winterreise“ einen Weg in die Moderne ebnet. II Das Sujet 1 Überlegungen zur Überzeitlichkeit „Ein geistiger Gegenstand ist eben dadurch >bedeutend<, dass er über sich hinausweist, dass er Ausdruck und Exponent eines Geistig-Allgemeineren ist, einer ganzen Gefühls- und Gesinnungswelt, welche in ihm ihr mehr oder weniger vollkommenes Sinnbild gefunden hat, - wonach sich der Grad seiner Bedeutung bemisst.“3 Diese Gedanken Hans Castorps spiegeln, im Kapitel „Die Fülle des Wohllauts“ in Thomas Manns „Zauberberg“, seine Beschäftigung nicht nur mit dem Lied „Der Lindenbaum“ aus Schuberts „Winterreise“, auf welches dieses Zitat explizit bezogen ist, sondern lassen darüber hinaus dessen Erfahrung von Schichten subjektiven und objektiven Ausdrucks in diesem Werk hervortreten. Das Lied „Der Lindenbaum“ wird in seiner Bedeutungshaftigkeit zum Pars pro Toto für die „Winterreise“ und deren Relevanz im literarischen und interdisziplinären Diskurs. Gerade die „Winterreise“ scheint in besonderem Maß über sich hinauszuweisen. Scheint eben jenes Allgemeine in ihrem Ausdruck zu fassen, das nicht an Zeit und Ort gebunden ist. Strahlend von immerwährender überzeitlicher Präsenz und gleichzeitig signifikanter Konstituens im Leben jedes einzelnen neuzeitlichen Individuums. Sich verschränkende Ambivalenz aus der Geschichte enthobener Überzeitlichkeit eines Kollektiven und subjektiver Betroffenheit. „Beide hier angesprochenen semantischen Ebenen erlauben eine kontinuierliche Aktualisierung dieser Texte, wie sie vor allem über die Begriffe „fremd“, „Fremde“, „Entfremdung“, „Ausgrenzung“, „Heimatlosigkeit“ gerade heute mit trauriger Gewissheit erfolgreich durchführbar ist.“4 Ist es dies, das die ewige Aktualität, diese Omnipräsenz des Stoffes ermöglicht? Wo liegen die Wurzeln einer solchen Konfiguration und worin ihre Zukunftsträchtigkeit? Aus diesem Grund soll zunächst die Entwicklung des Winterreisestoffes erörtert und dabei aufgezeigt werden, wie dieser sich im Wandel der Epochen doch gleichsam als konstanter Ausdruck der menschlichen Bedürfnisse und Empfindungen durchhält. Sicher ist: das Thema des Wanderns oder der Reise ist „eine menschheitsalte Tradition mit reichlichen Verflechtungen zwischen homerischem Heimkehrmotiv, (christlicher) Lebensreise, Reisen des Fernhandels wegen oder aus Neugier oder Bildungseifer, Geniereise, Vagieren und 3 4 Mann, Thomas: Der Zauberberg, S. 895-896. Marsoner, Katrin: Tränen in und über Schuberts Winterreise, S. 297. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 5 - JANINEromantischen CHRISTGEN Wanderns.“5 Was aber zu einem spezifisch winterlichen Wandern veranlasst und mit welchen soziologisch-evolutionären Bedingungen dieses verknüpft ist, soll im Folgenden ebenso entwickelt werden wie die signifikanten Merkmale einer solchen Reise und ihre Überzeitlichkeit. 2 Von aufkeimendem Subjekt- zum Selbst-bewusstsein Die „Winterreisen“ nehmen literarisch betrachtet ihren Ausgangspunkt mit dem Gedicht „Galathee“ von Martin Opitz, das 1625 in dem Buch der „Oden und Gesänge“ seiner Deutschen Poemata erschien. Dieses poetische Regelwerk leitet er mit jenem Gedicht ein. Es handelt sich dabei inhaltlich um die Liebesklage des Hirten Coridon. Von besonderem Interesse ist hier jedoch nicht jenes Sujet, sondern die Art und Weise, wie dieses exponiert wird. Schon in den ersten Versen, in denen Ort und Gegenstand seiner Betrübnis exponiert werden, zeigen sich Merkmale, die für spätere Winterreisen grundlegend sein werden: „Coridon, der ging betrübet / An der kalten Cimbersee / Wegen seiner Galathee“6. Dieses Zitat weist bereits auf zwei konstitutive Merkmale hin: zum einen auf den Zustand des Wanderns eines lyrischen Ichs, zum anderen auf die kalte und unwirtliche Landschaft. Hinzu tritt noch eine weitere Besonderheit, welche sich in späteren Versen offenbart: „Also sang er / dass die Wellen / Und das Ufer an der See / Galathee / O Galathee / Sämptlich [sic!] muste wiederschellen“7 Hier zeigt sich, dass der Schmerz des Hirten einen Konterpart in der Natur findet. Die triste Landschaft spiegelt seine Gefühlslage. War es besonders in der mittelalterlichen Dichtung üblich, Erquickung und Ruhe mit dem Topos des Locus Amoenus zu verknüpfen, so scheint sich hier jener Ort in sein Gegenteil verkehrt zu haben, zum Locus Desertus geworden zu sein. Für diese Konfiguration lassen sich jedoch Vorbilder finden. „Der rhetorische Rahmen, die Topothesie einer Landschaft, die zur Gemütslage des Sängers passt, und die Schäfernamen der beteiligten Personen sind der Tradition der bukolischen Liebesklage entnommen.“8 Ungewöhnlich erscheinen hingegen „die recht genauen geographischen Angaben, die dem Leser den Nachvollzug der winterlichen Reise ermöglichen; wie die lokale und jahreszeitliche Situation sind sie nur aus biographischen Umständen verständlich.“9 Diese Umstände sollen hier jedoch nicht weiter erörtert werden. Ziel ist es, nicht Opitz´ individuelle 5 Waniek, Erdmann: Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 147. Opitz, Martin: Gesammelte Werke. Bd.II, 2, S. 654-659. 7 Opitz, Martin: Gesammelte Werke. Bd.II, 2, S. 654-659. 8 Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 231. 9 Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 231. 6 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 6 - JANINEMotivationen CHRISTGEN zur Entstehung einer Winterreisesituation zu klären, sondern festzustellen, dass „die Produktion literarischer Winterreisen von den Empfindungen eines autonomen Subjekts und der Fähigkeit zu ihrer Artikulation abhängig ist. [...] Innerlichkeit und Rückbezug auf die eigene psychische Verfassung erscheinen als notwendige Prämissen.“10 Individualität und subjektives Bewusstsein aber sind basale Merkmale der Neuzeit. Im Mittelalter wäre eine subjektive Zentrierung undenkbar gewesen, da sich Künstler als Werkzeuge Gottes betrachteten und kein Verständnis individueller Einzigartigkeit ausbildeten. Erst in der Renaissance entwickelte sich ein solches, auf den schaffenden einzelnen Menschen hin konzentriertes Weltbild. Doch auch diese Vorstellung von Individualität greift in Bezug auf Selbstbild und Selbstverständnis von Winterreiseautoren zu kurz. Das Subjekt muss erst den Weg durch die Selbsterkenntnis des Ichs, als denkendem Wesen descartesischer Provenienz 11 nehmen. Es muss sich seiner selbst bewusst werden, zu sich kommen, „selbst-bewusst“ sein. Die in sich gefestigte Persönlichkeit drängt euphorisch vorwärts in Revolution, Sturm und Drang, erhebt sich gegen Grundfesten, die das neue subjektive Selbstbewusstsein determinieren. Zeigte sich bereits 1625 bei Opitz ein aufkeimendes individuelles Bewusstsein mit subjektiver Ausdrucksfähigkeit, so nehmen die „Winterreisen“ im Folgenden mit der Autonomisierung und Individualisierung zu. 1777 schreibt Goethe seine „Harzreise im Winter“. Es handelt sich hierbei um die winterliche Besteigung des Brockens, die zur Zeit Goethes durchaus, gerade unter winterlichen Bedingungen, abenteuerliche Züge aufwies. Das Subjekt als gegen die unwirtliche Natur agierendes Vereinzeltes. Wenngleich auch hier wieder Bilder des Locus Desertus auftreten und die kalte winterliche Natur den unterschwelligen Gemütsregungen des Subjekts Ausdruck verleiht, so differenziert sich Goethes „Winterreise“ doch von jenen, die in den nachfolgenden Jahren geschrieben werden sollen. Goethes Wanderer nämlich erklimmt den Brocken, bezwingt die unwirtliche Natur und steht göttergleich - wie Prometheus - am Ende der Reise siegreich da. Der beschwerliche Weg hat das Subjekt schließlich in seinen persönlichen Fähigkeiten bestärkt. Der Wanderer trägt einen individuellen Gewinn davon. Dieses Sturm und Drang - Denken, dieses unerschütterliche Selbstbewusstsein aber schwindet mit verlustreichen Revolutionen, Restaurationssystemen Zurückdrängung persönlicher Individualität. 10 11 Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 230. Vgl.: Descartes, René: Meditationes de prima philosophia. S. 40-61. und der erneuten staatlichen MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 7 - JANINEEntstand CHRISTGEN die Winterreisethematik grundlegend aus der Emanzipation des Individuums gegenüber Kirche und Staat als den bisherigen Ordnungssystemen, so zeigen sich nun auch die negativen Faktoren, die mit einem solchen Individualisierungsprozess einhergehen. Zum einen bedeutet die Absage an die Orientierungseinheiten Kirche und Staat individuelle Autonomie und neue künstlerische Freiheit, wodurch eine normative Ethik als Abbild staatlicher Ordnung an Relevanz verliert, zum anderen aber bedingen die gleichen Faktoren den Verlust eines zentrierten Weltbildes. Die Absage an norm- und orientierungstiftende Systeme wirft das Subjekt in eine Welt, in der es sich seine individuelle Daseinsberechtigung erst selbst setzen muss, sich seinen Sinn von Welt erschließen und konstituieren muss. Umso schwieriger erscheint eine solche Konfiguration unter dem Gesichtspunkt einer gescheiterten Revolution und eines restaurativen Systems, wie es sich für Müller und Schubert in der Metternich Ära darstellt. Das Bürgertum sucht seine Daseinsberechtigung und Bestätigung in der Ausbildung wirtschaftlicher Macht als Pendant zu verwehrter politischer Aktivität. Andererseits strebt es nach Zuflucht in Intellektuellenkreisen, die, getroffen von der ihnen verweigerten politischen Macht und der zensurbedingten Unfähigkeit zur Artikulation, Bildung und Rückzug in die Innerlichkeit als einzig mögliche Antwort auf die Gegebenheiten der zeitpolitischen Umstände begreifen. Folge eines Rückzugs in und auf die eigene Person kann zu Resignation, Isolation, Vereinzelung und dem Gefühl von Fremdheit führen. Diese Konfiguration, das Überfordertsein und Fremdsein, welches das Ich von der Welt separiert, findet in entscheidendem Maße Niederschlag in der Winterreisethematik. Der einsame Wanderer in der öden, kargen und unwirtlichen winterlichen Landschaft, der sich nicht artikulieren kann (oder auch nicht darf, wie im restaurativen Zensursystem). Kommunikationsloses Umherirren, das sein Pendant in Naturphänomenen findet. Zurückgeworfen auf sich, krankt das Individuum an solipsistischer Gemütshaltung. 3 Wenn die Heimat zur Fremde wird - Müllers „Winterreise“ Konstitutiv für die „Winterreise“ von Wilhelm Müller ist die Divergenz von Heimat und Fremdsein. Es ist ein spezifisch dichotomisches Verhältnis, das sich nicht nur auf einer äußeren Ebene, sondern auch in der Konstitution des lyrischen, wandernden Ichs zeigt. Zum einen also entfernt sich der Wanderer real von einem Ort, der ihm vielleicht (doch auch dies scheint unsicher) einmal Heimat und Zufluchtstätte gewesen ist. Zum anderen wird der Wanderer sich selbst fremd, es kommt zur Selbstentfremdung des Subjekts. Die „Winterreise“ MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 8 - JANINEMüllers CHRISTGEN offenbart folglich wesentlich existentiellere Züge, als dies den vorangehenden „Winterreisen“ zuzuschreiben gewesen wäre. A Die real lokale Entfremdung Der Wanderer zieht durch eine kalte, unwirtliche Winterlandschaft, durch einen Locus Desertus, vielleicht auch einen Locus Terribilis, einen schrecklichen oder gar unheimlichen Ort. Unheimlich auch deshalb, weil ihm die einzelnen Naturphänomene keinen verbindlichen Sinnzusammenhang erschließen. Was sagt ihm die Stimme der Natur, die sich ihm „im heulenden Sturm, im Rauschen des Lindenbaums, im krachenden Eis, im Flackern des Irrlichts“12 und anderen onomatopoetischen Bildern zeigt? Interessant ist, dass Unheimlichkeit und Fremdsein für Freud in einem engen semantischen Bezug stehen. In seinem Aufsatz über das „Unheimliche“ legt er diese Beobachtung dar. Die Provenienz des Unheimlichen aus heimatlichen Strukturen Zunächst klärt Freud die volksläufige Bedeutung des Begriffs „unheimlich“ auf. Er stellt fest, das Wort „unheimlich“ stehe offenbar dem Heimlichen, Heimischen und Vertrauten divergent gegenüber und der Schluss liege nahe, etwas habe eben darum eine unheimliche Wirkung, weil es nicht bekannt und vertraut sei.13 Von dieser Begriffsdefinition nimmt Freud jedoch im Folgenden Abstand. Er bestimmt die Konnotation des Wortes schließlich mehr im Schlegelschen Sinn als all Jenes, das geheim oder verborgen bleiben solle, aber dennoch hervorgetreten sei. Der Begriff des „Unheimlichen“ stelle nämlich keinen Gegensatz zum „Heimischen“ dar, sondern gehe vielmehr aus diesem hervor.14 Daher folgert Freud, dass „heimlich ein Wort [ist], das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.“15 Dieser Ansatz der Ambivalenz des Heimatbegriffes, der gleichzeitig „Unheimlichkeit“ respektive „Un-Heimischkeit“ zum Ausdruck bringt, lässt sich auch auf der Hegelschen Ästhetik basierend aufbauen. „Das Fremde tritt in seinem verhüllenden Dunkel der aufgehellten und normativen Schönheit [...] als etwas Bedrohliches, sie in ihren Grenzen irritierendes gegenüber. Zugleich differiert es von der verlockenden Ferne: der 12 Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 236. Vgl. Freud, Siegmund: Das Unheimliche, S. 231. 14 Vgl. Freud, Siegmund: Das Unheimliche, S. 236. 15 Freud, Siegmund: Das Unheimliche, S. 237. 13 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 9 - JANINEVerunendlichung CHRISTGENdes Fremden im Fernen, wo das Fremde seinen Schrecken verliert und sich mit dem Absoluten berührt,“16 sich Fremdes und Bekanntes assimilieren. Diese Vorstellungen Hegels basieren auf jener dialektischen Konzeption, welche er auch in der „Phänomenologie des Geistes“, sowie in der „Wissenschaft der Logik“ darlegt. Sein und Wesen, Ich und NichtIch werden dadurch vermittelt, dass sie sich vom jeweils anderen durch ihre Andersartigkeit unterscheiden und gerade durch dieses Abstoßen und Differenzieren ihre eigene Identität finden. Durch das bewusste Setzen der eigenen Negativität entsteht zunächst eine scheinbar unüberwindbare Divergenz. Es zeigt sich aber, dass gerade der Gang durch die Negativität, durch das Anderswerden überhaupt erst Identität und Selbstgewissheit entstehen können. Die eine Seite bedingt ihr negatives Gegenüber ebenso wie sich dies auch von der anderen Seite zeigt. So kann „Heimischkeit“ nicht ohne Fremde gedacht werden, da Heimat sich durch die bewusste Abwesenheit des Fremden setzt. Diese notwendige Konfiguration des sich immerwährenden Fügens von An- und Abwesendem zeigt die Dichotomie von Divergenz und Konvergenz. Dennoch muss eingeräumt werden, dass es sich hier nicht um ein selbstreflektiertes, bewusstes Verhältnis der divergenten Seiten handelt. Eher stehen sich die gegenseitig bedingten Verhältnisse unvermittelt gegenüber. Sie sind sich der gegenseitigen Bedingtheit nicht bewusst, empfinden sich nicht als aus dem jeweilig anderen entsprungen und stehen sich somit als Negativa gegenüber. Daher erscheint die Fremde in Müllers Gedichten nicht in der Nähe zur Heimat, sondern zeigt sich gerade als deren Gegenteil, welches unvermittelbar mit dem positiven Heimatgefühl kollidiert. Wenngleich sich also Fremde aus Heimat oder besser gesagt deren Abwesenheit konstituiert, so kann der Wanderer diese Fremdheit doch nicht überwinden, da er die Verbindung zur heimatlichen Struktur nicht herstellen kann und so im philosophischen Sinn nicht in der Lage ist, die polarisierenden Seiten auszusöhnen. Dennoch lässt sich festhalten, dass, so antonym sich also Fremde und Heimat auch entgegen zu stehen scheinen, doch eines aus dem anderen zu entwickeln ist. Was bedeutet dies nun für die Wanderung in die Fremde? Unheimlich war nach Freud eben als das nicht mehr Heimische bestimmt worden. Aus vormaliger Heimat ist eine unwirtliche Landschaft geworden, die nur noch Fremdheitsstrukturen aufscheinen lässt. Der Wanderer ist, wie er selbst sagt, aus „törichtem Verlangen“17 zum Wandern getrieben. Er durchzieht „planlos-zwanghaft“ die Landschaft wie 16 17 Zitiert nach: Zenck, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 141. Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 38. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 10 - JANINEein CHRISTGEN „Heimatloser, dessen Fremdheit von Anfang an außer Zweifel steht.“18 Irgendwann hat sich die Landschaft um ihn herum verkehrt und ist zur fremden Einöde geworden. Ziel der Wanderung ist die Konstitution einer neuen Heimat, fester Strukturen, die wieder Halt im Leben bieten. Doch der Ausweg scheint fern. Fremde wird eben als negatives Moment der Heimat erfahren, die dichotomischen Wurzeln aber nicht erkannt. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“19 postuliert der Wanderer bereits zu Beginn und lässt daher gleich auf die tiefe, einschneidende Fremdheitserfahrung blicken, die mit seiner erzwungenen Wanderschaft einhergeht. B Die Selbstentfremdung Wie stellt sich nun infolgedessen das Verhältnis des Wanderers zu seinem eigenen Ich dar? Der Wanderer ist von sich selbst in gleicher Weise entfremdet, wie ihm die ihn umgebende Landschaft fremd geworden ist. So, wie sich die Heimat in ihr dialektisches Gegenteil verkehrt hat, so ist die Ich-Identität einer Nicht-Identität gewichen. Obwohl beide, wie zuvor erläutert, gleichen Wurzeln entstammen, stehen sich die divergenten Seiten in der „Winterreise“ letztendlich doch unvermittelt gegenüber. Es gibt keine übergeordnete Auflösung der Divergenz in einem Absoluten, wie dies Hegel in der „Wissenschaft der Logik“ als letzte Vermittlungsstufe darstellt. Es handelt sich eben nicht um das freie Scheinen der negativen Bestimmtheiten ineinander, sondern um das „blinde Übergehen der Notwendigkeit“.20 Die Seiten werden vermittelt, ohne dass die Notwendigkeitsstruktur Transparenz erlangt. Dies gerade ist auch eine Konstituente, die zur Entfremdung des Ichs von sich selbst führt. Es kann durch die Erfahrung seines Nicht-Ichs keine eigene Identität mehr herstellen. Heimat, Natur und Geliebte werden dem Ich fremd. Die Fremde wird „nicht erst noch erfahren, sondern in der Erinnerung im Traum verklärt und in der Realität verschärft empfunden.“21 Die Entwicklung einer „Identität, welche sich durch das andere erst bildet, indem sie fremdliche Impulse aufnimmt und dadurch erst zu sich selbst kommt, zu einer Nicht-Identität, in der alle Spuren eines ursprünglich Identischen gelöscht sind, ist nun für Schubert [...] zum Thema der Winterreise geworden.“22 Martin Zenk folgert in seinem Aufsatz aus dieser Feststellung, dass das ästhetische Subjekt paradoxerweise in dem Maß an Identität verliere, wie es anderes als sich selbst, also die Außenwelt, nicht mehr 18 Drux, Rudolf: Des Dichters Winterreise, S. 236. Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S.18. 20 Hegel, G.W.F.: Wissenschaft der Logik, S. 217. 21 Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 143. 22 Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 143. 19 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 11 - JANINEwahrzunehmen CHRISTGEN im Stande sei und die Außenwelt schließlich mit ich-eigenen Projektionen überziehe.23 Dieser Gedankengang ist bis auf das Wort „paradox“ folgerichtig und nachvollziehbar. Warum sollte eine solche Konstellation paradox sein? Wendet man sich wieder Hegels Theorien zu und überlegt, wie sich hier Selbstbewusstsein konstituiert, so klärt sich das zunächst paradox Erscheinende auf. Das Subjekt kann nur in der Weise zu sich finden, in der es fähig ist, sich ein negatives Gegenüber zu setzen und sich von diesem zu differenzieren. Aus der Erfahrung der Negativität konstituiert sich die eigene Identität. Wird die Außenwelt aus dem Erfahrungsraum ausgeschlossen, gelingt kein Gang durch die Negativität mehr, wird kein selbstbewusstes Ich mehr durch Differenzerfahrung erschlossen. Ein solipsistisches, vereinzeltes Individuum bleibt zurück, das sich selbst fremd ist und dies in umso gesteigertem Maße wird, desto weniger eine reale negative Gegenübersetzung ihm die Überwindung dieser Differenz ermöglicht. So überzieht der Wanderer schließlich die Außenwelt mit eigenen Projektionen, schafft sich eine Welt des immerwährenden Winters, in der sich sein eigenes Fühlen und Denken bildlich darstellt. Doch gerade diese Konstellation beschreibt die solipsistische Vereinsamung besonders eindringlich. Für Georg Lukács ist die „selbst geschaffene Umwelt für den Menschen kein Vaterhaus mehr, sondern Kerker.“24 Eingeschlossen in eine Welt der Fremdprojektionen kommt es zu der „Entfremdung des Menschen von seinen Gebilden“25 und somit auch von sich selbst. C Sinn- und Zielkonfiguration Nun ist zu überlegen, welchen Sinn eine Reise oder Wanderung durch eine solche Landschaft haben kann, oder viel pauschaler gefragt, welchen Sinn eine Wanderung überhaupt hat. Im Folgenden sollen drei divergente Sinnkonnotationen diskutiert werden und aufgrund dessen die Besonderheiten der Bedeutungsstruktur der Reisemetapher in der Winterreise Müllers erschlossen werden. Teleologie Geht man von Reisen, auch literarischen, der Goethezeit aus, so dienen diese immer einem höheren Ziel wie dem der Bildung. Diesen Reisen ist eine Teleologie eigen, die das Wandern konstituiert und ihm Sinn gibt. In der Romantik wird „das Wandern zum lyrischen 23 Vgl.: Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 144. Lukásc, Georg: Theorie des Romans, S. 55. 25 Lukásc, Georg: Theorie des Romans, S. 55. 24 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 12 26 - JANINEVolkssport.“ CHRISTGEN Doch hat es sich grundlegend gewandelt; besonders bei Müller scheint eine neue Dimension hinzugetreten zu sein. Die Reise hat, wie dies bereits zuvor soziologisch und philosophisch erläutert wurde, kein reales Ziel mehr. „Das Grundmuster der zeitlich beschränkten, zielorientierten Reise“27 wird gebrochen. „Wandern ist nun sowohl Selbstzweck als auch Selbstausdruck. [...] Der entscheidende Aspekt ist nicht mehr die Ankunft, wie sie es für alle Heimkehrer seit Odysseus war. [...] Im prägnanten Moment des Aufbruchs bündelt, entfaltet und verklärt sich romantisches Wandern.“28 Das Wandern ins Geheimnisvolle, ins Fremde steht im Aussagezentrum. Aber auch von dieser Vorstellung differenziert sich Müllers Wanderer. Dieser zieht schließlich nicht erst in die Fremde, er wandert bereits als Fremder in der Fremde. Seine ersten Verse belegen dies. Sie zeigen einen Menschen, dessen Wanderung nicht erst beginnt. Hier begegnet dem Rezipienten keine Person, die mit Ziel und Hoffnung aufbricht, wohl eher eine Gestalt, die schon einen Weg hinter sich gebracht hat und nun wandernd durchs Leben zieht und keine Heimat findet, irre umherwandert ohne Grund und Ziel: „Und ich wand´re sonder Maßen – ohne Ruh´, und suche Ruh´.“ (Der Wegweiser)29 Doch dies scheint nicht weiter erstaunlich, denn Müller nennt seinen Zyklus „Winterreise“. Somit wird der positiv konnotierten Reise das negative Assoziationen auslösende Bild des Winters zur Seite gestellt. So erscheinen „von vornherein Schatten der Skepsis, ob eine Reise im Winter überhaupt glücken kann“30, über dem Vorhaben zu liegen. Es zeigt sich, dass die Option eines realen Ziels der Reise gleich von Beginn an zerschlagen ist. Zyklische Geschlossenheit Wenn also hier nicht die Bedeutung der Reise gefunden werden kann, so ist es vielleicht, und diese Möglichkeit wird bereits durch Müllers Disposition der Winterreisegedichte als Zyklus angedeutet, eine Reise, die zum Ausgangspunk zurückkehrt. Aber wenngleich Müller die Gedichte der „Winterreise“, zuerst (Anfang 1822) als Teilzyklus zu 12 Gedichten und schließlich 1824 als vollständigen Zyklus, unter dem Titel „Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten“ zusammen mit den Gedichten der „Schönen 26 Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 147. Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 148. 28 Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 149. 29 Müller, Wilhelm: Winterreise, S. 38. 30 Erdmann, Waniek: Banale Tiefe in Wilhelm Müllers „Winterreise“, S. 155. 27 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 13 - JANINEMüllerin“ CHRISTGEN und den „Tafelliedern für Liedertafeln“31 veröffentlichte, scheint sich eine zyklische Disposition aus der Anlage nicht zwingend abzuzeichnen. „Die `Winterreise´ Müllers entfernt sich konsequent in räumlicher wie emotionaler Hinsicht und endet offen.“32 Die Wege des Wanderers sind keine „Vorbereitung zur Heimreise, sondern gerade umgekehrt Stationen der fortschreitenden Desillusionierung.“32 Es scheint sich also vielmehr eine Spiralals eine Kreisbewegung abzuzeichnen. Spiralbewegung Der thematische Kern des Zyklus´, die Wanderschaft, zeigt „auch die Weise seiner Entwicklung im Sinne einer sich verengenden Spirale, die im Schlussgedicht gipfelt.“ 33 Die Wanderschaft als konstitutives und konsistenzbildendes Merkmal des Zyklus zeigt sich in „zentrifugaler“34 ebenso wie in „zentripetaler“35 Weise: zentrifugal als Flucht in die Fremde, in der Suche nach Heimat oder letztendlicher Ruhe, zentripetal als Reflexion, Traum, und verklärter Blick auf die Vergangenheit. So lassen sich die Gedichte der „Winterreise“ Müllers nach Hellen Mustard36 in fünf Kategorien einteilen: 1-4: Abschiedsgedichte 5-9: Reminiszenzen 10-15: Desillusionierung 16-18: Todesgedanken 19-24: Vollständige Desintegration Wenngleich diese Gliederung für die inhaltliche Charakterisierung der Gedichte recht pauschalisierend erscheint, so ist der formalen Gliederungsidee dennoch zuzustimmen. Zu beachten ist bei dieser Gliederung, dass es sich hierbei um die Disposition Müllers und nicht um die letztendlich von Schubert gewählte Reihenfolge der Gedichte handelt. (vgl.: Anhang I) Etwas gröber ließe sich der Zyklus Müllers in drei Aufbrüche mit jeweils folgenden Teilzyklen gliedern37: 1. 31 Teil (1-9): Rückblickende Flucht als direkte Reaktion auf nicht erwiderte Liebe. Vgl.. Hufschmidt, Wolfgang: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?, S. 60. Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 94. 33 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 103. 34 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 103. 35 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 103. 36 Mustard, Hellen: The lyric cycle in german literature, S. 87-89. 37 Vgl. Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 118. 32 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 14 2. Teil (10-18): - JANINE CHRISTGEN Suche nach einem Ausweg im Tod, als Reaktion auf die Nichtigkeit und Sinnlosigkeit des Wanderns. 3. Teil (19-24): Suche nach Ruhe, als Reaktion auf die Verunmöglichung der Todesoption, in der die Dualität von Rast und Reise besonders stark hervortritt. Während die ersten Gedichte von Rückblick und Sehnsucht nach der nun enttäuschten Liebe handeln und die Wanderung des lyrischen Ichs zunächst hauptsächlich durch diese Bedingtheit motiviert erscheinen lassen, prägt sich im Folgenden die Todessehnsucht aus, die zum neuen Ziel der Reise wird. „Während also der Beginn der „Winterreise“ noch um die Geliebte kreist, wirft der zweite Auszug das Ich völlig auf sich zurück.“ 38 Wird der Beginn der „Winterreise“ von der zunehmenden „Entrealisierung der Erinnerung und der wachsenden Fluchttendenz“39 geprägt, so wandelt sich diese reflexive Haltung zu einer Suche nach neuer Weisung, die der Wanderer in der Grabesruhe zu finden glaubt. Die Reise wird nun folglich als Lebensweg betrachtet, dessen Sinn und Ziel sich für den Wanderer im Tod konstituiert und so rundet. Doch auch der Tod erscheint dem Wanderer schließlich nicht als Ausweg, denn er ist ihm verwehrt. So sehr der Wanderer auch versucht, seine Todessehnsucht zu realisieren, so entzieht sich dieser dem Zugriff des Wanderers gleichsam als reale Option. Zenk versteht, das „Anti-Zyklische als Zeichen einer irreversiblen Bewegung ins Fremde“40. „Wenn der Kreis oder die Kugel ein Symbol von Vollkommenheit beschreibt, eine Identität von Leben und Natur, von der der Tod als Teil der Natur eingebunden wäre und nichts Erschreckendes hätte, dann wäre eine nicht zyklische Anordnung ein Symbol für die NichtIdentität von Leben und Natur, ein Ausdruck für das Fremdsein des Menschen der Natur gegenüber.“41 Er bezieht das Antizyklische hier nicht nur auf den Müllerschen Gedichtskorpus, sondern auch auf die ebenfalls antizyklische Tonartendisposition Schuberts, welche in Kapitel IV näher erläutert werden soll. Interessant ist, dass der bewusste Bruch einer zyklischen Form im genormten Sinn gleichsam neuen Sinn konstituiert. Dem Wanderer ist es eben nicht möglich, den Tod in sein Leben zu integrieren, nach ihm zu streben oder ihn zu wünschen, weil er aus dem Lebenszyklus hinausgetreten ist. Er hat sich von den natürlichen Umständen entfremdet. Den Wanderer schreckt der Tod nicht, aber er kann ihn nicht finden, da er unter Desintegration in die natürlichen Lebensgegebenheiten leidet. Jenes ziellose Getriebensein zeigt sich auch in dem 38 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 108. Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 328. 40 Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 146. 41 Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 146. 39 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 15 - JANINEsehnsüchtigen CHRISTGEN Wunsch nach kurzzeitiger Ruhe, der dem Wanderer unerfüllt bleibt. Jede Rast ist ihm verwehrt, er kann keinen Aufenthalt finden. Diese fortwährende Entfremdung findet ihr kongruentes Abbild in der zunehmenden „Abseitigkeit und wachsenden Isolation“42 des Wanderers. Zunächst flüchtet dieser aus der städtischen Sphäre, getrieben von akustischen Stimuli wie dem Gebell der Hunde. Der Fluss an dem er entlang wandert, ist zugefroren, und auch sein weiterer Weg durch die öden acherontischen Landschaften entzieht ihm immer mehr Richtung und Sinnkonfiguration. Er gerät durch die Verlockung visueller Stimuli in die „tiefen Felsengründe“, kann auch „im Dorfe“ keine Zuflucht finden und selbst in des „Köhlers Hütte“, wird ihm zwar Obdach aber keine Ruhe zuteil („In eines Köhlers engem Haus / Hab´ Obdach ich gefunden; / doch meine Glieder ruhn´ nicht aus: / So brennen ihre Wunden.“43). „Das Wirtshaus“ schließlich wirft ihn ganz auf sich zurück und desillusioniert jede Hoffnung auf potentielle Erlösung durch den Tod, denn alle Kammern in diesem Haus sind besetzt und die „unbarmherz´ge Schenke“44 weist ihn ab. Jegliche menschliche Sphäre wird ihm fremd, jeder soziale Kontakt scheint verwehrt. „Die Erfahrung der Fremde zeichnet sich im Weg des Wanderers von der Stadt der Geliebten bis hin zu einem nicht mehr lokalisierbaren Ort der „Wüstenei“45 (Der Wegweiser) ab. „Der Wanderer wird sich bei diesem Gang in die Fremde selbst fremd, das heißt, er verliert an Identität in dem Maße, wie er sich von der Stadt der Geliebten entfernt.“ 46 Das Ich ist nicht in der Lage, die Fremdheitserfahrungen zu verarbeiten und aus ihnen das eigene Subjektbewusstsein zu schöpfen. Die Hegelsche Struktur der Selbstbewusstseinskonstitution definiert dieser in der „Phänomenologie des Geistes“ wie folgt: „Das Selbstbewusstsein ist die Reflexion aus dem Sein der sinnlichen und wahrgenommenen Welt und wesentlich die Rückkehr aus dem Anderssein. Es ist als Selbstbewusstsein Bewegung; aber indem es nur sich selbst als sich selbst von sich unterscheidet, so ist ihm der Unterschied unmittelbar als ein Anderssein aufgehoben.“47 Dies bedeutet, dass sich Selbstbewusstsein ausschließlich durch vermittelte Fremderfahrung, durch Erfahrung der Negativität des eigenen Ichs und deren Aufhebung konstituieren kann. Da der Wanderer die Welt mit seinen eigenen Projektionen überzieht und die Objektwelt schließlich seine psychische Verfasstheit widerspiegelt, kann er keine Fremderfahrung machen und somit auch nicht aus der erfahren Negativität zur eigenen 42 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd.I, S. 120. Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 28. 44 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 40. 45 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 38. 46 Zenk, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 159. 47 Hegel, G.F.W.: Phänomenologie des Geistes, S. 142. 43 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 16 - JANINEIdentität CHRISTGEN zurückfinden. Der Wanderer entfremdet sich also auf seinem Weg nicht nur immer weiter von allen möglichen Heimatstrukturen, sondern durch sein Projektionsverhalten auch von sich selbst. Gleichzeitig erfährt er soziale Ausgrenzung, welche ihm als reale Fremdheit entgegentritt. Doch auch hier kann er der Fremdheitserfahrung nicht vermittelnd begegnen, so dass er an der Gesamtsituation in immer stärkerem Maße zu zerbrechen droht, als dass diese Auslöser für Auf- oder Umbruch werden könnte. Dem Ich ist also schließlich nicht nur die es umgebende Welt fremd geworden, sondern auch die eigene Persönlichkeit. Eine umfassende Fremdheitserfahrung, die es in dieser Weise in den „Winterreisen“ vor Müller wohl nicht gegeben hat und die eben daher den Weg zur Moderne schlägt und verständlich machen kann, wieso eine Rezeption der „Winterreise“ nie abgebrochen ist und gerade in der heutigen Zeit auch wieder neue Relevanz erlangt. Die Überzeitlichkeit der Thematik scheint also auf einer individuellen Fremdheitserfahrung zu basieren, die sich seit der Zeit Müllers und Schuberts als soziologische Grundkonstante durchhält: Die Problematik, ein grundsätzlich anderes Verständnis von Welt zu haben, welches man in repressiven Staaten nicht artikulieren konnte/kann, das Verhängnis, eine immer komplexer sich differenzierende Welt nicht mehr durchdringen zu können. So wird der Mensch zum vereinzelten, solipsistischen, in die Welt geworfenen Individuum. „Der Mensch ist“, so heißt es im Humanismusbrief Heideggers „vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins >geworfen<, so dass er, dergestalt ek-sistierend [sic!], die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine. Ob es und wie es erscheint, ob und wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur in der Lichtung des Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch.“48 Somit zeigt sich auch in den Gedankengängen der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts und besonders in der Strömung des Existentialismus die Beschäftigung mit der Entfremdung des Subjekts in besonderer Weise. Wenn Müller seine “Winterreise“ mit den Versen: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh´ ich wieder aus“ beginnt, so ist damit die Fremdheitsthematik alleine durch die metrische Hervorhebung des Wortes „Fremd“ akzentuiert. Es beherrscht anaphorisch die Versanfänge und akzentuiert das jambische Versmetrum gegen die natürliche Betonung. Das Subjekt ist nicht nur entfremdet, es ist im neuzeitlichen Sinne geradezu dezentriert. 48 Zitiert nach: Spierling, Volker: Kleine Geschichte der Philosophie, S. 342. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 17 - JANINE CHRISTGEN D Kommunikation in der Isolation In dieser Weise desorientiert und entfremdet trifft der Wanderer schließlich auf den Leiermann. Hier, ganz am Ende des Zyklus, wird nun die „einzige Begegnung mit einem menschlichen Du thematisiert.“49 Während bereits der gesamte Zyklus von Dichotomien der Ruhe und der Bewegung, ebenso wie von dem Antagonismus zwischen Natur (Objektwelt) und lyrischem Ich (Subjekt) geprägt wird, so treten diese Divergenzen im „Leiermann“ erstmals zusammen. Das Leiermanngedicht „ist zugleich Vision und Wirklichkeit, es vereinigt Bewegung und Stillstand, Versunkenheit in Anschauung und Entschluss, Ruhestation und Aufbruchsimpuls. [...] Darüber hinaus findet sich hier erstmals die Polarität von Gehen und Stehen in der suggestiven Vorstellung des Leierdrehens als Kreisbewegung eine Vermittlung, die über die physische Ebene hinaus vielleicht ein Licht auf die Zirkularität des Zyklus, auf die Wiederkehr des Gleichen werfen kann: Die Wanderschaft bewegt sich zwar aus ihrem Ursprungsort weg, kehrt aber bogenförmig zu immer neuen Aufbrüchen zurück, bis `Der Leiermann` mit seinem Neubeginn den Kreis schließt.“50 Das bedeutet, dass sich durch das Eintreten des Leiermanns in die Sphäre des Wanderers nach einer langen Entfremdungsspirale ein neuer Aufbruch ankündigt. Wie dieser Aufbruch aussehen kann und wie Schubert und Zender die interpretatorischen Freiräume auffüllen, die diese Person offenbart, soll jedoch erst in Kapitel IV erörtert werden. 4 „Der epochale Winter“ - Bestimmungen zur Diskursbreite Nachdem sich Entfremdung und Dezentrierung des menschlichen Subjekts als Kernaussage der winterlichen Wanderung herauskristallisiert haben, soll im Folgenden untersucht werden, welche Beweggründe Schubert zur Konstitution eines Werks veranlassten, welches in dieser Weise konnotiert ist. Gleichzeitig soll aus diesen Erwägungen hervorgehen, wie die Fremdheitserfahrung sich als überzeitliches Kontinuum und subjektives wie kollektives Erfahren bis in die Gegenwart trägt und über diese hinaus tragen wird. Um diese Bestimmungen in dem Sinn zu konkretisieren, wie sie wohl auch in das Denken und Komponieren Hans Zenders eingegangen sind, sollen im Folgenden wesentlich die Ausführungen Hanspeter Padrutts nachgezeichnet werden. Padrutt arbeitet in seinem Essay die „paradigmatische Qualität von Schuberts „Winterreise“ neu heraus.“51 Er leitet die 49 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, Bd.I. S. 119. Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, Bd.I. S. 118-120. 51 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 224. 50 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 18 „alarmierenden Krisensymptome, die fundamentalen Erschütterungen sowohl unserer ästhetischen, als - JANINE CHRISTGEN auch unserer wissenschaftlichen Erfahrungsweise, aus der anscheinend unaufhaltsamen Verabsolutierung des neuzeitlichen Subjektbegriffs her. Das in diesem Begriff gewissermaßen systemimmanent umhergeisternde der-Welt-abhanden-kommen findet in Schuberts „Winterreise“, in der zunächst schleichenden, schließlich manifest werdenden Krankheit zum Tode des Wanderers seinen gültigsten künstlerischen Ausdruck.“52 Bevor dies näher erläutert wird, soll ein kurzer Blick auf die Person Schuberts geworfen werden. In vielen Aufsätzen und Schriften zu Schubert und der „Winterreise“ finden sich Modelle, die jegliche Motivation zu dieser Komposition in Schuberts Lebensumständen suchen und zu finden glauben. Von den schlechten Lebensbedingungen, die er als Kind im Wiener Stadtteil „Himmelspfortengrund“ vorfand, über das vergebliche Ringen nach Anerkennung durch die idealisierten Vorbilder Beethoven und Goethe, seine gescheiterten Liebesbeziehungen und schließlich die depressive Gestimmtheit, die wahrscheinlich auch krankheitsbedingt in der Phase kurz vor seinem Tod eintrat. Sicherlich spiegeln sich Lebens- und Leidensgeschichte im Schaffen eines Künstlers in gewisser Weise wieder, doch kann ein Werk, welches von rein subjektiven Erlebnisstrukturen geprägt ist, wohl kaum jenen überzeitlichen Status erlangen, der der „Winterreise“ zuzuerkennen ist. Es scheint sich also eher um eine anthropologische Grundgestimmtheit zu handeln, die sich in einer Zeit abzuzeichnen beginnt, in der die Menschen ihren politischen Aktionswillen, welchen sie in den revolutionären Wirren artikulierten, gelähmt und niedergestreckt finden und sich als vereinzeltes, sprachloses Subjekt begreifen. Es geht hier also weniger um die individuellen, biographisch motivierten Faktoren, als vielmehr um ein zeitbedingtes Grundphänomen, welches im Werk Schuberts Ausdruck fand und aufgrund seiner Fortsetzung bis in die heutige Zeit immer noch findet. Padrutt beschreibt diese Grundgestimmtheit als „pessimistische, depressive Stimmungslage.“53 Entscheidend ist für ihn, dass gerade in der gegenwärtigen Zeit häufig nur die Symptome einer solchen Depression, nicht aber das ihr zugrundeliegende Trauma, behandelt würden. „`Schmerzlos sind wir...` sagte Hölderlin in einem seiner Gedichte. Er erkannte [...] die Schmerzlosigkeit als Mangel. Der Schmerz wird nicht zugelassen, sondern mit allen Mitteln und um jeden Preis bekämpft. Und so wird er am Ende auch nicht verwunden.“54 Um diese notwendige Trauerarbeit leisten zu können, muss also die Wurzel des Schmerzes gefunden werden. Padrutt sieht den Grund für Schmerz im Entzug. Er folgt dabei der Blickrichtung Heideggers, der in seiner Schrift „Unterwegs zur Sprache“ betont, die 52 Fink, Wolfgang: Hans Zenders Winterreise. S. 8-9. Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter. S. 224. 54 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 228. 53 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 19 - JANINETrauer CHRISTGEN sei „in den Bezug zum Freudigsten gestimmt, aber zu diesem, insofern es sich entzieht, im Entzug zögert und sich spart.“55 Die Trauer ist hier also Reaktion auf einen entzogenen Zustand, „ein unbestimmbares Heimweh, Schmerz über das verlorene Paradies, Sehnsucht nach einer anderen Welt.“56 Vielleicht spiegeln sich diese neuzeitlichen anthropologischen Grundkonstanten in der Musik Schuberts. „Könnte es sein, dass die musikalische Hellsichtigkeit Schuberts doch in die Geschichte blickte? Zwar nicht in die vordergründige Geschichte der Jahreszahlen und Fakten, die als ablaufender Wirkungszusammenhang vergegenständlicht wird, und schon gar nicht in die Geschichte der Aktualitäten, die von den Medien des Gestells verwaltet wird, vielleicht aber in jene hintergründige, verborgene unumgänglich-unzugängliche eigentliche Weltgeschichte der epochalen Zusammenhänge, in die „epochale Geschichte“? Hat Franz Schubert den Herzschlag seiner – und unserer – Epoche gespürt? Singt die Winterreise einen epochalen Winter?“57 Dieser epochale Faktor zeigt sich auch bei Padrutt einmal mehr in der Entfremdung des Menschen. Ausgehend von dem marxistischen Gedanken der Entfremdung des Menschen von sich durch die Entäußerung seiner Arbeitskraft und die Entfremdung seiner Selbst vom Produkt seiner Arbeit, zeigt sich ihm der Mensch als entwurzeltes, vereinzeltes Individuum. Wenn jedes Ding „zum gleichgültigen Rad im großen Räderwerk geworden ist, dann ist die Natur, die Erde überhaupt, dem Menschen fremd geworden.“58 Er wird aber nicht nur sich und der ihn umgebenden Natur fremd, sondern erlebt auch die anderen Menschen nur noch als abgekapselte Subjekte, deren Kommunikation und Interaktion immer mehr zu scheitern drohen. Die Unfähigkeit zu zwischenmenschlicher Beziehung und Kommunikation führt zur Vereinzelung und Solipsie. Der Mensch wird zum „l´étranger“ (Albert Camus). Zwischen dem Ich und der Welt hat sich eine unüberbrückbare Kluft des Absurden manifestiert. „Das Bewusstsein des Absurden kann den Menschen plötzlich ergreifen, wenn die Kulissen des Alltags zusammenbrechen und er nun der Fremdheit und Feindseligkeit der Welt unvermittelt gegenüber steht.“59 Der Mensch kreist nun als heimatloses Subjekt um sich selbst. Der Mensch ist, wie der Wanderer in der „Winterreise“ auf die eigene Mut- und Willenskraft verwiesen. „Muss selbst den Weg mir weisen, in dieser Dunkelheit“60 (Gute Nacht), diagnostiziert der Wanderer bereits zu Beginn seiner Reise, um schließlich festzustellen: „Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter“61 (Mut). Zur Entfremdung und Isolation tritt also gleichsam der Entzug des Göttlichen hinzu. 55 Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache, S.169. Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 234. 57 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 234. [Hervorhebung im Original] 58 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 240. 59 Kunzmann, Peter: DTV-Atlas Philosophie, S. 205. 60 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 18. 61 Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 40. 56 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 20 - JANINEInteressant CHRISTGEN ist, dass der von Schubert angeregte Diskurskreis der Winterreise im Folgenden auch andere Komponisten (z.B. Schumann und Brahms), Dichter (z.B. Heine, Büchner, Dostojewskij) und Maler (insbesondere Caspar David Friedrich) inspiriert. „Eine allgemeine Verdüsterung und Abkühlung scheint dieses Jahrhundert auszuzeichnen.“62 Padrutt sieht die Grundbestimmungen einer solchen Entwicklung in den politischen Gegebenheiten: Restauration nach den revolutionären Wirren, Metternich Regime und Polizeistaat mit Zensursystem, welches als Produkt der Karlsbader Beschlüsse gerade das Bürgertum schwer unter seinen Repressionen leiden ließ. Dennoch, und so stellte es sich auch für das lyrische Ich in Müllers „Winterreise“ dar, können einzig Revolution und Aufbruchstimmung als genuin subjektive Tätigkeiten gegen die äußeren, das Individuum negativ bestimmenden Faktoren stehen. („Als noch die Stürme tobten, / War ich so elend nicht.“63 - Einsamkeit). Nach Padrutt gibt es nun zwei Möglichkeiten der Reaktion auf einen solchen epochalen Winter. Zum einen die Akzeptanz der Situation, die sich im passiven Ausharren, welches wohl auch mit einer gewissen Verdrängung einhergeht, darstellt. Zum anderen die Möglichkeit, sich mit dem Wanderer zu identifizieren, mit einem Träumer, der nicht schläft, standhält trotz Kälte und Einsamkeit, sich seinen Weg selbst durch die Dunkelheit sucht. Auch wenn er in tiefster Entfremdung und Vereinzelung steht, so zeichnet ihn doch das Streben nach einer wie auch immer gearteten Veränderung aus. Eine Welt, die das Subjekt mit ihren Entwicklungen überfordert, mit der stetig anwachsenden Informationsflut überlastet. All dies führt das neuzeitliche Individuum „zu einer lebenslänglichen Irrfahrt“64. Noch nicht einmal mehr „Zugang zu einem kleinen Spezialgebiet der Welt-Datenbank“65 zu finden, „wächst sich zu kafkaesken Konsequenzen“ aus, wie den von diesem beschriebenen Bemühungen „des Landvermessers K., der vergeblich zu den maßgebenden Instanzen im Schloss vorzudringen versucht.“66 5 Die Determination der Moderne durch die Winterreisethematik Auch in der Literatur der Moderne findet die Entfremdungsthematik also Niederschlag. Die intellektuelle Selbständigkeit des schöpferischen Subjekts erscheint immer mehr als Vereinzelung und Abkopplung des kommunikationswilligen Kreators. Der Autor, und damit 62 63 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 256. Müller, Wilhelm: Die Winterreise, S. 32. Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 279. 65 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 279. 66 Padrutt, Hanspeter: Der epochale Winter, S. 279. 64 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 21 - JANINEist CHRISTGEN nicht nur jener der literarischen Werke bezeichnet, erfährt sich mehr und mehr als bedingt. Zum einen durch die ihm zur Verfügung stehenden Zeichen, denen er immer weniger die Fähigkeit zubilligt, exakt wiederzugeben, was als Aussageintention geprägt worden war. Zum anderen durch die aus der Arbitrarität des Zeichens resultierende neue Leserrolle, die diesem eine Mitgestaltungsmöglichkeit des Textes einräumt. Auf welche Weise sich diese „Leerstellen“, wie Wolfgang Iser67 sie nennt, konstituieren und wie sie in der individuellen Rezeption aufgefüllt werden, soll in Kapitel III genauer erörtert werden, da hier auch die Wurzeln für Hans Zenders Interpretationsansatz liegen. An dieser Stelle soll lediglich aufgezeigt werden, inwiefern die Moderne von der Thematik tangiert wird, die als wesentliche Konstituente der Winterreise dargestellt wurde. Der Subjektivierungsprozess der Moderne zeigt sich als Vereinzelungsprozess des künstlerisch schaffenden Individuums, welches diese Krisenerfahrung in einer neuen poetologischen Konzeption verarbeitet. Sprachkrise und Sprachskepsis resultieren aus dem Verlust von Welt. Der Überforderung des Subjekts in einer immer komplexer werdenden Umgebung und seine Angst vor der Unfähigkeit zur Kommunikation und solipsistischer Apartheid, wird durch die Auflösung von Sprache begegnet. Die Dekonstruktion eines vormals „deutlichen“ Sinnangebots, der Übergang von der Ein- in die Vieldeutigkeit und die bewusste Produktion von Sinnüberschüssen verweist auf eine sich in ihrer Komplexität entziehende Welt. Dem Schöpfenden wird bewusst, dass arbiträre Zeichen eine individuelle Mitteilbarkeit verunmöglichen. Sind Texte überhaupt noch in einer gewissen Weise aussagefähig und verständlich? Lösungsansätze zeigen sich zum einen im Verzicht auf Sprache, d.h. einer abnehmenden Kommunikationsfähigkeit, in der Sprache zum „Strandgut“ wird und schließlich im Schweigen endet (z. B. Beckett „Endspiel“), zum anderen die Möglichkeit, Welt aus Sprache entstehen zu lassen, ohne reale Rückbindung an die Welt zu knüpfen (z.B. Proust; Joyce), aber auch in der Generierung einer neuen Sprache (z.B. Dadaismus). Auch die Verbindung von Musik und Sprache, die die Möglichkeit bietet, Sprache mit Emotionen und Gefühlen aufzuladen und so eine neue Art der Verständlichkeit hervorzubringen, scheint einen Lösungsweg anzubieten. In diesem Zusammenhang soll in Kapitel IV die Bearbeitung der „Winterreise“ durch Wolfgang Rühm thematisiert werden. So hat sich gezeigt, wie die Fremdheitsthematik, die sich als bestimmendes Merkmal der „Winterreise“ und ihre Überzeitlichkeit dargestellt hat, determinierend für die Auffassung des Künstlers in der Moderne und seine Produktivität wird. Wie die daraus resultierenden 67 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 22 - JANINEpoetologischen CHRISTGEN Konzepte nun wiederum auf die Rezeption des sie begründenden Werks der „Winterreise“ zurückreflektiert, soll im Nachfolgenden erörtert und reflektiert werden. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 23 - JANINE CHRISTGEN III Bedingung und Notwendigkeit von Interpretation 1 Krisenerfahrung und Genese der Interpretationsnotwendigkeit Wie in der Literatur findet auch in der Musik die Krisenerfahrung der schöpfenden Individuen Ausdruck in der Werkkonzeption. Auch hier muss zu einer „neuen Sprachlichkeit“68 gefunden werden. Kompositions- und Interpretationsgeschichte verweben sich, gerade in der Musik nach 1945, in verstärktem Maße.69 In gleicher Weise, wie die Auseinandersetzung mit der „richtigen“ Interpretation und Aufführung früherer Werke mehr und mehr in den Blickpunkt gerät. Die Musik in ihrer klanglichen „Originalgestalt“ reproduzieren zu können, setzt ein „möglichst lückenlos chiffriertes und dechiffrierbares Notensystem voraus.“70 Aus der Problematik der Rekonstruktion eines Musikwerks und dem Wunsch des Komponisten nach möglichst genauer Wiedererschließung seiner Werke entstand „die geschichtliche Entwicklung, [...] immer engere Raster zu finden, welche die zu übermittelnde Botschaft mit hohem Genauigkeitsgrad kodieren.“71 Daher verfestigte sich die Vorstellung, die das Verhältnis von Komponist und Interpret in der folgenden Weise umschreibt: A) B) C) D) Der Komponist schafft eine Struktur, die er chiffriert. Er chiffriert sie in einen kodierten Raster. Der Interpret dechiffriert diesen kodierten Raster. Gemäß dieser Dekodierung gibt er die ihm übermittelte Struktur wieder. 72 (Klang) So wünschenswert diese Überlieferungssituation möglicherweise Seitens des Komponisten gewesen wäre, umso stärker stellte sich jedoch die „Krise der seriellen, total determinierten Musik in den späten 50er Jahren dar, die sofort auch eine Relativierung des entsprechenden Interpretationsbegriffs nach sich zog.“73 Die Reaktion auf die Verstrickung, die der Versuch einer vollständigen Determinierung eines Werks hervorrief, war die bewusste Aussparung von Parametern in der Komposition. Auf diese Weise sollten „mehr oder weniger große Spielräume für interpretatorische Entscheidung zu einem Bereich der Komposition selber“74 werden. So konnte der Aktionsspielraum des Interpreten im Werk selbst verankert werden. Die Mitarbeit des Interpreten und sein schöpferisches Potential waren nun explizit gefordert. 68 Gruhn, Wilfried: Interpretation und Verstehensprozeß, S. 68. Vgl. Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 20. 70 Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 19. 71 Boulez, Pierre: Zeit, Notation und Kode, S. 67. 72 Vgl. Boulez, Pierre: Zeit, Notation und Kode, S. 67. 73 Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 20. 74 Stockhausen, Karlheinz: Musik und Graphik, S. 18. 69 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 24 - JANINEHierin CHRISTGEN stellt sich dar, was der Interpret in seiner Arbeit mit anderen Werktexten erfahren hatte: die Arbitrarität der Notation, seine Kontingenz und seine „Leerstellen“, die divergente Lesarten evozierten und Krisenerfahrungen gegenüber der Texttreue hervorriefen. „Die Emanzipation der Praxis des produktiven – anstelle des reproduktiven – Interpreten folgt somit auf bzw. existiert neben Tendenzen der Einschränkung, ja der Ausschaltung des interpretierenden Subjekts.“75 Die Emanzipation des produktiv-schöpferischen Subjekts aber kristallisierte sich aus einem langen Entwicklungsprozess heraus, bevor sich dieser in oben genannter Form konstituierte. So zeichnet sich ein „interpretationsgeschichtlicher Paradigmenwechsel seit der Musik Beethovens“ ab, „der den Begriff der Aufführung oder des Vortrags in einem regelgeleiteten aufführungspraktischen Sinn durch eine Zugangsform ersetzt, die später Interpretation genannt wird“, wenngleich „der Begriff der musikalischen Interpretation als solcher lexikalisch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch nicht nachweisbar ist.“76 Der Paradigmenwechsel lässt sich daran ablesen, „dass jetzt erstmals Aspekte der „Deutung“ virulent werden, die auf affektive, semantische und metaphysische Qualitäten abzielen, die das jetzt tatsächlich interpretierende Subjekt einzubringen hat – kulminiert in Mahlers provozierender Bemerkung, dass das Beste der Musik nicht in den Noten stehe.77 2 „Lebendige Interpretation“ Wie aber kann es nun gelingen, das „Beste der Musik“78 aufzufinden und als Interpret dem Hörer zugänglich zu machen? Hans Zender erklärt in seinen Notizen zu seiner komponierten Interpretation von Schuberts „Winterreise“, dass seit der Erfindung des Notentextes kompositorisch fixierter Text und die vom Interpreten aktualisierte klingende Realität beständig auseinander gefallen seien.79 Lange habe er eine möglichst textgetreue Interpretation angestrebt, um schließlich festzustellen, dass es eine solche originalgetreue Interpretation nicht gebe. Daher folgert er: „So wichtig es auch ist, die Texte genauestens zu lesen, so unmöglich ist es, sie lediglich rekonstruierend zum Leben zu erwecken. Abgesehen davon, dass sich sehr viele Dinge, wie Instrumente, Säle, Bedeutungen von Zeichen etc. verändert haben, muss man verstehen, dass jede Notenschrift in erster Linie eine Aufforderung zur Aktion ist und nicht eine eindeutige Beschreibung 75 Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 20. [Hervorhebung im Original] Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 21. 77 Zitiert nach: Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 21. [Hervorhebung im Original] 78 Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 21. 79 Vgl.: Zender: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 221. 76 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 25 - JANINE von Klängen. Es bedarf des schöpferischen Einsatzes des Interpretierenden, seines Temperaments, seiner Intelligenz, seiner durch die Ästhetik der eigenen Zeit entwickelten Sensibilität, um eine wirklich CHRISTGEN lebendige und erregende Aufführung zustande zu bringen. Dann geht etwas vom Wesen des Interpreten in das aufgeführte Werk über: Er wird zum Mitautor. Verfälschung? Ich sage: schöpferische Veränderung. Die Musikwerke haben, wie auch die Theaterstücke, die Chance, sich durch große Interpretationen zu verjüngen. Diese sagen dann nicht nur etwas über den Interpreten aus, sondern sie bringen Aspekte des Werkes zu Bewusstsein.“ 80 Zender glaubt nicht, dass „Aufführungen mit historischen Instrumenten uns so ohne Weiteres den Geist der Entstehungszeit zurückbringen könnten. Zu sehr haben sich unsere Hörgewohnheiten und unsere Ohren verändert.“81 Dies arbeitet auch Ferruccio Busoni in seinem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst heraus“. Busoni sieht ein Kunstwerk sowohl von veränderlichen Faktoren, der Form, der Mittel und des Geschmacks, als auch vom unveränderlichen Geist bestimmt.82 Zur Veranschaulichung dieser divergenten Konstituenten des Kunstwerks sei auf Katrin Bernhards Darstellung83 im Anhang II.1. verwiesen. Sowohl mit den veränderlichen, wie mit den unveränderlichen Faktoren eines Kunstwerks muss sich der Interpret nun auseinandersetzen, um eine Interpretation hervorzubringen, die das Kunstwerk adäquat zu vertreten vermag. Zender sieht diesen Vorgang der Interpretation von der „lecture“ bestimmt, von der „individuell-interpretierenden Lesart“80, die das Bild von Werk und Komponist spiegelt, wie es sich durch die Jahre in der individuellen Sicht des Interpreten gewandelt hat und nun in dessen Umgang mit dem Werk zum Ausdruck kommt. Wie aber entsteht eine solche „lecture“ und was sind ihre Konstituenten? 3 Musik lesen: Zeichensysteme - oder Musik als Sprache A Musik im Fluss Um noch genauer zu fassen, was Busoni mit wandelbaren und konstanten Faktoren des Kunstwerks auszudrücken versuchte, greift Zender auf die Heraklitische „grundlegende Erfahrung von Zeitlichkeit“84 zurück. Er zitiert Heraklits `Panta Rhei` Fragment: „Wir steigen niemals in denselben Fluss“. Der Fluss besitzt Konstanz, Dauerhaftigkeit und doch ist er immer wieder neu. Er bildet sich aus einem Dahinströmenden, welches ihn in seiner Gegenwärtigkeit bedingt und gleichzeitig einem ständigen Wandel unterwirft. Niemals wird man genau jenen Fluss noch einmal betrachten können. Dennoch formiert sich gleichzeitig 80 Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 221. Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 221. 82 Vgl.: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 5-6. 83 Vgl.: Bernhard, Katrin: Reisebericht: Sekundäres zur Winterreise, S. 61. 84 Zender, Hans: Wir steigen niemals in denselben Fluß, S. 185. 81 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 26 - JANINEeine CHRISTGEN übergeordnete Identität, die Konstanz verleiht, die es überhaupt erst ermöglicht, eine bleibende Identität und den Begriff „Fluss“ durch Abstraktion zu generieren. „Wir könnten gar nicht vom „Fluss“ sprechen, wenn der Fluss nicht gleichzeitig auch etwas Unveränderliches darstellen würde.“85 Es geht also um das Heraklits Philosophie im ganzen durchziehende Element, die gegenstrebige Fügung, welche sich in vielen seiner Fragmente wiederfinden lässt. Bezogen auf die konstanten und veränderlichen Faktoren des Kunstwerks, lässt sich aus Heraklits Fragmenten entnehmen, dass Kunstwerke einem ständigen Wandel unterliegen und dabei dennoch eine gewisse Beständigkeit aufweisen, die sie unverwechselbar werden lassen. Zender folgert daraus, dass Kunstwerke keine stabile Identität hätten; sie seien wie Lebewesen den nicht vorhersehbaren dynamischen Dimensionen der Zeit unterworfen.86 Die zeitliche, geographische und kulturelle Distanz, die zwischen das Kunstwerk und den Interpreten trete, machte nolens-volens auch umdeutende Vermittlung unumgänglich.87 Zender betont: „Ein musikalisches Werk kann niemals nur anhand seines Notentextes verstanden werden, die Zeichen der Partitur sind auf die zukünftige Aktualisierung in der Performance bezogen, und jede Performance ist eine Neudeutung dieser Zeichen und so jeweils eine unterschiedliche Version des Stücks.“87 Das heißt, jeder interpretatorische Zugang ist abhängig von der „lecture“. Hermann Danuser weist darauf hin, dass es bei der Interpretation eines Werkes immer einen gewissen Deutungsspielraum gebe, der sich im Auseinanderfallen von „Struktursinn“ und „Aufführungssinn“ offenbare.88 Es handelt sich hierbei um zwei verschiedene Lektüreformen, von denen man die Erste nach Gruhn als „écriture“, die Zweite als „lecture“ bezeichnen könnte.89 Der „Struktursinn“ (écriture) muss durch den „Aufführungssinn“ (lecture) ausgelegt und so durch die individuelle Lesart aktualisiert werden. Interessant ist dabei, wo Zender den Begriff der „lecture“ ansetzt und dass für ihn auch „die Partitur selbst schon eine Interpretation“87 darstellt. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden, um schließlich genauer auf die Interpretationsproblematik eingehen zu können. B Musikalische Zeichen Um sein Verständnis von der Bedeutung eines Notentextes darzulegen, betrachtet Zender in seinem Aufsatz „Interpretation – Schrift – Komposition“ die Umstände, unter denen sich 85 Zender, Hans: Wir steigen niemals in denselben Fluß, S. 185. Vgl. Zender, Hans: Wegekarte für Orpheus?, S. 86. 87 Vgl. Zender, Hans: Wegekarte für Orpheus?, S. 85. 88 Vgl. Danuser, Hermann: Musikalische Interpretation, S. 4. 89 Vgl. Gruhn, Wilfried: Interpretation und Verstehensprozeß, S. 76. 86 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 27 - JANINEmusikalische CHRISTGEN Notation entwickelte. Auch daran wird sich noch einmal deutlicher zeigen, warum auch Danuser der „écriture“ keine Selbständigkeit zuschreibt. Zenders Überlegungen nehmen ihren Ausgang bei Guido von Arezzo, der die erste brauchbare Grundlage für die Notation schuf, aus selbigem Grund aber aus der Klostergemeinschaft ausgeschlossen wurde, da man ihm vorwarf, sich gegen die Memoria90 vergangen zu haben.91 Während er durch den Aufbau der schriftlichen Fixierung von Musik einerseits gerade gegen deren Vergessen ankämpfte, trat doch zugleich ein signifikanter Verlust gegenüber der mündlichen Tradierung auf. Bei der „mündlichen Tradition“ werden „Gestalt und Sinn der Gestalt ungeschieden vermittelt; sie treten niemals auseinander. [...] „Poesis“ und „mimesis“ [...], „productio“ und „imitatio“, waren eine Einheit.“92 Für Zender ist diese Einheit durch die Erfindung der Notation aufgebrochen. „Aufzeichnung heißt Akzentuierung, Verkürzung, Abstraktion.“93 Da jedoch jede Verschriftlichung unterschiedliche Akzente setzt und leicht variierende Codes benutzt, wird eine genaue Dechiffrierung, welche Sinn und Gehalt wieder in Einklang bringt, erschwert. Je größer nun der zeitliche Abstand zu den jeweiligen Codierungssystemen ist, desto problematischer wird die Rekonstruktion. Daraus resultiert ein „Ringen um die richtige Lesart“94. Zender folgert aus diesen Überlegungen, dass schriftliche Fixierung niemals dazu dienen könne, geistige Traditionen unverfälscht weiterzugeben.95 Ähnliches lässt sich auch in der Schriftkritik Platons am Ende des Phaidros finden. In seiner Erläuterung zu diesem Werk konkretisiert Wieland diesen Sachverhalt wie folgt: „Wer über wirkliches Wissen verfügt, wird [...] allenfalls zum Spiel oder zum Zweck der Erinnerungshilfe versuchen, den Inhalt dieses Wissens in einem Text darzustellen. Gerade ihm ist klar, dass das, was das Wissen erst zum Wissen macht, im Text gar nicht greifbar wird.“96 Der Notentext steht zwischen Komponist und Interpret, ohne zwischen diesen sinnverlustfrei vermitteln zu können. Der Text ist, so Zender, nie mit der Autorintention identisch und somit kann selbst die genaue Dechiffrierung niemals nur aus dem Text allein ein authentisch klingendes Werk zurückgewinnen: 90 Memoria: Wissensgüter werden über Generationen ohne schriftliche Fixierung auf mündlichem Weg durch das Medium der Erinnerung vermittelt und bewahrt. 91 Vgl. Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 211. 92 Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 211. 93 Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 211. 94 Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 211. 95 Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 211. 96 Zitiert nach: Danuser: Musikalische Interpretation, S. 5. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 28 „Immer ist der größere Anteil einer jeden Überlieferung durch den ungeschriebenen Kontext der - JANINE CHRISTGEN Gewohnheiten der Entstehungszeit gegeben, und die Zeichen eines Textes verändern sich mit diesen. Die musikalische Syntax, in deren Rahmen Zeichen gebraucht werden, wandelt sich. So ist es unvermeidlich, dass auch deren graphische Symbole einem Bedeutungswandel unterliegen.“97 Daher ist „Rezeption von Texten immer Deutung aus einer bestimmten geschichtlichen Situation heraus.“98 Aus diesen Überlegungen schließt Zender, dass musikalische Notation Aktionsanweisung für den Interpreten und Quelle für das Verstehen von Musik sei.99 Das Zeichen bedarf folglich der Auslegung, der „lecture“, da das „Beste der Musik,“100 um noch einmal Mahlers Begrifflichkeit aufzugreifen, eben nicht im Notentext steht. Dieser Vorgang ist notwendig, da im „Moment des Erklingens [...] die gefrorene Form der Schrift wieder in den lebendigen Fluss der Zeit versetzt wird.“101 Zender verlangt vom Interpreten die Lösung jener Knoten, die der Komponist in seiner Komposition hinterlassen hat. Hierzu ist es jedoch unumgänglich, auch die „musikalische Topik“102 zu beachten, die zeitliche Bedingtheit des Werks. Daraus folgt, dass der Versuch, Musik in der schriftlichen Fixierung gänzlich zu determinieren, scheitern muss. Zum einen, da keine Chiffrierung eindeutig zu dechiffrieren wäre, zum anderen, da Musik verständlich bleiben muss. Ihr Charakter muss den Menschen und ihren Hörgewohnheiten angepasst werden, die divergenten Welten von Entstehung und Rezeption zum Ausgleich gebracht werden. Carl Dahlhaus spricht in dieser Beziehung von „objektivierbarem Datum und zu rekonstruierendem historischen Faktum“103. Danuser schließt aus dieser Aufsplittung von Dahlhaus, „dass es eine Musikgeschichtsschreibung ohne >Interpretation< seitens des Historiographen nicht geben kann, so ist auf dem Gebiet der Aufführungspraxis die Hoffnung auf Objektivität verflogen und hat der Einsicht Platz gemacht, dass auch – ja gerade – die praktische Rekonstruktionsversuche Alter Musik ohne Hypothesen, Deutungen, also Interpretation undenkbar sind.“104 C Interpretation von Zeichensystemen Interpretation erscheint also als einzig gangbarer Weg zur adäquaten Werkrekonstruktion. Daher ist es entscheidend zu klären, was im Allgemeinen und im Besonderen von Zender unter Interpretation verstanden wird und was das Vorgehen bei der Interpretation bedingt. 97 Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 212. Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 212. 99 Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 212. 100 Zitiert nach: Mauser, Siegfried: Theorien zur Interpretation Neuer Musik, S. 21. 101 Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 212. 102 Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 212. 103 Zitiert nach: Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1053. 104 Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1053. 98 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 29 - JANINE CHRISTGEN a Interpretationsmodi Danuser teilt die musikalische Interpretation in drei mögliche Modi ein:105 I. Historisch-rekonstruktiver Modus II. Traditioneller Modus III. Aktualisierender Modus I Der historisch-rekonstruktive Modus Dieser Modus hat als historische Aufführungspraxis seinen Ausgangspunkt in der Kultur der geschichtlichen Rekonstruktion der ursprünglichen Aufführungsart eines Werks. „Eine „historisch richtige“ Aufführung gibt es allerdings nicht.“106 Durch historische Forschung und musikalische Praxis wird der Versuch unternommen, den Zeithorizont einer vergangenen Epoche in die Gegenwart zu transferieren. Die historischen Bedingungen können dabei annähernd, niemals aber vollständig rekonstruiert werden. „Im ästhetischen und lebensweltlichen Bewusstsein einer späteren Gegenwart findet das Rekonstruktionsbemühen eine unüberschreitbare Schranke.“ 107 II Der traditionelle Modus Dieser Interpretationszugang ist nicht vorrangig durch die Werktreue, sondern durch die Einfügung in die Geschichte der Werkinterpretation bestimmt. „Aufgrund der Überzeugung, dass die großen Werke der musikalischen >Ausdruckskunst< in der Gestaltungskraft des Interpreten ihre letzte Begründungsinstanz finden müssten, misst dieser Modus der historischen Rekonstruktion des Werks wenig Gewicht bei.“108 III Der aktualisierende Modus Wenngleich dieser Modus erst im 20. Jahrhundert eigenständige Bedeutung gewinnt, so weist Danuser dennoch darauf hin, dass sich Vorformen in der Aufführungsgeschichte vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert nachweisen lassen. „In früheren Zeiten war es für den Interpreten selbstverständlich, ein Musikwerk, das sie zum Erklingen bringen wollten, durch bearbeitende Maßnahmen ihrer Zeit, den eigenen ästhetischen Idealen, den Voraussetzungen 105 Vgl.: Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1057-1059. Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1057. 107 Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1057. 108 Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1058. 106 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 30 - JANINEeines CHRISTGEN zeitgenössischen Hörens nach Gutdünken anzupassen.“109 Ziel ist es, die Autorintention „auch unter veränderten Umständen einzulösen und die Werke einer neuen Gegenwart zuzuführen.“110 In der neuesten Zeit zeichnet sich diese Interpretationsform durch die ihr zugrundeliegende Idee, „problemgeschichtliche Beziehungen zwischen musikalischen Denkformen der Gegenwart und Prinzipien älterer Musik aufzuspüren aus.“ 111 Ziel ist es, Werke so darzustellen, dass „Züge, die ihnen ursprünglich allenfalls verborgen innewohnten, zu lebendiger ästhetischer Gegenwart erhoben werden.“112 b Musikalische Interpretations- und Übersetzungsarbeit Aus dem zuletzt Zitierten lässt sich schließen, „dass jede Interpretation nur eine von mehreren Möglichkeiten darstellt.“113 An dieser Stelle ist es möglich, Zenders Auffassung von Interpretation anzubinden und sein Verständnis von musikalischer Übersetzungsarbeit zu integrieren. Zender definiert Interpretation wie folgt: „Es ist Neudeutung, Neugeburt aus der eigenen Individualität, Umschaffung alter Gestalt durch die Versetzung in neuen Kontext.“114 Zwischen Werk und Interpretation scheint ein dialektisches Verhältnis zu existieren. Das Werk ist nur verklanglicht in seiner gänzlichen Wahrheit erfahrbar. Zur akustischen Umsetzung aber ist eine Interpretation der musikalischen Zeichen notwendig, welche es vermag, die Zeitlichkeit des Werks „in eine aktuelle, ästhetisch erfahrbare Zeitlichkeit zu übersetzen.“115 Es muss also eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart gezogen werden. „Jeder künstlerische Prozess, der des Interpretierens wie der der Neuschöpfung, ist immer auch die Auseinandersetzung eines aktuellen Bewusstseins mit einem vorgegebenen, von der Vergangenheit empfangenen Material. [...] Die Geschichte spielt immer mit.“116 Scheinbar veraltete Kulturformen bedürfen der Neudeutung, um wieder zugänglich zu werden. Zender begreift gerade die Kraft des „Sich-Erinnerns“, des Zurückwendens als „Wieder-holen“ von Vergangenem als eine Möglichkeit der Gegenwartsund Zukunftsbewältigung. Hölderlin schreibt in dem im Jahr 2000 von Zender vertonten 109 Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1059. Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1059. 111 Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1059. 112 Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1059. 113 Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1055. 114 Zender, Hans: Interpretation- Schrift- Komposition, S. 216. 115 Danuser, Hermann: Interpretation, Sp. 1065. 116 Zender, Hans: Ein Vierteljahrhundert später, S. 6. 110 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 31 - JANINEGedicht CHRISTGEN Mnemosyne: „Zeichen sind wir, deutungslos,/Schmerzlos sind wir und haben fast/ Die Sprache in der Fremde verloren.“117 Mnemosyne, die Mutter der Musen, „ist im gleichen Moment in die Zukunft eilender utopischer Entwurf und Erinnerung an das Uralte.“118 Gadamer spricht in diesem Zusammenhang von einer >Horizontverschmelzung<, welche den Horizont eines ursprünglichen Textes mit dem Gegenwärtigen zu verbinden vermag. 119 Zeichen, die in ihrer Chiffrierung nicht mehr verstanden werden, sind deutungslos, haben ihre Sprachfähigkeit in einer vergangenen Zeit eingebüßt. Was sie uns zu sagen haben, hat nicht an Relevanz, sondern vielleicht nur an Verständlichkeit verloren und bedarf nun der Übersetzungstätigkeit des Interpreten. Auch Ferruccio Busoni geht auf diesen Aspekt in seinem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ ein: „Die Notation, die Aufschreibung von Musikstücken ist zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten, um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu dieser wie das Porträt zum lebendigen Modell. Der Vortragende hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzulösen und in Bewegung zu bringen. [...] Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration durch die Zeichen eingebüßt hat, daß soll der Vortragende durch seine eigene wiederherstellen.“120 Fraglich ist nur: Gibt es überhaupt eine wahre Übersetzung des Textes und wie gelingt die >Horizontverschmelzung<? c Die „lecture“ Zenders Antwort auf diese Frage ist eindeutig: Er glaubt nicht an eine eindimensionale Lesbarkeit von Texten. Seine Vorstellungen von der „lecture“ lassen dies deutlich hervortreten. Er versucht, die arbiträren Zeichen individuell zu deuten und bezieht sich in diesem Vorgehen auf Isers „Leerstellentheorie“. Zender verbalisiert dies folgendermaßen: „Die Schrift des Komponisten entwirft vielmehr an Stelle des einen intendierten Stücks in Wirklichkeit unendlich viele. [...] Durch die Erfindung der musikalischen Schrift ist also gerade nicht die Möglichkeit entstanden, ein `musikalisches Objekt` eindeutig zu fixieren, sondern im Gegenteil die Nötigung, die zugrundeliegende Schrift eines Komponisten aus der Individualität des Interpreten und den unter Umständen andersartigen Bedingungen seiner Epoche heraus neu zu lesen.“ 121 117 Zitiert nach: Vogt, Harry: Musik der Zeit, S. 10. Zender, Hans: Ein Vierteljahrhundert später, S. 7. 119 Vgl. Danuser, Hermann: Musikalische Interpretation, S. 56. 120 Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 20. 121 Zender, Hans: Gedanken über die Bedeutung der schriftlichen Aufzeichnung für die Musik, S. 200. 118 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 32 - JANINEZender CHRISTGEN versteht die Urschrift als Basis für alle sich aus ihr formierenden differenten Lesarten, die einmalig und individuell sind aber dem Werk in jeder einzelnen Auslegung die Möglichkeit zur lebendigen Entfaltung bietet.122 Die Zeichen des Notentextes sind also als zu interpretierende Symbolschichten zu verstehen. Der Interpret kann „zwischen unendlich vielen Lesemöglichkeiten“123 wählen. Doch wie entstehen diese Lesarten? Grundlegend besteht ein „Mangel an Bestimmtheit.“124 Vergleicht man dies mit dem zeichentheoretischen Modell Saussures, zeigt sich die Divergenz von Signifikat und Signifikant. Bezeichnendes und Bezeichnetes lassen sich nicht zweifelsfrei zuordnen. Die Arbitrarität des Zeichens wirft somit zum einen die Krisenerfahrung der Unmöglichkeit des unfehlbaren sprachlichen Ausdrucks auf, der vor Augen führt, dass Sprachakte misslingen können, zum anderen die Erfahrung der Interpretationsfreiheit, die dem Werk immer neue Perspektiven und Lesarten eröffnet. „Während in der ternären Zeichenstruktur seit der Stoa das Bezeichnende und das Bezeichnete durch eine Konjunktur verbunden sind, die einen nicht-arbiträren Zusammenhang zwischen Sprache und Welt herstellt, [...] wird die Anordnung der Zeichen binär, weil man sie seit Port Royal durch die Verbindung eines Bezeichnenden und eines Bezeichneten definiert“125, die sich arbiträr zueinander verhalten. Auch der Komponist erstellt daher in gewisser Weise durch die Verschriftlichung seiner musikalischen Vorstellungen bereits eine Interpretation. Die Zeichen können nie exakt die Autorintention wiedergeben. „Das Formgeben selbst ist also schon eine Interpretation durch den Komponisten“126. In ähnlicher Weise äußert sich auch Ferruccio Busoni in seinem „Entwurf“: „Jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt.“127 Aus dieser Feststellung folgert Zender, dass, falls bereits die Schrift des Autors Darstellung sei, das Tun des Interpreten zur Interpretation zweiter Ordnung werde, zur „Darstellung der Darstellung“.128 Der „Leser“ oder Interpret ist nun vor die Aufgabe gestellt 122 Vgl.: Zender, Hans: Gedanken über die Bedeutung der schriftlichen Aufzeichnung für die Musik, S. 201. Zender, Hans: Musikalische Interpretation und Übersetzungsarbeit, S. 226. 124 Cadenbach, Rainer: Der implizite Hörer?, S. 153. 125 Gebauer, Gunter/ Wulf, Christoph: Unsinnliche Ähnlichkeit: zur Sprachanthropologie W. Benjamins, S. 375f. 126 Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 216. 127 Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 22. 128 Vgl. Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 216-217. 123 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 33 - JANINE„herauszufinden, CHRISTGENwas sich in der Schrift ausdrückt.“129 „Der Leser muss die Abstraktion der Schrift wieder lösen, konkretisieren, mit >Leben< füllen.“130 d Der Akt des Lesens Lesen bedeutet einen Text verarbeiten, mit ihm kommunizieren. Eine solche Kommunikation ist nur durch die Interaktion zwischen Text und Leser möglich.131 Wolfgang Iser geht davon aus, dass ein Text sich nicht auf eine einzige Wahrheitskonfiguration festlegen lässt. Schon alleine, weil „die Schrift immer mehr ausdrückt, als dies dem Schreibenden bewusst ist“132. Als Gründe für diesen Sachverhalt wurden bereits angeführt: 1. 2. 3. Arbritrarität der Zeichen, Wandel der Chiffren und ihrer Bedeutung, Wandel der Rezipienten (u.a. aus historischen und soziologischen Gründen) Dennoch werden Texte über Jahrhunderte rezipiert und immer neue Aspekte aus ihrer Textur herausgearbeitet. Ein Text scheint kein Konsumgut zu sein, welches sich „verbraucht“. „Es charakterisiert Texte, dass sie ihre Kommunikationsfähigkeit nicht verlieren, wenn ihre Zeit vorbei ist; viele von ihnen vermögen auch dann noch zu `sprechen´, wenn ihre ´Botschaft` längst historisch und ihre ´Bedeutung´ schon trivial geworden ist.“ 133 Es ist unmöglich, den einen Sinn als den eigentlichen Kern eines Werks aus dem Text herauszulösen und jenen so als „leere Schale“, der „Bedeutung entrissen“ zu hinterlassen.134 Der „Text sperrt sich gegen seine Konsumierbarkeit“135 ebenso, wie gegen eindeutige interpretatorische Festlegung. Der Leser muss sich gerade von vorgegebenen Lesarten befreien. Iser nennt dieses Vorgehen „Negativierung“. Erst im Preisgeben der mitgebrachten Maßstäbe, so Iser, liege die Möglichkeit, sich das vorzustellen, was durch den Sinn des Textes real intendiert sei. Susan Sontag zentriert diese Aussage in ihrem Aufsatz „Against interpretation“: „The modern style of interpretation excavates, and as it excavates, destroys; it digs ´behind´ the text, to find a sub-text which is the true one.”136 Gäbe es nur diese eine Möglichkeit der Interpretation, würde der Text seine Sprachfähigkeit einbüßen und jede Überzeitlichkeit und Kontinuität von Text erlöschen. Es muss folglich ergründet werden, wie 129 Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Unsinnliche Ähnlichkeit: zur Sprachanthropologie W. Benjamins, S. 377. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Unsinnliche Ähnlichkeit: zur Sprachanthropologie W. Benjamins, S. 377. 131 Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 7-8. 132 Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Unsinnliche Ähnlichkeit: zur Sprachanthropologie W. Benjamins, S. 377. 133 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 28. 134 Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 14. 135 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 18. 136 Sontag, Susan: Against interpretation, S. 6f. 130 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 34 - JANINEein CHRISTGEN optimales Verhältnis zwischen Text und Leser aussehen könnte und welche Faktoren dieses Verhältnis bestimmen. Dazu soll im Folgenden Isers Theorie des Impliziten Lesers und jenes der Leerstellen, welches auf Roman Ingardens Konzept der Unbestimmtheitsstellen beruht, erläutert werden. Die Darstellung folgt im Wesentlichen jener Konzeption, die Wolfgang Iser in seinem Buch „Der Akt des Lesens“ darlegt. I Das Konzept des „Impliziten Lesers“ Ein Werk wirft also, wie zuvor untersucht, unterschiedliche Deutungspotentiale auf, die zu immer neuen Lesarten führen. Lesen wird zum Vorgang von Sinnkonstitution und somit zur Interpretation. „Interpretation (aber) heißt nun nicht mehr Sinn entschlüsseln, sondern Sinnpotentiale verdeutlichen, die ein Text parat hält, weshalb sich die im Lesen erfolgende Aktualisierung als ein Kommunikationsprozess vollzieht.“137 Sicher ist aber auch, dass die durch den Text eröffneten Sinnpotentiale niemals vollständig ausgeschöpft werden können. Eine solche Ausschöpfung würde auch wiederum zur Entleerung des Werks führen und ihm eine überzeitliche Gültigkeit verwehren. Ohne den Leser und seine schöpferische Mitgestaltung allerdings würden sich keinerlei Sinnpotentiale erschließen und der Text somit verschlossen bleiben. Die Leser- und Interpretationsrolle ist daher für die Lebendigkeit eines Werkes unabdingbar, ja sogar, nach Iser, bereits in der Textkonzeption einbeschrieben, als impliziter Leser. Er besitzt „keine reale Existenz, denn er verkörpert die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein Text seinen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet.“138 Iser spricht bewusst von einem Angebot, welches der Text und nicht der Autor offenbart, denn der Text offeriert, wie gezeigt, ein größeres Sinnangebot als das vom Autor intendierte. Man könnte mit Foucaults Worten vom ´Tod des Autors´ sprechen. Schreiben ist für Foucault selbstreferentiell geworden: „Schreiben ist ein Zeichenspiel, das sich weniger nach seinem bedeuteten Inhalt als nach dem Wesen des Bedeuteten richtet. [...] In Frage steht die Öffnung eines Raumes, in dem das schreibende Subjekt immer wieder verschwindet.“139 Wenngleich es hier nicht um eine solch radikale Infragestellung der Autorposition geht, soll verdeutlicht werden, dass der Text nicht nur den Autorwillen abbildet. Aber auch der Leser kann nur gewisse Sinnangebote ausschöpfen. „Daraus folgt, dass die Leserrolle des Textes historisch und individuell unterschiedlich realisiert wird, je nach den lebensweltlichen Dispositionen sowie dem Vorverständnis, das der einzelne Leser in die 137 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 42. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 60. 139 Foucault, Michel: Was ist ein Autor, S. 11. 138 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 35 - JANINELektüre CHRISTGEN einbringt.“140 Intention und Erfüllung können in Gänze nur im fiktiven Konzept des impliziten Lesers zusammenfallen. „Ist aber jede Aktualisierung eine bestimmte Besetzung der Struktur des impliziten Lesers, dann bildet diese Struktur eine Referenz, die die individuelle Rezeption des Textes intersubjektiv zugänglich macht. Damit kommt eine zentrale Funktion des impliziten Lesers zum Vorschein: Es ist ein Konzept, das den Beziehungshorizont für die Vielfalt historischer und individueller Aktualisierungen der Texte bereitstellt, um diese in ihrer Besonderheit analysieren zu können.“141 Der implizite Leser vereinigt also alle möglichen Lesarten und Leserrollen in sich. Nun ist zu klären, wie die divergenten Lesarten entstehen können. II Die „Leerstellentheorie“ Im Folgenden ist die „Text-Leser-Beziehung“ näher zu untersuchen. „Das Lesen als eine vom Text gelenkte Aktivität koppelt den Verarbeitungsprozess des Textes als Wirkung auf den Leser zurück. Dieses wechselseitige Einwirken aufeinander soll als Interaktion bezeichnet werden.“142 Interaktion ist von Kontingenzbeträgen bestimmt. Die Kontingenz ist Konstituente jeder menschlichen Kommunikation. Sie ist die „in aller Interaktion herrschende Unvorhersehbarkeit“143, die zur Konstitutionsbedingung für Kommunikation überhaupt wird. Der Text aber vermag keine solche dyadische Interaktion zu leisten. Da er auf die Fragen, die der Leser ihm entgegen bringt nur bedingt zu antworten vermag, entsteht eine „konstitutive Leere“144. Diesem Mangel muss der Leser durch „eigene Projektionen“ entgegenwirken. Es sind kommunikative Unbestimmtheitsstellen, die vom Leser gefüllt werden müssen, damit die Kommunikation gelingen kann. Hier entsteht also Kommunikation aus der Dialektik von Verschwiegenem und Zusagendem. „Das Verschwiegene (wird zum) Implikat des Gesagten.“145 Leerstellen sind also „bestimmte Aussparungen, die Enklaven im Text markieren und sich so der Besetzung durch den Leser anbieten. Denn es kennzeichnet die Leerstellen eines Systems, dass sie nicht durch das System selbst, sondern nur durch ein anderes System besetzt werden 140 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 65. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 66. 142 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 257. 143 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 257. 144 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 263. 145 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 265. 141 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 36 146 - JANINEkönnen.“ CHRISTGEN Leerstellen bringen die „Konstitutionsaktivität des Lesers in Gang“ und „regulieren die Vorstellungstätigkeit des Lesers“147. Isers Konzept ist verwandt mit dem der Ingardenschen „Unbestimmtheitsstellen“. Ingarden begreift jedes Kunstwerk als schematisches Gebilde mit verschiedenartigen Unbestimmtheitsstellen, die durch den Betrachter gefüllt werden müssen. Interessant ist die dabei auftretende Ambivalenz, dass der Gegenstand in dem Maße neue Unbestimmtheitsstellen aufwirft, wie andere geschlossen werden. Die „Konkretisation“148 eines Kunstwerks kann also nie vollständig erfolgen. Wie diese Ausfüllung der Unbestimmtheitsstellen sich im Einzelnen darstellt, soll an dieser Stelle nicht ausgeführt werden, da Zenders Theorien zur Interpretation von ihnen nicht gefärbt sind. Daher seien an dieser Stelle noch einmal jene, die Leerstellen bestimmenden Faktoren zusammengetragen, die auch Zenders Nutzung dieses Terminus und sein Verständnis von diesem beeinflussen: 1. Unbestimmtheitsstellen sind Aussparungen im Text, die durch den Leser besetzt werden müssen. 2. Jede Leerstelle bricht die Textkohärenz, welche durch die Aktivität des Lesers wiederhergestellt werden muss. 3. Jede Leerstelle kann auf mannigfaltige Weise gefüllt werden, wodurch divergente Lesarten entstehen. 4. Divergente Lesarten erhalten die Lebendigkeit des Textes, definieren ihn immer wieder neu und verhelfen ihm zu überzeitlicher Wirkung. 5. Texte, die keine oder geringe Leerstellen aufweisen, fordern den Leser nicht zur Kommunikation auf und entbehren somit schließlich der Fähigkeit, überzeitliche Relevanz zu erhalten. 4 Gründe der und Wahrheitsgehalt von Interpretation A Die Verantwortung des Interpreten Es ist deutlich geworden, dass Zender Text als Vermittlungsmedium von Musik begreift, welches nicht ohne die Aktivität des Lesers aktualisiert werden kann. Weiterhin ist ein Musikwerk für Zender immer als Klingendes zu denken und daher nur in seiner akustischen Umsetzung lebendig. Diese Lebendigkeit des Werks aber kann wiederum nur vermittelt 146 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 266. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens, S. 266. 148 Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk, S. 250. 147 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 37 - JANINEwerden, CHRISTGEN wenn der „Geist“149 des Werkes erfasst und seine „Form“150 gemäß den gewandelten Rezeptionsbedingungen umgeformt wird. Dies geschieht durch den zuvor erörterten Vorgang der „lecture“. Zender formuliert seine Überlegungen zur Notwendigkeit der Interpretation wie folgt: Es ist „nicht allein die naive Vorstellung, die Schrift der Partitur sei ein Chiffre, die sich eindeutig vom Spieler in Klang übertragen lasse“, sondern vor allem „die Tatsache, dass unsere Empfindungen von Klang und Zeit ständig im Wandel begriffen sind und insofern jedes Werk der Vergangenheit erst `gedolmetscht` werden muss.“151 Er führt im folgenden vier Gründe für die Aktualisierungsnotwendigkeit (musikalischer) Werke an:152 1. Bedeutungswandel der Schriftzeichen, 2. Wandel des Instrumentariums und die daraus erwachsenden Veränderungen der Klangbalance, 3. Wandel der Konzertlokalitäten, 4. Wandel des hörenden Bewusstseins. Die Werke verlangen also nach der „Beteiligung der subjektiven Vorstellungen des Interpreten.“153 Aber öffnet sich durch ein solches Verständnis von Interpretation nicht auch „der Willkür Tür und Tor?“154 So fragt sich auch Zender, natürlich um dies im Folgenden zu negieren. „Schöpferische Interpretation ist ohne kompositorisches Denken unmöglich, und kompositorisches Denken heißt: verantwortlich mit Material umgehen.“155 Woraus resultiert diese Verantwortlichkeit und welche Forderungen stellt sie? B Das Erwachsen der Verantwortung Zender sieht die Liebe zu einem Werk als konstitutive Voraussetzung zur verantwortlichen Interpretation und zum produktiven Umgang mit einem Werk überhaupt. „Erst durch den „enthousiasmo“, die Begeisterung, wird die Interpretation persönlich und so schöpferisch. [...] Die schöpferische Interpretation sucht sich mit dem Geist des Werkes zu identifizieren. Dies ist auch der Grund dafür, dass schöpferische Interpretation das Original nicht beschädigt, auch wenn sie noch so frei damit umgeht. In der Interpretation wird sich zwar auch etwas von der Individualität des Interpreten abdrücken, aber unabsichtlich und spontan. In dieser Spontaneität wird die alte in eine neue Wahrheit verwandelt.“156 149 Vgl. Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 5. Vgl. Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 5 151 Zender, Hans: Was kann Musik heute sein?, S. 148. 152 Vgl. Zender, Hans: Was kann Musik heute sein? S. 148. 153 Zender, Hans: Was kann Musik heute sein?, S. 149. 154 Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 219. 155 Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 219. 156 Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 217-218. 150 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 38 - JANINE CHRISTGEN Diese Vorstellungen Zenders lassen sich in den philosophischen Überlegungen Adornos wiederfinden. Adorno glaubt, dass ein Werk nur durch Hingabe erschlossen werden kann. „Das Werk wird nicht untertan gemacht, sondern durch die aktiv-passive Angleichung des Rezipienten vermag es in sein Inneres zu gelangen und dieses zu bereichern.“157 Es wird vom Rezipienten als mit ihm identisch oder von ihm unterschieden erfasst. Aufgrund der Hinwendung, mittels der „Erweiterung des Subjekts durch die Öffnung für die Welt“158 erfährt das Ich sich selbst neu. Indem es sich in die liebende Beziehung zum Werk setzt, welches als sein Nicht-Ich (im Hegelschen Sinn) erscheint, kann es die Konturen des eigenen Ichs fassen. Ziel dieser Bewegung ist die Vermittlung zwischen Werk und Rezipient, die aus einer solchen Grundkonstellation resultiert. „Wahrheit“, so Adorno, „zeigt sich zwischen dem Werk und dem Rezipienten im beide verbindenden mimetischen Impuls, der den Kern ästhetischer Erfahrung ausmacht, in der eine Vermittlung von Ich und Nicht-Ich erfolgt, die alle Zwecksetzungen, Nützlichkeitsüberlegungen, Instrumentalisierungen hinter sich lässt und in der der Vorrang des Objekts, der Natur der Nichtidentischen vom Rezipienten erfasst wird. [...] Wenn die ästhetische Erfahrung einen durch den Bezug auf Wahrheit gegebenen Erkenntnisgewinn liefert, ist sie nicht als subjektive Erfahrung allein beschreibbar. Vielmehr enthält sie objektive im Werk liegende Komponenten.“159 Das bedeutet, dass durch die liebende Hinwendung zu einem Werk sich eine Erkenntnis desselben begründet, die nicht rein subjektiv und willkürlich ist, sondern in den Kern des Werks eindringt und seinen „Geist“ auf diese Weise rekonstruktiv zu erfassen vermag. C Die Implikate der Verantwortung Zender weist darauf hin, dass diese Liebe zu einem Werk erst dann entstehen kann, wenn „der schöpferische Funke vom Autor auf den Interpreten“ überspringt, was eben erst in jenem Moment der Fall sein kann, indem sich der Interpret in die „Gestalt `verliebt`, dadurch dass er von ihr „besessen“ wird.“160 Eine solche Beziehung zwischen Interpret und Werk kann allerdings nur entstehen, wenn am Anfang der Beschäftigung die „genaueste und intensivste Aneignung des Urtextes (steht), samt Studien über die Entstehungszeit (und der) Geschichte der Interpretation.“161 Die Anstrengung des Interpreten müsse immer erst durch die Schalen der bisherigen Rezeption eines Textes hindurchdringen, bis sie dem Original so direkt wie 157 158 159 Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Lebendige Erfahrung – Adorno, S. 399. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Lebendige Erfahrung – Adorno, S. 398. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Lebendige Erfahrung – Adorno, S. 401. Vgl. Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 217. 161 Vgl. Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 217. 160 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 39 - JANINEmöglich CHRISTGEN begegneten. Diese Begegnung schaffe dann, wenn sie glückt, absichtslos das „Aktuelle“ einer neuen Lesart.162 Zender stellt also auch die geschichtliche Bedingtheit eines Werks heraus: „Jedes neu komponierte Werk steht, indem es als Punkt in der Gegenwart doch immer verbunden bleibt mit unzähligen Aspekten von Geschichte, ausdrücklich reflektiert. Dazu gehört auch die Einsicht in den mimetischen Charakter von Schrift.“163 Was meint Zender nun mit dem mimetischen Charakter von Schrift? Zender folgt in seiner Auffassung dieses Begriffs der Intertextualitätstheorie Derridas. Jeder Text steht nach Derrida in einem mimetischen Verhältnis zu anderen Texten. Dieses Verhältnis ist hauptsächlich kein bewusst impliziertes, sondern ein unbewusstes Verweisen. „Es gibt keine erste Schrift und kein erstes Lesen; jedes Beginnen verdankt sich einer Doppelung. In jedem Schreiben ist der Bezug auf etwas Vergangenes bereits gegeben. [...] Texte erschließen sich nicht als begrenzte Wortkörper; sie haben eine Geschichte. [...] Sie haben so nie den Charakter von Originalen.“164 Dieses mimetische Verweisspiel aber schmälert den Text nicht, sondern bereichert ihn. „Jeder Text hat eine <unendliche> Dichte.“165 Nach Derrida wird der Text gerade von diesem Vervielfältigungsprinzip, der „différence“ geprägt und konstituiert. „Différence“ ist das Spiel zwischen An- und Abwesenheit von Sinn. Sie besteht auch zwischen dem lebendigen Wort und dem Schriftzeichen, welches als Verdopplung des Wortes nur als Simulakrum für jenes stehen kann. Der Tod der lebendigen Sprache ist Konstituente der Schrift. Die Schrift und die durch sie entstehenden Begriffe werfen wieder eine Bedeutungsvielfalt auf, die sich je nach Leser in unterschiedlichen Lesarten und Diskursen spiegeln können. Auf diese Weise entstehen immer neue intertextuelle Bezüge, die dem Werk die Möglichkeit bieten, durch alle Zeiten hindurch präsent zu bleiben und ihre Relevanz zu erhalten; lebendig zu bleiben, Tradition zu kontinuieren und gleichzeitig produktiv Neues zu schaffen, zu bewahren und zu gestalten, mit anderen Worten „gegenstrebige Fügung.“166 Dieses anfangs ausgeführte Paradox Heraklitscher Provenienz beleuchtet hier noch einmal Zenders Gedanken. Harmonia als hervorgebrachte Einheit aus Widerstrebendem. Zender versucht, in seiner Interpretationstheorie gerade ein Ideal aufzustellen, dass Geschichte und Gegenwart, Wort/ Klang und Schrift, sowie Zeichen und Deutungsvielfalt zum Ausgleich bringt. 162 Vgl. Zender, Hans: Auge und Ohr. Gedanken zum Theater – Exkurs: Autor und Interpret, S. 41. Zender, Hans: Interpretation – Schrift – Komposition, S. 219-220. 164 Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Der Zwischencharakter der Mimesis – Derrida, S. 406. 165 Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Der Zwischencharakter der Mimesis – Derrida, S. 406. 166 Zender, Hans: Wir steigen niemals in denselben Fluß, S. 187. 163 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 40 - JANINEDazu CHRISTGEN ist jedoch auch die Rolle des Hörers neu zu definieren. 5 Die Rolle des Rezipienten Zender geht es um eine neue Art des Hörens, um unmittelbare Rezeption und um Teilhabe an der Werkgenese, um ein Hinaustreten aus einer reinen Konsumhaltung. Er folgt hier den Gedankengängen Georg Pichts und vor allem den in dessen Werken „Kunst und Mythos“ und „Real Presences“ formulierten Einsichten. „Für Picht sind die Sinne, ist das Ohr selbst schon zu einer qualitativen Leistung fähig und nicht erst die reflektierende Vernunft.“167 Zender will gerade diese Fähigkeit des Hörers fördern. Er wünscht sich einen Hörer, der „Ungewohntes, Unerhörtes vorurteilsfrei“ aufnehmen kann. Er kritisiert, dass das Kunstwerk dem Hörer meist durch eine Flut von Kommentaren, Vorinterpretationen und Einführungen vermittelt werde und eine direkte Begegnung mit dem Werk somit ausgeschlossen sei.167 Um aus dieser routinemäßigen Rezeptionsform auszutreten, bedarf es zum einen einer Neubelebung der „existentiellen Wucht des Originals“168, auf die in Kapitel IV eingegangen werden soll, zum anderen eines neuen Verständnisses der Hörerrolle. Das klassische Kommunikationsschema wird aufgebrochen. In jenem Modell wird einzig dem Komponisten schöpferisches Potential zugestanden. Der Interpret hat rein darstellende Funktion, so daß die mimetische Werknachahmung fast Züge eines blinden Gehorsams gegenüber dem Notentext aufweist, also gleichbedeutend mit einer reinen Imitatio oder Mimikry ist. Dem Hörer fällt eine ausschließlich passive Rolle zu, indem er die vom Interpreten erzeugte klingende Darstellung des produktiv durch den Komponisten geschaffenen Notentextes rezipiert. Das kommunikationstheoretische Modell Zenders macht sowohl den Interpreten zum Mitschöpfer, wie den Hörer zum Handelnden. Die schöpferische Tätigkeit bezieht sich also nicht mehr länger ausschließlich auf den Komponisten, sondern umschließt die Gesamtheit der kommunikationstheoretischen Trias. Zur Darstellung sei auf das von Katrin Bernhard in Anhang II.2 aufgestellte Schema verwiesen, in dem oben das traditionelle Kommunikationsschema unten die Umdeutung durch Zender abzulesen ist.169 167 Zender, Hans: Was kann Musik heute sein?, S. 154. Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 223. 169 Bernhard, Katrin: Reisebericht, Sekundäres zur Winterreise, S. 57. 168 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 41 - JANINEInwiefern CHRISTGEN diese theoretischen Ideale Umsetzung und Eingang in Zenders Schaffen gefunden haben und wie die moderne Rezeption in realiter mit einem Werk der Vergangenheit umgeht, soll im Folgenden geklärt werden. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 42 - JANINE CHRISTGEN IV Zenders komponierte Interpretation 1 Wege zu Zender Seit dem 19. Jahrhundert hat es immer wieder kompositorische Versuche gegeben, auf die spezifische Intensität der Schubertschen Musik aufmerksam zu machen, was, wie Hiekel anmerkt, wohl in Verbindung mit dem enormen Potential an gestalterischen Möglichkeiten steht, welches diese Musik bereithält und dazu anregt, sich produktiv mit „diesen Ideen auseinander zu setzen, sie aufzunehmen und weitzuerdenken.“170 Die Betrachtung der Rezeptions- und Interpretationsgeschichte der „Winterreise“ ist daher gerade auch wegen ihrer Reichhaltigkeit - entscheidend für ein adäquates Verständnis von Zenders Werk. Dieses steht nicht isoliert, sondern hat Vorläufer, von deren Techniken und gedanklicher Vorstellungswelt es nicht unberührt bleibt. Anschließend an die im II. Kapitel beleuchtete Überzeitlichkeitsthematik, die grundlegend für die Werkrezeption ist, soll an dieser Stelle gezeigt werden, inwieweit diese Faktoren die Rezeption konkret beeinflussen. Die zu Zender führenden Rezeptionsstationen sollen im Folgenden kurz umrissen werden, so dass ihre substantiellen Eigenarten hervortreten. Zur Übersicht sei auf Anhang III verwiesen. A Die Transkriptionen Liszts Die produktiv variierende und neuschaffende Rezeption der „Winterreise“ beginnt mit Liszts Klaviertranskription, die im Zuge der Bearbeitung von Schubertliedern in den Jahren 18331846 entstand, also in den Jahren extensiver Konzerttätigkeit Liszts in ganz Europa. Es scheint zwei konstitutive Faktoren zu geben, die die Rezeption Liszts bestimmen. Diese sind zum einen der Gedanke, das Werk durch Anpassung an die Hörgewohnheiten des Publikums einem breiteren Rezipientenkreis zugänglich zu machen, zum anderen die Herausarbeitung einer individuell interpretierenden Lesart. Horst Weber sieht den komponierenden Virtuosen als Vermittler für Werke anderer Komponisten.171 Jene Werke wurden zur Zeit Liszts nicht vornehmlich in originaler Besetzung und Satzfolge gespielt. „Liszts Transkriptionen der Schubertschen Lieder kamen den Hörgewohnheiten des Publikums entgegen.“172 So knüpft Liszt in gewisser Weise, wie Zender später, am Bewusstsein des Hörers an. 170 Hiekel, Jörn Peter: Schubert und das eigene Selbstverständnis, S. 289. Weber, Horst: Liszts Winterreise, S. 591. 172 Weber, Horst: Liszts Winterreise, S. 591. 171 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 43 - JANINEDie CHRISTGEN individuell interpretierende Lesart Liszts zeigt sich in zwei Aspekten: zum einen in seinen interpretatorischen Eingriffen, zum anderen im Einfluss individuell biographischer Faktoren auf die Interpretation.173 Zu den interpretatorischen Freiheiten, die Liszt verwendet, zählen: - die Erweiterung der Vor-, Zwischen- und Nachspiele, bzw. deren Neukomposition, freie Kürzungen und Variationen (z.B. rezitativische Einschübe in „Nebensonnen“) der Lieder, die sich immer weiter vom Original ablösen, die Hinzufügung und Erweiterung der rhythmischen Schichten, die Veränderung der Liedfolge, was zur Akzentuierung einer neuen Lesart der Winterreise führt, in der Trotz und Mut sich über die Verzweiflung erheben, die Veränderung der Klangfarbe durch die rein instrumentale Umsetzung (Klavier), die Herausarbeitung der Wendepunkte der Lieder (Dur–Moll-Konfrontationen Schuberts) durch raumgreifende Figurationen, die Konstitution der Komposition aus dem Erfindungskern des Schubertschen Liedes, 174 die Ausgestaltung der onomatopoetischen Elemente (z.B.: Wind im „Lindenbaum“). Hinzu tritt, nach Heinemann, die Bestimmung der Interpretation durch die biographischen Faktoren einer gescheiterten Beziehung wegen eines divergenten Verständnisses von Künstlertum und sozialer Verantwortung. Liszt sah sich zur Unterstützung der Überschwemmungsopfer in Ungarn durch Benefizkonzerte verpflichtet. Diese Entscheidung wurde von seiner Lebensgefährtin nicht mitgetragen. Heinemann glaubt nun, dass die Auswahl der Lieder und ihre Anordnung nicht alleine vom Bekanntheitsgrad, sondern auch von diesen subjektiven Erlebnissen getragen wurden, von eben jenem Trotz und jener Auflehnung gegen die Erfahrung der verschmähten Liebe aus Einsicht in die Notwendigkeit des eigenen So-handelns.175 So zeigt sich bereits in dieser frühesten Rezeption einer „Re-lecture,“176 wie der „Gehalt in einem kompositorischen Akt der Interpretation neu erschlossen“177 wird. Viele Bearbeitungsmethoden Liszts werden sich bei Zender wiederfinden, während sich die Bedeutung des poetologischen Gehalts der „Winterreise“ im Bewusstsein der Rezeption noch steigert. In besonderem Maße gewann in der gesamten Schubertrezeption, „das weit über ihre Zeit hinaus bis in die Gegenwart Weisende“178 der Musik Bedeutung. B Die „Winterreise“ Bredemeyers 1984 entsteht die Rezeption Bredemeyers, die sich im Wesentlichen mit den Vorgaben des literarischen Subjets beschäftigt, während sie nicht explizit auf Schuberts Vorlage 173 Vgl. Heinemann, Michael: Am Ende: Der stürmische Morgen, S. 193. Weber, Horst: Liszts Winterreise, S. 591. 175 Heinemann, Michael: Am Ende: Der stürmische Morgen, S. 193. 176 Heinemann, Michael: Am Ende: Der stürmische Morgen, S. 191. 177 Weber, Horst: Liszts Winterreise, S. 597. 178 Hiekel, Jörn Peter: Franz, Morton und andere, S. 37. 174 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 44 - JANINEzurückgreift. CHRISTGEN „Die Winterreise“ von Wilhelm Müller ist längst kein Gedichtzyklus mehr, sondern durch Franz Schuberts Vertonung ausschließlich Musik, ein Liederzyklus,“179 konstatiert Jürg Stenzel 1995 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und fährt fort: „1984 hat der Komponist Reiner Bredemeyer Müllers Werk ohne Schuberts Töne gelesen und komponiert. Als scharfsinniger Künstler, als Intellektueller in der DDR erkannte er in Müller den Gleichgesinnten, einen politisch hellen Kopf im Lande der Metternich-Zensur, der durch die Blume konkrete Wahrheiten trotzdem zu sagen suchte: `Vielleicht sind die vielen Fragezeichen - 25 Stück! – die den Müllerschen Text durchwuchern, so verdammt zeitgenössisch und uns not-wendig vertraut. Der tödliche Ernst der Situation, in der sich der ‚Reisende’ permanent befindet, duldet selten temperamentvollen Widerspruch (Kontrapunkt)`, schrieb Bredemeyer zu seiner „Winterreise“ für Bariton, Horn und Klavier und fügte hinzu: „Die elegische Privatgeschichte, die Franz Schubert exzellent nachempfunden hat, wollte ich nicht repetieren. Meine sicher durch die DDR geprägte Lesart dieser Flucht eines gefeuerten Liedermachers (Wolf Biermann!) muss, glaube ich, sehr, sehr trocken, absolut unbedauernd und distanziert sachlich, nicht einmal anklagend vorgestellt werden.“ 180 Die Komposition Bredemeyers ist Abbild einer modernen, tragischen Welt.181 Die Bitterkeit und Trostlosigkeit, die Erfahrung von Einsamkeit, von Resignation und Erstarrung in der Gesellschaft seiner damaligen Wahlheimat Ost-Berlin verbindet ihn mit Müller und schafft die Vorraussetzung zur Rezeption. „Dass die »Winterreise« ein soziales Klima bezeichnet, dass sie auf gefrorene Zustände in der späten DDR weist, mag in jedem Takt hörbar sein. Der Komponist sah damals viele Parallelen zum Klima einer Gesellschaft, die für ihn deutliche Züge des Vereisens, Vergreisens, Frierens hatte.“182 Es ist nicht erstaunlich, dass Brecht und Eisler Vorbilder Bredemeyers waren, spiegelt doch auch Eislers „Hollywood-Liederbuch“ (in dem er Texte Brechts vertont) als Komposition eines im amerikanischen Exil lebenden Deutschen ähnliche Erfahrungen wieder, wie diese auch von Bredemeyer formuliert werden.183 Die Komposition Eislers genauer zu untersuchen, ist in diesem Rahmen nicht möglich, dennoch sei darauf hingewiesen, dass auch sie mit der „Winterreise“ Schuberts nicht alleine durch das Sujet der Fremdheits- und Isolationserfahrung verbunden ist. In dem Lied „Über den Selbstmord“ zitiert Eisler darüber hinaus die Takte 7-9 aus Schuberts „Gute Nacht“ und stellt somit eine explizite Verbindung zwischen den Zyklen her.184 Mit Bredemeyers Komposition liegt folglich ein Werk vor, dass vor allem die Überzeitlichkeit der Winterreisethematik betont und damit die Rezeptionsweise der modernen Auseinandersetzung mit diesem Werk spiegelt. 179 Stenzel, Jürg: Standhaft und frech Einspruch erhoben. www.reiner.bredemeyer.de. Stenzel, Jürg: Standhaft und frech Einspruch erhoben. www.reiner.bredemeyer.de. 181 Vgl. Müller, Gerhard: Zum Tode des Komponisten Reiner Bredemeyer. www.reiner.bredemeyer.de. 182 Arnzoll, Stefan: Bagatellen für B. www.reiner.bredemeyer.de. 183 Hufschmidt, Wolfgang: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?, S. 158. 184 Vgl. Hufschmidt, Wolfgang: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?, S. 175. 180 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 45 - JANINE CHRISTGEN C Die Rezeption Döhls Friedhelm Döhl hat sich im Jahr 1985 gleich zweimal der Auseinandersetzung mit der Schubertschen „Winterreise“ gestellt, woraus zunächst die De-Collage „Winterreise Bruchstücke“ für Klavier resultierte, welche im Folgenden schließlich zur Grundlage für sein „Winterreise. Streichquintett“ wurde. Erstere Bearbeitung erscheint in Form von sieben Miniaturen, in denen Döhl sieben Lieder der „Winterreise“ jeweils „auf Motive, die ihm nach dem Konzert in der Erinnerung nachklangen,“185 reduzierte. Die Bruchstücke erscheinen eingebettet in ein Gewebe von Pausen, isoliert durch den Pedalnachhall, in Zeitgestalt, Dynamik und Lage verfremdet, aber immer in der Gestalt, dass das Original stets als Folie präsent bleibt.185 Ohne Worte soll „etwas der Ausdrucksvielfalt von Schuberts Winterreise Vergleichbares (entstehen). Das Ziel ist deren klangliche Veranschaulichung, im Bewusstsein, dass darin „unsere aktuelle menschliche Situation“186 reflektiert wird. Durch die Betonung des Fragmentcharakters und der Pause als deren Zentralelement wird die Stille zum Mittel musikalischen Ausdrucks. Diese Dekonstruktion sieht Döhl im Werk Schuberts selbst verankert. „Der Leiermann“ sei Ausdruck des Verschwindens des Ichs, die Kolportierung persönlichen Ausdrucks, Erkenntnis der Hoffnungslosigkeit und Einblick in die Sinnlosigkeit des unablässigen Wanderns.187 Diesen bei Schubert angelegten Ausdruck zentriert Döhl in seiner Rezeption. Noch deutlicher tritt Döhls Interpretation der „Winterreise“ als „Irrfahrt eines Menschen in zunehmende Einsamkeit und Ausweglosigkeit“ in seinem Streichquintett hervor.188 Die Wahl des Streichquintetts schafft den Verweis auf Schuberts C-Dur-Quintett, weshalb Döhl bewusst die Besetzung mit zwei Violoncelli wählt, um die Verbindung zu Schubert eindeutig zu gestalten. Darüber hinaus gibt Döhl seinen Liedern je ein Gedicht Georg Trakels bei. Über Trakels Gedichte schreibt er, dass er in ihnen eine innere Verwandtschaft zur Winterreise empfinde.189 Auf diese Weise schafft Döhl eine stimmige Neukomposition, „die im assoziationsreichen Kommentieren von Schubert´schem Material authentisch wird.“190 Er kommentiert Schubert und lässt die Literatur dabei eine vermittelnde Rolle übernehmen. Somit zentriert Döhl die Aussage Schuberts durch eine individuelle Lesart, die die „Winterreise“ für den Hörer auf ganz neue Weise zugänglich macht. Einige 185 Förstel, Francois: Winterreise 2001, S.121. Hiekel, Jörn Peter: Schubert und das eigene Selbstverständnis, S. 283. [Hervorhebung im Original] 187 Vgl. Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 56. 188 Zitiert nach: Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 59. 189 Zitiert nach: Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 58. 190 Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 61. 186 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 46 - JANINEdieser CHRISTGEN Vorstellungen und Bearbeitungsformen werden sich auch in der Zugangsweise Zenders spiegeln. D Das „Experiment“ Rühms Im Jahr 1990 entsteht aus der Auseinandersetzung mit Sprachverlusst und Sprachzerfall Gehard Rühms „die winterreise – dahinterweise“, die sowohl als szenische Version für LiveAufführungen, wie auch als rein akustische Version von zwölf Hörbildern für den Rundfunk vorliegt. Es handelt sich dabei um eine assonantische Übersetzung von Müllers Text, die den Vokalbestand weitestgehend übernimmt, so dass trotz der nun entstehenden semantischen Korrumpierung des Sinns „die klangliche Schale fast identisch mit dem Gedicht Müllers“191 bleibt. Dieser neue Text wird nun zu dem im Hintergrund abgespielten Werk Schuberts rezitiert. Auf diese Weise werden Bekanntes und Fremdes verknüpft und das durch alltäglichen Gebrauch Abgenutzte neu gehört. Rühm erläutert die Intention seiner Gestaltung im Einführungstext des Programmbuchs: „Die eigentümlich verzerrt wirkende Klanggestalt der Gedichte signalisiert eine halluzinative Aussageschicht, die dahinter, nämlich hinter den Originalworten, zu liegen scheint und sie zugleich konterkariert. So entsteht durch die intendierte semantische Unschärferelation eine Sinnvernebelung, die eine tagträumerische Assoziationstätigkeit in Gang setzten mag.“192 Durch die multimediale Struktur wird ein komplexeres und genaueres Hören gefordert und gefördert und der Rezipient aus seiner Konsumentenhaltung gerissen. Auch dies ist ein Aspekt, der sich in Zenders Interpretation wiederfinden lässt. Die dargestellten Rezeptionsformen, die der Interpretation Zenders vorausgehen und sich in gewissen Aspekten von dessen Werk wiederfinden, ebnen nun den Weg zu einem facettenreichen Verständnis der „Winterreise“ Zenders. Dieses soll nun sowohl im Ganzen überblicksmäßig wie auch en detail an ausgewählten Beispielen besprochen werden. Daran anschließend soll schließlich betrachtet werden, wie sich die auf Zenders Werk folgende bzw. auf diesem aufbauende Rezeption darstellt. 191 192 Gruhn, Wilfried: Interpretation im Verstehensprozeß, S. 73. Zitiert nach: Gruhn, Wilfried: Interpretation im Verstehensprozeß, S. 73. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 47 - JANINE CHRISTGEN 2 „Lecture“ als Vermittlung einer „verlorenen“ Sprache – Zenders Weg zu Schubert „Meine „lecture“ der Winterreise sucht nicht nach einer neuen expressiven Deutung, sondern macht systematisch von Freiheiten Gebrauch, welche alle Interpreten sich normaler Weise auf intuitive Weise zubilligen: Dehnung bzw. Raffung des Tempos, Transposition in andere Tonarten, Herausarbeiten charakteristischer farblicher Nuancen. Dazu kommen die Möglichkeiten des „Lesens“ von Musik: innerhalb des Textes zu springen, Zeilen mehrfach zu wiederholen, die Kontinuität zu unterbrechen, verschiedene Lesarten der gleichen Stelle zu vergleichen...,“193 Auf diese Weise erläutert Zender sein Bearbeitungsverfahren. Zu den Formen der Interpretation und des Lesens führt er als weitere Aspekte seiner Bearbeitungstechnik die Orchestration, die Kontrafaktur, die Bewegung und die Klangchiffre an. Alle jene Techniken bestimmen, so Zender, seine Interpretation. Daher sei im Folgenden kurz veranschaulicht, welche Faktoren Zender unter den einzelnen Begrifflichkeiten subsumiert:194 Interpretation: Lesen: Orchestration: Kontrafaktur: Bewegung: Klangchiffre: Dehnung bzw. Raffung des Tempos, Transposition in andere Tonarten, Herausarbeiten charakteristischer farblicher Nuancen innerhalb des Textes springen, Zeilen mehrfach wiederholen, Kontinuität unterbrechen, verschiedene Lesarten der gleichen Stelle vergleichen Permutation von Klangfarben; Ausnutzung von besonderen Klangmöglichkeiten Hinzufügung frei erfundener Klänge als Vor-, Zwischen-, Nach- oder simultane Zuspiele; Überleitungen; Verschiebung der Klänge im Raum Gänge der Musiker im Raum keimhafte musikalische Figur, aus der das ganze Lied sich zeitlich entfaltet; Stimuli und Onomatopoetik Die jeweils konstitutiven und signifikanten Bearbeitungsmerkmale der einzelnen Lieder können Anhang VIII entnommen werden. Genauer veranschaulicht werden sollen die einzelnen Merkmale schließlich an ausgewählten Liedern, die den Zyklus zentral bestimmen und an denen sich Zenders Arbeitsweise prototypisch darstellen lässt. Entscheidend ist jedoch nicht allein wie, sondern vor allem auch warum Zender Schubert gerade so interpretiert, wie er es tut. Hier spielen jene Aspekte eine entscheidende Rolle, die in den Kapiteln II und III dargestellt wurden, also zum einen die Überzeitlichkeit des Sujets, wobei sich Zender besonders auf Padrutts lebensphilosophische Auslegung bezieht,195 zum anderen die Wiederherstellung der Sprachfähigkeit von Musik vergangener Epochen. An letztgenanntes schließt auch jene Überlegung an, die an früherer Stelle (Kapitel III) bereits erwähnt aber noch nicht ausgeführt wurde. Es handelt sich um Zenders Idee, die „existentielle 193 Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 221. Vgl. Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 221. 195 Vgl. Gruhn, Wilfried: Wider die ästhetische Routine, S. 46. 194 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 48 - JANINEWucht CHRISTGEN des Originals“196 wiederzubeleben. Zender betont, dass Schubert während der Komposition dieser Lieder nur selten und sehr verstört bei seinen Freunden erschienen sei. Die ersten Aufführungen hätten daher eher Schrecken als Wohlgefallen ausgelöst. 197 In Aufzeichnungen Spauns über den Briefverkehr mit Schubert lässt sich dies verifizieren: „Schubert wurde durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er nur, `nun ihr werdet es bald hören und begreifen.´ Eines Tages sagte er zu mir, `komm heute zu Schober, ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin begierig, was ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als dies je bei anderen Liedern der Fall war.´ Er sang uns nun mit bewegter Stimme die ganze `Winterreise´ durch. Wir waren über die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft, und Schober sagte, es habe ihm nur ein Lied, ´Der Lindenbaum´ gefallen. Schubert sagte hierauf nur, „mir gefallen diese Lieder mehr als alle, und sie werden euch auch noch gefallen.“198 Zenders Ziel ist es daher, die ästhetische Routine der Klassiker-Rezeption aufzubrechen.199 Er glaubt eben nicht, dass man einem Werk wie der „Winterreise“, welches Zender als Ikone unserer Musiktradition und als großes Meisterwerk Europas bezeichnet, gerecht werden kann, indem man es in „heute üblicher Form - zwei Herren im Frack, Steinway, ein meist sehr großer Saal“200 darstellt. Das Werk soll für den Hörer wieder unmittelbar zu fassen sein. Wie Zender dieses Ideal verfolgt, soll im Weiteren dargestellt werden. 3 Schubert und Zender - Gemeinsamkeiten und Divergenzen Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern die Werke Schuberts und Zenders in werkbestimmenden Aspekten Gemeinsamkeiten erkennen lassen bzw. an welchen Punkten Zender durch seine Bearbeitung eine andere Gewichtung dieser Gesichtspunkte vornimmt oder gar gänzlich divergente Neuerungen schafft. Im Anschluss sollen diese und andere Determinanten in einer Detailanalyse anhand ausgewählter Lieder veranschaulicht werden. A Zyklusbildung und Tonartendisposition Zender folgt in seiner Interpretation größtenteils der „originalen“ Tonartendisposition Schuberts, also jener, welche in der autographen Fassung zu finden ist (vgl. Anhang IV). Um diese Konzeption genauer zu betrachten, ist es sinnvoll, zunächst die Überlieferungssituation der „Winterreise“ Schuberts darzustellen und darauf aufbauend zu verfolgen, welche 196 Zender, Hans: Notizen zu meiner Komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise“, S. 223. Vgl. Zender, Hans: Notizen zu meiner Komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise“, S. 223. 198 Spaun, Joseph von: Aufzeichnungen über meinen Verkehr mit Franz Schubert, S. 117. 199 Vgl. Zender, Hans: Notizen zu meiner Komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise“, S. 223. 200 Zender, Hans: Notizen zu meiner Komponierten Interpretation von Schuberts „Winterreise“, S. 221. 197 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 49 - JANINEVeränderungen CHRISTGEN wodurch begründet sind und warum Zender einige von ihnen revidierte. Dies soll zu einem tieferen Verständnis des Werks führen. „Die Winterreise ist in zwei autographen Handschriften überliefert. Die Handschrift der ersten Abteilung stellt, von zwei Ausnahmen abgesehen (Nr. 1 und Nr. 8), eine erste Niederschrift dar; das Manuskript der zweiten Abteilung ist eine autographe Reinschrift, die zugleich für den Druck als Stichvorlage diente.“201 Diese Autographe weisen zahlreiche Abweichungen im Vergleich mit dem Erstdruck auf, die sich auf zwei divergente Umstände zurückführen lassen. Zunächst ergaben sich Varianten von Seiten Schuberts, später nahm der Verleger Haslinger Veränderungen vor. Schubert, der die ersten 12 Lieder der Winterreise bereits im Februar 1827 nach Müllers Gedichten konzipiert und komponiert hatte, ergänzte diese schließlich im Oktober 1827 um 12 Lieder, nachdem ihm die erweiterte Fassung von Müllers Winterreise zugänglich wurde. War Schubert zunächst von der Geschlossenheit des Zyklus ausgegangen, den Müller in dem Almanach Urania unter dem Titel „Wanderlieder von Wilhelm Müller. Die Winterreise. In 12 Liedern“ veröffentlicht hatte, so musste er diese Konzeption nachträglich verändern und öffnen. Dies bedingte insbesondere eine Veränderung der Tonart des 12. Liedes von d-Moll nach h-Moll: „Während ursprünglich der erste Teil gleichsam harmonisierend disponiert ist (das erste Lied beginnt in d-Moll, das letzte Lied schließt in d-Moll), hat Schubert nachträglich den harmonisierenden Tonartenbogen nicht nur geöffnet, sondern zerbrochen.“202 Die Begründung liegt in der Tonartendisposition der zweiten Abteilung. Sie endet nach der autographen Überlieferung mit dem „Leiermann“ in h-Moll, eine Tonart die die Rückkehr zum Zyklusbeginn zu verwehren scheint. „Schubert setzt also den Schluss der ersten und den Schluss der zweiten Abteilung zueinander in Beziehung; er stellt damit einen Bedeutungsbezug zwischen der Einsamkeit und dem Leiermann her.“203 Im Erstdruck aber hat der Verleger Haslinger bereits in diese Disposition eingegriffen und den „Leiermann“ in aMoll veröffentlicht. „Da Schubert die Veröffentlichung des zweiten Teils der Winterreise nicht mehr erlebte,“204 erscheint die Veränderung durch Haslinger als dessen eigenmächtige Handlung. Elmar Budde kritisiert Haslingers Umgestaltung, da die durch die Tonart h-Moll zum Ausdruck kommende Richtungslosigkeit des Zyklus zurückgenommen werde: a-Moll (Dur) verwiese als V. Stufe von d-Moll zurück auf den Beginn des Zyklus und schlösse somit den Kreis. Ein solches harmonisierendes Zusammenschließen sei aber sicherlich nicht von 201 Budde, Elmar: Franz Schubert und das Lied, S. 242. Budde, Elmar: Franz Schubert und das Lied, S. 242. 203 Budde, Elmar: Franz Schubert und das Lied, S. 243. [Hervorhebung im Original] 204 Budde, Elmar: Franz Schubert und das Lied, S. 243. [Hervorhebung im Original] 202 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 50 - JANINESchubert CHRISTGEN intendiert gewesen.205 Dieser Gedankengang scheint sich auch in der Konzeption Zenders niederzuschlagen. Zenders Interpretation versperrt sich dem Glauben an eine intendierte zyklische Geschlossenheit der „Winterreise“. Er folgt den autographen Angaben Schuberts und beendet seine Interpretation in h-Moll. Zenders Einschätzung, dass die „Winterreise“ Schuberts im zweiten Teil immer mehr zu einer Auseinandersetzung mit dem Tod, dem Abschied von der Geliebten und dem Abschied vom Leben überhaupt werde, 206 es dem Wanderer folglich immer unmöglicher wird, zurückzukehren, verbietet eine Tonartendisposition, die eine solche Rückkehr eröffnet. Interessant ist, wie Zender den tonalen Zusammenhang zwischen den Liedern 12 und 24 verdeutlicht und gleichzeitig der ursprünglichen Konzeption Schuberts, des geschlossenen ersten Teilzyklus, Transparenz verleiht. Zender beginnt seine Interpretation des Liedes „Einsamkeit“ in d-Moll, jener Tonart, die Schubert für den Abschluss des Zyklus gewählt hatte, in dem er die ersten 12 Lieder Müllers vertonte. Dann jedoch sinkt Zenders Interpretation harmonisch ab, bis sie schließlich die von Schubert revidierte Tonart h-Moll in Takt 48 erreicht. Auf diese Weise verweist Zender zum einen auf die ursprüngliche Abgeschlossenheit und öffnet zum anderen die Verbindung zur zweiten Abteilung und vor allem zum „Leiermann“. Für Lied 22 greift Zender hingegen nicht auf die autographe Tonart zurück, sondern erreicht, nach einer Phase der harmonischen Orientierungslosigkeit, in Takt 37 Haslingers Tonart gMoll. Auch hier wurde die Tonart im Erstdruck vom Verleger Haslinger geändert. Warum revidiert Zender diesen Eingriff nicht? Während die Lieder 21-23 in Schuberts Autograph durch ihre Tonartenfolge im Zusammenhang stehen (F – a – A), entfällt diese Verknüpfung durch die Intervention Haslingers. Das Lied „Mut“ steht nun isoliert. Verständlich werden kann diese doch scheinbar bewusste Abwendung Zenders von der autographen Tonart nur durch seine „lecture“. Betrachtet man die Lieder in Zenders Interpretation so hebt sich „Mut“ durch eine besondere Verklanglichung hervor. In Nr. 21 werden die choral-funeralen Elemente durch die reine Bläserbesetzung unterstrichen. Der daktylische Schreitrhythmus, die trauermarschartige Anmutung, all dies unterstreicht die resignativ ausichtslose Lage des Wanderers, die sich aus Müllers Text herauslesen lässt. Dieser resignative Charakter tritt auch im Text von Lied 23 zutage, während Lied 22 den subjektiven Willen zur Veränderung postuliert, wo der letzte Versuch unternommen wird, sich aus eigener Kraft aus den Fängen des Schicksals zu befreien. Dass dies nicht gelingen wird, zeigt die autographe 205 206 Vgl. Budde, Elmar: Franz Schubert und das Lied, S. 243. Vgl. Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 222. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 51 - JANINETonartendisposition, CHRISTGEN die alle drei Lieder in Beziehung setzt. Der harmonische Ausbruch nach g-Moll (dies mag womöglich auch Zender so gesehen haben) aber eröffnet vielleicht die Möglichkeit eines unvoreingenommeneren Hörens und weist zudem auf die divergenten Grundeinstellungen des Wanderers in diesen Liedern hin. Fraglich bleibt, warum Zender für Lied 10 nicht auf die autographe Tonart (d-Moll) zurückgriff. Eine mögliche Erklärung mag sein, dass diese Transposition der Tonart von Schubert vorgenommen wurde und Zender daher legitimiert erscheint, was auch den Rückgriff auf die autographe Tonart für Lied 6 verdeutlicht. Abschließend kann also festgehalten werden, dass Zender der autographen Disposition der Tonarten im Wesentlichen folgt. Wo er dies vermeidet, scheint sein Vorgehen durch eine persönliche Lesart motiviert. Entscheidend ist jedoch, dass gerade durch die Rücktransposition des letzten Liedes erneut jene antizyklische Grundhaltung hervortritt, die von Schubert intendiert war und mit dessen Verständnis von Müllers Text konvergiert. Zenders Lesart ähnelt jener Schuberts, was sich auch an der zunehmenden Auflösung der musikalischen Faktur zeigt. „Die am Anfang trotz aller Verfremdung noch eindeutige Beziehung zum historischen Original wird [...] immer labiler, die „heile Welt“ der Tradition verschwindet immer mehr in eine nicht rückholbare Ferne.“207 Eine zyklische Rückkehr ist somit sowohl bei Zender, als auch bei Schubert ausgeschlossen. Die einzige verbindende Konstante ist der insistierende Wanderrhythmus, der in Form von konstant repetierter Achtelbewegung in Lied 1, 8, 9, 20 und 24 ebenso zu finden ist, wie in der von Zender hinzukomponierten „Zwischenaktmusik“, welche die beiden Abteilungen miteinander verbindet. B Die Bedeutung von und der Umgang mit den Tongeschlechtern Konstitutiv für die Lieder in Schuberts Winterreisezyklus ist die Verwendung von Dur und Moll als sprechende Tongeschlechter. Dur dient Schubert als Metapher für Traum und Scheinwelt, für eine täuschende Idylle, Moll bildet die Realität ab. „Moll ist für Schubert der gesellschaftliche Normalzustand, der nicht mehr, wie noch bei Beethoven – überwunden werden kann, sondern ein Moll–Zustand als Realität. Dur hingegen ist immer nur das, was einmal war, was Vergangenheit ist oder was [...] Vergangenheit, [...] Traum, [...] Vorstellung, [...] Schein ist, oder wie Theodor W. Adorno sagen würde – falscher Schein ist. Der Gebrauch von Moll und Dur ist eine Metapher, auf welcher der ganze Zyklus basiert.“ 208 207 208 Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 222. Hufschmidt, Wolfgang: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?, S. 71. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 52 - JANINE CHRISTGEN Die „Winterreise“ ist, wie bereits im II. Kapitel gezeigt, von Antagonismen durchwebt. Als bedeutendste divergente Paarungen treten Heimat und Fremde, Ruhe und Bewegung, Natur (Objektwelt) und Ich (Subjekt), Realität und Weltflucht/Traum hervor. Zu ihrer Versinnbildlichung greift Schubert auf die Konfrontation der Tongeschlechter zurück. „Reflexion bedeutet in der „Winterreise“ gewöhnlich Desillusionierung und geht folglich mit einer Moll-Wendung einher.“209 Solche Moll-Dur-Konfrontationen finden sich in den Liedern 1, 2, 5, 7, 8, 11, 13, und 17 - 23, in welchen sie eine Spannungs- und Gliederungsfunktion erfüllen. Zur Veranschaulichung der bei Schubert auftretenden Konfrontationen, der durch sie verdeutlichten Antagonismen und ihrer Rezeption von Zender sei auf Anhang V verwiesen. An dieser Stelle sollen nur drei Beispiele einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, die verdeutlichen, dass Zender die Besonderheiten der Liedkonzeption Schuberts nicht nur aufgreift, sondern diese teilweise durch deutliche akustische Umsetzung in solcher Weise hervorhebt, dass sie dem Rezipienten ohrenfällig wird. Zunächst sei die Konzeption Zenders in Lied Nr. 11 („Frühlingstraum“) näher betrachtet. Diese Lied lässt sich in 2x3 Strophen gliedern, da eine Parallelisierung zwischen den zwei Strophenblöcken festgestellt werden kann. Jeder dieser beiden Blöcke gliedert sich in drei Strophen, welche durch wechselnde Tempoangaben (Etwas geschwind; schnell; langsam) getrennt sind. Die jeweils mittlere Strophe wird durch ihre Mollwendung von den beiden anderen Strophen abgesetzt. Zender arbeitet diesen Kontrast zum einen durch einen bewussten Einsatz von Bühnen- bzw. Fernorchester, zum anderen durch eine ausgeprägte Onomatopoetik aus. Während die erste Strophe ausschließlich vom Bühnenorchester (Harfe, Violinen, Bratschen, Cello) begleitet wird, setzt Zender für die sich nach Moll wendende zweite Strophe ausschließlich das Fernorchester I ein, zu welchem die Spieler von Oboen, Klarinetten, Fagotte, Horn, Trompete und Posaune während der vorausgehenden Lieder gewandert sind. Dieses weit vom Bühnenorchester entfernte, aber noch sichtbare und gut hörbare Orchester210 mit reiner Bläserbesetzung versinnbildlicht den Einbruch der Realität in der zweiten Strophe. Während der Hörer durch den warmen Klang der Streicher und die Nähe des Bühnenorchesters den Traum des Wanderers als angenehm liedhaft und den Rezeptionsgewohnheiten entsprechend empfinden konnte, werden seine Rezeptionsgewohnheiten im Folgenden erschüttert. Der Orchesterklang entzieht sich dem Hörer durch die räumliche Entfernung. Der Bläserklang wirkt hart im Kontrast zur 209 210 Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, S. 206. Vgl. Zender, Hans: Über die Gänge der Musiker – Vorwort zur Partitur. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 53 vorrangehenden Streicherbesetzung und den von ihr gespielten Dreiklangsbrechungen. Auch - JANINEdie CHRISTGEN von Zender geforderte Artikulation (forte, con sordino, spitz) unterstreicht diesen Kontrast. In den Mittelpunkt des Interesses tritt die onomatopoetische Umsetzung des Krähens der Hähne, welches seine Begründung aus der Textvorlage zieht. Das „Kikeriki“ der Hähne findet Ausdruck in dem von Schubert vorgezeichneten Rhythmus: einer Triole mit folgender Viertelnote. In der anschließenden dritten Strophe setzt dann erneut das Bühnenorchester ein. Wenngleich Zender für die vierte Strophe, die sich wiederum nach Moll wendet und von den beiden Strophen vier und sechs umrahmt wird, nicht auf die Fernorchesterbesetzung zurückgreift, wird hier im Streichersatz von Zender besonders das Krähen der Hähne herausgearbeitet. Diesen onomatopoetischen Verweis erfährt der Zuhörer als Signal für das Ende der Träume, das Erwachen, den Einbruch der Realität. Zur weiteren Veranschaulichung von Zenders Umgang mit den Schubertschen Vorgaben des Dur-Moll-Kontrastes soll Lied 19 (Täuschung) betrachtet werden. Hier arbeit Zender nicht mit onomatopoetischen oder orchestralen Mitteln, sondern mit seiner Bearbeitungsmethode des „Lesens“, welches ihm die Möglichkeit eröffnet, Textstellen mehrfach zu wiederholen. Auf diese Weise kann Zender dem Hörer den Einbruch der Realität durch die Repetition des nach Moll gewendeten Ausrufs „Ach“ verdeutlichen. Zender lässt den Text ins Stocken geraten. Er bricht den Fluss und schafft so Aufmerksamkeit. Damit wird aus dem einmaligen Ausruf bei Schubert ein zweimaliger Anlauf Zenders, der schließlich in einem geglückten dritten Versuch endet. Das Seufzen betont das Elend, welches sich in der Realität offenbart und führt zugleich auf das Wort „elend“ im Textfluss hin, da es dessen Artikulation zweimal verhindert. So heißt es zunächst „Ach“, dann „Ach, wer wie ich“ und dann schließlich „Ach, wer wie ich so elend ist“.211 Von welch zentraler Bedeutung dieser Ausruf für das Sinnverständnis von Text und Musik ist, betont auch Ludwig Stoffels, der den „Ach-Ausruf“ als Peripetie-Umschlag von der als positiv erlebten Flucht in die Illusion zur reflexiven Desillusionierung beschreibt.212 Zender hat die Initialwirkung der sprachlichen Metapher erkannt und auf Schuberts musikalische Umsetzung zurückprojiziert. Ein identisches Vorgehen findet sich in Lied 23 (Die Nebensonnen): auch hier bildet Zender den Umschlag nach Moll durch die Wiederholung des Schlüsselwortes „Ach“ ab. (vgl. T. 24f.) 211 212 Vgl. Zender, Hans: Schuberts „Winterreise“ eine komponierte Interpretation, S. 152. [Hervorhebung d. Verf.] Vgl. Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, S. 221. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 54 Eine weitere Variante der Darstellung des Dur-Moll-Kontrastes lässt sich exemplarisch an - JANINELied CHRISTGEN 21 (Das Wirtshaus) aufzeigen. Hier leitet Zender die Desillusionierung des Minoreteils durch einen Trommelwirbel ein (T. 22). Er nutzt also die Signalwirkung der Trommeln um den Einbruch der Realität zu verdeutlichen. Es kann festgehalten werden, dass Zenders Umsetzung des Schubertschen Spezifikums der Dur-Moll-Konfrontationen auf einem genauen Studium der Vorlage beruht und er durch die Verwendung diverser Interpretationstechniken versucht, diese für das Publikum unmittelbar erfahrbar werden zu lassen. C Onomatopoesie und Stimuli – Textausdeutung durch Malerei Wie bereits ausgeführt, prägen eine Reihe von Antagonismen das Bild der Winterreise. Zu diesen zählt auch der Antagonismus von Ich und Natur. Jedoch stehen sich beide nicht nur divergent gegenüber, denn gleichzeitig erscheint die Natur als visuelles Abbild der Gefühlswelt des Ichs. In Müllers Gedichten treten daher viele Naturelemente auf, die konstitutiv für den Topos des Locus Desertus sind. In Schuberts Vertonung werden sie häufig onomatopoetisch dargestellt, so dass ihre Aussagekraft dem Hörer unmittelbar entgegentreten kann. Zu diesen „Naturbildern“ zählen zum einen jene, die eine rein darstellende Funktion erfüllen und auf die Gefühlswelt des Ichs verweisen (Wind, Eis, Schnee, Tränen, Irrlichter, etc.) zum anderen jene, welche Ludwig Stoffels213 als Stimuli bezeichnet (Hundegebell, Posthornsignal, Krähen der Hähne, Krächzen der Raben, etc.). Die Stimuli führen zu einer Verschmelzung von „objektiver Anschauung und subjektiver Reflexion. [...] (Sie) überspringen gleichsam das Stadium bloßer Gegenständlichkeit und treffen unmittelbar das Ich-Zentrum als bedrohliches und verlockendes Signal.“214 Gleichzeitig ist der Gehalt dieser Naturbilder nicht festschreibbar. In ihrem allegorischen Charakter215 liegt ihr Potenzial zur überzeitlichen Offenheit. Elmar Budde sieht Schuberts Naturzeichnungen im Zusammenhang mit der Landschaftsgestaltung Caspar David Friedrichs. Naturphänomene können hier wie dort zwar visuell bzw. akustisch wahrgenommen werden, jedoch kann diese Wahrnehmung nicht zu einer eindeutigen Interpretation führen. Die verwendeten Chiffren sind „offen für Assoziationen und 213 Vgl. Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, S. 206f. Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, S. 206. 215 Vgl. Budde, Elmar: Modulationsmanie und Perspektivenwechsel, S. 124-125. 214 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 55 - JANINEAllusionen. CHRISTGEN [...] So fordert Schuberts Musik, ähnlich wie die Bilder Friedrichs zu ständiger interpretatorischer Auseinandersetzung heraus.“216 Anhand dieser Ausführungen wird ersichtlich, welch bedeutende Funktion diese Klangchiffren der Naturdarstellung für die „Winterreise“ haben. Zender geht in seiner Auseinandersetzung mit diesem Werk sogar so weit, dass er diese Chiffren als Grundlage für jede einzelne Liedkomposition betrachtet. „Schubert arbeitet ja in seinen Liedkompositionen mit klanglichen „Chiffren“, um die magische Einheit von Text und Musik zu erreichen, welche insbesondere seine späteren Zyklen auszeichnet. Er erfindet zum „Kernwort“ jedes Gedichts eine keimhafte musikalische Figur, aus der das ganze Lied sich zeitlich entfaltet. Die geschilderten strukturellen Veränderungen meiner Bearbeitung entspringen diesen Keimen und entwickeln sie sozusagen über den Schubertschen Text hinaus: die Schritte in Nr.1 und Nr.8, das Wehen des Windes (Nr. 2, 19, 22), das Klirren des Eises (Nr. 3, 7), das verzweifelte Suchen nach Vergangenem (Nr. 4, 6), Halluzinationen und Irrlichter (Nr. 9, 11, 19), der Flug der Krähe, das Zittern der fallenden Blätter, das Knurren der Hunde, die Geräusche eines ankommenden Postwagens...“ 217 Zender lässt der onomatopoetischen Gestaltung daher in seiner Interpretation viel Raum, was häufig Kritik an seiner plakativen Gestaltungsweise evozierte. Doch bevor dies diskutiert werden kann, soll Zenders Vorgehen an einigen Beispielen erörtert werden. Gleich zu Beginn seiner Interpretation nutzt Zender die assoziative Wirkung der Onomatopoesie. Dem ersten Lied des Zyklus wird eine 53-taktige Einleitung vorangestellt, in der sich Zender auf die klangliche Darstellung des Wanderns konzentriert. Die Schritte des Wanderers, dem der Zuhörer in Zenders Fassung der „Winterreise“ nun für die nächsten eineinhalb Stunden ´folgen´ wird, lassen den Rezipienten die Situation des Wanderers akustisch nachvollziehen. Durch schnelle Wisch-Bewegungen der Hände auf den Tom-Toms entsteht der Eindruck eines sich durch den Schnee bewegenden Menschen. Die WischBewegungen sind durch Pausen in Gruppen gegliedert. Die Stille zwischen den Schritten wirkt wie ein desorientiertes Umblicken des Wanderers, ein unschlüssiges Reflektieren über den weiteren Verlauf des Weges. Der Wanderer erscheint aus der Stille, aus dem Nichts. Die Stille ist für Zender denn auch Mittel zur Involvierung des Rezipienten in die Musik. Zender wünscht sich ein neues Hören, das darauf angelegt ist, ein Werk im Hier und Jetzt zu erleben, ein offenes pures Hören, das ohne eine kognitiv-verstandesmäßige Zugangsweise auskommt.218 Die Stille erneuert die Musik, indem sie das Vorangegangene im Hörer nachklingen, ihn das Kommende erwarten lässt und durch ihre „Formlosigkeit“ zur Konstitution eigener Form animiert.219 Zender versucht somit vom Beginn seiner 216 Budde, Elmar: Modulationsmanie und Perspektivenwechsel, S. 136. Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 222. 218 Vgl. Zender, Hans: Über das Hören, S. 181. 219 Vgl. Zender, Hans: Orientierung. Komponieren in der Situation der Postmoderne, S. 163. 217 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 56 - JANINEInterpretation CHRISTGEN an, den Rezipienten zur produktiven „Mitarbeit“ aufzufordern, indem er ihm Freiräume gewährt, die ihn aus eingefahrenen Rezeptionsgewohnheiten hinaustreten lassen. Die Schritte nun gewinnen immer deutlichere Konturen, werden schließlich von den Streicherbattuti unterstützt, die ab Takt 11 in einen abwärtsgerichteten Bewegungsimpetus verfallen, der bereits an den Einsatz der Singstimme gemahnt, doch diese gleichzeitig, durch die Vermeidung absoluter Tonhöhen und den Einsatz von Stegschlüsseln, verschleiert. „Sämtliche Saiten sind so abgedämpft, dass hinter den Schlaggeräuschen nur schwache Tonfärbungen hervortreten.“220 Erst in Takt 16 fordert Zender eine Ablösung der Dämpfergriffe durch gegriffene Tonhöhen. Chromatisch absteigende Skalenausschnitte (immer noch col legno batutto) führen schließlich zur Einmündung in die Trillerbewegung. In Takt 20 wird diese Bewegung von den repetierten d-Moll Akkorden der Gitarre abgelöst, welche den pochenden Wanderrhythmus erneut aufgreift. Nach und nach treten nun die Blasinstrumente auf die Bühne und nehmen ihren Platz im Orchester ein, während sie die gleiche, melodisch auf das Liedthema hindeutende Abwärtsskala, welche zuvor von den Streichinstrumenten im Bühnenorchester exponiert worden war, spielen. So formiert sich aus der polyphonen, unstrukturierten Klangfülle schließlich ein vollständiges Bühnenorchester und Schuberts „Winterreise“. „Die Introduktion ist eine klangliche, diastematische, dynamische, rhythmische, metrische und durch den Einzug der Musiker zudem räumlich szenische verdeutlichte Annährung an Schuberts Musik.“221 Da die Bewegung der Musiker im folgenden dargestellt und untersucht werden soll, ist hier vor allem hervorzuheben, dass Zender durch die Eröffnung seiner Interpretation unter zu Hilfenahme onomatopoetischer Mittel bereits anklingen lässt, dass diese Elemente für ihn nicht nur grundlegend für die Musik Schuberts sind, sondern auch in seiner Bearbeitung eine entscheidende Rolle spielen werden. Dabei scheint ihm gerade auch die Einbeziehung der Gestaltungskraft des Rezipienten wichtig zu sein. Diese erste onomatopoetische Umsetzung fand keine unmittelbare Motivation im Notentext Schuberts. Alle weiteren Ausgestaltungen Zenders erweisen sich jedoch als eindeutige Klangvorgaben Schuberts. Zenders Ziel ist es, diese „für uns heute unauffälliger“ gewordenen Elemente in ihrer „authentischen“ Aussageexpressivität einzuholen. So nutzt er zur Verdeutlichung des Windes im Lied „Der stürmische Morgen“ zwei Regenbleche, die den akustischen Dauerregen ebenso zum Hörer tragen wie die prasselnden 220 221 Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S. 72. Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S. 73. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 57 - JANINETrommelwirbel CHRISTGENund die „rauschenden Streicherklänge und clusterartige Holzbläserläufe,“222 so dass der Beginn gleichsam wie ein „großes Tableau in >Öl< ausgemalt“223 scheint. Das Schwellen des Flusses in Nr. 7 erscheint als Crescendo der Bläser, die Echorufe im Lied „Irrlicht“ wandern durch Raum und Orchester und lassen auf diese Weise den Hörer die Empfindungen des Wanderers deutlicher spüren. Tränen erscheinen als Streicherbattuti, das Zerspringen des Eises als Saltandi der Streicher (z.B. Lied 3). Für den lauen Wind verwendet Zender Flageolettklänge (die aber auch für Eis und Frost Verwendung finden), für das Zerrinnen des Eises absinkende Glissandi (z.B. Lied 6). Die Realität zieht in Lied 11 durch das onomatopoetische Krächzen der Raben und das Krähen der Hähne ein, indem die 32stelTriolen aus dem Schubertschen Satz in die Bläser verlagert werden. „Die Post“ nähert sich akustisch durch die Annährung des Horns an das Publikum, durch ihre sich verstärkende Intensität des Posthornsignals. Und auch die Hunde in Lied Nr. 17 treten dem Zuhörer gleich zu Beginn des Liedes akustisch entgegen, indem „bei minimalem Bogenverbrauch die Saite der Violine] so gepresst [wird], dass ein leises Knurren [ohne exakte Tonhöhe] entsteht.“224 All diese onomatopoetischen Umsetzungen durchziehen Zenders Werk wie ein roter Faden. Jene Vorgehensweise Zenders führt sicherlich zu einem sehr direkten Verständnis der Schubertschen Bildsprache und versetzt den Hörer in die Lage, einen intuitiven Zugang zu gewinnen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die „Direktheit der Aussage nicht zuweilen die Grenze des guten Geschmacks überschreitet.“225 Ist die Aussagegewalt Zenders unangemessen? Zwei divergente Positionen vertreten Rainer Nonnenmann, der die zuvor aufgeworfene Frage bejaht, und Klaus Hinrich Stahmer, der sie verneint. Nonnenmann glaubt, dass Schuberts musikalisch lyrischen Symbolen durch den manchmal schablonenhaften Einsatz des Lautmalerischen viel von ihrer Aussagekraft genommen werde. Er befürchtet eine Verkürzung auf eine illustrative Oberflächenwirkung anlässlich der Umsetzung der Schubertschen Chiffren durch sinfonische Mittel des 19. und geräuschhaften Spieltechniken des 20. Jahrhunderts. Dabei leide der allegorische Gehalt und die Aussage werde eindimensional.226 Stahmer hingegen ist der Ansicht, dass Zender lediglich die Schubertschen Mittel aufgreife und diese überhöhe. Ziel Zenders sei also nicht eine rein illustrative Wirkung, sondern auch eine Desillusionierung und Irritation des Rezipienten durch die Überhöhung.227 222 Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S. 78. Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S. 78. [Hervorhebung im Original] 224 Zender, Hans: Schuberts „Winterreise“. Eine komponierte Interpretation, S. 134. 225 Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 52. 226 Vgl. Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S. 81. 227 Vgl. Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 52. 223 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 58 - JANINEMan CHRISTGEN kann dieses Vorgehen Zenders genauso wenig nur gutheißen wie man es ausschließlich monieren kann. Sicherlich geht bei einer Überhöhung der Vorlage immer ein Teil ihrer Filigranität verloren. In gleichem Maße kann auch eine „Übersättigung“ des Rezipienten mit onomatopoetischen Mitteln hervorgerufen werden, da Zender, wie gezeigt wurde, nicht am Einsatz dieser Faktoren spart. Dennoch schafft Zenders Interpretation durch solcherlei Eingriffe auch Brüche und Irritationen, die den Zuhörer gerade zu neuen Denkanstößen motivieren können. So ist es gerade wieder jene Dichotomie, jene Gradwanderung zwischen der Eröffnung neuer Perspektiven und der zu plakativen, einseitigen Überformung, die polarisierende Meinungen evoziert. D Die Bewegungen der Musiker Die Bewegungen der Musiker sind genuin den Gedanken Zenders entsprungen. Durch die Gänge der Akteure nimmt er der Aufführungssituation die Statik. (Zur genauen Betrachtung der Aufritte und Gänge der Musiker sei auch auf Anhang VII verwiesen, die dies schematisch darstellt.) Zender sieht drei verschiedene Orchesterpositionen vor: das Bühnenorchester, und die beiden Fernorchester I und II. Als Bühnenorchester (BO) bezeichnet Zender die „normale“ Positionierung des Orchesters auf dem Podium vor dem Publikum (zur Aufstellung des BO sei auf die Anhang VI verwiesen). Fernorchester I (FI) bezeichnet eine Position, die zwar weit vom Bühnenorchester entfernt, aber dennoch für die Zuschauer gut sicht- und hörbar ist. Fernorchester II (FII) hingegen ist so weit wie möglich vom Bühnenorchester entfernt, eventuell sogar unsichtbar, so dass der Klang nur indirekt wahrgenommen werden kann. Zu diesen Orchesterverteilungen tritt die zeitweilige Positionierung von Musikern im Publikum hinzu. Die einzelnen Orchesterpositionen werden durch die Gänge der Musiker erreicht. Diese Gänge sollen, so Zender, „immer sehr langsam und in sich versunken“ genommen werden. „Nur bei Nr. 8 und Nr. 13 ist der Bewegungscharakter lebhafter. Das Gehtempo muß konstant und ohne Stockung, die Gänge müssen genau getimt sein.“228 Wie bereits erläutert nehmen die Musiker zu Beginn der „Winterreise“ erst allmählich ihre Bühnenorchesterpositionen ein. Der Zuhörer ist also in der Lage die Formation des Klangkörpers und seine spätere Deformation mitzuerleben. 228 Zender, Hans: Schuberts „Winterreise“. Eine komponierte Interpretation – Vorwort zur Partitur. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 59 - JANINEDie CHRISTGEN Orchesteraufstellung bietet für Zender Freiheiten und Möglichleiten, die dem Komponisten und Interpreten zusätzliche Optionen offerieren. „Begnügt er (der Komponist) sich damit, an der Stelle der „klassischen“ Orchesteraufstellung die Musiker lediglich in bestimmten Mustern um die Zuhörer herum aufzustellen, so verspielt er für einen allenfalls hübschen Effekt die Möglichkeit, den Raum in seiner bisher musikalische kaum erkannten Potenz als Ermöglicher wie als Zerstörer von musikalischer Struktur erlebbar zu machen; entferne ich die Klangquellen über einen kritischen Wert hinaus voneinander, so ist weder Zusammenspiel, noch gleiche Intonation möglich.“229 Es ist also kein rein visueller, sondern ebenso ein akustischer Effekt mit Zenders planmäßigen Gängen der Musiker verknüpft, und in gleicher Weise auch ein Konzept, welches aus der intensiveren Auseinandersetzung mit der „Winterreise“ und ihren Liedern resultiert. Das Wandern der Musiker scheint zunächst eine Weiterentwicklung der pochenden Achtelbewegung zu sein, die sich im Schubertschen Klaviersatz gleich zu Beginn findet. Zender nutzt diese Konfiguration, um die auf ihr basierende Einleitung zu gestalten. Nicht nur die Wisch-Bewegung am Anfang versinnbildlicht die Wanderung auch die Musiker werden von Zender in diese alles umgreifende Wanderung einbezogen. Die Musiker erscheinen als reale Wanderer, die durch den Raum ziehen. Mit ihnen wandert der Klang: mal deutlich zu vernehmen, dann verschleiert; mal dem Blick des Zuschauers entzogen, dann in dessen unmittelbarer Nähe im Zuschauerraum. Immer aber sind die Gänge durchdacht und gelenkt, niemals zufällig oder unmotiviert. Das Wandern führt die Musik zum Rezipienten, lässt ihn Musik aus nächster Nähe, ohne Distanz erfahren. Die Musik tritt aus der Anonymität, die auf dem Weg zwischen Bühne und Publikum in großen Konzertsälen so leicht entstehen kann. Der Zuhörer aber soll zu-hören, hin-hören, sich emotional beteiligen, nicht zum bloßen „Konsumenten“ verkommen. Als Schubert die Lieder seinen Freunden vorsang, waren sie nicht durch große Entfernungen von ihm getrennt. Sie erfuhren die Musik direkt, ohne die Distanz, die sich in der heutigen Zeit zwischen den Hörer und die „zwei Herren im Frack mit Steinway“230 stellt. Wie stellt sich nun die Wanderbewegung im Einzelnen dar? „Während Lied 4 erheben sich die Spieler von Oboe I und Klarinette I und begeben sich mit ihren Instrumenten langsam in den Zuschauerraum. [...] Während Nr. 5 bewegen sie sich -spielend- im Saal umher; es muss der Eindruck von „Traumwandeln“ entstehen. Die Spieler bewegen sich unabhängig voneinander in verschiedene Richtungen. Nach Abschluss von Nr. 5 gehen sie wieder in Richtung Bühne und nehmen während Nr. 6 ihre Plätze ein.“ 231 229 Zender, Hans: Wegekarte zu Orpheus?, S. 87. Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 221. 231 Zender, Hans: Wegekarte zu Orpheus?, S. 87. 230 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 60 - JANINEDas CHRISTGEN „Traumwandeln“ verdeutlicht den realitätsfernen, idealisierten Zustand des Ichs in Lied Nr. 5. Während des Einbruchs der Realität im kontrastiven Moll-Teil des Liedes schweigen die im Publikum wandelnden Musiker. Sie vermitteln dem Zuhörer das Bild eines träumend abwesenden Wanderers, der sich von der Welt entfernt hat. Da beide Musiker in Nr. 5 wechselweise auch Mundharmonika spielen, tritt die Assoziation des einsamen Wanderers hervor, der sein stupides Wandern durch das Mundharmonikaspiel angenehmer gestaltet. Dass die Mundharmonika als Instrument Assoziationskreise aufblendet, welche Wanderung, Nomadentum und Heimatlosigkeit inkludieren, verhilft dem Bild zu gesteigerter Prägnanz. Die Mundharmonika bedarf keiner Begleitung. Diese Eigenschaft macht sie zum idealen Begleiter des einsamen Wanderers. In den Liedern 8 bis 13 lässt Zender die Musiker nicht nur ins Publikum wandern, sondern verteilt sie auf die verschiedenen Orchesterpositionen, so dass nun auch die Komponente des Raumklangs in besonderer Weise hervortritt. Während Nr. 8 beginnt eine langsame Bewegung einzelner Musiker zu den Orchesterpositionen FI und FII. Auf diese Weise kann das „Irregehen“ - oder das „irre Gehen“ - durch die Raumklangwirkung und die Bewegung der Musiker explizit zum Ausdruck gebracht werden. Der indirekte Klang von FII und die Klangkonfrontationen der verschiedenen Orchesterpositionen, führen zu einer „personalen Projektion der Empfindungen und Aussagen“232 des Liedes. Das Lied 10, welches „Rast“ verspricht, diese Hoffnung aber nicht erfüllen kann, inszeniert Zender augenfällig. Am Ende von Nr. 9 fordert er weitere Bewegungen der Musiker: Bewegungen, die aus dem Raum führen, ins Publikum und zu FI. Auf diese Weise erhält Zender eine dezimierte Besetzung für Nr. 10, welche die im Bühnenorchester verbliebenen Musikern einsetzt. Während sich das Orchester weiter dezimiert, denn nun bewegen sich auch die restlichen Bläser zu FI, scheint die Vereinsamung des wandernden Individuums visualisiert. Dass nur noch der Traum nah und hilfeversprechend zu sein scheint, lässt Zender den Zuhörer in Nr. 11 erfahren. Das Bühnenorchester, welches Zender während der Dur-Traumpassagen einsetzt, wird bei Einbruch der Realität durch die onomatopoetischen Hahnenschreie aus FI unterbrochen. Der Klang ist dem Zuschauer räumlich und visuell entzogen. Zum Schluss dieses Liedes verlässt die Trompete den Raum, verschiedene Bläser verteilen sich im Zuschauerraum, wo sie weit auseinanderliegende Positionen einnehmen. Nr. 12 markiert den „psychologischen Tiefpunkt“233 dieser Liederfolge. Dem biedermeierlichen Streichquintett, bestehend aus zwei Violinen, zwei Bratschen und einem Violoncello, wird die „rohe“ Schlagkraft der Holzbalken 232 233 Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme?, S. 153. Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme?, S. 153. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 61 entgegengestellt, die mit ihren Nonolenschlägen drängend wirken und das Metrum des - JANINEOrchesters CHRISTGEN als verschleppt empfinden lassen. Wenngleich das Orchester als Bühnenorchester präsent ist, entzieht sich der warme Streicherklang doch durch die gegensätzliche Wirkung der Holzbalkenschläge. Die minimale Besetzung zeigt die Vereinsamung des Wanderers, der Titel „Einsamkeit“ findet Niederschlag in der Besetzung und der Abwesenheit der Musiker, ihrem Entzug von der Bühne. Schließlich entzieht sich auch der Streicherklang, und die von Zender eingefügte „Zwischenaktmusik“, die eine Brücke zwischen den beiden Abteilungen der „Winterreise“ schlägt, konstituiert sich einzig aus den repetierenden Achtelnoten, welche bereits für den Beginn von Zenders „Winterreise“ elementar waren. Bestehend aus Generalpause, Wanderrhythmus und einer weiteren Generalpause, wird die „Zwischenaktmusik“ zur sprechenden, auskomponierten Stille. Symbolisiert die Einsamkeit des Wanderers, Solipsie. „Als noch die Stürme tobten, war ich so elend nicht.“ So endet das Lied Nr. 12 – aber die Stürme toben nicht mehr, das Subjekt kann sich nicht mehr in den revolutionären Wirren ausdrücken, muss wegen der Zensur schweigen, oder ist mit den Anforderungen der komplexerwerdenden Gesellschaft überfordert. Ohne Halt ist das vereinzelte Subjekt auf sich zurückgeworfen. Was bleibt, ist ein ewig sich repetierender Kreislauf einer unsinnigen, aber nicht zu durchbrechenden Wanderbewegung. „Die Entfremdung des Individuums wird zu einem zentralen Gehalt“ der „Winterreise“ Zenders, der sich „in der Polarität von Nähe und Ferne zum Schubertschen Klangbild“234 und in der An- und Abwesenheit der Musiker spiegelt. Die Unmöglichkeit der Erfüllung der angestrebten subjektiven Wünsche in der objektiven Sphäre treibt das Ich, den Menschen in diese unaufhörliche Wanderschaft.235 Diese Konfiguration stellt sich in Zenders „Zwischenaktmusik“ dar. Zender verlangt, dass am Ende von Nr. 12 und am Beginn von Nr. 13 keine Bewegung stattfindet. Alle externen Musiker sollen regungslos auf ihrem Platz verharren. Die Suspendierung der Wanderbewegung ruft einen resignativen Charakter hervor. Die „Erstarrung“ der Musiker versinnbildlicht dies. Am Beginn von Nr. 13 ist diese Erstarrung der inneren Erregung der Musik nun diametral entgegengesetzt. Die Hoffnung des drängenden Herzens aber ist vergeblich, was die Starre der Musiker versinnbildlicht. Doch nun kehren die Spieler zum Orchester zurück. Das Herannahen der Post erscheint durch das Herannahen des Horns und dessen Signal akustisch und visuell, die Musiker nehmen erneut die Plätze im Bühnenorchester ein und verbleiben dort bis zum 24. Lied, bei dem alle Bläser den Raum nacheinander verlassen und die letzten Takte auch schon außerhalb des Raumes spielen können. Zenders Interpretation kommt aus dem Nichts und verklingt im Nichts. Der 234 235 Revers, Peter: „Schnee du weißt von meinem Sehnen“, S. 107. Vgl. Schmid Noerr, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund, S. 90. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 62 - JANINEZuhörer CHRISTGEN war Zeuge eines kurzen Lebensausschnitts eines Wanderers. Er wanderte für eine kurze Zeit mit ihm, nun gehen beide wieder ihrer Wege, beide werden weiter wandern auf dem Lebensweg. Die Bühne zu verlassen und den Zuhörer im Verklingen des Werks alleine zu lassen, führt Stahmer dazu, Analogien zu Haydns „Abschiedssinfonie“ und Becketts „Come and go“ zu sehen.236 Bei Haydn kann jedoch lediglich eine Nähe zur Handlung, nicht aber zu deren Motivation konstatiert werden, wollte dieser durch jenes Vorgehen doch lediglich auf den unerfüllten Urlaubswunsch seiner Musiker seitens des Fürsten Esterházy aufmerksam machen. „Come and go“ lässt sich hingegen einerseits mit Zenders „Kommen und Gehen“ der Musiker in Verbindung bringen, andererseits aber ist hier auch die poetologische Konzeption ähnlich. Trotz der Interaktion der drei Personen Ru, Vi und Flo lässt sich kein realer kommunikativer Gehalt eruieren. Beckett erreicht dies durch sinnleere Freilegung des sprachlichen Materials und schafft damit Einsicht in die Tatsache, dass Sprache keine gelungene Kommunikation mehr hervorzubringen mag. Dies führt zur Vereinzelung der Subjekte. Vielleicht ist dies auch bei Beckett im „Kommen und Gehen“ der Personen zu sehen, in einem sinnlosen Umherwandern. Auf diese Weise lässt Zenders Werk auch in der Wanderbewegung der Musiker eine konsequente Auseinandersetzung mit Schubert und den überzeitlichen Gesichtspunkten des Sujets erkennen. 4 Analyse einzelner Aspekte ausgewählter Lieder Die folgende Analyse einzelner Lieder der Winterreise kann anhand von Anhang XVII (Partitur Zenders) und XVIII (Partitur Schuberts) nachvollzogen und verglichen werden. Gute Nacht Da die von Zender hinzugefügte 53-taktige Introduktion bereits in Kapitel IV.3.C (Onomatopoesie und Stimuli – Textausdeutung durch Malerei) besprochen worden ist, soll an dieser Stelle gezeigt werden, wie Zender die Hörgewohnheiten des Rezipienten zunächst (T.54-129) zu erfüllen scheint, diese dann jedoch gänzlich unterhöhlt. Den Eindruck einer „heilen Welt“, den Schuberts Musik beim heutigen Hörer so häufig zu evozieren scheint, wird durch Kontrastierung gebrochen. Die drei Grundthematiken der Winterreise, das Fremdsein, die verschmähte Liebe, das Wandern in der Dunkelheit werden im ersten Lied des Zyklus in 236 Vgl. Stahmer, Hans Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 49. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 63 - JANINEihrer CHRISTGEN Gesamtheit exponiert. Wird der Zyklus häufig auf die Erfahrung verschmähter Liebe und des aus ihr resultierenden Wanderns fälschlicher Weise reduziert, so hebt Zender die Wanderschaft und die Heimatlosigkeit in seiner Interpretation hervor: das Wandern durch die 53-taktige Einleitung, die Erfahrung des Fremdseins durch den kontrastierenden zweiten Teil. Dem Hörer wird Schuberts Werk „fremd“, die gewohnten Klänge distanzieren sich und lassen den Rezipienten „neu“ hören. Der Titel „Gute Nacht“ scheint somit zu einer programmatischen Erfahrung für Wanderer und Zuhörer zu werden. Zender beginnt die erste Strophe mit einer reinen Streicherbesetzung. (Der Besetzungswandel kann anhand von Anhang VII nachvollzogen werden). Die zwei Violinen, die zwei Bratschen, das Violoncello und der Bass vermitteln den Eindruck der „heilen Welt“ durch die klangliche Assoziation des biedermeierlichen Streichquintetts. Die zweite Strophe gestaltet Zender durch den Einsatz der Klangfarben des gesamten Orchesters, bevor die Strophe erneut im vollen Klang des Streichquartetts endet. Dieser Klangcharakter ist für Zender die Basis seiner nun beginnenden Kontrastgestaltung: die plötzlich endende volle Orchesterbesetzung, die Reduktion auf die volkstümlichen Instrumente Gitarre und Akkordeon, die bereits alle naiv liedhaften Assoziationen des Rezipienten durch Überhöhung selbiger schwinden lassen, die Akkordrepetitionen in pochenden Achtelnoten, die das Wandern des Individuums erneut plastisch hervortreten lassen. All diese Elemente erwecken im Hörer bereits eine Vorahnung auf das Kommende, eine gespannte Haltung, die aus der „Ruhe vor dem Sturm“ resultiert. Zender lässt den Zuhörer nicht lange auf den „Sturm“ warten. Bereits in Takt 128 beginnen die Holzbläser mit einer Trillerbewegung, die auf Zenders erste Collage in Takt 131 vorbereitet. Die Melodie, der Sprachduktus, der Satz werden zerschnitten. Die „heile Welt“ zerbricht. Jetzt gewinnt der Zuhörer einen Einblick in die Innenwelt des Wanderers. Der Rezipient soll sich involvieren, emotional affiziert werden. Ein Entzug aus Zenders radikalem Bruch ist kaum möglich. „Lass irre Hunde heulen vor...“ heißt es im Text, und darauf werden alle Beteiligten noch einmal zurückgeworfen. Nun erscheint die Welt im wahrsten Sinne des Wortes „ent-täuschend“. Die Blechbläser führen Triller in tiefer Lage aus, die Holzbläser lassen in chromatisch verfärbten Skalen das Liedthema wiedererkennen, doch es ist dem Hörer ebenso fremd geworden wie dem Wanderer die Heimat. Zender schlägt nicht nur eine Verbindung zurück zum Anfang, sondern scheint gleichzeitig den Text onomatopoetisch auszudeuten, das Heulen der irren Hunde plastisch hervortreten zu lassen. Der verstärkte Gesang weist auf diese Bedeutung ebenso hin wie die Streicherglissandi, die, wie die Holzbläser, an das Liedthema gemahnen und gleichzeitig das Heulen der Hunde darstellen. In MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 64 - JANINEden CHRISTGEN folgenden Takten scheint Zender zu dem gewohnten Schubertschen Klangbild zurückkehren zu wollen, doch weist die erneute Überhöhung mittels der volkstümlichen Instrumentation (Akkordeon, Gitarre, Harfe) bereits auf einen weiteren Realitätseinbruch in die „Idylle“ hin. Der Wanderer liebt das Wandern nicht, und auch die fügende Allmacht Gottes kann ihm als Begründung für sein Leid nicht genügen. Erneut bricht Zender den musikalischen Fluss (T.141). Die melodiöse Artikulation der Sängerstimme versagt. Die gesprochene Deklamation mit Verstärkung im Fortissimo wird unterstrichen von massivem Schlagwerkeinsatz (hängende Zischbecken, 2 Metallblöcke, 3 Tom-Toms, Pauke mit Holzschlägel), dem Staccatospiel der Holzbläser und der „harten, geräuschhaften“ Artikulation der Streicher, die alle Striche „extrem am Steg“ ausführen. In Takt 147 fordert Zender das Auflegen einer schweren Metallkette auf die Pauke, so dass diese bei jedem folgenden Schlag zu rasseln beginnt. Vielleicht ein akustisches Zeichen dafür, dass „die Liebe (des Wanderers) keine Lust zum Wandern zeigt, sondern im Gegenteil mit aller Gewalt an das Mädchen gekettet bleibt,“237 aber auch trotzige Auflehnung gegen die Fesseln, die ihm Gesellschaft und Leben auferlegen, spiegelt. Das Rasseln der Ketten erscheint als lautliche Ausgestaltung eines Protestwilligen, der sich zu befreien sucht, dessen Bürden jedoch von solcher Immanenz geprägt sind, dass ein Entkommen unmöglich scheint. Dies wird auch durch die Einwürfe der Piccoloflöten in Takt 150f. deutlich, die die Melodie zum Text „die Liebe liebt das wandern“ höhnisch verfremdet aufgreifen und den Wanderer auszupfeifen scheinen. Dieser zweiten Collage folgt die Vorbereitung auf die sich anschließende DurWendung, die Zender, in Anlehnung an den Beginn, der noch als „heile Welt“ erschien, mit dem Klang des Streichquartetts beginnen lässt (T.177). In den 16 Takten zwischen der 3. und 4. Strophe lässt Zender ein „leuchtendes Klangfeld entstehen.“238 Beginnend mit arpeggierten Harfenakkorden, die den Wanderrhythmus der repetierenden Achtel wieder aufgreifen, setzen zunächst die Streicher in dichter Folge ein, dann mit dem selben abwärtsgerichteten Skalenmotiv, welches erneut dem Liedthema entlehnt scheint, auch die Holzbläser. Durch die Pizzicati der Streicher und das Leggiero-Spiel der Bläser, die sich ausnahmslos im dynamischen Rahmen von Pianissimo und Pianopianissimo bewegen, entsteht ein klangliches Bild, „eine impressionistisch flirrende Klanglandschaft, die in sich zu ruhen und außerhalb der Zeit zu stehen scheint.“239 Es hat den Anschein, als ob Zender die „himmlischen Längen“ Schuberts, die auch besonders in seinen späten Klaviersonaten zu spüren sind, imitiere, ein 237 Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S.75. Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S.77. 239 Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S.77. 238 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 65 - JANINEnicht CHRISTGEN zu Ende kommen können darstelle. Der äußeren Abgeschlossenheit steht die innere Unabschließbarkeit gegenüber. Die äußeren Begrenzung des Individuums (wie zur Zeit Schuberts so in der heutigen Zeit - vgl. Kapitel II) divergiert mit dem innere Drang nach Individualismus und Selbstverwirklichung. Dem Anpassungszwang setzt sich ein Aufbruchswille entgegen und die geschlossene musikalische Form unterliegt der Notdurft einen unabschließbarer Gehalt auszudrücken. „Himmlische Längen“ sind der Versuch, die Welt zum Stillstand zu bringen, einen Ausgleich zwischen Welt und Individuum herzustellen.240 Es ist Schuberts Weg der Zeitstrukturierung, Musik dahinströmen zu lassen und somit Freiheit zu eröffnen, gleichzeitig aber durch den repitierenden Charakter auf die desillusionierend repristinierende Zeit hinzudeuten.241 Eine solche Konfiguration lässt sich auch im Sujet der Winterreise, in der Person des Wanderers und vielleicht auch in jedem selbst-bewussten Ich finden. Vielleicht ist diese der Grund für jene „lecture“ Zenders. Eine Entsprechung würde ein solcher Gedankengang in dem plötzlichen Einbruch der „MollRealität“ in Takt 203 finden, den Zender mit gedämpften Paukenschlägen und tiefen Blechbläserakkorden im Wanderrhythmus begleitet. Die repetierenden Achtel setzen sich in der martelé-Strichführung der Streicher fort, akkompagniert von dem kommentierenden „traurig-resignativen Tangorhythmus des Akkordeons.“242 Zender schafft mit seiner Bearbeitung von „Gute Nacht“, die zeitlich die doppelte Ausdehnung der Schubertschen erreicht, nicht nur eine „dramatische Szene“ 243, sondern gleichfalls eine Eröffnung des Zyklus, die dem Rezipienten das Sujet ebenso eindringlich vor Augen führt wie die Möglichkeiten Bearbeitungstechnik, die sich auch in und den Ausdrucksformen anschließenden der Zenderschen Liedinterpretationen unterschiedlich ausgeprägt zeigen wird. Die Wetterfahne Für die Interpretation von Lied 2 schöpft Zender hauptsächlich aus klangmalerischen Bearbeitungselementen. Die „Klangchiffre“ des Windes stellt die Verbindung zu Lied 22 her, in welchem dessen Verwendung jedoch noch exponierter hervortritt. Über den Streichersatz, der sich an der Komposition Schuberts orientiert, legt Zender schillernde aufwärtsgerichtete 32stel-Läufe in den Flöten, die in Wechselnoten enden, 240 vgl. Godel, Arthur: Schuberts letzte drei Klaviersonaten, S. 191-257. Vgl. Schnebel, Dieter: Auf der Suche nach der befreienden Zeit, S. 505. 242 Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S.78. 243 Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S.77. 241 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 66 - JANINEdynamisch CHRISTGEN von p bis ff und zurückreichende aufbrausende Klangbögen der Windmaschine und gleichfalls an- und abschwellende Luftgeräusche der Blechbläser. Diese werden dadurch erzeugt, dass Luft tonlos durch das Instrument geblasen wird. Die Höhenveränderungen werden, wie beim „normalen“ Spiel, durch die Lippenstellung erreicht. Auch bei den Flöten nutzt Zender in Takt 10, nach anfänglichem chromatischen Abstieg, ein Glissandospiel, das, da es wie die zuvor ausgeführten Spielarten, keine exakte Ausführung vorschreiben kann und daher, gleich dem Wind, ein besonderes Klangbild entwickelt. Die Darstellung des Auspfeifens des Flüchtlings in Violine und Piccoloflöte übernimmt Zender von Schubert, zentriert den Gedanken jedoch gleichzeitig durch den ausgedünnten Klang im restlichen Orchester. Die dritte Strophe setzt Zender klanglich von den vorausgehenden ab. „Der Wind spielt drinnen mit den Herzen, wie auf dem Dach, nur nicht so laut“. Schubert setzt die Begleitung an dieser Stelle eine Oktave tiefer. Zender reagiert auf diese Vorgabe, indem er hier ausschließlich Cello und Kontrabass zur Begleitung einsetzt. Die Wirkung verstärkt sich zusätzlich durch die Forderung nach Flautando-Spiel, wobei der Strich sehr nah am Steg erfolgen soll. Zender fügt anschließend ein im Tempo freies Zwischenglied ein, das ausschließlich zur onomatopoetischen Darstellung des Windes, durch die tonlos spielenden Blechbläser, dient (T. 28; Wdh. T. 39). Die bereits bei Schubert angelegte Ausschmückung des Begriffes „reich“ wird von Zender durch deren Aufgreifen in verschiedenen Stimmen in sukzessiver Abfolge intensiviert (T. 45f.). Schließlich verklingt das Stück, wie bei Schubert, nach dem Abflauen der Winde in einer Generalpause, die eingedenk der Zenderschen Bedeutungskonnotation als sprechende Stille, dem Hörer Zeit zur Reflexion bietet. Offen bleibt die Frage, warum Zender nicht auf Schuberts harmonische Vorgabe des sogenannten „Schubertakkordes“244 (DD mit verminderter None, kleiner Septime und verminderter Quinte - T. 31) reagiert. Er dient als Modulationsmittel für unvermittelte Verbindungen harter tonaler Kontraste, die die psychologischen Konstitution des Ichs widerspiegelt (hier: Armut des Wanderers – Reichtum der Geliebten). Es wäre vielleicht sogar reizvoller gewesen, jene Darstellungsweise Schuberts durch Bearbeitungsmaßnahmen in ihrer Zeichenhaftigkeit für den heutigen Hörer erfahrbar zu machen, als rein onomatopoetisch zu arbeiten. Der Lindenbaum Bereits durch die Gestaltungsweise von Lied 4, durch die Dehnung von Vor-, Zwischen- und Nachspielen, die im Kontrast zur sonst original übernommenen Strophengestalt stehen, 244 Zum Schubertakkord vgl. Hufschmidt, Wolfgang: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?, S. 111. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 67 - JANINEbereitet CHRISTGEN Zender den Hörer für den „Lindenbaum“ vor, der den „schönen Schein“ der Traumund Erinnerungswelt ebenfalls durch Brüche zu indeterminieren sucht.245 Auch Schubert verbindet die Lieder 4 und 5 durch das Wiederaufgreifen der Basslinie (Nr. 4; T. 1) im Säuseln der Lindenblätter (Nr. 5; T. 1) und verwandelt „die bittere Wirklichkeit der „Erstarrung“, das vergebliche Suchen im Schnee, [...] in eine scheinbar bessere Welt des Traumes. [...] Wirklichkeit und Traum werden eins, indem sich der Traum als Metamorphose der Wirklichkeit offenbart.“246 (Vgl. Notenbeispiel: Anhang IX) Es ist die Realitätsflucht des Wanderers, die hierin zum Ausdruck kommt, doch lässt Zender den Zuhörer bereits zu Beginn erahnen, dass die Traumwelt keinen dauerhaften Bestand haben kann. Der Text Müllers ist teilweise konjunktivisch gefärbt, die musikalische Linie ist volkstümlich liedhaft, was Zender durch die Instrumentation ebenso wie durch die traumwandlerischen Gänge der Musiker im Publikum unterstützt. Gitarren- und Harfenklänge überhöhen in gleichem Maße wie der Einsatz von Mundharmonikaklängen den Topos der Volkstümlichkeit und lassen erwarten, dass der Locus Amoenus sich in einen Locus Desertus verwandeln wird. Der Einbruch der Realität, den Schubert mit dem Mittel der Dur-Moll-Konfrontation darstellt, wird von Zender durch vorangehende Schläge von Trommel und Becken betont (T. 28). Das volkstümliche Instrumentarium setzt aus. Drastischer aber wird die Aussagegewalt in der dritten Strophe, in der Zender die dem Wanderer ins Gesicht blasenden Winde in Arpeggien der Harfe, den geräuschhaften Streichertremoli (durch harten Strich am Steg), der Trommelwirbel und den donnerartig wirkenden Tam-Tam-Schlägen darzustellen sucht. Es wird hinreichend deutlich, dass das Ruheversprechen des Lindenbaums nur als Aufforderung zum Suizid zu verstehen sein kann, lädt doch die Natur nicht zu träumendem Verweilen ein. Verdeutlicht wird dieser Kontrast noch einmal, wenn Zender in Takt 57 die Streicher zur „normalen“ Artikulation zurückkehren lässt und ihre geräuschhaften Tremoli sich in biedermeierlich anmutende Klänge verfärben. Die weit entfernten Mundharmonikaklänge am Ende (T. 79 und 81) lassen akustisch verzerrt die „heile Welt“ der volkstümlichen Artikulation, in Form von Instrumentation und der bei Schubert angelegten obligaten Begleitfigur, die als „eine Art Ländler [...], ein Symbol des Heimwehs nach dem unwiederbringlich verlorenem Glück“247, erscheint, ins Wanken geraten. Doch ist die Polarisation der unterschiedlichen Klang- und Ausdruckssphären bereits in der Transkription Liszts zu erkennen und keine genuin 245 vgl. Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 47. Budde, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 80. 247 Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S. 78. 246 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 68 - JANINEZendersche CHRISTGEN Bearbeitungstechnik (Vgl. Liszt „Der Lindenbaum“ T. 25f. dolente marcato; T. 37f. dolciss. armonioso; T. 46f. molto agitato; T.61f. dolce – Anhang X). Einsamkeit Begleitet durch den feinen Klang des biedermeierlichen Streichquintett könnte dieses Lied dem resignativen Text ein Pendant bieten, doch wird diese Wirkung durch den Einsatz der Holzbalkenschläge verkehrt. Sie sind „Sinnbild roher physischer Gewalt“248, entfalten den Bruch von Subjekt und Welt in ganzer Härte. Hinzu kommt die rhythmische Verschiebung der Nonole der Holzbalken gegen die „geraden“ Achtel der Streicher, so dass die Schläge den Streichern vorauszueilen scheinen. Schließlich übernehmen die Holzbalken das Tempo der Streicher, doch zur gleichen Zeit fordert Zender eine Verlangsamung des Gesamttempos, so dass erneut eine rhythmische Verschiebung entsteht, die den Zuhörer eine gewisse Zähheit, ein Verschleppen im Streichersatz erfahren lässt. Der Proportionalitätsfaktor zwischen den drängenden Holzbalken und den schleppenden Streichern liegt zwischen 1,125 und 1,096 (Vgl. Anhang XI).249 Auf diese Weise verlangsamt sich das bereits geringe Ausgangstempo so weit, dass die Zeit in der „Zwischenaktmusik“ fast stillzustehen scheint. Ähnlich wie Schuberts „himmlische Länge“ scheint Zender hier erneut den Versuch zu unternehmen, die Zeit zum Stillstand bringen zu wollen, gleichzeitig aber auch jede Sicherheit, jede gewohnte Struktur durch den Einsatz der Holzbalken regelrecht zu „zerschlagen“. Dem inneren Aufbruchswillen des Subjekts wird die äußere Begrenzung entgegengesetzt. „Als noch die Stürme tobten“ war der Wanderer so elend nicht, doch die Auflehnung des Subjekts ist niedergeschlagen. Der Mensch der Restaurationszeit unterliegt dem Metternischen Regime, der Mensch der Postmoderne den Zwängen und Wirren einer sich ihm entziehenden Welt. Das chromatische Absinken von d-Moll (Schuberts autographer Tonart) zu h-Moll (jener von Schubert revidierten Tonart) unterstützt den „Fall“ des Subjekts ins Halt- und Bodenlose. Dieses Vorgehen wurde jedoch bereits in Kapitel IV.3.A (Zyklusbildung und Tonartendisposition) dargestellt und soll daher hier nicht näher ausgeführt werden. Die Post Neben der onomatopoetischen Schilderung des Herannahens der Post mittels der Raumklangwirkung und der instrumentalen Verdeutlichung der Dur-Moll-Konfrontationen 248 249 Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 52. Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 52. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 69 - JANINEstellt CHRISTGEN Zender die Textvermittlung durch Tempovarianz in den Vordergrund. Jede Enttäuschung, im wahrsten Sinne des Wortes Ent-Täuschung, Desillusionierung, ist mit einer Tempoverlangsamung verbunden; der Gedanke an die Liebste führt zur Acceleration. Es scheint, als zeichne Zender die Erregungskurve des aufgewühlten Wanderers nach, der animiert durch die akustischen Stimuli des Posthorns zwischen erneut aufkeimender Hoffnung und resignativer Einsicht in die Hoffnungslosigkeit schwankt. Je näher die Post (versinnbildlicht durch das sich akustisch und visuell nähernde Hornsignal) kommt, desto stärker ist die Aufregung des Wanderers zu spüren. Der Text thematisiert das Herz des Wanderers, Stahmer sieht daher die Tempowechsel als „eine dem medizinischen EKG abgelauschte Pulsfrequenz-Kurve mit zunehmender Tendenz in Richtung auf absoluten Stillstand.“250 Zur Verdeutlichung dieser Annahme sei auf die graphische Darstellung der Tempi in Anhang XII verwiesen. Zusätzlich gestaltet Zender die Resignation durch Reduktion der Instrumentation nach den Generalpausen (T. 49; T. 96). In beiden Fällen handelt es sich um jene Stellen, welche Schubert mit dem Umbruch von Maggiore zu Minore versehen hat, dem Wandel von objektivem Schilderungsmoment zum Einblick in die innersten Gemütsgründe des Wanderers. Auch hier „liest“ Zender Schubert genau. Er lässt die Instrumentation in jenem Augenblick zunehmen, in dem das Herz „so wunderlich zu drängen“ beginnt. Die Vergeblichkeit des Rückblicks unterstreicht er in der zweiten Dur-MollKonfrontation (T. 96) durch die funerale Satztechnik und Klangfarbe der tiefen Holzbläser. Indem Zender die Textzeile im Folgenden noch einmal unter Verstärkung der Singstimme und der Beimischung von Hall wiederholt, betont er durch die Verzerrung erneut die Vergeblichkeit der Hoffnungen. In dem gedehnten Nachspiel greift Zender auf die Posthornklänge zurück, bevor er den instrumentalen Satz ausdünnt und ihn schließlich im Piano mit Pizzicatoklängen der Streicher verklingen lässt. Das Aufbäumen des Herzens, die leidenschaftliche Affektion durch den Posthornklang konnte die Entfremdung des Wanderers nicht auflösen. Der Bruch mit der Geliebten ist endgültig besiegelt. Nun bleiben ihm von den drei Sonnen, die ihm einst in seinem Leben schienen (Glaube, Liebe, Hoffnung) nur noch zwei. Die „Nebensonnen“ erweisen sich nach und nach als Trugbilder, doch vermag selbst die eigentliche Sonne den Weg des Wanderers noch zu erleuchten? Dies sei schließlich im Anschluss an die Analyse des Zyklus zu diskutieren. 250 Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 53. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 70 stürmische Morgen - JANINEDer CHRISTGEN „Der stürmische Morgen“, der signifikanter Weise nur den Wanderer, nicht aber die Menschen, die dort in ihren „Betten schnarchen“, tangiert, scheint durch die erweitertete Windmetapher in Verbindung mit Lied 2, tonal hingegen auch mit Nr.1 zu korrespondieren, da beide in d-moll stehen. Dies ist von Müllers Textvorlage her leicht ersichtlich. Der in „Gute Nacht“ aus dem Dorf „vertriebene“, mit dem der Wind gleich einer „Wetterfahne“ spielt, während die Menschen im Dorf unberührt, vom Sturm nicht ergriffen, schlafen, erscheint in allen drei Liedern als auf sich alleine gestellt. Er nimmt Abstand von den schlafenden Zeitgenossen, wählt das Exil freiwillig, da er nicht mit der Einstellung der übrigen Gesellschaftsmitglieder konform geht. Damit gibt er auch die Geborgenheit der menschlichen Gemeinschaft auf, setzt sich dem Wind aus, doch sagt er selbst, dass ihm die Welt der Stürme lieber ist, wahrer erscheint („Als noch die Stürme tobten, war ich so elend nicht.“) als jene Ruhe, die durch Handlungsunfähigkeit und Resignation erkauft sein mag. Die Konsequenz ist der Versuch, der Welt mutig entgegenzutreten. Dem Hörer schlägt daher ein akustisches Kontinuum des Dauerregens entgegen. Die prasselnden Trommelwirbel, der Einsatz der Regenbleche, die rauschenden Streicherklänge - sie alle bieten die Grundlage für eine vom Sturm „zerrissene“ Umdeutung des Schubertschen Originals. Gleich zu Beginn dehnt Zender das Vorspiel durch das Zerreißen der Melodielinie. Selbst der Wind kann nicht ungestört wehen. Dem entsprechen die Einfügungen von Pausen in die Singstimme, die Worte zerteilen, Sprachfetzen durch den Raum wehen lassen und durch ihr Auftreten die rhythmischen Fügungen außer Kraft setzten und auf diese Weise immer wieder nach dem Einschub von zusätzlichen Takten verlangen. Die Sprach- und Kommunikationsfähigkeit leidet unter dem aufbrausenden Wind, der das Sinnverständnis zu kolportieren sucht. Dem Hörer weht er in den Takten 14f. in 32stel-Sechstolen in den Holzbläsern, gespielt mit Flatterzunge, entgegen, was eine Verstärkung von der durch Schubert angelegten Triolenbewegung darstellt. Die Glissandi der Streicher und die Wirbel der Pauken verstärken diesen Ausdruck. Der Sturm steigert sich in den folgenden Takten, wird durch dynamische Bewegungen von forte bis piano unterstützt und führt zur permanenten Unterbrechung des Sprach- und Melodieflusses. So sehr der Wanderer auf den Sturm gehofft und die Ruhe der schnarchenden Menschen verachtet hat, so wird doch hier auch gerade durch Zenders Interpretation deutlich, dass er dem Sturm alleine nicht standhalten kann, dass seine Worte verweht werden, er sich in der Welt nicht mehr zu artikulieren vermag. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 71 - JANINEDer CHRISTGEN Wegweiser Wenngleich der Titel die Assoziation von Orientierung aufzublenden scheint, so ist es doch viel eher das Gegenteil, welches in diesem Lied zum Ausdruck gebracht wird und es in die Nähe der Lieder „Irrlicht“ und „Täuschung“ rückt. Mit diesen gemein ist ihm auch der resignative Zwang zur Wanderschaft. Schubert sucht die Unmöglichkeit des Entrinnens aus der Wanderschaft durch seine vielfach analysierte und in Harmonielehren immer wieder beispielhaft verwiesenen harmonischen Windungen und Irrwege aufzuzeigen. Die Reaktionen auf diese Vorgaben Schuberts fallen bei Zender jedoch weniger ins Gewicht. Er konzentriert sich auf die Hervorhebung des Wandermotivs und die Notenwertprolongation. Auf diese Weise versucht er einmal mehr die Divergenz zwischen Außen- und Innenwelt darzustellen. Dem Ruhebedürfnis, welches Ausdruck in der Augmentation der Notenwerte findet, wird der repetierende Achtelrhythmus des stetigen „Wandern-müssens“ entgegengesetzt. Die Trostlosigkeit und Ausweglosigkeit zeigt sich auch in der Orchesterbesetzung, die sich zunächst ausschließlich aus tiefen Streichern und Bläsern speist und somit eine melancholisch funerale Anmutung gewinnt. Der Maggioreteil (T. 22f.) erhellt den dunklen Satz, gibt der illusionären Weltentflohenheit des Dur einen lyrisch choralhaften Ton. Die pulsierende Achtelbewegung setzt dabei im gesamten Lied nicht aus. Sie läuft wie ein Perpetuum Mobile auch gegen die zur Erstarrung führenden Prolongationen an. Die Notenwerte verlieren nach und nach ihre Kraft des dynamischen Flusses. Gerade ab Takt 55 ist die zunehmende Verlängerung der Notenwerte markant. Zender adaptiert dieses Vorgehen zwar von Schubert, zentriert den Gedanken des Verlustes kleiner Notenwerte und das Erstarren aber durch die Ausdünnung des Orchesters. Die Abwechslung der Klangfarben innerhalb dieser stereotypen Repetitionen kritisiert Nonnenmann wie folgt: „Er (Zender) nimmt ihnen ihre unerträgliche Monotonie, mit der Schubert den unausweichlich letzten Gang eines jeden Menschen darzustellen suchte.“251 Sicherlich belebt der Klangfarbenwechsel die Repetitionen, aber er verdeutlicht auch die Unmöglichkeit des Entrinnens, indem sich kein Musiker (der Sänger eingeschlossen) dem Achtelrhythmus zu entziehen vermag. Zender führt die Prolongation der Notenwerte konsequent zu Ende, dehnt die Notenwerte in den letzten Takten über die Vorgaben hinaus. Nach dem Verschwinden der repetierenden Achtelbewegung, welche in Takt 77 in eine Viertelrepetition mündete, lässt Zender das Lied in einer Vierschlagnote des Akkordeons verklingen. Vielleicht ist dies bereits ein Hinweis darauf, dass auch Zender den einzigen 251 Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musiktheorie für das Musikleben, S. 80. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 72 - JANINEAusweg CHRISTGEN im Tod sieht, doch dieser Gedanke ist am Ende dieses Kapitels noch einmal aufzugreifen. Erwähnt werden soll hingegen noch, dass Zender nicht nur das harmonische Verwirrspiel Schuberts nicht akzentuiert, sondern auch das Stilmittel der Teufelsmühle 252, ein harmonisches Labyrinth, in welchem der Basslauf gegen die Tonrepetitionen in der Gesangsstimme chromatisch aufwärts schreitet (vgl. T. 56f.) und so eine harmonische Zielsetzung verdunkelt, ebenfalls unberücksichtigt lässt. Mut! Während der Text Müllers ein letztes entschlossenes Aufbäumen des Subjekts nach dem Tiefpunkt der Depression in Lied 12 („Einsamkeit“) vermittelt, lässt Zender in seiner Bearbeitung ersichtlich werden, dass die Stürme, die sich der Wanderer wünschte, sein neu aufkeimendes „Selbst-bewusstsein“, sein Mut, diesem Unwetter entgegenzutreten, fassadenhaft äußere Erscheinungen sind, mit denen die innere Befindlichkeit des Wanderers nicht kongruiert. Das vordergründige Verhalten des Wanderers scheint wie „das Singen im Wald, um sich die Angst zu vertreiben. Was bei Schubert im marschmäßigen G-Dur-Teil vordergründig so keck und lustig klingt, ist dennoch untergründig Ausdruck tiefster Verzweiflung.“253 Diese Verzweiflung lässt sich in Zenders Interpretation in der Auflösung des Originals, in dessen „zerrissener“ Gestalt wiederfinden. Die Motive Schuberts fliegen dem Zuhörer entgegen, lassen ihn die innere Verstörung des Wanderers akustisch nachempfinden. Die Windmetapher, die in Lied 2 erstmalig anklang und sich in Lied 18 steigerte, gipfelt nun in Lied 22. Konsequent zeigt Zender die zunehmende Verstörung des Wanderers durch die Entwicklung der Windmetapher vom brausenden Wind zum alles zerstörenden Sturm. Die Schubertschen Motive erscheinen nur noch als „Fetzen [...], die auf die Folie eines von Zender komponierten Kontinuums von akustischem Dauerregen aufgeklebt wurden.“254 Der Wind hat inzwischen eine solche Vehemenz erreicht, dass er den Wanderer nicht mehr „aussingen“ lässt, ihn immer wieder zum Beginn zurückwirft. Dieses beständige Zurückgeworfenwerden steht in direkter Verbindung zur Suche nach harmonischer und metrischer Orientierung. Erst im vierten Anlauf gelingt es, nach einer Phase der harmonischen Verwirrung (f-Moll, a-Moll, fis-Moll), zur Schubertschen Originaltonart gMoll vorzudringen und die erste Strophe nun endlich vollständig erklingen zu lassen. (Zur schematischen Übersicht der formalen Gliederung sei auf Anhang XIII verwiesen.) Doch die 252 Vgl. Budde, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 89. Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme?, S. 149. 254 Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 48. 253 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 73 - JANINEtonale CHRISTGEN Konsolidierung besteht nur für acht Takte (T. 44-51). Die zweite Strophe wiederholt das harmonisch „suchende Verrücken und Verschieben“255. Daher führt der Einsatz der Streicher (T. 52) nach gis-, jener der Bläser (T. 53) nach a-Moll, um schließlich in Takt 55, im weiterhin chromatischen Gang, nach b-Moll zu gelangen. Aber auch hier wird keine tonale Sicherheit gewonnen, so dass der Maggioreteil schließlich in E-Dur statt in G-Dur beginnt (T. 74). Diese harmonische Verwirrung „klärt“ Zender durch eine 13taktige Collage aus Schubertschen Motiven (T. 77-90). Zender legt so beispielsweise in den Holzbläsern (T. 77f.) die originale Melodie aus Schuberts T. 41 (A) über die Wiederholung des melodischen Duktus „gegen Wind und Wetter“ (B) und die rhythmischen Bausteine des Schubertschen Taktes 41 (li. Hand) (C). In den Streichern greift Zender erneut Motivteil B auf und unterlegt es mit dem Rhythmus der Schubertschen Klavierbegleitung in Takt 45f. (D). Zur Verdeutlichung dieser rhythmischen und melodischen Verwebung, die sich, aus selbigen Elementen speisend, bis Takt 90 kontinuiert, sei auf Anhang XIV.1 und 2 verwiesen. Hier sind zum einen die rhythmischen und melodischen Elemente verzeichnet, die Zender aus der Schubertschen Vorlage übernimmt (XIV.1) und diese zum anderen im Notentext Zenders vermerkt (XIV.2). Diese Collage, die Zender durch den Einsatz von drei Windmaschinen in ihrer Wirkungsweise unterstützt, führt zur Bereinigung der harmonischen Wirren und zur Etablierung des Schubertschen g-Moll, das schließlich, wiederum von klangmalerischen Elementen des Windes unterbrochen, in den G-Dur-Teil überführt wird. Der Satz scheint nun vorerst transparenter, so wird die Singstimme abwechselnd durch Bläser- und Streicherklang begleitet. Doch finden sich auch hier signifikante Eingriffe Zenders, die dieser mit dem Terminus „Kontrafaktur“ bezeichnet und damit „frei erfundene Klänge zur Schubertschen Musik“256 bezeichnet, womit er den Begriff nicht im Sinn der musikwissenschaftlichen Fachterminologie benutzt. Diese sogenannten „Kontrafakturen“ treten beispielsweise in Takt 109 in den Streichern auf und gemahnen einmal mehr an das Liedthema aus Nr.1 durch ihren abwärtsgerichteten Duktus. Die Botschaft des „Fremdseins“ trägt diese Kontrafaktur somit in einen neuen Zusammenhang und lässt damit die Verbindung zwischen Orts- und Gottlosigkeit aufscheinen, die gänzliche Vereinsamung und Solipsie des Subjekts versinnbildlichend. Auch die onomatopoetische „Kontrafaktur“ in Takt 121 steht nicht im luftleeren Raum. Sie erinnert an die Ausgestaltung der Winde in Lied 18 (T. 14f.; T. 30f.). Der Aufruf, selber Götter zu sein schließlich klingt durch die Aufsplittung des Satzes (T. 125f.) falsch, „wie von einem 255 256 Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme, S. 152. Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 222. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 74 - JANINEdefekten CHRISTGEN Tonträger vermittelt.“257 Die emphatische Wirkung des aufwärtsstrebenden Dreiklangs wird somit, ebenso wie der Mut des stürmenden und drängenden Subjekts, gebrochen. So verfährt Zender in der Gestaltungsweise nur folgerichtig, wenn er das Lied im Sturm verwehen lässt, die Melodieelemente des Schubertschen Nachspiels aufbricht und, sie in col legno- und pizzicato-Klängen auflösend, der revolutionären Textaussage ihre Illusionshaftigkeit vor Augen führt. Die beständigen Taktbrüche tun hierzu ihr Übriges. Der Leiermann Zender formuliert die Intention seiner Interpretation des „Leiermanns“ wie folgt: „Wird bei Schubert die Winterreise im zweiten Teil zunehmend zu einer Auseinandersetzung mit dem Tod, der Abschied von der Geliebten zu einem Abschied vom Leben überhaupt, so zwang dies zu einer besonderen Strategie in der Gestaltung des Schlusses. Die am Anfang trotz aller Verfremdung noch eindeutige Beziehung zum historischen Original wird in meiner Bearbeitung immer labiler, die `heile Welt´ der Tradition verschwindet immer mehr in eine nicht rückholbare Ferne. [...] Beim `Leiermann` endlich verschwindet außer der zeitlich metrischen Orientierung auch noch die harmonisch-räumliche Stabilität, indem durch immer neu hinzugefügte Unterquinten (abgeleitet aus dem 4. Takt des SchubertLiedes) die Gestalten ihre Standfestigkeit verlieren und am Schluss gleichsam `in die Erde sinken`.“ 258 Konnte man diese tendenziell sich steigernde Zergliederung der Schubertschen Vorlage schon in den Liedern 18, 19 und 22 wahrnehmen, so lässt Zender den Zyklus in Leere und Vereinsamung enden. Der Klang erstirbt, entzieht sich optisch (Abgang der Musiker) und akustisch (Ausdünnung des Satzes). Dies wird durch die Rücktransposition in die Originaltonart h-Moll unterstützt, die sich von der Ausgangstonart d-Moll uneinholbar entfernt (vgl. Kapitel VI.3.A. – Zyklusbildung und Tonartendisposition) und somit die zyklische in eine Spiralgestalt umgebogen hat (vgl. Kapitel II.3.C. – Sinn und Zielkonfiguration). „Abgeleitet aus den leeren Quinten des Schubert-Lieds baut Zender ein aus hoher Lage absteigendes Quintfeld von gis´´´(Picc) bis zum Kontra d (Fag) mit h als Mittelpunkt auf.“259 Dieses Quintfeld findet sich erneut im von Zender frei hinzugefügten Nachspiel, wo es aber „alle chromatischen Töne enthält und so ein gespreiztes Cluster bildet,“260 der sich durch die Abgänge der Musiker und das Ausdünnen des Satzes allmählich auflöst, den Wanderer ebenso im Nichts verschwinden lässt wie er zu Beginn aus dem Nichts erschienen war. Die Konturen, die sich anfänglich verschärften, verblassen nun. Die volkstümliche Instrumentenauswahl, die den Gesang zunächst begleitet und sich auf Klarinette, Sopransaxophon, Akkordeon, Gitarre, Violinen und Bratschen beschränkt, 257 Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme, S. 152. Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 222-223. 259 Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme?, S. 149. 260 Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme?, S. 149. 258 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 75 - JANINEverweist CHRISTGEN erneut auf Zenders Bruch von Schönklang durch den Topos der Überhöhung. Die Auflösung des Originals und dessen Allgegenwart zeigt sich in der konsequenten Permutation der „Leiermann-Melodie“, die in verschiedenen rhythmischen Verschiebungen zutage tritt (vgl. Anhang XV). Der Abschied ist in Zenders Version des „Leiermanns“ deutlich formuliert. Sicherlich lässt sich die Anlage für seine Gestaltung in der Vorlage Schuberts finden, doch stellt sich die Frage, ob Zender hier nicht über die von Schubert intendierte Aussage hinausgegangen ist, den Zyklus womöglich seiner Offenheit durch eindimensionale Festlegung beraubt hat. Dieser Gedanke tritt in der Beschäftigung mit der „Winterreise“ Schuberts im Allgemeinen und jener Zenders im Speziellen nur recht selten zutage. Klaus Hinrich Stahmer ist einer der Wenigen, die dies in ähnlicher Weise fassen: „Man kann die Disproportionalität, die durch Schuberts Vermeiden von musikalischer Gestalt im Schlusslied ausgelöst wird, auch als offenen Schluß sehen. Dem läuft die quasi-sinfonische Ausarbeitung Zenders zuwider, indem sie das Schlusslied im Sinn des Abschieds [...] formuliert. Dies wäre indessen wohl die einzige Stelle, wo die Ausarbeitung direkt ins Gegenteil dessen umschlägt, was von Schubert intendiert wurde.“261 Sicherlich weist die Musik Schuberts durch die starren Quinten und die repetierten Melodiemuster auf Erstarrung hin. Auch wurde die Figur des Leiermanns in der Literatur häufig als Tod gedeutet und die Winterreise somit als Reise in den Tod betrachtet. Diese Betrachtungsweise scheint allerdings unschlüssig. Die starre Bewegung der Leier scheint nicht ausschließlich als negatives, erstarrendes Moment begreifbar, denn die Kreisbewegung beleuchtet auch die Zirkularität, den Kreislauf des Lebens, Beginn und Ende.262 Aufgrund dieser Ausführung ist es möglich, den Leiermann erneut als den „Tod“ zu deuten, der den Lebenszyklus des Wanderes beendet, doch kann gerade auch hier ein neuer Aufbruch beginnen. Wenngleich der Leiermann isoliert und von der Gesellschaft ausgeschlossen erscheint („keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an“), so nimmt der Wanderer doch erstmalig im gesamten Zyklus Kontakt zu einem anderen Individuum auf, einem Menschen, der ihm ähnlich ist, der die gleichen Sorgen und Nöte erlebt. Die Musik verbindet sie, der Leiermann geht auf das „Angebot“ des Wanderers ein, zu dessen Liedern seine Leier zu drehen (akustisch durch die Zusammenkunft der Stimmen wahrzunehmen). Zudem ist im Zyklus häufig hervorgetreten, dass der Wanderer sich nach Tod und Ruhe sehnte, diese aber nicht finden konnte, ihm der Tod folglich verwehrt war (Vgl. Kapitel II.3. – Wenn die Heimat zur Fremde wird – Müllers „Winterreise“) Aus welchem Grund sollte diese Konfiguration so schnell und unmotiviert in ihr Gegenteil verkehrt werden? Es erschließt sich keine logische 261 262 Stahmer, Klaus Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 55. Vgl.: Stoffels, Ludwig: Die Winterreise, S. 120f. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 76 - JANINEErklärung CHRISTGEN für eine solche Betrachtungsweise. Daher sollte eine einseitige Festlegung des Zyklusendes vermieden werden. Sicher ist, dass am Ende ein neuer Aufbruch steht; wie dieser sich jedoch gestaltet, ist der individuellen Interpretation des Rezipienten zu überlassen und nicht zu determinieren. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 77 Schubert, Zender, Neumeier – Treffpunkt Zukunft? - JANINE5CHRISTGEN Zender, als einer derjenigen, der sich, wie sich gezeigt hat, in eine lange Rezeptionstradion einfügt, gleichzeitig aber seine persönliche „lecture“ in seiner Interpretation zum Ausdruck bringt, geht es folglich nicht um „eine konservative Aneignung des Gewesenen, sondern vorrangig um eine Durchleuchtung von dessen Zukunftsgehalt, der aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht.“263 Wodurch die Überzeitlichkeit des Sujets bedingt ist, wurde bereits in Kapitel II thematisiert. Es sind sicherlich grade diese Gedanken, die Zender zu einer Interpretation der Winterreise bewogen haben. Die positiven bis euphorischen Reaktionen von Presse und Publikum spiegeln, welche große Relevanz das Sujet in der heutigen Zeit hat, und dass es nichts von seiner Aktualität eingebüßt zu haben scheint. Dass besonders Zenders Werk aber eine Brücke in die Zukunft zu schlagen vermag, zeigt sich an der Rezeptionsflut, die sein Werk auslöste. Kommentare, Kurzanalysen und Rundfunksendungen, Adaptionen für den schulischen Musikunterricht entstanden und nicht zuletzt John Neumeiers Ballett, welches er zu Zenders Interpretation im Jahre 2001 in der Hamburgischen Staatsoper zur Aufführung brachte. Auch diese Inszenierung wurde begleitet von enthusiastischen Reaktionen seitens des Publikums und der Presse. Neumeiers Inszenierung zentriert dabei die Gedanken, welche auch Zenders Winterreise zugrunde liegen und setzt das Sujet choreographisch in die Moderne. Neumeiers Auffassung der Winterreise spiegelt sich in der Aussage: „Schuberts Liederzyklus ist nicht romantisch, „it´s modern and it´s very present.“ 264 Schon das Bühnenbild reflektiert diese zentralen Gedanken. (Zur visuellen Vergegenwärtigung des Geschilderten sei auf die im Anhang XVI angefügten Bilder der Inszenierung Neumeieres hingewiesen.) Im Hintergrund erblickt der Rezipient eine riesige Photowand mit Bildern aus den Kindheitstagen der 13 Tänzer. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fließen zusammen. Die Lebensreise des Wanderers, der Akteure, der Zuschauer blickt auf Relikte einer nicht mehr wiederherzustellenden Zeit auf die aktuelle Situation. Während all dies geschieht, vergeht Zeit, bricht schon die Zukunft an, wird Klang und Choreographie zu erlebter Zeit, die Impulse für die Zukunft setzten will, aufrütteln, bewegen aus Rezeptionsgewohnheiten zu befreien sucht. Neumeier lässt zu der Musik Zenders Episoden entstehen, die vereinzelte Subjekte zeigen und dieser Vereinzelung gleichzeitig durch ihren Episodencharakter Ausdruck verleihen. Verbindend führt einzig der Tänzer in seinem übergroßen Pullover und Brille durch die dunklen und teilweise beklemmend 263 264 Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S. 70. Neumeier, John: Irritierende Aktualität. www.hamburgballett.de MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 78 - JANINEanmutenden CHRISTGEN Bilder. Das Orchester mitten auf der Bühne positioniert und über einen Steg mit der verschneiten Bühne verbunden, kann mit Zenders onomatopoetischer musikalischer Sprache nicht deutlicher akzentuieren, was Neumeier hier choreographisch umsetzt: Kälte, Erstarrung und Solipsie, zum Ausdruck gebracht durch die 13 Tänzer, die Menschen mit verschiedenen Habiten darstellen und doch alle fremd in der Umgebung wirken. „Da gibt es den gealterten Dressman ebenso wie die wohlsituierte Dame, den notorischen Existentialisten wie das scheinfröhliche Mädchen, den von Zweifeln unangekränkelten Businessman und die traurige Unnahbare, die skeptische Beobachterin und, als historische Reminiszenz, offenkundig aber als Blickfang, ein Paar wie aus dem Dreimäderlhaus: ein Herr in Frack und Zylinder, der immer wieder wegzuknicken droht, und eine süße Blonde im Biedermeier-Kleid, deren niedliches Getrappel urplötzlich erstirbt. Sie alle sind Einzelgänger. Ihre Bewegungen sind gefroren, tauen auf wie Erinnerungen, unternehmen dann Ausflüge in Makellosigkeit.“ 265 Die alle Episoden vermittelnde Hauptperson erfährt so gesellschaftliche Kälte, Verschlossenheit der Welt und Vereinsamung am eigenen Leib ebenso, wie der Beobachter. „Reduzierte Bewegungssprache und beklemmende Bilder“266 wirft Neumeier dem Rezipienten entgegen. Das reduzierte Bühnenbild kongruiert mit den Bewegungen. Eine Straßenlaterne als „Assoziation von Unwirtlichkeit und auf der Straße sein.“267 Ein Bild, dass Neumeier ähnlich jenem betrachtet, das einst die Telefonzelle vermittelte, als Mobiltelefone noch keine allgegenwärtige Kommunikation ermöglichten. Es ist das „Gefühl der Isolation und des Ausgesperrtseins, ein Synonym für Unterwegssein und gleichzeitig ein Signal für den tiefen Wunsch nach Kommunikation, Nähe, inniger Zwiesprache.“267 Neumeier pointiert diesen Gedankengang in der abschließenden Bemerkung: „Es ist der Verlust des Vertrauten und auch vielleicht des Vertrauensvollen, den wir so stark spüren, damals wie heute. Irgendwie ist es, als fühle man Symptome, aber kenne die Krankheit nicht. Die `Winterreise´ konfrontiert uns mit einer sehr extremen Form von Exil … dem Exil in sich selbst, verloren gegangen, mitten in der Welt.“268 Das Sujet hat also nicht an Relevanz verloren, es spiegelte, spiegelt und wird immer Ängste und Nöte eines in die Krise geratenen „Selbst-bewusstseins“ spiegeln. Schuberts „Winterreise“, ein Werk, das in die Zukunft weist und durch Zenders Aktualisierung der teilweise zum reinen Genuss verkommenen Klassiker-Rezeption die „Urimpulse, die existentielle Wucht des Originals“269 wiederzugeben sucht. 265 Edith Boxberger, Frankfurter Allgemeine Zeitung. www.hamburgballett.de ARD Tagesthemen. www.hamburgballett.de 267 Neumeier, John: Irritierende Aktualität. www.hamburgballett.de. 268 Neumeier, John: Irritierende Aktualität. www.hamburgballett.de. 269 Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 223. 266 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 79 Schlussbetrachtung - JANINEVI CHRISTGEN „Das Wesen der Zeit ist das Maß des Gewordenen in immer währender Bewegung“ 270. Durch dieses Zitat des Philosophen Xenokrates zeigt sich für Zender, dass das Vergangene nur in seiner Bewegung, in seiner vitalen Erneuerung, lebendig ist. Um in seiner „existentiellen Wucht“ zum Rezipienten zu sprechen, sucht Zender das Werk von seiner „ordinären“ Rezeptionsweise zu befreien und den Hörer aus seiner passiven Rezeptionshaltung zu dispensieren. Doch ist dies nur in sinnvoller Weise möglich, wenn das Werk Konstituenten aufweist, die den heutigen Menschen ebenso betreffen, wie den in der Vergangenheit gelebt habenden und den in Zukunft lebenden. Wenn das Werk, sein Sujet und sein Ausdruckspotential anthropologische Grundkonstanten berühren. Müllers Text, Schuberts Vertonung und Zenders Aktualisierung der „Winterreise“ bringen diese Faktoren zusammen. „Die Sprache von Schubert ist Dialekt: aber es ist ein Dialekt ohne Erde. Er hat die Konkretion der Heimat; aber es ist keine Heimat hier, sondern eine erinnerte.“ 271 Auf diese Weise thematisiert Adorno das spezifisch dichotomische der Schubertschen Musik. Diese bringt zum Ausdruck, wovon die „Winterreise“ spricht: Entfremdung des Menschen von der Natur, von der Objektwelt. Die Hoffnung auf und Sehnsucht nach dem Vergangenen markiert Schubert in verheißungsvollen Durpassagen, die durch den Einbruch der Realität in Moll in ihr Gegenteil verkehrt werden. Modulationen in entfernte Tonarten vermittels des Schubertakkordes (vgl. Kapitel 5.4.B.) zeigen die Brüche zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Mut und Resignation. Die Tonartendisposition lässt gleichfalls Einblicke in die Lesarten der Müllerschen „Winterreise“ durch Schuberts zu. Mit diesem feinen Geflecht musikalischer Disposition setzt sich Zender auseinander. Er findet in der Sprache Schuberts und in der „Winterreise“-Thematik, die darin zum Ausdruck kommt, immanent zeitaktuelle Faktoren wieder, die er in seiner ganz eigenen „Lesart“ umsetzt und dem Rezipienten näher zu bringen sucht. Selbst wenn man nicht in allen Lesarten mit Zender übereinstimmen mag, wenn mancher Bruch zu hart, manche Überhöhung zu scharf erscheinen mag, so führt er den Hörer doch zu einem Ausbruch aus der gewohnten „Konsumhaltung“, lässt ihn durch Rezeptionsbrüche provoziert oder motiviert eigene Assoziationen entwickeln, von Neuem über die Relevanz des Stoffes, die kunstvolle Umsetzung Schuberts sinnieren. Zender rüttelt den Hörer auf, bietet Reibefläche. „Kunst muss Widerstand leisteten“272 zentriert Gerhard Koch diesen Gedankengang, der selbiges auch über Neumeiers Ballett zu Zenders Werk hätte 270 Zender, Hans: Alte Musik – Neue Musik, S. 15. Adorno, Theodor W.: Schubert, S. 29. 272 Koch, Gerhard: Kunst muß Widerstand leisten. www.breitkopf.de. 271 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 80 schreiben können. Er scheint damit die Meinung von Presse und Publikum zu spiegeln, die - JANINEZenders CHRISTGEN Interpretation feierten und sich somit als Subjekte in der modernen Gesellschaft in der „Winterreise“ wiedergefunden haben. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 81 VII Literaturverzeichnis - JANINE CHRISTGEN a) Notenmaterial Liszt, Franz: Winterreise. 12 Lieder von Franz Schubert, für Klavier überragen von Franz Liszt. In: Krause, Andreas (Hrsg.): Transkriptionen VI. Budapest: Ed. Musica 1995. (Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Ser. 2, Bd. 21), S.98-146. Schubert, Franz: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. [...] Serie IV: Lieder, Bd.4 – Teil a. Kassel: Bärenreiter [...] 1979. Zender, Hans: Schuberts „Winterreise“. Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester. [...] Wiesbaden: Breitkopf und Härtel 1996. b) Primärquellen Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. Boulez, Pierre: Zeit, Notation und Kode. 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MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 92 - JANINE CHRISTGEN VIII Anhangverzeichnis Anhang I Abfolge der Gedichte im Zyklus Müllers In: Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung und Schuberts Vertonung. Bonn: Verl. für syst. Musikwissenschaft 1987 (OrpheusSchriftenreihe zu Grundfragen der Musik, 48/62). Abbildung S.2 Anhang II Kommunikationsschemata In: Bernhard, Katrin: Reisebericht – Sekundäres zur Winterreise. In: Schubert Perspektiven Jg. 3, H. 1 2003, Abbildung S.57, 61. Anhang VI Umgang mit den Tongeschlechtern Moll und Dur In: Zender, Hans: Orchesteraufstellung und Besetzung. In: Zender, Hans: Schuberts „Winterreise“. Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester. [...] Wiesbaden: Breitkopf und Härtel 1996. Abbildung im Vorwort. Anhang IX Vergleich der Melodieführung in Lied 4 und 5 In: Budde, Elmar: Schuberts Liederzyklen. Ein musikalischer Werkführer. München: Beck 2003, Abbildung S. 80. Anhang X Liszts Transkription des „Lindenbaums“ In: Liszt, Franz: Winterreise. 12 Lieder von Franz Schubert, für Klavier überragen von Franz Liszt. In: Krause, Andreas (Hrsg.): Transkriptionen VI. Budapest: Ed. Musica 1995. (Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Ser. 2, Bd. 21), Abbildung S.122-128. Anhang XV Rhythmusmodelle in Lied 24 In: Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme? Zu Hans Zenders komponierter Interpretation von Schuberts Winterreise. In: Musica Jg. 48 H. 3 1994, Abbildung S.149. Anhang XVI Bilder der Inszenierung Neumeiers In: Neumeier, John: Bilder der Inszenierung von Zenders „Winterreise“ als Ballett. www.hamburgballett.de /d/gallery.html. Anhang XVII Partitur ausgewählter Lieder aus Schuberts „Winterreise“ In: Schubert, Franz: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. [...] Serie IV: Lieder, Bd.4 – Teil a. Kassel: Bärenreiter [...] 1979. Anhang XVIII Partitur ausgewählter Lieder aus Zenders „Winterreise“ In: Zender, Hans: Schuberts „Winterreise“. Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester. [...] Wiesbaden: Breitkopf und Härtel 1996. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 93 - JANINE CHRISTGEN ABBILDUNGSVERZEICHNIS Stoffels, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung und Schuberts Vertonung. Bonn: Verl. für syst. Musikwissenschaft 1987 (Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik, 48/62). (Anhang I) Bernhard, Katrin: Reisebericht – Sekundäres zur Winterreise. In: Schubert Perspektiven Jg. 3, H. 1 2003, S. 61. (Anhang II.I) Bernhard, Katrin: Reisebericht – Sekundäres zur Winterreise. In: Schubert Perspektiven Jg. 3, H. 1 2003, S. 54-64. S. 57. (Anhang II.II) Zender, Hans: Orchesteraufstellung und Besetzung. In: Zender, Hans: Schuberts „Winterreise“. Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester. [...] Wiesbaden: Breitkopf und Härtel 1996. (Anhang VI) Budde, Elmar: Schuberts Liederzyklen. Ein musikalischer Werkführer. München: Beck 2003, S. 80. (Anhang IX) Liszt, Franz: Winterreise. 12 Lieder von Franz Schubert, für Klavier überragen von Franz Liszt. In: Krause, Andreas (Hrsg.): Transkriptionen VI. Budapest: Ed. Musica 1995. (Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Ser. 2, Bd. 21), S.122-128. (Anhang X) Gruhn, Wilfried: Auf der Suche nach der verlorenen Wärme? Zu Hans Zenders komponierter Interpretation von Schuberts Winterreise. In: Musica Jg. 48 H. 3 1994, S.149. (Anhang XX) Zender, Hans: Schuberts „Winterreise“. Eine komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester. [...] Wiesbaden: Breitkopf und Härtel 1996. (Anhang XXI) Schubert, Franz: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. [...] Serie IV: Lieder, Bd.4 – Teil a. Kassel: Bärenreiter [...] 1979. (Anhang XXII) Neumeier, John: Bilder der Inszenierung von Zenders „Winterreise“ als Ballett. www.hamburgballett.de /d/gallery.html. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 94 - JANINEANHANGSÜBERSICHT: CHRISTGEN ANHANG I GEDICHTABFOLGE UND ZYKLUSBILDUNG ANHANG IIa DIVERGENTE KONSTITUENTEN DES KUNSTWERKS ANHANG IIb KOMMUNIKATIONSSCHEMATA ANHANG III REZEPTIONSÜBERSICHT ANHANG IV TONARTENPLAN DER WERKE SCHUBERTS UND ZENDERS ANHANG V UMGANG MIT DEN TONGESCHLECHTERN DUR UND MOLL ANHANG VI ORCHESTERAUFSTELLUNG UND BESETZUNG ANHANG VII RAUMWEGE UND INSTRUMENTATION ANHANG VIII SIGNIFIKANTE BEARBEITUNGSMERKMALE ANHANG IX VERGLEICH DER MELODIFÜHRUNG IN LIED 4 UND 5 ANHANG X LISZTS TRANSKRIPTION DES LINDENBAUMS ANHANG XI RETARDATION (LIED 12) ANHANG XII TEMPOVARIANZ (LIED 13) ANHANG XIII FORMALER ABLAUF (LIED 22) ANHANG XIVa RHYTHMUS- UND MELODIMODELLE SCHUBERTS (LIED 22) ANHANG XIVb ZENDERS COLLAGE DER MODELLE SCHUBERTS (LIED 22) ANHANG XV RHYTHMUSMODELLE (LIED 24) ANHANG XVI AUSGEWÄHLTER LIEDER ZENDERS ANHANG XVII PARTITUR DER LIEDER SCHUBERTS ZUM VERGLEICH ANHANG XVIII BILDER DER INSZENIERUNG NEUMEIERS MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 95 - JANINE CHRISTGEN I Abfolge der Gedichte im Zyklus Müllers MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 96 - JANINE CHRISTGEN II Kommunikationsschemata II.1 Durch Katrin Bernhard veranschaulichte divergenten Konstituenten des Kunstwerks In der Zeit unveränderliche Faktoren Rasch alternde, vergängliche Faktoren, die bewahren vor dem veralten: der ständigen Erneuerung bedürfen: Geist eines Kunstwerks Maß der Empfindung Das Menschliche, das in ihm ist Form, die diese drei Faktoren aufnimmt Mittel, die sie ausdrücken Geschmack der Entstehungs-Epoche II.2 Von Katrin Bernhard aufgestelltes Schema, in dem oben das traditionelle Kommunikationsschema unten die Umdeutung durch Zender abzulesen ist aktiv mitschöpferisch Rein darstellend Mimesis = imitatio Mimikry, blinde Nachahmung KOMPONIST INTERPRET Mitschöpferisch Mimesis = productio schöpferisch Text passiv rezipierend klingende Darstellung HÖRER handelnd MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 97 III Rezeptionsübersicht - JANINE CHRISTGEN JAHR AUTOR 1823/24 Müller, Wilhelm 1827/28 Schubert, Franz 1838-40 Liszt, Franz 1984 Bredemeyer, Reiner 1985 Döhl, Friedhelm 1990 Rühm, Wolfgang 1993 Zender, Hans 1997 Suzuki, Yukikazu 1997/98 Florey, Wolfgang 2001 Neumeier, John TITEL Winterreise BESETZUNG Literarische Vorlage ANMERKUNG - Literarische Vorlage - Reflex auf gesellschaftliche/ politische Zustände Winterreise Tenor und Klavier - Kompositoischer Reflex auf Müllers Winterreise - Reflex auf gesellschaftliche/ politische Zustände und subjektive Gefühlslage Klaviertranskription Klavier - individuell interpretierende Lesart „Winterreise“ der Winterreise Schuberts - Reflex auf persönliche Umstände - Werkvermittlung durch Erfüllung der Hörgewohnheiten der Rezipienten „Winterreise“ Bariton, Horn, Piano - Frei von Schuberts Kompositionsvorgaben - in der Bitterkeit und Trostlosigkeit der musikalischen Sprache drückt sich die Vereinzelung der Subjekte ebenso wie die gesellschaftliche Resignation und Erstarrung aus Überzeitlichkeit des Sujets 1. „Bruchstücke zu 1. Klavier - aktuelle menschliche Situation Winterreise“ 2. Streichqintett (mit reflektieren autobiographisch 2. „Winterreise. 2 Celli, wie im - Auffallende Elemente durch Streichquintett“ Schubertschen Einbettung in Pausen zu Quintett) Bewusstsein bringen (1) - Ausdrucksvielfalt Schuberts ohne Worte entstehen lassen (2) - zusätzliche semantische Bezüge, durch Anreicherung mit Gedichten Trakls u. Verweis auf Schuberts Quintett Intertextualität Die Winterreise – Szenische Version - Auseinandersetzung mit Dahinterweise für Live-Aufführung Sprachverlust und Sprachzerfall u. akustische Version - Sinn soll durch hintergründige in 12 Hörbildern für Assoziation des Schubertschen Rundfunk Werks erschlossen werden - neuer - Abnutzung soll aufgebrochen assonantischer Text werden wird über Schuberts - multimediales Zusammenwirken Vertonung gelegt verschiedener Schichten Schuberts „Winterreise“ Tenor und kleines - Ausdruck der Überzeitlichkeit der Eine komponierte Orchester Thematik Interpretation - Wiederherstellung der „Existentiellen Wucht der Originals“ „Winterreise“ Orchestration „Winterreise“ Streichquartett und Tonband Ballett zu Zenders komponierter Interpretation „Winterreise“ - Auseinandersetzung mit der Überzeitlichen Thematik durch die choreographische Umsetzung der Vorlage Zenders MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 98 - JANINE CHRISTGEN IV Tonartenplan der Werke Schuberts und Zenders IV.1 - Schubert NR TITEL TAKT TEMPOBEZEICHNUNG TONART 1 2 3 4 5 6 Gute Nacht Die Wetterfahne Gefrorene Tränen Erstarrung Der Lindenbaum Wasserflut 2/4 6/8 2/2 C 3/4 3/4 Mäßig Ziemlich geschwind Nicht zu langsam Ziemlich schnell Mäßig Langsam 7 8 9 10 Auf dem Flusse Rückblick Irrlicht Rast 2/4 3/4 3/8 2/4 Langsam Nicht zu geschwind Langsam Mäßig 11 12 Frühlingstraum Einsamkeit 6/8 2/4 Etwas bewegt Langsam 13 14 15 16 17 18 6/8 3/4 2/4 3/4 12/8 C 19 20 21 22 Die Post Der greise Kopf Die Krähe Letzte Hoffnung Im Dorfe Der stürmische Morgen Täuschung Der Wegweiser Das Wirtshaus Mut 6/8 2/4 C 2/4 Etwas geschwind Etwas langsam Etwas langsam Nicht zu geschwind Etwas langsam Ziemlich geschwind, doch kräftig Etwas geschwind Mäßig Sehr langsam Ziemlich geschwind, kräftig d-Moll a-Moll f-Moll c-Moll E-Dur e- Moll (Haslinger) fis-Moll (= Autograph Schubert) e-Moll g-Moll h-Moll c- Moll (Schubert) d-Moll (Autograph) A-Dur h-Moll (Schubert) d-Moll (Autograph) d-Moll c-Moll c-Moll Es-Dur D-Dur d-Moll 23 24 Die Nebensonnen Der Leiermann 3/4 3/4 Nicht zu langsam Etwas langsam A-Dur g-Moll F-Dur g-Moll (Haslinger) a-Moll (Autograph) A-Dur a-Moll (Haslinger) h-Moll (Autograph) MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 99 - JANINE CHRISTGEN IV.2 - Zender NR TITEL 1 Gute Nacht TAKT TEMPOBEZEICHNUNG 4/4 273 Mäßig, in gehender Bewegung TONART d-Moll 274 2 3 4 5 6 Die Wetterfahne Gefrorene Tränen Erstarrung Der Lindenbaum Wasserflut 6/8 4/4 C 3/4 3/4 7 8 9 10 11 12 Auf dem Flusse Rückblick Irrlicht Rast Frühlingstraum Einsamkeit 2/4 3/4 3/8 2/4 6/8 2/4 13 14 15 16 17 18 6/8 3/4 2/4 3/4 12/8 C 19 20 21 22 Die Post Der greise Kopf Die Krähe Letzte Hoffnung Im Dorfe Der stürmische Morgen Täuschung Der Wegweiser Das Wirtshaus Mut! a-Moll f-Moll c-Moll E-Dur fis-Moll (vgl. Autograph Schubert) Mäßig e-Moll Nicht zu geschwind g-Moll Langsam h-Moll Mäßig c- Moll Etwas geschwind A-Dur d-Moll (vgl. Autograph Langsam Schubert) Herabsinken nach hMoll (von Schubert revidierte Tonart) Etwas geschwind d-Moll Etwas langsam c-Moll Etwas langsam c-Moll Nicht zu geschwind Es-Dur Etwas langsam D-Dur Ziemlich geschwind, doch kräftig d-Moll 6/8 2/4 8/8 2/4 Etwas geschwind Mäßig Sehr langsam Ziemlich geschwind, kräftig 23 24 Die Nebensonnen Der Leiermann 3/4 3/4 Nicht zu langsam Etwas langsam 273 274 Ziemlich geschwind, unruhig Nicht zu langsam Nicht zu geschwind Mäßig langsam Langsam, streng im Takt A-Dur g-Moll F-Dur g-Moll wird erst nach Phase tonaler Orientierungslosigkeit erreicht A-Dur h-Moll (vgl. Autograph Schubert) Änderungen Zenders, die nicht Schubertsscher Provinienz sind. Diese Bezeichnungen übernimmt Zender aus der Autographen Niederschrift Schuberts. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 100 - JANINE CHRISTGEN Lied Takt1 Tonarten1 Antagonismen Umsetzung durch Zender 1 T. 71-99 D-d Realität -Traum 2 5 T. 32f. + 44f. T. 25-37 a- A E–e 7 8 T. 27-40 T. 27-48 e-E g-G Armut - Reichtum Traum/Erinnerung Realität Gegenwart - Rückblick Gegenwart - Rückblick Kontrastverstärkung durch vorrausgehende Collagen Ausschmückung des Klaviersatzes Onomatopoetische Ausschmückung; Instrumentationswandel, 11 T.15f-26; 59-71 A–a 13 T. 27ff.; 72ff. Es - es 17 T. 16-18 D–d 18 T. 10-13 d-B Traum/Rückblick/Liebe –Realität/Einsamkeit Vermittlung: Stimuli Hoffnung – Desillusionierung Vermittlung: Pausen Träumende Welt – Zerrinnen der Träume Klangwechsel; Tempowechsel „etwas ruhiger“ Fernorchester im Mollteil Ferne des Traumzustands; Bühnenorchester im Durteil Nähe, Wärme, Traumzustand Temporeduktion; Reduktion des Orchesters; Aufnehmen der Generalpausen Schuberts sprechende Stille Folgt Schuberts Vorgaben: Leere keine akk. Ergänzung; Umschlagen der Bewegungsrichtung der Triller Realität – Illusion Umgang mit den Tongeschlechtern Moll und Dur 1 bezieht sich auf Schuberts „Winterreise“ MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 101 19 T. 21-31 - JANINE20CHRISTGEN T. 22-40 A–a Illusion - Realität g-G Wandern – Reflexion des unsinnigen Tuns Hoffnung auf Erlösung durch den Tod – Abweisung Protest/Willensstärke – Infragestellung der Textaussage Rückblick Desillusionierung 21 T. 22-23 F–f 22 T. 37-47 g-G 23 T. 16-23 A-a Hervorheben der Last der Realität durch in Moll repetiertes „Ach“ Ausdünnung des Orchesters Überleitung in den Mollteil wird mit Trommelwirbel verdeutlicht Mehrfacher „Anlauf“ zum Durteil Protestoption wird in Frage gestellt Hervorheben der Last der Realität durch in Moll repetiertes „Ach“ MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 102 VI Orchesteraufstellung und Besetzung - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 103 - JANINE CHRISTGEN VII Raumwege und Instrumentation MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 104 Raumwege und Instrumentation - JANINEVII CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 105 Instrumentation und Raumwege - JANINEVII CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 106 Raumwege und Instrumentation - JANINEVII CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 107 - JANINE CHRISTGEN VII Raumwege und Instrumentation MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 108 - JANINE CHRISTGEN VII Raumwege und Instrumentation MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 109 VIII Signifikante Bearbeitungsmerkmale - JANINE CHRISTGEN Die Begriffe, die in untenstehender Tabelle für die Bearbeitungsmerkmale verwendet werden (Interpretation, Lesen, Kontrafaktur, Klanchiffre) sind dem Vokabular und der Bestimmungsweise Zenders entnommen und subsumieren die im Folgenden aufgeführten Bestimmungen 275: INTERPRETATION: Dehnung bzw. Raffung des Tempos, Transposition in andere Tonarten, Herausarbeiten charakteristischer farblicher Nuancen innerhalb des Textes springen, Zeilen mehrfach wiederholen, Kontinuität unterbrechen, verschiedene Lesarten der gleichen Stelle vergleichen Permutation von Klangfarben; Ausnutzung von besonderen Klangmöglichkeiten Hinzufügung frei erfundener Klänge als Vor-, Zwischen-, Nach- oder simultane Zuspiele; Überleitungen; Verschiebung der Klänge im Raum Gänge der Musiker im Raum keimhafte musikalische Figur, aus der das ganze Lied sich zeitlich entfaltet; Stimuli und Onomatopoetik LESEN: ORCHESTER: KONTRAFAKTUR: BEWEGUNG: KLANGCHIFFRE: ABKÜRZUNGEN: Nr. Interpretation F I: BO: Fernorchester I Bühnenorchester F II: P: Fernorchester II Publikum Lesen Orchester Kontrafaktur Wdh., Springen im Text, Lesartenvergleich, Collage, herausgeschnittene Passagen werden neu zusammengestellt Beginnt mit bidermeierlichem Streichquartett um sich im Folgenden vom „Schubertschen“ Klang fortwährend zu distanzieren - Introduktion: Fl., Ob., Kl., Trp., 58 Takte Hn., ziehen erst im onomatoVerlauf des VS ein poetsiches Marschieren - Verstärkung der Stimme - 16taktiges Zwischenspiel (T. 161-176) Bewegung Klangchiffre 1 - ändert Taktart: 2/44/4 - Taktwechsel - autographe Tempoangabe - Rezitierte Textpassagen werden den gesungenen gegenüber gestellt 2 - ändert Taktart: 6/84/4 - Tempowechsel - Taktdehnung - autographe Tempoangabe Windmetapher wird durch Windmaschine, Becken und „tonloses“ Blasen der Blechbläser ausgefüllt. Wehen des Windes 3 - autographe Tempoangabe Xylorimba, Harfe= transparent gläserner Klang Streicher: c.l.b.; pizz., trem.; Frost u. Eis / Biedermeierliches Steichquartett Wärme (T.33f.) Klirren des Eises 275 Schritte Vgl.: Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 222-223. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 110 - Taktwechsel - autographe CHRISTGEN Tempoangabe 4 - JANINE Ob.I, Kl.I in Zuschauerraum Ob.I, Kl.I spielend im Zuschauerraum / Verzweifelte Suche nach Vergangenem Säuseln der Blätter im Wind 5 - autographe Tempoangabe - Tempowechsel 6 - Transposition in Schuberts autographe Tonart fis-moll - abweichende Tempoangabe - Hervorhebung des daktylischen Rhythmus Absetzen der Strophen: 2. Str.: Melodie in Pos., Text rezitiert Zenders Auseinandersetzung mit der Problematik strophischen Vertonens Eis = Streicher: c.l.b., gliss., salt., trem., Flageolett/ Posaunenkantilene Assoziation jüngstes Gericht 7 - autographe Tempoangabe Wdh, Unterbrechung des Sprachflusses/ der Kontinuität, Lesartenvergleich Instrumentation wächst mit der Zunahme der Aufregung des lyr. Ich - Dehnung des VS - Auskomponiertes „Schwellen“ Dur-MollKonfrontation Wechsel des Klangcharakters - löst Melodiesegmente aus Schuberts Vorspiel und gestaltet aus diesem Material ein neues Klangbild Trp., Pos. F I Schritte Schlagzeug III, Fg. I, Kl.I F I Fl.I, Ob.I , Schlagzeug IV FII - Raumklang durch Verteilung der Musiker auf die verschiedenen Orchesterpositio nen - Echos: machen die Verirrung des Wanderers räumlich deutlich Trp., Pos. = F I Schlagzeug III, Fg. I, Kl.I = F I Fl.I, Ob.I, Schlagzeug IV = F II 8 9 Volkstümliche Instrumentation Überhöhung/ Kitsch offenbart den falschen Schein / Kontrast zur onomatopoetisch gestalteten 3. Strophe Abspaltungen aus Melodiesegmenten bilden VS, ZS und NS Kontrast zur originale Strophengestalt Mundharmonika entfernt sich Raumklang Ob.I, Kl.I zurück zum Orchesterplatz Verzwei felte Suche nach Vergangenem Klirren des Eises Halluzination und Irrlichter MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 111 Zurückgenomme ne Besetzung: Streicher, Akkordeon, Xylorimba, Harfe 10 - JANINE CHRISTGEN 11 - autographe Tempoangabe - Rezitierter Text: Hervorhebung, wirkt wie Apostrophe ans Publikum Traum: biedermeierliche Streicher; Realität: Bläser 12 - Suche nach der „richtigen“ Tonart Herabsinken von d-moll nach h-moll - kontinuierliche Verlangsamung des Tempos „Verschleppen“ Wdh, Collage von Textfragmenten, Kontinuitätsbruch, Lesartenvergleich Harter Klang der Holzbalken als Kontrast zum Klangcharakter des biedermeierlichen Streichquartetts Ü 13 - Tempowechsel Collage, Wdh., Lesartenvergleich, Fl.I+II, Ob.I+II, Kl. I+II, Fg. I+II, Hn., Trp., Pos., = F I - Klangopposition von Bläsern und Streichern Nach 11: Trp., Schlagzeug IV verlassen Raum Fg. I+II, Schlagzeug III BO Ausschließlich Holzbalken Zwischenaktmusik KEINE BEWEGUNG Schritte Horn, Trompete und Trommel nähren sich onomatopoetische Umsetzung der Postkutsche (Nahen) - Dehnung des VS - Raumklang, durch verteiltes Orchester - Verstärkung - Dehnung des NS Auflösung/ Fragmentierung Rückweg der Bläser BO Schlagzeug IV, Trp. Auftritt von außen ins BO 14 - Dehnung NS 15 - freie Zusammenstellung von Melodiesegmenten aus Schuberts Vorlage in VS und NS 16 17 - Kontradiktion von legato und c.l.b., pizz., stacc., Antagonismus von Rast in Wanders chaft Funerale Bläsergruppe / biedermeierliche Streichergruppe - trem.= zitterndes Laub - Erweiterung des unaufhörlichen Fallens der Blätter Onomatopoesie - Ende: G.P. - Knurren der Hunde: Vl. Und Trommel dem VS vorausgesetzt - Halluzination und Irrlichter - Krähen der Hähne Ob. I+II, Kl. I+II, Hn., Innere Pos., P Zerrissenheit Posthorn Alter und Tod Flug und Rufe der Krähe Zittern der fallenden Blätter Knurren der Hunde MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 112 18 - Triolen Sechstolen - JANINE CHRISTGEN - Kontinuitätsbruch, Akustischer Dauerregen durch Einsatz von Regenblechen - Erweiterung des VS - Erweiterung des „Zwischenspiels“ - Erweiterung des NS - Zerreißen der Motive Collage Original gänzlich zerrissen - Einfügungen von Pausen Innere Zerrissenheit - Wdh., Kontinuitätsbruch, Lesartenvergleich, - durchsichtige/ transparente Instrumentation - häufige Flageoletts, c.l.b., pizz. Täuschung - 35 Takte „Täuschung“ gehen dem VS voraus - erweitertes ZS - erweitertes NS Wehen des Windes + Halluzination und Irrlichter - Erweitert Prolongationen der Schubertschen Vorlage Verlust des Bewegungsimpulses Wandermotiv (unfreiwilliges Wandern und Orientierungslosigkeit) - Funeraler Bläsersatz keine Streicher - Trommelwirbel: Zeichen zur Hinrichtung Auskomponierte Fermate Schuberts Resignation choral funerale Elemente - 3 Windmaschinen - exponiertes Schlagwerk - Onomatopoetischer Einschub mit Motivverarbeitungen (T.77-90) Wehen des Windes - Erweiterung des VS Aufbau einer polyrhyth. Gesamtstruktur konkurrierende Tempi - Erweiterung der ZS - Erweiterung NS 3 Sonnen = 3 Rhythmusvarianten - Einfügungen führen zu Taktwechseln 19 20 21 - ändert Taktart: C 8/8 22 - g-Moll erst nach Phase tonaler Orientierungslosigkeit erreicht - Schwanken der Metrik/ Taktwechsel - Taktwechsel - polyrhythmische Gesamtstruktur 23 - Wdh., Springen im Text, Lesartenvergleich - wdh., Kontinuitätsbruch MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 113 - Transposition in Schuberts CHRISTGEN autographe Tonart h-moll versperrt den Bezug zum Beginn - Taktwechsel 24 - JANINE - Verklingen durch sich entfernen der Musiker - Erweiterung von VS/ NS - Ereiterung der Quintschichtung - polyrhyth. Und polymel. Schichtungen harmonisch – räumliche Stabilität schwindet Alle Bläser (außer Pos.) verlassen nacheinander den Raum Leere Quinten der Leier MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 114 - JANINE CHRISTGEN IX Vergleich der Melodieführung in Lied 4 und 5 „Der Lindenbaum“ -Nr. 5- „Einsamkeit“ -Nr. 4- MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 115 - JANINE CHRISTGEN X Liszts Transkription des „Lindenbaums“ MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 116 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 117 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 118 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 119 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 120 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 121 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 122 - JANINE CHRISTGEN XI Retardation (Lied 12) Retardation 140 120 Tempo 100 80 Holzbalken 60 Streicher 40 20 0 1 2 3 4 Abschnitt Holzbalken Streicher 115 102 91 83 Proporz 102 91 83 74 1,125 1.121 1,1 1,1 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 123 - JANINE CHRISTGEN XII Tempovarianz (Lied 13) 120 100 Tempo 80 60 40 20 0 1 34 45 48 56 60 68 80 86 90 95 102 106 124 Takte TAKT 1 TEMPO 66 34 88 45 99 48 66 56 77 60 66 68 77 80 99 86 88 90 99 95 66 102 55 106 22 124 66 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 124 - JANINE CHRISTGEN XIII Formaler Ablauf von Lied 22 Formteil Benennung Ablauf I VORSPIEL T.1-17 II 1. STROPHE (Minore) 1. Anlauf: T.18-19 (f-Moll) Wind: T. 20-23 2. Anlauf: T. 24-27 (a-Moll) Wind: T. 28 3. Anlauf: T. 29-33 (fis-Moll) Wind: T. 34-36 4. Anlauf T. 37-41 (g-Moll = Originaltonart) Wind: T. 42-43 Fortsetzung: T. 44-48 (g-Moll) III IV COLLAGE 2. STROPHE V VI VII WIND -COLLAGE 2. STROPHE - NEU MAGGIORETEIL T. 49-59 Verarbeitung des Schubertschen Materials T. 59-66 – setzt nicht in g-Moll, sondern in b-Moll an Suche nach der „richtigen Tonart“ beginnt von Neuem T. 65-66 – Zwischenspiel T. 67-71 – Ansatz in a-Moll statt g- Moll Suche nach richtiger Tonart setzt sich fort T. 72-73 – „Echo“ der Singstimme T. 74-77 – Beginn des Maggioreteils, aber E-Dur statt G-Dur T. 77-90 – Verarbeitung Schubertscher Motive T. 90-104 – Minoreteil wird in der Originalgestalt wiederholt T. 105-127 T. 128-147 – Abspaltungen und Zerreißen des Schubertschen Materials MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 125 - JANINE CHRISTGEN XIV Rhythmus und Melodieschichten in Lied 22 XIV.1 Rhythmus und Melodiemodelle Schuberts A1 A2 Vgl:: Schubert Lied 22 Takt 41 – li. Hand Klavier A B1 B C D B2 Vgl.: Schubert Lied 22 Takt 39f. - Singstimme Vgl.: Schubert Lied 22 Takt 41 – li.Hand Klavier Vgl.: Schubert Lied 22 Takt 45 - Klavier MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 126 XIV.2 Zenders Collage der Melodie- und Rhythmusmodelle Schuberts - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 127 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 128 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 129 - JANINE CHRISTGEN XV Rhythmusmodelle in Lied 24 MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 130 - JANINE CHRISTGEN XVI Bilder der Inszenierung Neumeiers BILD I: BÜHNE MIT DEN JUGENDBILDERN DER TÄNZER IM HINTERGRUND MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 131 - JANINE CHRISTGEN BILD II: BÜHNE MIT VIDEOSEQUENZEN AUS DER JUNGEND DER TÄNZER BILD III/ IV: VERDEUTLICHUNG DER QUALEN DES WANDERERS DURCH DEN MYTHOLOGISCHEN VERWEIS AUF THANTALUS MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 132 - JANINE CHRISTGEN BILD V: DURCH GLASCHEIBE GETRENNTE MENSCHEN – ZUR VERDEUTLICHUNG DER DISTANZ ZWISCHEN DER INDIVIDUEN, BEI GLEICHZEITIGER VISUELLER NÄHE. BILD VI: DURCH GLASCHEIBE GETRENNTE MENSCHEN – ZUR VERDEUTLICHUNG DER DISTANZ ZWISCHEN DER INDIVIDUEN, BEI GLEICHZEITIGER VISUELLER NÄHE. MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 133 - JANINE CHRISTGEN BILD VI: VEREINZELTES INDIVIDUUM, MIT ÜBERGROSSEM PULLOVER, DER DIE UNVERBINDBARKEIT VON SUBJEKT UND WELT SPIELGELT, DA DIESE JENEM GLEICHFALLS ZU GROSS GEWORDEN IST, IHN ÜBERFORDERT. BILD VII: DAS VEREINZELTE INDIVIDUUM VERSUCHT ZUGANG ZUR WELT ZU FINDEN. BILD VIII: KONTAKT – GLEICHE BEWEGUNGSABLÄUFE SIGNALISIEREN KOMMUNIKATION MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 134 - JANINE CHRISTGEN BILD IX/X/XI: VEREINZELTE INDIVUDUUEN AUF DER BÜHNE MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 135 - JANINEXVII CHRISTGEN Partitur ausgewählter Lieder aus Schuberts „Winterreise“ MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 136 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 137 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 138 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 139 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 140 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 141 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 142 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 143 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 144 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 145 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 146 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 147 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 148 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 149 - JANINE CHRISTGEN MAGISTERARBEIT –ZENDERS WINTERREISE– JANINE CHRISTGEN 150 - JANINEXVIII CHRISTGEN Partitur ausgewählte Lieder aus Zenders „Winterreise“