henze wagner schumann - Münchner Philharmoniker

Transcription

henze wagner schumann - Münchner Philharmoniker
HENZE
»Nachtstücke und Arien«
WAGNER
»Morgendämmerung«
»Siegfrieds Rheinfahrt«
»Siegfrieds Tod«
»Trauermarsch« aus
»Götterdämmerung«
SCHUMANN
3. Symphonie »Rheinische«
TRINKS, Dirigent
BARAINSKY, Sopran
Mittwoch
29_06_2016 20 Uhr
Donnerstag
30_06_2016 20 Uhr
Freitag
01_07_2016 20 Uhr
Tangente – Manufakturklassiker
made in Glashütte, Germany.
HANS WERNER HENZE
»Nachtstücke und Arien«
1. Nachtstück I
2. Aria I »Wohin wir uns wenden im Gewitter der Rosen«
3. Nachtstück II
4. Aria II »Mit schlaftrunkenen Vögeln«
5. Nachtstück III
RICHARD WAGNER
»Der Ring des Nibelungen«
Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend
Dritter Tag: »Götterdämmerung«
Vorspiel:
1. Tagesgrauen und Sonnenaufgang
2. Siegfrieds Abschied und Rheinfahrt
3. Aufzug:
1. Siegfrieds Todeserlösung
2. Trauermusik nach Siegfrieds Tod
ROBERT SCHUMANN
Symphonie Nr. 3 Es-Dur op. 97
»Rheinische«
1. Lebhaft | 2. Scherzo: Sehr mäßig
3. Nicht schnell | 4. Feierlich | 5. Lebhaft
CONSTANTIN TRINKS, Dirigent
CLAUDIA BARAINSKY, Sopran
118. Spielzeit seit der Gründung 1893
VALERY GERGIEV, Chefdirigent
PAUL MÜLLER, Intendant
2
»Zu allen Sinnen
sprechend«
MARCUS IMBSWEILER
HANS WERNER HENZE
(1926–2012)
»Nachtstücke und Arien«
1. Nachtstück I
2. Aria I »Wohin wir uns wenden im Gewitter
der Rosen«
3. Nachtstück II
4. Aria II »Mit schlaftrunkenen Vögeln«
5. Nachtstück III
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
Geboren am 1. Juli 1926 in Gütersloh /
Westfalen; gestorben am 27. Oktober 2012
in Dresden.
ENTSTEHUNG
Im Sommer 1955 erhielt Henze einen Kom­
positionsauftrag des Südwestfunks für die
Donaueschinger Musiktage: eine Kammer­
oper »in der Art eines neuen ›Così fan tut­
te‹«. Als Librettistin war Ingeborg Bach­
mann (1926–1973) vorgesehen, die zu
diesem Zweck im Frühjahr 1956 nach Nea­
pel zu Henze zog. Das Projekt scheiterte
aus diversen technischen und inhaltlichen
Gründen; einer ersatzweise ins Spiel ge­
brachten Cocteau-Vertonung erging es
nicht besser. Schließlich akzeptierte Hen­
ze den Vorschlag seines Verlegers Willy
Strecker, für die bereits engagierte Beset­
zung (Sopran und Orchester) ein Werk auf
Grundlage von Gedichten Bachmanns zu
schreiben, was er dann im ersten Halbjahr
1957 in die Tat umsetzte.
Hans Werner Henze: »Nachtstücke und Arien«
3
TEXTVORLAGE
Ausgangspunkt war der Vierzeiler »Im Ge­
witter der Rosen« aus Bachmanns Gedicht­
band »Die gestundete Zeit« (1953), den
die Autorin auf Wunsch Henzes um eine
zweite Strophe erweiterte. Das zweite Ge­
dicht, »Freies Geleit«, schrieb Bachmann
neu, allerdings auf Grundlage des verwor­
fenen Opernlibrettos.
WIDMUNG
Gewidmet ist das Werk einem neapolitani­
schen Freund Henzes, dem Juristen Giulio
di Majo (1933–2013), der sich zu jener
Zeit entschloss, ein Kompositionsstudium
aufzunehmen. 1959 richtete er Henze die
Ballettpantomime »Des Kaisers Nachtigall«
nach Andersens Märchen ein.
URAUFFÜHRUNG
Am 20. Oktober 1957 in Donaueschingen im
Rahmen der Donaueschinger Musiktage
(Symphonieorchester des Südwestfunks
unter Leitung von Hans Rosbaud; Solistin:
Gloria Davy). Die »Neue Zürcher Zeitung«
sprach von einer »blendenden« Darbietung
der Sängerin und einem »überlegenen« Or­
chester; Henze selbst lobte die »glänzend
dirigierte« Aufführung.
Manchmal stellen schon Werktitel einen
Affront dar. Für die Musikavantgarde der
1950er Jahre musste Hans Werner Henzes
»Nachtstücke und Arien« wie ein Rückfall
in längst überwundene Romantik klingen.
Der Begriff »Nachtstück«, etabliert von
Literaten wie Ernst Theodor Amadeus Hoff­
mann und Joseph von Eichendorff, war
durch Schumann in die Musik eingeführt,
später von Mahler verwendet worden. Was
auch immer der Termius an Assoziationen
auslöste – Einsamkeit des Individuums,
Hinwendung zur Natur –, stand quer zum
Schaffen der Nachkriegsmoderne. Das galt
erst recht für die »Arien«, denen doch be­
kanntlich schon Wagner den Garaus ge­
macht hatte. Bei der Donaueschinger Ur­
aufführung des Werks kam es denn auch
zum Eklat. Schon nach wenigen Takten,
umrauscht von flirrenden Streicherklän­
gen und dem Glitzern der Harfen, verließen
die drei anwesenden Vertreter des musika­
lischen Fortschritts, Pierre Boulez, Luigi
Nono und Karlheinz Stockhausen, Türen
schlagend den Saal. »So entwanden sie
sich den Schönheiten meiner jüngsten Be­
mühungen«, konstatierte Henze grimmig.
FLUCHT NACH ITALIEN
Auch wenn man den Wahrheitsgehalt dieser
Anekdote nicht überbeanspruchen sollte
– Boulez behauptete, sie habe sich nicht im
Rahmen der Premiere, sondern bei der Ge­
neralprobe zugetragen –, steht doch fest,
dass die »Nachtstücke und Arien« zum
endgültigen Bruch Henzes mit seinen
Altersgenossen führten. Vom Zentrum der
Neuen Musik, Darmstadt, hatte er sich
schon vorher ferngehalten, in der Folge
mied er auch Donaueschingen. Dabei hatte
der Dirigent Hans Rosbaud zusammen mit
dem Südwestfunk-Orchester und der afro­
amerikanischen Sopranistin Gloria Davy die
Hans Werner Henze: »Nachtstücke und Arien«
4
Hans Werner Henze (um 1960)
Hans Werner Henze: »Nachtstücke und Arien«
5
Uraufführung mustergültig vorbereitet,
und das Publikum reagierte mehrheitlich
positiv auf die ungewohnten Klänge. Aber
Henze war ja bereits seit Jahren, genauer
gesagt seit 1953, auf der »Flucht«: hatte
Deutschland den Rücken gekehrt und sich
in Italien niedergelassen, wo er jene Sinn­
lichkeit und jenes Laissez-faire vorfand,
die er zu Hause vermisste.
Zur Schwester im Geiste wurde ihm die
österreichische Dichterin Ingeborg Bach­
mann, die im selben Jahr wie Henze nach
Italien übersiedelte. In der Folgezeit fan­
den die beiden nicht nur zu Arbeitsprojek­
ten zusammen, sondern führten auch pha­
senweise einen gemeinsamen Haushalt. Für
Henze war es »die schönste Zeit meines
Lebens vielleicht (…), wo wir zusammen
lebten in einem bürgerlichen Hausstand
(…) mit sehr viel Vergnügen und einer Art
von Glück sogar und einer fabelhaften Pro­
duktion. Sie schrieb damals Gedichte, je­
den Tag, und ich komponierte, und wir leb­
ten ein wunderbares schönes reines Le­
ben.« Von Bachmann sind solche euphori­
schen Äußerungen nicht überliefert.
ARBEITSFELD DICHTUNG
UND MUSIK
Als erstes gemeinsames Projekt von Dich­
terin und Komponist darf die Ballettpanto­
mime »Der Idiot« (1953) gelten, andert­
halb Jahre später folgte das Hörspiel »Die
Zikaden«. Beiden Werken ist gemein, dass
in ihnen Bachmanns Text und Henzes Musik
ihre Eigenständigkeit bewahren; sie laufen
gewissermaßen parallel. Erst danach, ab
dem Jahreswechsel 1955/56, entstanden
Arbeiten auf Grundlage gegenseitiger Ab­
sprachen und Zielvereinbarungen. Aus
»Belinda«, einem gescheiterten Opern­
projekt um eine Schönheitskönigin, für die
keine Geringere als Maria Callas vorgese­
hen war, gingen auf Umwegen schließlich
die »Nachtstücke und Arien« hervor. Noch
1957 nahm das nächste Projekt, die Oper
»Der Prinz von Homburg« (uraufgeführt
1960), Gestalt an, bevor »Der junge Lord«
1965 den Höhepunkt der Zusammenarbeit
zwischen Bachmann und Henze darstellte.
Dabei durchlief vor allem die Dichterin ei­
nen Reifeprozess. Über ihre ersten Versu­
che, ein Libretto zu schreiben, urteilte sie
rückblickend: »Es misslang, wie kläglicher
kaum etwas misslingen kann«, denn da
»verwechselte ich Arien mit Gedichten, Re­
zitative mit Dialogen usf.« Henze dagegen
blühte auf, sah in der Verbindung von Mu­
sik und Sprache geradezu die Essenz sei­
nes Schaffens. Hatte er auf rein instru­
mentalem Gebiet immer wieder »Schwie­
rigkeiten, den Grund oder den Sinn einer
Entwicklung aus abstrakten Motiven zu
erkennen«, fühlte er sich bei Wort-Ton-­
Verhältnissen frei und inspiriert: »weil
dort alles so dinglich ist, so greifbar, so zu
allen Sinnen sprechend«.
»GENIAL UND BETÖREND«
Und genau diese Sinnlichkeit war es, die bei
der Uraufführung der »Nachtstücke« man­
che Kollegen und Kritiker argwöhnen ließ,
Henze sei nun endgültig ins Lager der Neo­
romantiker übergelaufen. Ein »Verrat« an
den Idealen der Moderne, wenn auch mit
größter Klangraffinesse und bewunderns­
werter Subtilität ausgeführt. So empfand
ein ausgesprochener Kenner der Neuen
Musik wie Hans Heinz Stuckenschmidt Hen­
zes Komposition als »oft genial und betö­
rend, dann aber wieder in bedenklicher
Nähe einer Saccharinsüße und Technicolor­
buntheit, die fast schockierend wirkt«.
Hans Werner Henze: »Nachtstücke und Arien«
6
Schockierend, um einmal dieses Wort auf­
zugreifen, war aus dem Blickwinkel der
Avantgardisten allerdings nicht erst das
Klangresultat der »Nachtstücke«, sondern
bereits Henzes Herangehensweise, sein
Umgang mit dem zu vertonenden Text. Al­
lein die Tatsache, dass er Bachmanns Ver­
se ernst nahm, dass er versuchte, ihrem
Inhalt eine passende musikalische Gestalt
zu geben, lief den Bestrebungen der Mo­
derne zuwider. Komponisten wie Boulez
und Stockhausen, später Ligeti und Schne­
bel nutzten Sprache zunehmend selbst als
Lautereignis und trennten so den Klang
und die Bedeutung eines Wortes voneinan­
der. Eine Vertonung im herkömmlichen Sinn
empfanden sie als Unterordnung.
STRATEGIEN DER VERTONUNG
Nun lässt sich die Art und Weise, wie Hen­
ze mit den Zentralbegriffen von Bach­
manns Dichtung umgeht, durchaus als tra­
ditionell bezeichnen. »Rosen«, »Nacht« und
»Donner« hebt er in Aria I jeweils melisma­
tisch hervor, die Anrufung der »ferneren
Nacht« wird in mystisches Pianissimo-Licht
getaucht, und die folgende Triolenbewe­
gung erinnert an Wellengesäusel. Gleich­
wohl erschöpft sich die Musik nicht in die­
ser dienenden Rolle, sondern erweist sich
als eigen- bis widerständig. So ergreift
gegen Ende des Gedichts, konträr zum
Rückzug des lyrischen Ichs, plötzlich das
Horn die Initiative und schwingt sich zu
großer melodischer Geste auf – als leihe die
Natur selbst dem Menschen ihre Stimme.
Ähnlich Aria II: Auch hier scheut sich Henze
nicht vor illustrativen Momenten, pendeln­
den »Wasser«-Figuren oder »Zornesblit­
zen«, die durch das Orchester hallen. Die
Tiermetaphern »Fisch«, »Nachtigall« und
»Salamander« verpackt er in individuelle
melodische Floskeln, ordnet ihnen sogar
spezielle Soloinstrumente zu: Bratsche,
Oboe, Klarinette. Parallel hierzu erklingt im
Orchester, ausgehend von den tiefen Strei­
chern, ein markantes Gebilde, das im Stil
einer Passacaglia durch die Stimmen wan­
dert und dem Gedichttext eine eigene
»Sprachlichkeit« entgegensetzt.
INSTRUMENTALE KOMMENTARE
Und dann sind da ja noch die drei »Nacht­
stücke«, die das Verlautbarte mit ihren
spezifisch instrumentalen Mitteln kom­
mentieren, erweitern, rahmen: kantable
Linienführung in Nachtstück I, Zwölfton­
passagen in II, Arbeit mit Kontrastfeldern
in III. Wie ein Fanal wirkt der Beginn mit der
langgezogenen Horn-Kantilene, die einer­
seits Ahnungen von Ferne, Traum und
Sehnsucht weckt, andererseits auf die Rol­
le des Horns in der nachfolgenden Aria ver­
weist. Nachtstück II ist formal ganz ähnlich
angelegt wie die Aria II, nämlich ebenfalls
sechsteilig, und es lassen sich sogar in­
haltliche Entsprechungen finden. So mar­
kieren im Nachtstück ein Marschrhythmus
und der Einsatz des Tamburo militare den
Beginn des 3. Teils; dem entspricht in der
Aria die 3. Strophe mit ihrer Warnung vor
atomarer Zerstörung.
Nachtstück III wiederum bedient sich ausgie­
big einer Wendung, die erstmalig in Aria I
erklingt, sehr deutlich dann am Ende von Aria
II: Nach dem Vers »jeden Tag aus der Nacht
haben« ist sie dort in den Blechbläsern zu
hören, als kurzer, hymnischer Einschub. Es
handelt sich um ein Selbstzitat Henzes, eine
Klangchiffre aus dem parallel entstandenen
Ballett »Undine«. Und das darf man durch­
aus programmatisch verstehen: Undine,
Hans Werner Henze: »Nachtstücke und Arien«
7
Hans Werner Henze mit Ingeborg Bachmann bei den Proben zur Uraufführung der Oper
»Der junge Lord« in Berlin (1965)
Zwittergestalt zwischen Mensch und Natur,
erinnert an unsere krea­türlichen Wurzeln, an
unsere Verantwortung für eine Welt, der wir
selbst entspringen – »dass noch tausend
und ein Morgen wird«, wie es bei Bachmann
heißt. Gleichzeitig symbolisiert Undine für
Henze die Kunst selbst: als Möglichkeit,
Überzeitlich-Ewiges wenn nicht abzubilden,
so doch wenigstens erahnbar zu machen.
Hans Werner Henze: »Nachtstücke und Arien«
8
Vom Morgenlicht
zum Abendrot
WOLFGANG STÄHR
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
RICHARD WAGNER
(1813–1883)
»Der Ring des Nibelungen«
Ein Bühnenfestspiel für drei Tage und einen
Vorabend
Dritter Tag: »Götterdämmerung«
Vorspiel:
1. Tagesgrauen und Sonnenaufgang
2. Siegfrieds Abschied und Rheinfahrt
3. Aufzug:
1. Siegfrieds Todeserlösung
2. Trauermusik nach Siegfrieds Tod
Geboren am 22. Mai 1813 in Leipzig; ge­
storben am 13. Februar 1883 in Venedig.
ORIGINALTITEL
»Der Ring des Nibelungen. Ein Bühnenfest­
spiel für drei Tage und einen Vorabend.
Dritter Tag: Götterdämmerung.« Ur­
sprünglicher Titel: »Siegfried’s Tod«, 1856
umbenannt in »Götterdämmerung«.
ENTSTEHUNG
»Die Nibelungensage (Mythus)«, Prosa-­
Urfassung der »Ring«-Tetralogie »als Ent­
wurf zu einem Drama« am 4. Oktober 1848
abgeschlossen; im selben Monat Prosa­
entwurf zu »Siegfried’s Tod«, der späteren
»Götterdämmerung«; die Versdichtung
entsteht in mehreren Arbeitsphasen zwi­
schen dem 12. November 1848 und dem 15.
Dezember 1852 in Dresden und Zürich.
Erste musikalische Notizen und Orches­
terskizzen zum Vorspiel von »Siegfried’s
Tod« im Sommer 1850; Komposition der
»Götterdämmerung« zwischen dem 2. Ok­
tober 1869 und dem 21. November 1874 in
Tribschen und Bayreuth.
Richard Wagner: »Götterdämmerung«
9
URAUFFÜHRUNG
»DANKT IHM, DEM HELDEN«
Konzertante Voraufführungen von Auszü­
gen aus dem Vorspiel, dem ersten und drit­
ten Akt: Am 1. März und 6. Mai 1875 in
Wien im Großen Musikvereinssaal (Diri­
gent: Richard Wagner). Szenische Gesamt­
aufführung: Am 17. August 1876 in Bay­
reuth im Bayreuther Festspielhaus (Diri­
gent: Hans Richter; Brünnhilde: Amalie
Materna, Siegfried: Georg Unger, Hagen:
Gustav Siehr).
Von Anfang an war das Ende der Götter ein
offenes, ungelöstes oder, besser gesagt,
vielfach und widersprüchlich gelöstes
Problem. Als Richard Wagner im Herbst
1848 die »Nibelungensage« skizzierte, die
Prosa­-Urfassung der späteren »Ring«­Tetralogie, dachte er sich Brünnhildes
Schlussworte in etwa so: »Hört denn, ihr
herrlichen Götter, euer Unrecht ist getilgt:
dankt ihm, dem Helden, der eure Schuld auf
sich nahm. Er gab es nun in meine Hand das
Werk zu vollenden: gelöst sei der Nibelun­
gen Knechtschaft, der Ring soll sie nicht
mehr binden: nicht soll ihn Alberich emp­
fangen, er soll nicht mehr euch knechten,
dafür sei er aber selbst auch frei wie ihr:
denn diesen Ring stelle ich euch zu, weise
Schwestern der Wassertiefe; die Glut, die
mich verbrennt soll das böse Kleinod reini­
gen, ihr löset es auf und bewahret es harm­
los das Rheingold, das euch geraubt um
Knechtschaft und Unheil daraus zu schmie­
den. Nur Einer herrsche, Allvater ! Herrli­
cher ! Du ! Daß ewig deine Macht sei, führ’
ich dir diesen zu: empfange ihn wohl, er ist
es wert !« Aus dem läuternden Feuer – so
schildert es Wagner in diesem Entwurf von
1848 – steigt die Walküre Brünnhilde em­
por, waffengeschmückt und hoch zu Ross,
um gemeinsam mit Siegfried Einzug zu hal­
ten in Walhall, dem Machtzentrum einer
neuen, entsühnten und gerechten Herr­
schaftsepoche.
»DIESE UNAUSMISTBAREN
AUGIASSTÄLLE«
Wie alle Fassungen, Wandlungen und Meta­
morphosen, die der »Ring«-Zyklus im
Laufe der Jahre erfuhr, spiegelt auch
diese früheste Version Wagners politisch-­
philosophischen Reflexionsstand zum Zeit­
Richard Wagner: »Götterdämmerung«
10
Richard Wagner (März 1860)
Richard Wagner: »Götterdämmerung«
11
punkt der Entstehung. Wenige Wochen
zuvor hatte er im »Dresdener Anzeiger«
einen Artikel veröffentlicht unter dem Titel
»Wie verhalten sich republikanische Be­
strebungen dem Königtume gegenüber ?«
Darin hatte Wagner gefordert, »daß der
König der erste und allerechteste Republi­
kaner sein« solle und im selben Atemzug
gefragt: »Ist Einer mehr berufen, der
wahrste, getreueste Republikaner zu sein
als gerade der Fürst ?« Vor diesem Hinter­
grund erscheint »Wotans aufgeklärter Ab­
solutismus« (Martin Gregor-Dellin), wie ihn
Brünnhilde in der Schlussansprache des
48er-Entwurfs proklamiert, verständlich
und in gewisser Weise auch plausibel. Wal­
hall bleibt bestehen. Die Götterdämmerung
findet nicht statt. Und doch entdeckt man
bei genauer Lektüre der von Wagner auf­
gezeichneten »Nibelungensage« einen Wi­
derspruch im System, einen versteckten,
aber bedeutungsvollen Hinweis, aus dem
sich Wotans und Walhalls Untergang mit
dramaturgischer und politischer Notwen­
digkeit ableiten lässt. Denn Wagner
schreibt: »Zu dieser hohen Bestimmung,
Tilger ihrer eigenen Schuld zu sein, erzie­
hen nun die Götter den Menschen, und ihre
Absicht würde erreicht sein, wenn sie in
dieser Menschenschöpfung sich selbst ver­
nichteten, nämlich in der Freiheit des
menschlichen Bewußtseins ihres unmittel­
baren Einflusses sich selbst begeben müß­
ten.«
Diese an Feuerbach gemahnenden Worte
zielen unausweichlich auf das Ende der
Götter, auf ihre »Selbstvernichtung«.
Nach der Niederschrift der Textdichtung
zu »Siegfried’s Tod«, der Ur- und Vorform
der »Götterdämmerung«, begann Wagner
sehr bald schon, Brünnhildes Abschieds­
rede an den »Allvater« Wotan inhaltlich zu
korrigieren – mit tiefgreifenden Folgen.
»Erbleichet in Wonne vor des Menschen
Tat«, ließ er Brünnhilde jetzt ausrufen,
»vor dem Helden, den ihr gezeugt ! / Aus
eurer bangen Furcht / verkünd’ ich euch
selige Todeserlösung !« Bei dieser eher va­
gen Verkündigung konnte Wagner natürlich
nicht stehenbleiben. 1852, als sich »Sieg­
fried’s Tod« zur Tetralogie geweitet hatte,
fixierte er die endgültige Schlussversion,
mit der sich die »Todeserlösung« der Göt­
ter im Brand Walhalls konkretisierte: ein
symbolischer Akt für den Zusammenbruch
der alten, an der »eigenen Schuld« zugrun­
de gegangenen Weltenordnung, überdies
ein spektakulärer Theatercoup – und nicht
zuletzt eine fixe Idee Richard Wagners: In
revolutionärem Eifer hatte er sich 1850 an
der Vorstellung berauscht, wie »der Brand
von Stadt zu Stadt hinzieht, wenn sie end­
lich in wilder Begeisterung diese unausmist­
baren Augiasställe anzünden, um gesunde
Luft zu gewinnen«.
»WAGNERS GESTALTEN SIND
UNFREI«
Was aber ist wirklich geschehen in der
»Götterdämmerung«, deren Partitur Wag­
ner schließlich am 21. November 1874 voll­
endete, über ein Vierteljahrhundert nach
der Niederschrift der »Nibelungensage« ?
Siegfried, der »hehrste Held«, erschien als
schwacher, ahnungsloser Spielball eines
finsteren Komplotts, als Opfer eines Flu­
ches, den er selbst nicht kannte, geschwei­
ge denn begriff. Und Brünnhilde, geschüt­
telt von Eifersucht und blinder Rache­
begierde, geriet zum willenlosen Objekt
übermächtiger Affekte. Sollte so der
»Mensch der Zukunft« aussehen, wie ihn
Wagner sich einst erträumt hatte ? »Wag­
ners Gestalten sind unfrei«, sagt der
Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer: »Wie
in der griechischen Tragödie sind sie
Richard Wagner: »Götterdämmerung«
12
gleichzeitig die Erleidenden und die Voll­
strecker ihres individuellen Schicksals,
dem sie nicht entrinnen können und das sie
dauernd motivisch begleitet. Sie werden
gelenkt, und zwar nicht nur von Göttern,
sondern auch von dei ex machina, Liebes­
tränken, Todestränken und Zauberei. Sie
tragen schwer an der Last ihres Mythos,
der ihr Handeln vorbestimmt, den sie
selbst aber nicht wahrnehmen.«
Ein solcher zum Scheitern verurteilter Held
und unfreier Mensch ist Siegfried. Und
obendrein ist er Wotans Enkel, dessen El­
tern einem Seitensprung des Göttervaters
mit einer Menschenfrau entstammten,
aber das weiß Siegfried nicht. Er weiß oh­
nehin kaum etwas (hingegen hat er Bären­
kräfte). Siegfried ist als Waisenkind aufge­
wachsen, beim Zwergen Mime in einer
Waldhöhle. Seine einzigen Spielgefährten
waren die Tiere im Wald – Angst hat er nie
kennengelernt. Deshalb sticht er auch un­
erschrocken den Drachen Fafner ab, der
mittlerweile das Rheingold hortet. Arglos
nimmt Siegfried als Trophäe den Ring mit,
ohne auch nur zu ahnen, was er sich da
erbeutet hat. Auf seinem weiteren Weg
durchschreitet er dann tapfer einen Feuer­
wall, hinter dem er die verstoßene Wotans­
tochter Brünnhilde findet. Zum ersten Mal
in seinem Leben sieht er eine Frau – und
plötzlich bekommt es der furchtlose Sieg­
fried doch mit der Angst zu tun. »Mutter !
Mutter !«, ruft er konsterniert aus. Was
genealogisch natürlich unpräzise ist,
eigentlich hätte er sagen müssen: »Tante !
Tante !« Aber mit der Angst erwacht in un­
serem Helden auch die erotische Begierde.
Er verbringt mit Brünnhilde eine wunder­
bare Liebesnacht. Und fühlt sich am nächs­
ten Morgen gut gerüstet für neue Helden­
taten.
WAGNER-JÜNGER UND
WAGNER-HASSER
Genau an diesem Punkt, der »Morgendäm­
merung«, setzt nun der heutige Musik­
querschnitt ein. Mit seinem markanten
Hornruf verabschiedet sich Siegfried von
Brünnhilde, der Braut, und bricht zu einer
Rheinfahrt auf, die ihn an den Hof der
Gibichungen führt. Dort allerdings verfällt
er einer gemeinen Intrige. Denn seine ach
so freundlichen Gastgeber haben es in
Wahrheit nur auf den Ring abgesehen: auf
Macht und Geld. Der vertrauensselige
Siegfried ahnt wiederum nicht, was die
vermeintlichen Freunde im Schilde führen.
Bei einer Jagdpartie wird er hinterrücks
von Hagen erstochen und haucht mit einem
letzten Liebesgruß an Brünnhilde sein Le­
ben aus. Er wird aufgebahrt und mit einem
Trauerzug in die Gibichungenhalle ge­
bracht.
Zu dieser Szene hat Richard Wagner nun
einen grandiosen Orchestersatz kompo­
niert, einen tönenden Nachruf: Siegfrieds
Trauermarsch, der noch einmal leitmoti­
visch wesentliche Momente seines Lebens
in Erinnerung ruft, von der Wiege bis zur
Bahre. Eine ungeheuerliche Musik, der al­
lerdings übel mitgespielt wurde, vor allem
im nationalsozialistischen Deutschland: Sie
wurde ausgestrahlt nach der verlorenen
Schlacht um Stalingrad, und sie erklang
wieder, nachdem Hitlers Tod bekanntgege­
ben worden war. Natürlich kann Wagner
nichts für diesen Missbrauch, so viel ihm
auch vorzuwerfen wäre, etwa in Hinblick
auf seinen fanatischen Antisemitismus,
aber etwas anderes ist doch auffällig. Wag­
ners Musik ist ganz auf Überwältigung aus­
gerichtet, sie attackiert die tiefsten
Schichten des Unterbewussten, sie will es
Richard Wagner: »Götterdämmerung«
13
dem Hörer nicht erlauben, sich ihr zu ent­
ziehen. Kein Wunder, dass es kaum jeman­
den gibt, der auf Wagners Musik gleichgül­
tig reagiert: Man liebt ihn, erhebt ihn zur
Religion, wird zum Wagner-Jünger, zum
Wagnerianer, zum Pilger gen Bayreuth. Oder
man hasst ihn. Und die Wagner-Hasser sind
natürlich auch diejenigen, die sich nicht
überwältigen lassen, die sich, überspitzt
gesagt, dem Meister nicht hingeben wol­
len.
DAS UNSICHTBARE THEATER
Künstler Ihres Circus ausführen zu lassen,
in ein seltsames Erstaunen. Gegen die Aus­
führung, die ich ja wohl gar nicht einmal
verbieten können würde, weiß ich nichts
Rechtes einzuwenden. Nur bitte ich Sie,
gelegentlich mich die Sache einmal ansehen
zu lassen, wovon ich mir – unter Umstän­
den – mehr Unterhaltung verspreche, als
wenn ich dem Walkürenritte – z. B. auf dem
Berliner Hoftheater – theatralisch ausge­
führt beiwohnen müßte.« Ob Wagner dann
tatsächlich den Zirkus besuchte und seine
berittenen Schildmaiden unter der Kuppel
bewundern durfte, ist nicht überliefert.
Für seine Verehrer aber ist Wagners Musik
nicht von dieser Welt und viel zu schade für
das plumpe und peinliche Treiben auf der
Bühne. »Es ist ein Verhängnis, daß die
größten Komponisten ihre Werke für diese
Sau-Anstalt von Theater schreiben muß­
ten, die ihrer Art nach jede Vollkommenheit
ausschließt«, ereiferte sich etwa Gustav
Mahler. In diese Klage hätte wohl auch Wag­
ner selbst eingestimmt, jedenfalls in den
finsteren Stunden seiner historischen Mis­
sion. »Ach, es graut mir vor allem Costümund Schminke-Wesen«, gestand er verbit­
tert ein. Überaus unangenehm fühlte er
sich an die »ekelhaften Künstlerfeste« mit
ihrem Mummenschanz erinnert, wenn er
die Produktionen der zeitgenössischen
Opernhäuser zu Gesicht bekam: »Und
nachdem ich das unsichtbare Orchester
geschaffen, möchte ich auch das unsicht­
bare Theater erfinden !«
1878 erreichte Wagner eine förmliche An­
frage des Zirkus Renz, der auf die verwe­
gene Idee verfallen war, den »Walküren­
ritt« in der Manege zu präsentieren. Der
Bayreuther Meister antwortete: »Ew.
Wohlgeboren setzen mich durch Ihre Ab­
sicht, eine Scene der ›Walküre‹ durch die
Richard Wagner: »Götterdämmerung«
14
»Ein Stück Leben
widergespiegelt«
REGINA BACK
ROBERT SCHUMANN
(1810–1856)
Symphonie Nr. 3 Es-Dur op. 97
»Rheinische«
1. Lebhaft
2. Scherzo: Sehr mäßig
3. Nicht schnell
4. Feierlich
5. Lebhaft
LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN
Geboren am 8. Juni 1810 in Zwickau; ge­
storben am 29. Juli 1856 in einer Nerven­
heilanstalt in Endenich bei Bonn.
ENTSTEHUNG
Unmittelbar nachdem Schumann im Sep­
tember 1850 von Dresden nach Düsseldorf
umgezogen war, begann er mit der Arbeit
an seinem (einzigen) Cellokonzert a-Moll
op. 129, dem er vom 2. November bis 9.
Dezember 1850 die Komposition einer neu­
en, ursprünglich 4-sätzigen Symphonie
folgen ließ. Ihre schon bald eingebürgerte
Bezeichnung »Rheinische« ist das Produkt
einer gezielten Rezeptionssteuerung durch
Schumanns Freund und späteren Biogra­
phen Wilhelm Joseph von Wasielewski
(1822–1896).
URAUFFÜHRUNG
Am 6. Februar 1851 in Düsseldorf im Rah­
men des 6. Abonnementkonzerts des All­
gemeinen Musikvereins im »Geisler’schen
Saal« (Orchester des Düsseldorfer Allge­
meinen Musikvereins unter Leitung von
Robert Schumann); auf Schumanns Sym­
phonie folgten noch eine Arie aus Haydns
»Schöpfung«, Bachs Konzert für drei Kla­
viere, die »Hero und Leander«-Ouvertüre
des früheren Düsseldorfer Musikdirektors
Julius Rietz, ein russisches Volkslied, Beet­
hovens »Fidelio«-Ouvertüre und zuletzt
zwei Klavierlieder von Schumann und Wil­
helm Taubert.
Robert Schumann: 3. Symphonie »Rheinische«
15
HOFFNUNG AUF DÜSSELDORF
»›Die kleine Stadt‹ am Rhein begrüßt ihn
auf dem Bahnhof mit Chor, Fanfaren und
Honoratioren. Er hat das Gefühl, nach einer
sehr langen und beschwerlichen Reise an­
gekommen zu sein. Was ihm zusetzte, die
Stimmen, die Schwächen, die Schmerzen,
scheint spurlos vergangen. Mit den Musi­
kern, die von seinen Vorgängern, Mendels­
sohn und Hiller, vorzüglich ausgebildet
wurden, kommt er zurecht. Und er kompo­
niert jeden Tag. Nicht einmal das Rheuma
vermag ihn so zu beunruhigen, dass er die
Arbeit unterbricht. In einem Monat ent­
steht seine 3. Symphonie, die ›Rheinische‹.
In den Sätzen des ausholenden und feierli­
chen Werkes unterläuft eine Bewegung die
Strukturen, die Motive, und im Finale sam­
melt sich diese heftige, der Musik ihren
unregelmäßigen Puls mitteilende Unruhe in
einem strahlenden Thema in H-Dur.« Mit
diesen Worten leitet der Schriftsteller
Peter Härtling in seinem 1996 erschiene­
nen Roman »Schumanns Schatten« das
Kapitel über die Düsseldorfer Zeit des Kom­
ponisten ein.
HEILSAMER ORTSWECHSEL
Vorangegangen waren die Dresdner Jahre
mit Clara und den Kindern, in denen sich
Schumanns physischer und psychischer
Zustand mehrfach krisenhaft zugespitzt
hatte. Nachdem auch die finanzielle Situa­
tion der Familie immer prekärer wurde –
Schumann konnte im Dresdner Musikleben
nicht recht Fuß fassen und hatte als Diri­
gent der dortigen Liedertafel nur eine
zweitrangige Stellung inne –, hielt er Aus­
schau nach Alternativen. Der Vorschlag des
Dirigenten und Komponisten Ferdinand
Hiller, der seit langem mit Schumann be­
freundet war, in seiner Nachfolge den Pos­
ten als Städtischer Musikdirektor in Düs­
seldorf anzutreten, kam da – trotz man­
cher Bedenken – gerade recht: »Sehr
schwer wird uns die Trennung von unserm
Sachsenland werden, – und doch ist’s auch
heilsam, aus dem gewohnten Kreislauf der
Verhältnisse einmal wieder zu neuen über­
zugehen !« (Brief an Hiller vom 19. Novem­
ber 1849).
ABSTECHER NACH KÖLN
Im Herbst 1850 zogen die Schumanns nach
Düsseldorf um. Tagebucheintragungen Cla­
ra Schumanns belegen, dass sie und ihr
Mann in der ersten Düsseldorfer Zeit aus­
giebig die Umgebung erkundeten. Sie un­
ternahmen Schiffsfahrten auf dem Rhein
und besichtigten den seit 1842 in seiner
letzten Bauphase befindlichen Kölner Dom.
Dass Schumann von den Düsseldorfer Ver­
hältnissen begeistert war, schildert an­
schaulich ein Brief an den befreundeten
Geiger Joseph von Wasielewski: »Dass Ih­
nen das hiesige musikalische wie gesellige
Leben sehr zusagen würde, glaube ich ge­
wiß. Ich bin davon im höchsten Grade er­
freut und überrascht, einmal von der Tüch­
tigkeit der Kräfte, namentlich des Chors,
dann von der Bildung des Publikums, das
nur gute Musik will und liebt !« (Brief vom
20. September 1850).
ELAN DES NEUBEGINNS
Die Aufbruchsstimmung schlug sich bei
Schumann sofort in schöpferischer Kreati­
vität nieder: In wenigen Monaten entstan­
den das Violoncello-Konzert sowie die
»Rheinische Symphonie«, chronologisch
die 4. Symphonie Schumanns, der offiziel­
len Zählung nach jedoch das dritte Werk
dieser Gattung, dem 1851 eine überarbei­
tete Version der frühen d-Moll-Symphonie
Robert Schumann: 3. Symphonie »Rheinische«
16
Eduard Bendemann: Robert Schumann, Kohlezeichnung nach einer Daguerreotypie von 1850
Robert Schumann: 3. Symphonie »Rheinische«
17
als sog. »Vierte« folgte. Die 3. Symphonie
verrät spürbar den Elan des Neubeginns,
und schon ihre knappe Entstehungszeit
vom 2. November bis zum 9. Dezember
1850 lässt ahnen, wie schnell und leicht
Schumann die Arbeit von der Hand ging. Am
6. Februar 1851 führte der Komponist in
einem Düsseldorfer Abonnementkonzert
seine Novität mit großem Erfolg auf.
»RHEINISCHES LEBEN«
Und bereits am Tag nach der Uraufführung
findet man in der »Rheinischen Musik-­
Zeitung« die Metapher vom »rheinischen
Leben«. Zum programmatischen Titel war
es also nicht mehr weit, und auch die Re­
zeptionsvorgaben für den 4. Satz wurden
hier festgeschrieben: »Wir sehen gothische
Dome, Prozessionen, stattliche Figuren in
den Chorstühlen, Posaunen, wie drei behä­
bige Prälaten den Segen ertheilend, worauf
es wieder wie Orgelklang leise zurückwallt.«
Wasielewskis Schumann-Biographie, die
1858 in Dresden erschien, festigte den
Topos von der »Rheinischen« endgültig und
verbreitete erstmals die Legende, Schu­
mann sei durch den Besuch des Kölner
Doms zur Komposition des (nachträglich
eingefügten) 4. Satzes inspiriert worden.
»Die Symphonie in Es-Dur könnte man im
eigentlichen Sinne des Wortes ›die Rheini­
sche‹ nennen, denn Schumann erhielt sei­
nen Äußerungen zufolge den ersten Anstoß
zu derselben durch den Anblick des Cölner
Domes.«
LOKALKOLORIT ZUM MITHÖREN
Auch wenn der Beiname des Werks nicht auf
ihn selbst zurückgeht, vollzog sich der Re­
zeptionsprozess in eine Richtung, die
Schumann offenbar vertreten konnte. So
heißt es in einem Brief vom 19. März 1851
an den Verleger Simrock in Bonn: »Es hät­
te mich gefreut, auch hier am Rhein ein
größeres Werk erscheinen zu sehen, und
gerade diese Symphonie, die vielleicht hier
und da ein Stück Leben widerspiegelt.« Auf
diese Weise ist heute die Rezeptions­
geschichte der Symphonie, die seither als
»Rheinische« gehört wird, Teil ihrer Werk­
gestalt. Das »Rheinische« bildet sozusa­
gen die »Folie«, um mit Schumann zu spre­
chen, vor der die Komposition gehört wird.
1. SATZ: ENERGISCHER ZUGRIFF
Zum ersten und einzigen Mal verzichtet
Schumann in einem symphonischen Kopf­
satz auf eine langsame, das eigentliche
Geschehen vorbereitende Introduktion.
Sozusagen »ohne Vorwarnung« beginnt die
Symphonie mit einem signalartigen Haupt­
thema, das schwungvoll einen weitge­
spannten Melodiebogen umschreibt. Der
energische Impetus und die Überzeugungs­
kraft des Themas resultieren aus dem auf­
trumpfend punktierten Rhythmus der Me­
lodie, die mit großen Intervallsprüngen
einen weiten Ambitus durchmisst. Was sich
beim Hören zunächst nur unterschwellig mit­
teilt, sind die metrischen Verschiebungen
zwischen dem walzerartigen Dreiviertel-­
Takt und dem an einen Marsch erinnernden
Dreihalbe-Takt. Der Wechsel des Metrums
bewirkt eine ausgreifendere, großzügigere
Bewegung und – auf den ganzen Satz be­
zogen – eine Expansion der symphonischen
Entwicklung.
Der Fluss der Gedanken in diesem Sonaten­
hauptsatz – mit einem lyrischen zweiten
Thema in Moll und einer vom Hauptthema
dominierten Durchführung – büßt an keiner
Stelle seinen mitreißenden Schwung ein.
Kurz vor der eigentlichen Reprise kehrt das
Hauptthema synkopiert und in breiter Ver­
Robert Schumann: 3. Symphonie »Rheinische«
18
größerung in den Hörnern wieder, was ihm
an dieser Stelle eine fanfarenartige Signal­
wirkung verleiht.
2. SATZ: SCHERZO MIT LÄNDLER
Traditionsgemäß wäre an zweiter Stelle
einer Symphonie der langsame Satz zu er­
warten. Stattdessen erklingt nun das als
Ländler gehaltene Scherzo. Der volkstüm­
liche Charakter dieses Satzes hat die Le­
gende genährt, Schumann habe hier das
Leben am Rhein und die romantische Be­
gegnung mit dem Landvolk kompositorisch
reflektiert. Dieser Eindruck liegt in dem
gemächlich sich wiegenden Dreiertakt be­
gründet und noch mehr in der von einfa­
chen Dreiklängen beherrschten Melodik.
Eine leichte Eintrübung erfährt der tänze­
rische Tonfall des dreiteiligen Satzes durch
den in a-Moll stehenden Mittelteil, in dem
die Bläser wie von fern herüberklingen, be­
vor der Ländler des Beginns leicht verän­
dert wiederkehrt.
3. SATZ: PASTORALE IDYLLE
Der ungewöhnlich kurze langsame Satz be­
tont sein pastorales Ambiente von Anfang
an durch eine reduzierte Instrumentation:
Holzbläser fungieren als melodietragende
Instrumente, von den Hörnern gelegentlich
sanft abgetönt und begleitet von den
Streichern. In Anlehnung an die im 19.
Jahrhundert gängigen Charakterstücke
könnte man diese pastorale Idylle auch als
eine Art »Nocturne« bezeichnen. Dazu
trägt vor allem ein typisch Schumann’sches
Stilmittel bei: das Heraufbeschwören einer
Aura der Erinnerung – der Erinnerung an
Vergangenes.
4. SATZ: POLYPHONE STRENGE
Vor dem heiter-beschwingten Finale fügte
Schumann nachträglich als 4. Satz eine
höchst ungewöhnliche Komposition ein:
eine kunstvolle Fuge, gespickt mit allen
Raffinessen polyphoner Satzkunst. Damit
bricht Schumann mit der im 19. Jahrhun­
dert geltenden Gattungsnorm der Viersät­
zigkeit, die die übliche Satzfolge: Sonaten­
hauptsatz – Langsamer Satz – Scherzo –
Finale umfasste. Dramaturgische Absicht
des Komponisten war es dabei möglicher­
weise, dem vielversprechenden, mitreißen­
den Kopfsatz ein annähernd überzeugen­
des Pendant gegenüberzustellen, d. h. ei­
nen Satz, der mit seiner »Erhabenheit«
und thematischen Dichte der organischen
Einheit des Kopfsatzes ein Gegengewicht
bieten und das Finale von dieser Bürde ent­
lasten konnte.
Die ursprüngliche Überschrift »Im Charac­
ter der Begleitung einer feierlichen Cere­
monie« hatte Schumann bei Drucklegung
des Werkes wohlweislich gestrichen; aber
mit oder ohne poetischem »Fingerzeig«
signalisiert der aus mehreren Durchfüh­
rungen des Fugenthemas bestehende Satz
den Eintritt des Sakralen. Die Posaunen,
die hier erstmals zum Einsatz kommen,
intonieren zusammen mit den Hörnern
das Fugenthema im Charakter eines Bach-­
Chorals. Schumann, der sich in Dresden
intensiv mit Bachs Polyphonie beschäftigt
hatte, weist sich mit dieser Komposition als
vollendeter Kontrapunktiker aus, der die
archaische Strenge der Imitationen und
Mensuren ebenso beherrschte wie die
hochexpressive Ausdrucksgebärde der
Vergrößerungen, Verkleinerungen und Eng­
führungen.
Robert Schumann: 3. Symphonie »Rheinische«
19
A. H. Payne: Blick in den Hochchor des Kölner Doms (um 1845)
Robert Schumann: 3. Symphonie »Rheinische«
20
5. SATZ: FINALE MIT FANFAREN
Der Übergang zum Schlusssatz wird durch
eine Blechbläser-Fanfare in H-Dur vorbe­
reitet, die unvermittelt in das Ende des 4.
Satzes hineinfährt. Das Finale selbst ist
als beschwingter Sonatensatz mit bewegt­
heiterem ersten Thema und marschartigem
zweiten Hornthema gestaltet. Mit Reminis­
zenzen volkstümlicher Elemente schafft
Schumann Verbindungen zum Vorausge­
gangenen. Ungewöhnlich erscheint schließ­
lich, dass im Verlauf der Durchführung
erneut die entlegene Tonart H-Dur ange­
steuert wird, die bereits im 1. und 4. Satz
angeklungen war.
An dieser Stelle bricht ein neues fanfaren­
artiges Thema durch, das in der Blechblä­
serepisode vom Schluss des vorigen Satzes
bereits angedeutet worden war. Zur Apo­
theose gesteigert, erklingt es nach einer
unerhörten Modulation in der Tonika EsDur und nimmt auf diese Weise dem Eintritt
der Reprise jegliches Gewicht – das »Er­
eignis« ist der Durchbruch der Fanfare,
nicht die thematische Zusammenfassung
des Satzes in Gestalt der Reprise. Kurz vor
Ende scheint zudem das Fugenthema aus
dem 4. Satz noch einmal auf, was die enge
Zusammengehörigkeit der beiden letzten
Sätze unterstreicht.
telsätze als Genrebilder verstehen, die
jeweils unterschiedliche Sphären berüh­
ren: Der 2. Satz steht dem bodenständigen
Leben am nächsten, der 3. ist ihm als ro­
mantische »Nocturne« am weitesten ent­
rückt, der 4. gibt als spirituell gefärbte
und »erhabene« Musik dem Feierlichen
Profil. Schumanns ästhetische Maxime des
Poetischen, in der »die Phantasie der Fuge
schwesterlich die Hand« geben, die ver­
schiedenen Stilmittel sich folglich ergän­
zen sollen, ist in der »Rheinischen« exem­
plarisch ausgeführt.
Vergegenwärtigt man sich noch einmal
Schumanns Lebensumstände, seinen Ge­
sundheitszustand und die Depressionen,
die – wie man heute weiß – Symptome einer
progressiven Paralyse waren, erscheint es
um so erstaunlicher, dass kurz vor dem
endgültigen Ausbruch der Krankheit eine
Symphonie der Lebensbejahung entstan­
den ist. Diese »positive« Musik verbiete
es, so Peter Gülke, »sie lediglich als Aus­
nahme von der Regel eines resignativ ein­
gezogenen Spätwerks anzusehen. Der Zu­
sammenhang, in den sie gehört, macht sie
in ihrer Positivität zu einem herausfor­
dernden, wenn nicht aggressiven Werk.«
HERAUSFORDERNDE POSITIVITÄT
Der Reichtum an musikalischen Gestalten,
das novellistische Nebeneinander ver­
schiedenster Genres und nicht zuletzt ihre
Fünfsätzigkeit haben der Symphonie immer
wieder den Vorwurf der Heterogenität und
mangelnden Einheit eingebracht. Und in
der Tat lassen sich zumindest die drei Mit­
Robert Schumann: 3. Symphonie »Rheinische«
21
Ein Sonett
HANS PFITZNER
ROBERT SCHUMANN
Wie sah’n wir, zitternd aus der Puppe Nacht
Den selt’nen Falter sich zum Lichte ringen,
Und, schnell erstarkt, in Sonnenwärme schwingen
Phantastisch wundervolle Farbenpracht.
Wie selig er die Flügel spreizt und flacht –
Nun schnellt er tief, und saugt aus der Syringen
Duftendem Blütenkelch, der hold den Schmetterlingen,
Die Süßigkeit, die schier ihn trunken macht.
Wohin verflogst Du Dich, Du Sonnenwesen ?
Was flatterst ängstlich Du, und krampfhaft schnelle,
Wie wurdest Du der Dunkelheit zum Raub ?
Ach, nur in Lenzesluft kannst Du genesen.
Nun sinken auf den Boden Deiner Zelle
Zerriss’ne Flügel, ohne Farbenstaub.
29. Juli 1920
12 ½ Uhr nachts
Schumanns Todestag
Hans Pfitzner über Robert Schumann
22
Der Fall eines
Komponisten
SUSANNE STÄHR
KARNEVAL AM RHEIN
Düsseldorf, am 27. Februar 1854.
Frühnachmittags um 14 Uhr verlässt Ro­
bert Schumann die Wohnung in der Bilker
Straße 15, die er vor anderthalb Jahren mit
seiner Frau Clara und den sechs gemeinsa­
men Kindern bezogen hat. Obwohl es reg­
net, ist Schumann nur mit seinem langen,
grüngeblümten Schlafrock und Filzpantof­
feln bekleidet, aber niemand nimmt Anstoß
an seinem merkwürdigen Aufzug: Es ist
Rosenmontag, Karneval am Rhein, und in
den Straßen tummeln sich die Jecken in
allerhand skurrilen Kostümen. Schumann
jedoch ist nicht zum Feiern zumute. Sein
Ziel ist die nahegelegene Pontonbrücke, die
über den breiten Fluss nach Oberkassel
führt. Dass die Brücke gerade für die
Durchfahrt eines Schiffes geöffnet wurde
und eine Querung nicht möglich ist, stört
Schumann keineswegs; unbeirrt geht er
vor bis zur Mitte, übersteigt die Absper­
rung, zieht seinen Ehering vom Finger,
wirft ihn in die Fluten – und stürzt sich
schließlich selbst hinterher. Der Selbst­
mordversuch missglückt: Fischer ziehen
ihn gleich wieder aus dem Wasser, rudern
ihn, der sich heftig sträubt und sogar aus
dem rettenden Kahn springen will, zum
rechtsrheinischen Ufer. »Fürchterlich muß
sein Heimweg gewesen sein; transportiert
von 8 Männern und einer Masse Volks, das
sich nach seiner Weise belustigte«, berich­
tete Ruppert Becker, Konzertmeister in
Schumanns Düsseldorfer Orchester.
»REISE« OHNE RÜCKBILLETT
Für fünf Tage darf Schumann noch einmal
in seine Wohnung zurück, Tag und Nacht
beaufsichtigt von Wärtern, abgesondert
von der Familie, die zu Freunden ausquar­
tiert wird. Am 4. März aber wird er als
»geistig umnachtet« in die private Nerven­
heilanstalt des Psychiaters Dr. Franz
Richarz in Endenich bei Bonn eingeliefert
– auf eigenen Wunsch, wie es heißt. Penibel
legt sich Schumann selbst zurecht, was er
für diese »Reise« zu brauchen glaubt: Uhr,
Geld, Notenpapier, Tintenfedern, Zigarren.
Doch es gibt keine Heimkehr mehr. 29 Mo­
nate wird Schumann in Endenich zubrin­
gen, zweieinhalb schreckliche letzte Jahre.
Anfangs gibt es noch Hoffnung auf Gene­
sung, denn es wechseln bei Schumann kla­
re Momente mit anfallartigen Attacken und
Schreikrämpfen ab; dann aber muss er in
Robert Schumanns letzte Jahre
23
Oben: Historische Ansicht der Pontonbrücke in Düsseldorf,
von der Robert Schumann in den Rhein sprang
Unten: Klaus Gunzel: Die Nervenheilanstalt in Endenich (um 1850)
Robert Schumanns letzte Jahre
24
eine der »Tobezellen« verlegt und mit Gur­
ten am Bett festgeschnallt werden. Im Ap­
ril 1856 beginnt er schließlich, die Nahrung
zu verweigern, am 29. Juli 1856 stirbt er.
Zwei Tage vorher hat Clara, von der An­
staltsleitung über das nahende Ende infor­
miert, von ihrem Gatten Abschied genom­
men. Es war das überhaupt einzige Mal,
dass sie ihn in Endenich besucht hatte...
UNHEILANSTALT ENDENICH
Heute, 155 Jahre nach seinem Tod, scheint
es kaum mehr möglich, präzise zu diagnos­
tizieren, worunter Schumann litt und wo­
ran er starb. Unzählige Veröffentlichungen
haben sich dieser Frage gewidmet, doch die
Meinungen driften weit auseinander. Häu­
fig wird darauf hingewiesen, dass sich der
21-jährige Schumann, wie er gegenüber
Franz Richarz in Endenich berichtete, 1831
mit Syphilis infiziert habe und seinerzeit
»mit Arsenik curirt« worden sei. Als Spät­
folge dieser venerischen Erkrankung sei
dann eine »progressive Paralyse« aufge­
treten, die zu Schumanns geistigem Verfall
und Tod geführt habe. Freilich könnten für
seine Persönlichkeitsstörungen und Hallu­
zinationen – er selbst gebrauchte das Wort
»Nervenschwäche« – auch ganz andere
Ursachen verantwortlich sein: Der hoch­
sensible Schumann litt zeitlebens unter
depressiven Verstimmungen, die in Phasen
der Überarbeitung und unter dem Einfluss
äußerer Ärgernisse verstärkt auftraten.
Auch war er diesbezüglich familiär vorbelas­
tet, nahm sich seine ältere Schwester Emilie
doch 1824 das Leben – eine traumatische
Erfahrung für den damals 14-jährigen.
Dass Schumanns Tod am Ende gar mit den
obskuren Behandlungsmethoden zu tun
haben könnte, die er in Endenich zu erdul­
den hatte: Selbst diese These wird mittler­
weile vertreten. Und sie erscheint nicht
einmal so abwegig, bedenkt man, dass
Schumann in der sog. »Heilanstalt« seiner
Freiheit völlig beraubt und von der Außen­
welt isoliert wurde, dass man ihn wechsel­
weise überfütterte und dann wieder mit
Abführmitteln traktierte, dass er Kupfer­
präparate verabreicht bekam und in kalte
Essigbäder gesteckt wurde. Schumanns
finaler Hungerstreik mag unter diesen Vor­
zeichen wie eine letzte Flucht erscheinen,
die von der Anstaltsleitung mit Zwangser­
nährung aus Fleischextrakt und Portwein
beantwortet wurde.
GENIE ODER WAHNSINN ?
Was immer die Ursache für Schumanns tra­
gisches Ende gewesen sein mag – auf die
Rezeption seines Spätwerks hatte das Ver­
dikt des »Wahnsinns« fatale Auswirkun­
gen. Denn insbesondere die Kompositionen
aus dem letzten Jahr vor dem Suizidver­
such standen fortan unter dem General­
verdacht nachlassender Geisteskraft, und
man vermeinte, in ihnen bereits Vorboten
der sich ankündigenden »Umnachtung«
erkennen zu können. Das prominenteste
Opfer dieser Stigmatisierung ist das Vio­
linkonzert aus dem September 1853, das
Schumann für den Geiger Joseph Joachim
geschrieben hatte. »Entsetzlich schwer
für Geige«, befand der Virtuose, der sich
zweimal an einer Einstudierung versuchte,
jedesmal scheiterte und das Werk danach
resigniert zur Seite legte. Schumann habe
für den Solopart unspielbare Figurationen
komponiert, lautete die verbreitete Mei­
nung, und seine Tempodispositionen, voran
der schleppende, schwere Rhythmus der
Polonaise im Schlusssatz, seien schlech­
terdings nicht mehr nachvollziehbar. Bis
1937 dauerte es, ehe das Violinkonzert in
Berlin zur Uraufführung gelangte, in einer
vereinfachenden und verfälschenden Be­
Robert Schumanns letzte Jahre
25
arbeitung obendrein. Dass dies überhaupt
geschah, verdankte sich auch nur den
dunklen Zeitläuften: Denn im Nationalsozi­
alismus war das beliebteste romantische
Violinkonzert, Felix Mendelssohn Barthol­
dys e-Moll-Konzert, aus rassischen Grün­
den verboten worden, und die braunen
Machthaber suchten händeringend Ersatz
für diese Repertoirelücke, die Schumanns
Konzert nun schließen durfte – ob »um­
nachtet« oder nicht.
sikalisch ?«, fragte ihn arglos Prinz Fried­
rich der Niederlande, als Clara in Den Haag
ein Konzert gab –, war von derlei Ehr­
bezeugungen überwältigt und geriet zu­
nächst in eine schöpferische Hochstim­
mung, deren bedeutendste Ergebnisse das
Cellokonzert und die »Rheinische Sympho­
nie« bildeten. Doch die Bewährungsprobe
wartete auf ihn erst im Alltag.
ILLUSIONSBEHAFTETER
NEUBEGINN
Als Dirigent war Schumann nach Düssel­
dorf verpflichtet worden, aber für genau
diese Profession mangelte es ihm an we­
sentlichen Voraussetzungen, an physi­
schen wie an mentalen. Da war zunächst
seine extreme Kurzsichtigkeit, die es ihm
unmöglich machte, beim Dirigieren mit den
Musikern im Blickkontakt zu bleiben. Um
wenigstens den Notentext entziffern zu
können, griff er zu einer Lorgnette und
senkte den Kopf tief in die Partitur auf dem
Pult, auch wenn er dabei nicht gleichzeitig
wahrnehmen konnte, was im Halbrund des
Orchesters vor sich ging. Schüchtern und
introvertiert von Natur aus, fehlte Schu­
mann überdies die Gabe des Kommunika­
tors; er redete wenig und wenn überhaupt,
dann an der Schwelle zur Hörbarkeit. »Der
einzige Mensch, der etwas von seinen Be­
merkungen verstanden hat, war sein Takt­
stock, den er beim Sprechen immer vor den
Mund hielt«, klagte schon ein Musiker des
Leipziger Gewandhausorchesters, bei dem
Schumann 1843 sein Debüt als Dirigent
gefeiert hatte. In Düsseldorf sollte ihm die­
ses Manko zum Verhängnis werden: Zu lei­
se, zu vage und missverständlich seien
seine Anweisungen in den Proben, wird ihm
bald vorgehalten, zu unpräzise seine Zei­
chengebung, zu chaotisch die Probenpla­
nung, zu wenig konziliant seine Umgangs­
formen, und durchsetzen könne er sich
Fraglos hatte sich der öffentlichkeits­
scheue Schumann in seinen letzten, den
rheinischen Lebensjahren immer stärker in
seine eigene Seelenwelt eingesponnen. Da­
bei hatte alles so hoffnungsvoll angefan­
gen. Am 2. September 1850 waren Robert
und Clara Schumann aus Dresden kommend
in Düsseldorf eingetroffen, wo Robert das
Amt des Städtischen Musikdirektors an­
treten sollte. Die ortsansässigen Honora­
tioren hatten keine Mühe und keinen Auf­
wand gescheut, um dem prominenten Paar
den Einstieg so angenehm wie möglich zu
gestalten und ihre Wertschätzung zu be­
kunden. Im vornehmen Hotel Breidenba­
cher Hof an der Königsallee hatte man
großzügige Zimmer für sie angemietet, die
festlich mit Blumen und Lorbeerbäumchen
dekoriert waren; die Düsseldorfer Lieder­
tafel gab ein Begrüßungsständchen, und
zwei Tage später spielte im Hotel das
gesamte Orchester zu Ehren des neuen
Chefs auf, der anschließend bei einer Gala
mit Souper, Festreden, Toasts und nächt­
lichem Ball offiziell willkommen geheißen
wurde. Robert Schumann, der es bis dahin
gewohnt war, im Schatten seiner europa­
weit als Klaviervirtuosin gefeierten Ehe­
frau zu stehen – »Sind Sie etwa auch mu­
DIALOGE MIT DEM TAKTSTOCK
Robert Schumanns letzte Jahre
26
auch nicht. Schon in seiner ersten Saison
überkommen Schumann »Bedenken wegen
längeren Bleibens in Düsseldorf«, in der
zweiten fällt er viele Wochen wegen Krank­
heit aus, in der dritten richten 21 Musiker
eine Petition an ihn, er möge von seiner
Position zurücktreten, und zu Beginn der
vierten, Anfang November 1853, legt
Schumann tatsächlich sein Amt entnervt
nieder.
DER GESANG DER ENGEL
Nervöse Krampfanfälle, Unwohlsein,
Schwindel, Schlaflosigkeit, Hypochondrien:
Es mehren sich während dieser Leidenszeit
bei Schumann die psychosomatischen
Symp­tome als Folge der stetigen Über­
forderung. Sie beeinträchtigen ihn auch
immer massiver beim Musizieren: Ab Mitte
1851 zum Beispiel fällt es ihm merklich
schwerer, schnellen Tempi zu folgen; immer
wieder besteht Schumann auf langsame­
rem Vortrag der Werke, die er dirigiert, und
sieht in seinen eigenen Kompositionen auch
bevorzugt getragene Tempi vor. Ein Jahr
später setzen seine »Gehörsaffektionen«
ein – heute würde man wohl von einem Tin­
nitus sprechen, denn Schumann hört per­
manent ein und denselben Ton, zu dem sich
später noch ein zweiter als Intervall und
Dauerbegleiter gesellt. An schöpferische
Arbeit ist ab November 1853 nicht mehr zu
denken. In der Nacht vom 10. auf 11. Feb­
ruar 1854 spitzt sich die Lage dramatisch
zu: Während der verbleibenden 17 Tage bis
zu seinem Sprung in den Rhein wird Schu­
mann von einem ganzen Orchester ver­
folgt, das in seinem inneren Ohr wechsel­
weise zu himmlischer oder höllischer Musik
tobt. Als optische Halluzination sieht er
zeitweilig Schubert und Mendelssohn geis­
terhaft das imaginäre Orchester umschwe­
ben, dann wieder tauchen Dämonen und
wilde Tiere auf, die ihn in den Abgrund zie­
hen wollen. Auf eines der Themen, das ihm,
wie er sagt, von Engeln vorgesungen wur­
de, schreibt Schumann sein allerletztes
Werk: die »Geistervariationen« für Klavier.
Am schicksalsträchtigen 27. Februar arbei­
tet er gerade an der Reinschrift der fünf­
ten und letzten Variation, als er seinen
verhängnisvollen Beschluss fasst und ins
Düsseldorfer Karnevalstreiben zieht. Es
gehört zu den erstaunlichen Details seiner
finalen Krise, dass Schumann diese letzte
Klaviervariation in den fünf Tagen nach sei­
nem Selbstmordversuch noch rechtzeitig
vor seiner Einlieferung nach Endenich voll­
enden konnte.
Robert Schumanns letzte Jahre
27
Constantin Trinks
DIRIGENT
tional de Paris im Mai 2015 in der Inszenie­
rung von Robert Carsen vorstellte. Die Sai­
son 2015/16 eröffnete er mit der sehr er­
folgreichen Neuproduktion von Marschners
»Hans Heiling« im Theater an der Wien.
Richard Wagner spielt eine wichtige Rolle in
Constantin Trinks’ Arbeit, der mit Ende Drei­
ßig bereits sämtliche Bühnenwerke Wagners
dirigiert hat: Die Bayreuther Festspiele nah­
men den ehemaligen Assistenten Christian
Thielemanns im Wagnerjahr 2013 für die
Neuproduktion von »Das Liebesverbot« un­
ter Vertrag. Außerdem dirigierte er »Tann­
häuser« an der Deutschen Oper Berlin und
an der Semperoper, »Der fliegende Hollän­
der« in Zürich und in Dresden sowie »Tristan
und Isolde« in Sofia.
Constantin Trinks begann seine Laufbahn am
Badischen Staatstheater seiner Heimat­
stadt Karlsruhe. Anschließend wirkte er am
Saarländischen Staatstheater Saarbrücken
und war von 2009 bis 2012 Generalmusik­
direktor am Staatstheater Darmstadt.
2011 dirigierte Constantin Trinks Richard
Strauss’ »Der Rosenkavalier« zum 100-­
jährigen Jubiläum der Uraufführung an der
Semperoper Dresden und kehrt seither re­
gelmäßig dorthin zurück. An der Bayeri­
schen Staatsoper München erarbeitete er
»Arabella«, »Die Entführung aus dem Serail«
und »Così fan tutte«. An der Wiener
Staatsoper debütierte er 2014 mit Mozarts
»Zauberflöte«, die er auch an der Opéra Na­
Das symphonische Repertoire von Constan­
tin Trinks zentriert sich derzeit um Robert
Schumann: Die 3. Symphonie dirigierte er
im August 2014 mit den Düsseldorfer Sin­
fonikern im Concertgebouw Amsterdam,
ebenso war er mit Schumann in der Saison
2015/16 bei den Bremer Philharmonikern,
den Duisburger Philharmonikern, dem Seoul
Philharmonic Orchestra und den Stuttgar­
ter Philharmonikern zu hören. Mit Brahms
gab er seinen Einstand 2012 am Orchestre
National de Montpellier, wohin er seither
mit Programmen von Mozart, Beet­hoven
und Bruckner zurückkehrte. Bei den Münch­
ner Philharmonikern feiert Constantin
Trinks mit der aktuellen Konzertserie sein
Debüt.
Die Künstler
28
Claudia Barainsky
SOPRAN
ebenso wie in Alban Bergs »Lulu« und die
Marie in »Wozzeck« (La Monnaie, Brüssel).
Die Rolle der Marie in Bernd Alois Zimmer­
manns »Die Soldaten« wurde ein Meilen­
stein für sie, hat sie diese Rolle doch gleich
mehrfach in hochkarätigen Inszenierungen
gesungen u. a. unter Willy Decker an der
Nederlandse Opera Amsterdam und unter
David Pountney bei der Ruhrtriennale sowie
beim Lincoln Center Festival in New York.
Claudia Barainsky wurde in Berlin geboren
und studierte Gesang an der dortigen Hoch­
schule der Künste bei Ingrid Figur, Dietrich
Fischer-Dieskau und Aribert Reimann.
Mit der Titelpartie in Aribert Reimanns
»Melusine« debütierte sie an der Semper­
oper Dresden. Dort folgten Partien wie die
Königin der Nacht und Pamina in Mozarts
»Zauberflöte«, Konstanze in »Entführung
aus dem Serail«, Sophie in Strauss’ »Rosen­
kavalier« und Badi’at in Henzes »L’Upupa«.
Sie interpretierte die Rolle der Anna in Mar­
schners »Hans Heiling« (Deutsche Oper
Berlin unter Christian Thielemann), die Ti­
telpartien in Reinhard Keisers »Octavia«
Für ihre Darstellung der Titelpartie in Ari­
bert Reimanns Oper »Medea« in Frankfurt
erhielt Claudia Barainsky 2011 den deut­
schen Theaterpreis DER FAUST. Höhepunk­
te der letzten Spielzeiten waren u. a. ihre
erfolgreiche Gestaltung der Maria Magda­
lena in der Uraufführung von Mark Andrés
»Wunderzaichen« am Staatstheater Stutt­
gart, ihr gefeiertes Rollendebüt in Richard
Strauss’ »Daphne« in Toulouse sowie ihr
Rollendebüt als Saffi im »Zigeunerbaron«
von Johann Strauß mit der NDR Radiophil­
harmonie und dem NDR Chor unter der Lei­
tung von Lawrence Foster.
Ihr großes Konzertrepertoire, das auch
zahlreiche für sie komponierte Werke ent­
hält, macht sie zu einem gern gesehenen
Gast auf international bedeutenden Kon­
zertpodien und Festivals, wie u. a. Grafen­
egg Festival, Wien Modern, Beethovenfest
Bonn, Bayreuther und Salzburger Festspie­
le, Aldeburgh Festival sowie Schleswig-­
Holstein Musik Festival.
Die Künstler
29
Was hörst du?
Es gibt für vieles eine zweite Chance, außer
für den ersten Eindruck. Kinder aus der
Grundschule an der Paulckestraße im
Münchner Hasenbergl nutzten in den letz­
ten Wochen ihre Chance
und hielten ihre ersten
Eindrücke zur Musik von
Wagner, Henze und Schu­
mann fest. Drei Klassen
(1., 2. und 4. Jahrgangs­
stufe) hörten in einer
außergewöhnlichen Mu­
sikstunde den Beginn al­
ler drei Werke des heuti­
gen Konzertprogramms.
Wie der Eindruck darge­
stellt wurde, war aber
jedes Mal unterschied­
lich. Zu Schumanns
»Rheinischer« malten die
Kinder Bilder. Vorgege­
ben waren die Farben rot,
gelb, blau, grün und
schwarz, sonst nichts.
Zu Wagner wurden Äuße­
rungen der Kinder mit
Mikrophon aufgezeichnet
und später in Wortwolken übersetzt. Bei
Henze schließlich wählten sie aus fünf Smi­
lies und weiteren Symbolketten zur Atmo­
sphäre des Stücks das für sie jeweils Pas­
sende durch Ankreuzen aus. Vorbereitet
und ausgewertet wurde die Arbeit mit den
Schülern von Studierenden des Instituts
für Musikpädagogik der Ludwig-Maximili­
ans-Universität München im Rahmen des
Seminars »Musikprojekte entwickeln«. Un­
terstützt wurden sie von ihrem Dozenten
Dr. Tobias E. Mayer und dem Team von
Spielfeld Klassik der Münchner Philharmo­
niker. Beim Uni-Konzert
am 30.06.2016 werden
die Ergebnisse im Foyer
der Philharmonie präsen­
tiert und sind anschlie­
ßend auch in einer Bil­
dergalerie auf spiel­
feld-klassik.de zu sehen.
Das Uni-Konzert hat sich
zu einer festen Größe im
Terminkalender entwi­
ckelt. Seit elf Jahren
gibt es diese Kooperation
von Münchner Philhar­
monikern, LMU und dem
Studentenwerk. Nun
gestalten erstmals Stu­
dierende auch ein Rah­
menprogramm für das
Konzertpublikum. Dazu
gehören auch zwei Mas­
terstudentinnen des Ins­
tituts für Musikpädago­
gik. Eine von ihnen gibt vor Beginn des
Konzerts eine Einführung in das Programm,
die andere interviewt David Hausdorf, Cel­
list der Münchner Philharmoniker und er­
folgreicher Techno-DJ. Denn nach dem
Schlussakkord öffnet im ersten Stock eine
Lounge mit Gesprächen, Getränken und
Beats. Sie haben so etwas noch nie erlebt?
Zeit für einen ersten Eindruck!
Kooperationsprojekte
hommage à
Kulturprogramm
zur Ausstellung:
Figurentheater
Flamenco
Literatur
Kino
Workshops
PICASSO
22.7.–18.9.2016
Münchner Künstlerhaus
Lenbachplatz 8, München
www.picasso-muenchen.de
25
31
Max Reger
und die Münchner
Philharmoniker
GABRIELE E. MEYER
VORSPIEL
Noch vor seinem ersten Auftritt als Dirigent
bei den Münchner Philharmonikern am 15.
Dezember 1905 (damals noch Kaim­ bzw.
Konzertvereins­Orchester) hatte sich Max
Reger schon einen Namen als Komponist von
Orgelwerken, Liedern und Kammermusik ge­
macht. In einem Brief vom 5. November 1900
bittet der selbstbewusste Komponist den mit
ihm befreundeten Sänger Joseph Loritz, sich
bei Franz Kaim für eine Dirigentenstelle ein­
zusetzen: »Wäre es für mich nicht möglich,
beim Kaimorchester als – sollte es sein –
letzter Dirigent unterzukommen ? Ich bin nun
zwei Jahre hier [in Weiden] und der allzu­
lange Aufenthalt in der ›Wüste‹ taugt nichts !«
Kaim aber zeigte sich an einem Musiker ohne
einschlägige Erfahrung verständlicherweise
nicht interessiert. Nach der Übersiedlung in
die Haupt­ und Residenzstadt Anfang Sep­
tember 1901 sah sich Reger zunächst hefti­
ger Ablehnung seitens der »Neudeutschen
Schule« um Ludwig Thuille, Rudolph Louis,
Max Schillings u. a. ausgesetzt. Doch gelang
es ihm mit großer Beharrlichkeit, seine Mu­
sik als inzwischen anerkannter Liedbegleiter
und Kammermusikpartner auch auf diesem
Wege in München durchzusetzen, obwohl die
öffentliche Meinung über den Komponisten
weiterhin geteilt blieb. Gleichwohl schwärm­
ten Konzertbesucher wie Kritiker von Regers
hochsensiblem und einfühlsamem Klavier­
spiel, mit dem er eigene und fremde Werke
in einer »schlechthin vollendeten Weise«
gestaltete. Zu Regers bevorzugten Mitstrei­
tern gehörten neben dem Bariton Loritz die
Altistin Anna Erler­Schnaudt, der Geiger
Henri Marteau, der Pianist August Schmid­
Lindner und das Hösl­Quartett. Auch wenn
in den Annalen der Philharmoniker nur zwei
Auftritte Regers verzeichnet sind, so waren
seine Werke ab 1909 bis zum Tod des Kom­
ponisten am 11. Mai 1916 sehr oft zu hören.
REGERS DEBÜT ALS DIRIGENT
1905 bestimmte der »Porges’sche Chorver­
ein« Reger zum Nachfolger des im Februar
des Jahres verstorbenen bisherigen Leiters
Max Erdmannsdörfer. Auf dem Programm
des Konzerts vom 15. Dezember 1905, das
»in Verbindung mit dem Kaim­Orchester« im
Odeonssaal stattfand, standen Chor­ und
Max Reger zum 100. Todestag
32
26
Orchesterwerke von Franz Liszt und Hugo
Wolf. Regers dirigentische Leistung sah sich,
man möchte fast sagen, zwangsläufig har­
scher Kritik vor allem von Seiten seines al­
ten Widersachers Rudolph Louis ausgesetzt,
der auch für die »Münchner Neuesten Nach­
richten« tätig war. Dieser leitete seine Be­
sprechung mit der Binsenweisheit ein, dass
man ein Musiker ersten Ranges sein kann,
ohne zum Dirigenten besonders befähigt
zu sein, demzufolge bei einem ersten Ver­
such auf einem »bislang fremden Gebiete
der ausübenden Tonkunst« eine vollkomme­
ne Leistung gar nicht erwartet werden kön­
ne. »Alles, das Eckige, Ungelenke und Unge­
schickte der Bewegungen, die peinliche, von
vornherein jede Freiheit in der Direktions­
führung unmöglich machende Abhängigkeit
von der Partitur, der Mangel an jeglichen
Anzeichen für einen wahrhaft belebenden
und anfeuernden Einfluß auf die Ausführen­
den, all’ das beweist doch wohl, daß Reger,
dem sonst so phänomenal begabten Musi­
ker, das angeborene Dirigententalent so
gut wie gänzlich mangelt. Das offen auszu­
sprechen, halte ich umsomehr für Pflicht,
als es schade wäre, wenn eine solche Bega­
bung, der als Komponist, als Klavierspieler,
als Lehrer die weitesten und fruchtbarsten
Betätigungsgebiete offen stehen, ihre kost­
bare Zeit auf Bestrebungen verschwenden
würde, die schwerlich zu einem nachhalti­
gen Erfolge führen können.« Man kann sich
Regers Zorn auf seinen Intimfeind Louis
trotz dessen ausdrücklicher Anerkennung
für die sorgfältige Einstudierung der Chöre
lebhaft vorstellen. Aber auch die anderen
Stimmen beurteilten das Debüt eher skep­
tisch: »Das geborene Dirigiertalent, das
sich als solches gleich beim ersten Erschei­
nen am Pulte unzweifelhaft kundgibt, ist
Reger jedenfalls nicht.«
ZWISCHENSPIEL
Etwa zu derselben Zeit begann Reger ver­
mehrt für große Besetzungen zu schreiben.
Fiel der erste Versuch, die »Sinfonietta« bei
der Münchner Erstaufführung durch das Kgl.
Hofopernorchester unter der Leitung von
Felix Mottl noch durch – worauf sich Regers
Schüler an Rudolph Louis mit einer nächt­
lichen Katzenmusik rächten, auf die der Kri­
tiker mit »einem öffentlichen Dank an jene
Herren« reagierte, »welche ihm in so liebens­
würdiger Weise Bruchstücke aus dem neues­
ten Werk ihres Meisters« nahegebracht hät­
ten – , so wuchs das Interesse an den Werken
Regers doch stetig. In Ferdinand Löwes Chef­
dirigentenzeit wurden gleich vier symphoni­
sche Werke erstmals vorgestellt: »Sympho­
nischer Prolog zu einer Tragödie« op. 108
(22. November 1909), »Eine Lustspiel­
ouvertüre« op. 120 (4. April 1911), das
»Konzert im alten Stil« op. 123 (18. Dezem­
ber 1912) und, am 29. Dezember 1913, »Eine
Ballett­Suite« op. 130. Außerdem erklan­
gen, ebenfalls als Münchner Erstaufführun­
gen, das Violinkonzert op. 101 unter der
Leitung von Ossip Gabrilowitsch mit Alexan­
der Schmuller als Solisten (23. März 1912)
und »Eine romantische Suite« nach Eichen­
dorff op. 125, die der Dirigent Franz von
Hoesslin aus der Taufe hob (25. Oktober
1912).
REGERS ZWEITER AUFTRITT
Ende 1907 nahm »der wilde Oberpfälzer« –
er hatte von den Münchner Querelen um
seine Person nun endgültig genug – die Be­
rufung zum Konservatoriumslehrer und Uni­
versitätsmusikdirektor in Leipzig an. Die
nachfolgenden Jahre seines Engagements
als Dirigent der Meininger Hofkapelle von
1911 bis 1914 ließen ihn, wie nicht nur sein
Schüler Alexander Berrsche feststellte, zu
Max Reger zum 100. Todestag
33
Max Reger zum 100. Todestag
28
34
einem »Orchesterleiter ersten Ranges« so­
wohl in künstlerischer als auch in organisa­
torischer Hinsicht reifen. Regers zweiter und
letzter Auftritt als Dirigent bei den Münch­
ner Philharmonikern fiel allerdings in eine
Zeit, in der die Welt schon aus den Fugen
geraten war. Doch trotz kriegsbedingter
Schwierigkeiten konnte der Konzertbetrieb
in der Spielzeit 1914/15 noch in vollem Um­
fang aufrechterhalten werden. Auf dem Pro­
gramm des von »Generalmusikdirektor Max
Reger« geleiteten 8. Abonnementskonzerts
am 1. Februar 1915 standen, neben Mozarts
»Haffner­Symphonie«, »Eine vaterländische
Ouvertüre« op. 140, »gewidmet dem deut­
schen Heere« und, ebenfalls als Münchner
Erstaufführung, die 1914 entstandenen »Va­
riationen und Fuge über ein Thema von Mo­
zart« op. 132. Vor allem dieses Werk wurde
mit großem Beifall bedacht. Die »Münchner
Neuesten Nachrichten« rühmten den »Reich­
tum an Polyphonie, wie er nur dem kontra­
punktischen Genie Regers zu Gebote steht.
Daß dieses Werk trotz der außerordentlich
kunstvollen thematischen Arbeit auch präch­
tig klingt, beweist vor allem die schöne ach­
te Variation. Es versteht sich bei Reger von
selbst, daß die über ein reizvolles achttak­
tiges Thema gehende Fuge glänzend gebaut
ist.« Fünf eigene Lieder, mit Reger am Kla­
vier, und drei orchestrierte Brahms­Lieder,
gesungen von Anna Erler­Schnaut, rundeten
das Programm ab. Der Komponist Max Reger
wurde ebenso gefeiert wie der Dirigent und
Liedbegleiter. Selbst der damals amtierende
Oberbürgermeister der Stadt München, Wil­
helm von Borscht, sprach Reger seinen auf­
richtigsten Dank aus: »Die grösste Anerken­
nung für Sie liegt in dem Erfolg, den Ihr
Auftreten bei uns zeigte: der Besuch unse­
rer Abonnementskonzerte war mit Ausbruch
des Krieges noch nie so stark, wie bei Ihrem
Konzert, die Begeisterung des Publikums
für Ihre bewundernswerten Leistungen war
grösser und herzlicher denn je.«
NACHSPIEL
Die im Brief des Oberbürgermeisters aus­
gesprochene Erwartung, »Euer Hochwohl­
geboren auch noch bei anderen Gelegenhei­
ten in der Tonhalle begrüssen zu dürfen«,
erfüllte sich nicht mehr. Max Reger starb
mit nur 43 Jahren am 11. Mai 1916. Doch
sein gesamtes Orchesterwerk bildete bis in
die 40er Jahre einen festen Bestandteil in­
nerhalb der philharmonischen Programm­
gestaltung, wobei es nach Regers Tod noch
zu weiteren Münchner Erstaufführungen
kam. So stellte Komponisten­Kollege Hans
Pfitzner die Orchesterfassung der 1904
ursprünglich für zwei Klaviere zu vier Hän­
den komponierten »Variationen und Fuge
über ein Thema von Beethoven« op. 86 vor,
der »Gesang der Verklärten« op. 71 erklang
in einer Bearbeitung von Karl Hermann Pill­
ney, die von Florizel von Reuter zu Ende ge­
führte »Symphonische Rhapsodie für Violi­
ne und Orchester« op. 147 erlebte 1932
ihre Uraufführung, der erste Satz des un­
vollendet gebliebenen lateinischen »Requi­
ems« op. 145a seine philharmonische Erst­
aufführung. Nach 1945 aber standen zu­
nächst ganz andere Komponisten im Vor­
dergrund – Reger hatte ja bereits zu seiner
Zeit das Schicksal ereilt, mit seinem Schaf­
fen zwischen alle Stühle geraten zu sein.
Dennoch hatte er innerhalb der zwischen
Schönberg, Strawinsky und der »Münchner
Schule« angesiedelten musikalischen Ex­
trembereiche einen ganz eigenen Weg ge­
funden. Regers unruhig oszillierende Har­
monik und seine meisterliche Beherrschung
der Polyphonie, auch seine bisweilen »klas­
sizistisch« anmutende Einfachheit lohnen
eine Wiederbegegnung allemal.
Max Reger zum 100. Todestag
35
Donnerstag
07_07_2016 20 Uhr g4
Samstag
09_07_2016 19 Uhr d
Samstag
16_07_2016 20 Uhr
MAX REGER
»Symphonischer Prolog zu einer Tragödie«
op. 108
JOHANNES BRAHMS
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2
B-Dur op. 83
PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY
Suite aus dem Ballett »Schwanensee«
op. 20 a
PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1
b-Moll op. 23
RICHARD STRAUSS
Orchestersuite aus der Komödie für Musik
»Der Rosenkavalier« op. 59
MAURICE RAVEL
»Boléro«
KENT NAGANO, Dirigent
NIKOLAI LUGANSKY, Klavier
Donnerstag
14_07_2016 20 Uhr b
KLASSIK AM ODEONSPLATZ
VALERY GERGIEV, Dirigent
DANIIL TRIFONOV, Klavier
GALINA USTWOLSKAJA
Symphonie Nr. 3 »Jesus, Messias,
errette uns!«
SERGEJ RACHMANINOW
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3
d-Moll op. 30
DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH
Symphonie Nr. 4 c-Moll op. 43
VALERY GERGIEV, Dirigent
BEHZOD ABDURAIMOV, Klavier
ALEXEI PETRENKO, Sprecher
Vorschau
36
Die Münchner
Philharmoniker
1. VIOLINEN
Sreten Krstič, Konzertmeister
Lorenz Nasturica-Herschcowici,
Konzertmeister
Julian Shevlin, Konzertmeister
Odette Couch, stv. Konzertmeisterin
Lucja Madziar, stv. Konzertmeisterin
Claudia Sutil
Philip Middleman
Nenad Daleore
Peter Becher
Regina Matthes
Wolfram Lohschütz
Martin Manz
Céline Vaudé
Yusi Chen
Iason Keramidis
Florentine Lenz
2. VIOLINEN
Simon Fordham, Stimmführer
Alexander Möck, Stimmführer
IIona Cudek, stv. Stimmführerin
Matthias Löhlein, Vorspieler
Katharina Reichstaller
Nils Schad
Clara Bergius-Bühl
Esther Merz
Katharina Schmitz
Ana Vladanovic-Lebedinski
Bernhard Metz
Namiko Fuse
Qi Zhou
Clément Courtin
Traudel Reich
Asami Yamada
BRATSCHEN
Jano Lisboa, Solo
Burkhard Sigl, stv. Solo
Max Spenger
Herbert Stoiber
Wolfgang Stingl
Gunter Pretzel
Wolfgang Berg
Beate Springorum
Konstantin Sellheim
Julio López
Valentin Eichler
VIOLONCELLI
Michael Hell, Konzertmeister
Floris Mijnders, Solo
Stephan Haack, stv. Solo
Thomas Ruge, stv. Solo
Herbert Heim
Veit Wenk-Wolff
Sissy Schmidhuber
Elke Funk-Hoever
Manuel von der Nahmer
Isolde Hayer
Sven Faulian
David Hausdorf
Joachim Wohlgemuth
Das Orchester
37
KONTRABÄSSE
Sławomir Grenda, Solo
Fora Baltacigil, Solo
Alexander Preuß, stv. Solo
Holger Herrmann
Stepan Kratochvil
Shengni Guo
Emilio Yepes Martinez
Ulrich Zeller
FLÖTEN
Michael Martin Kofler, Solo
Herman van Kogelenberg, Solo
Burkhard Jäckle, stv. Solo
Martin Belič
Gabriele Krötz, Piccoloflöte
OBOEN
Alois Schlemer
Hubert Pilstl
Mia Aselmeyer
TROMPETEN
Guido Segers, Solo
Bernhard Peschl, stv. Solo
Franz Unterrainer
Markus Rainer
Florian Klingler
POSAUNEN
Dany Bonvin, Solo
David Rejano Cantero, Solo
Matthias Fischer, stv. Solo
Quirin Willert
Benjamin Appel, Bassposaune
Ulrich Becker, Solo
Marie-Luise Modersohn, Solo
Lisa Outred
Bernhard Berwanger
Kai Rapsch, Englischhorn
PAUKEN
KLARINETTEN
Sebastian Förschl, 1. Schlagzeuger
Jörg Hannabach
Alexandra Gruber, Solo
László Kuti, Solo
Annette Maucher, stv. Solo
Matthias Ambrosius
Albert Osterhammer, Bassklarinette
FAGOTTE
Lyndon Watts, Solo
Jürgen Popp
Johannes Hofbauer
Jörg Urbach, Kontrafagott
HÖRNER
Jörg Brückner, Solo
Matias Piñeira, Solo
Ulrich Haider, stv. Solo
Maria Teiwes, stv. Solo
Robert Ross
Stefan Gagelmann, Solo
Guido Rückel, Solo
Walter Schwarz, stv. Solo
SCHLAGZEUG
HARFE
Teresa Zimmermann, Solo
CHEFDIRIGENT
Valery Gergiev
EHRENDIRIGENT
Zubin Mehta
INTENDANT
Paul Müller
ORCHESTERVORSTAND
Stephan Haack
Matthias Ambrosius
Konstantin Sellheim
Das Orchester
38
IMPRESSUM
TEXTNACHWEISE
Herausgeber:
Direktion der Münchner
Philharmoniker
Paul Müller, Intendant
Kellerstraße 4
81667 München
Lektorat:
Christine Möller
Corporate Design:
HEYE GmbH
München
Graphik:
dm druckmedien gmbh
München
Druck:
Gebr. Geiselberger GmbH
Martin-Moser-Straße 23
84503 Altötting
Marcus Imbsweiler, Wolf­
gang Stähr, Regina Back,
Susanne Stähr und Gabri­
ele E. Meyer schrieben ih­
re Texte als Originalbei­
träge für die Programm­
hefte der Münchner Philhar­
moniker. Das Schumann­­Sonett von Hans Pfitzner
ist dem Band Hans Pfitz­
ner, Sechs Sonnette – dem
Gedächtnis des Meisters
im Jahr seines 80. Ge­
burtstags und seines To­
des, Söcking 1949, ent­
nommen. Stephan Kohler
verfasste die lexikalischen
Werkangaben und Kurz­
kommentare zu den auf­
geführten Werken. Künst­
lerbiographien: nach Agenturvorlagen. Alle Rechte
bei den Autorinnen und
Autoren; jeder Nachdruck
ist seitens der Urheber
genehmigungs- und kos­
tenpflichtig.
2006; Abbildungen zu Ro­
bert Schumann: Ernst
Burger, Robert Schumann
– Eine Lebenschronik in
Bildern und Dokumenten,
Mainz 1999. Künstlerpho­
tographien: Irene Zandel
(Trinks), Peter Adamik
(Barainsky).
TITELGESTALTUNG
»Robert Schumann genoss
nach seinem Umzug nach
Düsseldorf die rheinische
Fröhlichkeit. Die dritte
Symphonie ist von dieser
euphorischen
Stimmung
geprägt – genauso wie vom
Eindruck, den der Kölner
Dom auf ihn gemacht hat.
Im Plakatmotiv wird die
sogenannte ›Rheinische‹
deshalb als Fluss darge­
stellt, der Düsseldorf und
Köln über verspielte Um­
wege miteinander verbin­
det.« (Gemeinschaftsar­
beit – Heye GmbH, 2016)
BILDNACHWEISE
Abbildungen zu Hans Wer­
ner Henze: Klaus Geitel,
Hans Werner Henze, Berlin
1968; Michael Kerstan /
Clemens Wolken, Hans
Werner Henze – Komponist
der Gegenwart, Leipzig
2006;
Abbildung
zu
Richard
Wagner:
Udo
Brembach, Richard Wag­
ner – Stationen eines un­
ruhigen Lebens, Hamburg
Impressum
Gedruckt auf holzfreiem und
FSC-Mix zertifiziertem Papier
der Sorte LuxoArt Samt
In freundschaftlicher
Zusammenarbeit mit
VALERY GERGIEVS
DAS FESTIVAL
DER MÜNCHNER
PHILHARMONIKER
—
PROKOFJEW-MOZARTMARATHON
GASTEIG
Freitag
11_11_2016
ERÖFFNUNGSKONZERT
VALERY GERGIEV
Samstag
12_11_2016
PROKOFJEW–MARATHON
ALLE KLAVIERSONATEN
PETER UND DER WOLF
TANZKONZERTE
Sonntag
13_11_2016
PROKOFJEW SYMPHONIEN
MOZART VIOLINKONZERTE
KARTEN AB SOFORT
MPHIL.DE
089 54 81 81 400
3
FÜ MU TA
R SI GE
AL K
LE
’15
’16
DAS ORCHESTER DER STADT