Naturparadies - Dr. Peer Schmidt

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Naturparadies - Dr. Peer Schmidt
Auf Flüssen und Seen
Streckenbesprechung mit den polnischen Liegeplatznachbarn (l.)., Turm der katholischen Kirche von Czarnkow (r.)
200 Kilometer
Naturparadies
Warthe, Netze? Vielleicht mal im Geografie-Unterricht gehört, erinnert sich Peer Schmidt-Walther.
Und an Urstromtäler: Zum Beispiel das Warschau-Eberswalder. Dabei liegen die beiden großen Flüsse
quasi vor der Berliner Haustür, wenn man gerade mal zwei, drei Stunden per Auto oder Bahn gen
Osten fährt.
W
itamy! Willkommen in Pollänn!« werden sie zweisprachig – das klingt nett
in unseren Ohren – am Anleger begrüßt. Artur Zurawiecz strahlt und
wünscht noch dazu »dzien dobry!«,
»guten Tag!« Der 35-Jährige ist Polens
jüngster Reeder mit Alleinstellungsmerkmal in der Region und wohnt,
wie er stolz betont, »mitten im Wald
bei Pila, dem früheren Schneidemühl«.
Er nennt nicht nur eine Pension sein
eigen, sondern auch zwei Hausboote:
ein größeres vom Typ »Vistula Cruiser
30« und ein kleineres »Chris Craft 30«.
Der Neun-Meter-«Dampfer« Jeronimo,
benannt nach Arturs Sohn, wird für
die nächsten Tage ihr mobiles Ferienhaus sein. Pure Erholung à la Strandurlaub wird es während dieser Pionierfahrt nicht werden, denn es heißt
Ruderwache gehen, mal den Kombüsendienst übernehmen und Festmacherleinen halten.
Gegend der Vergangenheit
und Zukunft
Einziger Leuchtturm an der Netze, Schleuse Kreuz
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an Bord 6 / 2013
Die EU habe ihm bei der Anschubfinanzierung seines noch in den Kinderschuhen steckenden Unternehmens
kräftig unter die Arme gegriffen,
erzählt er. Und dem agilen Holzhausbauer damit gleich zwei Träume
erfüllt: »im Wald zu wohnen und ein
Tourismus-Unternehmen aufzubauen.
Das hat hier in der Gegend Zukunft«.
Auch der hat die EU geholfen, so dass
am Fluss Notec/Netze zwei hochmoderne, picobello saubere und sichere
Marinas – noch mit gebührenfreiem
Übernachten – gebaut werden konnten: in Czarnkow/Scharnikau und dem
42 Kilometer westlich davon liegenden
Drawsko/Dratzig. Der Fluss bildete bis
1937 hier die Grenze zwischen dem
Deutschen Reich auf der nördlichen
und Polen auf der südlichen Seite,
nach wie vor durch eine »preußische«
Brücke verbunden. Heute gehört das
Gebiet zur Wojewodschaft Wielkopolski/Großpolen mit Sitz in Poznan/
Posen.
Czarnkow hat sich rings um den rynek,
den Marktplatz, wieder herausgeputzt.
Ein paar Schritte in die Seitenstraßen
und man fühlt sich in vergangene
Zeiten zurückversetzt. In scharfem Kontrast dazu die geradezu futuristische
Marina der 1000-jährigen Stadt.
Abends sind wir Gäste dreier Wohnwagen-Besatzungen aus Posen. Miroslaw ist Pole mit deutschem Pass aus
München. Mit Freuden dolmetscht er
und macht den Grillabend zu einem
Fest der Verständigung, Bier und
Wodka inklusive. Der Liegeplatz-Nachbar schenkt ihnen sogar zwei frisch
in der Netze geangelte und geputzte
Fische mit einem freundlichen
»smatsch nego! Guten Appetit!«
Nostalgie und Abenteuer
erwartet
Bis zum Zweiten Weltkrieg galten die
verschlafenen Ortschaften, die von 1918
bis 1939 noch einmal zum Warthegau
in der deutschen Provinz Posen gehörten, entlang der Flussläufe als Verbannungsorte für jeden preußischen Beamten. In dem historischen Bildband
»Zwischen Weichsel und Warthe – vom
Leben, wie es damals war« schreibt
Heinz Csallner: »Meine Gedanken
kehren wieder zurück zu den schnurgeraden Wegen auf weitem Land,
der Wind spielt mit dem Laub der
Birken, über mir der endlose blaue
Himmel, Wolken ziehen langsam vorüber, ich lehne mich an den Stamm
einer Birke, spüre den leichten Sommerwind, schließe die Augen... Ruhe,
Glück, Heimat..., etwas, das man
nicht beschreiben kann«. Aber vielleicht nachempfinden?
9 Uhr am nächsten Tag: Jeronimo
steckt seine grüne Nase vorsichtig in
die flott dahin wirbelnde Netze und
wird gleich mitgerissen, trotz Fahrthebel nur auf halbe Kraft voraus. Die
Strömung schiebt so, dass man mit
gut zwölf Kilometern pro Stunde dahin
»schießt«, durch das von der letzten
Eiszeit und ihren Schmelzwässern ausgespülte Urstromtal. Bis zu 100 Meter
hohe Endmoränen schnüren es stellenweise ein. Aber vor den Deichen hat
die Netze genügend Platz, um sich
bei Hochwasser seenartig auszudehnen. Dessen Spuren sind überall
unübersehbar: umgestürzte Bäume,
unterhöhlte Ufer und mitgerissene
Heuballen.
Strotzende Natur ringsum
Historische Ortsnamen wie Birkbruch,
Rohrwiesendamm, Breitenwerder oder
Louisenaue in der deutsch-polnischen
Karte weisen auf die Trockenlegung
durch Kolonisatoren hin, Friedrichshorst auch auf den Initiator: Preußens
König Friedrich der Große.
Die Skipper interessieren auch die
Fahrwassereigenheiten wie Strömung,
Sandbänke und Wassertiefen, wobei
ihnen nur das Echolot wertvolle Hilfe
leistet. Wer außerdem nach dem Prinzip von Prallhang zu Prallhang steuert,
also dort, wo der Fluss am schnellsten
fließt und am tiefsten ist, liegt damit
prinzipiell richtig.
Zwischendurch sollte man aber auch
immer wieder ein Auge für die strotzende Natur ringsum haben: Backbord
ein Biberbau, Steuerbord Kraniche,
hoch über dem Boot ein Seeadler,
Gruppen von tanzenden Kiebitzen,
im Tiefflug neben uns weiße und graue
Reiher, vor ihnen startende Schwäne.
Man weiß gar nicht, wohin man zuerst
hinschauen soll. »Wie Mangrovenwald,
nur schöner und belebter«, ist ein Passagier begeistert, »nirgends störende
Windräder oder Stromtrassen«. Und
später: »Auf 200 Kilometern ist uns
weder ein Schiff noch ein Boot begegnet. Wo gibt es das noch im schiffbaren
Europa?«
Seltener Anblick: Seilzugfähre mit Traktorgespann
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Informationen
»Jeronimo« in der Schleuse von Kreuz (l.), Handarbeit: Der Schleusenwärter bedient die 110 Jahre alte Technik (r.).
Fahrstuhlfahren
mit preußischer Technik
Gleich am ersten Tag stehen fast 20
Meter »Wasserfahrstuhl« nach unten
auf dem Arbeitsprogramm: Sechs
Schleusen bis zur zweiten Marina in
Drawsko sind zu bewältigen. Mit dem
in Lautschrift von Miroslaw verfassten
polnischen Satz »Proce otwozyc sluce!
Bitte die Schleuse öffnen!« und den
aktuellen Telefonnummern, die ihnen
der Hafenmeister mitgegeben hat,
fühlen sie sich gut gerüstet. Ein paar
Kilometer vorher testet Uli seine frisch
erworbenen Sprachkenntnisse, ruft den
Wärter der ersten Schleuse Pianowka
an und sagt sein Sprüchlein auf. Fünfzehn Minuten später sehen wir staunend das Ergebnis seiner Bemühungen.
»Es hat tatsächlich geklappt!« Eine
Salon mit vorderer Schlafkabine für zwei Personen
»Jeronimo« in der Marina Dravsko
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grün-weiß-grüne Tafel zeigt an: Einfahrt
frei! Wobei der Schleusenwärter das
Tor nur an einer Seite geöffnet hat,
denn der »schmale Hecht« Jeronimo
ist nur drei Meter breit. Bei der TalSchleusung kann man bis nach vorn
vorfahren, zu Berg sollte man wegen
des kräftig herein strömenden Wassers
besser hinten bleiben.
»Dzien dobry! Guten Tag!«, grüßen sie
den Schleusenwärter, der sieben Zloty
kassiert – mit Trinkgeld zehn – und
sogar eine Quittung ausschreibt. Er
kurbelt mühsam per Hand das Tor
auf. 110-jährige preußisch-robuste
Technik, die bis heute einwandfrei
funktioniert. »Dowi dzenia! Auf Wiedersehen!« und ab geht’s.
Pilz oder Fisch zum
Marina-Fest?
Schon nach fünfeinhalb Stunden grüßt
das Einfahrtschild zur Marina Drawsko.
Ein flottes Drehmanöver aus dem
Strom gegen ihn und das Boot schiebt
sich durch einen Wasserpflanzengarten in den Hafen. An Backbord ist sogar
ein Strand aufgeschüttet. Und wieder:
Moderne Steganlagen, Strom, Wasser,
Hafengebäude, aber auch hier keine
Möglichkeit zum Tanken. Ein Glück,
dass wir in Czarnkow die Reservekanister gefüllt haben! Bartek,
Student und im Nebenjob Hafenmeister, empfängt strahlend in gebrochenem Deutsch. »Mein Service
bis 20 Uhr«, und sie »mechten doch
bänutzen die Dusche!« Das lässt man
sich nicht zweimal so freundlich-breit
sagen. Auch hier hat die EU ihr Händchen im Spiel gehabt, wie die Schilder
und Prospekte verkünden.
Ein gewaltiger Himmel mit kilometerhohen Quellwolken wölbt sich über
der duftenden Wiesenlandschaft. Der
einen Kilometer entfernte Wald lockt
mächtig, denn die Gegend gilt als
pilzreich, symbolisiert durch überall
im Ort verteilte mannshohe Stein-Pilze.
Vielleicht kommt eine Pfanne Pfifferlinge zusammen? »Wir haben doch
noch die Fische«, erinnert ein Passagier. Das gemeinsame Braten, Kartoffelschnippeln und die Salatzubereitung geraten zu einem großen Spaß,
befeuert auch von ein paar Gläsern
Wein.
Slawisch-germanische
Grenze voraus
Nach einer sternklaren Nacht wabbern
am Morgen spätsommerliche Nebel-
Daten »Jeronimo«
Vistula Cruiser 30; Baujahr: 2012; Länge: Neun Meter;
Breite: 2,92 Meter; Tiefgang: 0,45 Meter; Motor:
25 PS-Yamaha-Außenbord-Benziner.
Maximal sechs Schlafplätze für Erwachsene, DVD/
TV/CD, Küchenecke, Dusche/WC, eine Außendusche
am Heck, Gas-Zentralheizung, Wassertank 420 Liter;
Tipps am Rande: Ein Handy sollte man unbedingt
dabei haben, um vor Schleusen oder Brücken,
wenn nötig, mit den Wärtern zu kommunizieren.
Lebensmittel-Vorrat am besten für eine Woche
mitnehmen. In den genannten Städten kann man
natürlich auch »nachbunkern«, wenn denn Anlegestellen (das gleiche gilt für Benzinnachschub) vorhanden sind (zum Beispiel auf unserer Reise nur
in Carnikow, Drawsko, Santok, Skwierzyna).
Baden in (sauberem) Wasser ist übrigens kein
Problem. An der Badeplattform ist eine Dusche angebracht. Weitere Informationen und Buchung:
Artur Zurawiecz, Telefon 0048-517726613,
0048-606361704, www.splywamyrzekami.pl
E-Mail: [email protected]
oder: [email protected]
Die Warthe (poln. Warta) ist ein rechter Nebenfluss
der Oder in Polen (Länge: 808 Kilometer, zur Hälfte
schiffbar). 2001 wurde an ihrer Mündung der Nationalpark Warthe-Mündung eröffnet. Der Fluss ist
Namensgeber für das jüngere Stadium der Saaleeiszeit. Die Warthe, größter Nebenfluss der Oder,
entspringt im Krakau-Tschenstochauer Jura in
Schlesien östlich der Stadt Zawiercie (Warthenau)
und südlich von Czestochowa (Tschenstochau).
Beide Flüsse sind wegen ihrer stark schwankenden
Pegel frei von Berufsschifffahrt und gelten als
Geheimtipps für Wasserwanderer. Dennoch sollten
Sportbootfahrer unbedingt über Fahrkenntnisse
verfügen, vor allem bei Schleusen-, Berg- und Talfahrt, An- und Ablegemanöver unter Strömungsbedingungen, Fahrwassertonnen. Nähere FlussInfos: www.roadreport.de (Warthe, Netze).
Die Netze (polnisch Notec) ist mit 366 Kilometer
Länge wichtigster Nebenfluss der Warthe und
folgt dem Thorn-Eberswalder-Urstromtal mit einer
moorigen Bruchlandschaft, dem Netzebruch.
Verbunden sind beide Flüsse durch Seen und Kanäle.
Eine alte, wohlbekannte Schifffahrtsroute, in deren
Mittelpunkt Posen liegt und die eng mit der Geschichte
Polens verbunden ist. Auf Polnisch wird sie Wielka
petla Wielkopolski genannt, der Großpolen-Ring.
schwaden über die Netze. Die nur
sechs Kilometer entfernte Schleuse
Krzyz ist erst um neun Uhr betriebsklar. Es ist die letzte bis zu ihrem Ziel
an der Warthe. Bartek hat für sie angerufen, so dass das Manöver in Minutenschnelle erledigt ist. Jeronimo wird
von der Netze mit gezogen, immer
leicht mit Kurs Südwest.
Die Flusslandschaft in allen Grünschattierungen wirkt beruhigend.
Hohe Schilfwände links und rechts
verdecken an vielen Stellen den Blick.
Nur hin und wieder lugt ein historisch
anmutendes löchriges Ziegeldach über
die Spitzen oder ein Angler durch die
Halme. Die Polen lieben das stundenlange Hocken am und Starren auf’s
Wasser.
Nach fünf Stunden oder 50 Kilometern
voraus Santok, auf hohem Ufer von
einem Aussichtsturm überragt. Hier,
an der Einmündung der Netze in die
Warthe, verlief einst die Grenze zwischen Slawen und Germanen. Wer mag,
kann gleich rechts hinter der Straßenbrücke an einem ehemaligen Anleger
für Frachtschiffe festmachen. Viel bietet
der Ort selbst nicht. Der Blick vom Turm
über die beiden Flüsse allerdings lohnt
den steilen Aufstieg.
In der afrikanischen Savanne
an der Warthe
Die Warthe scheint sich gegen sie zu
stemmen, die unser vorheriges Tempo
rapide auf sechs Kilometer pro Stunde
abbremst. Das Echolot zeigt stellenweise nur wenige Dezimeter unterm
Kiel an, was zusätzlich bremst. Aber:
menschenleere Parklandschaft aus
lockerem Altbaumbestand und saftig grünen Wiesen. Pferde und Kühe
traben neugierig ans Ufer, um das
seltene, seltsame Gefährt da auf dem
Wasser zu bestaunen. Wir saugen den
würzigen Heu- und Getreideduft tief
in die Lungen.
Noch vor Sonnenuntergang erreichen
wir den Übernachtungsplatz: eine hohe
Betonpier vor der Straßenbrücke in
der Stadt Skwierzyna. Der Platz reicht
gerade noch für Jeronimo.
Das Anlegemanöver gegen den Strom
mit Steinen in Hecknähe gestaltet
sich schwierig. Aber man ist froh,
hier liegen zu können, denn auf
dem Hochufer thront die renommierte
Hotel-Gaststätte »Dom nad rzeka«,
das »Haus am Fluss«.
Serviert wird hier die traditionelle
Bartschtsch-Suppe aus Roten Beete
mit Pelmeni und Pirogi mit Quark und
Zwiebeln gefüllt, dazu ein kühles Bier.
»Und alles für’n Appel und ’n Ei«,
wenn man die für deutsche Verhältnisse niedrige Rechnung bezahlt.
Ankern auf der grünen Wiese
Im Gleitflug pendelt Jeronimo am
nächsten Tag durch die »afrikanische
Parklandschaft« in nur zwei Stunden
zurück nach Santok. Hart Steuerbord –
Ländliche Idylle
Glutroter Sonnenuntergang
und wieder hinein in die Netze!
Bis zur Marina Drawsko ist es an
diesem Tag bei schleichender Bergfahrt zu weit. Querab des Hofes Gorczyna/Neu-Gurkowschbruch an Backbord wird man nach etwa einer
Stunde fündig. Die Wassertiefe ist
ausreichend bis an die Graskante
heran. Der Matrose auf Zeit springt
mit der Vorleine an Land und schlingt
sie um eine knorrige Weide, dann wirft
der Skipper ihm die Achterleine zu
für den zweiten Baum hinterm Heck.
Zum Schluss wird der schwere Anker
an seiner Kette voraus an Land vergraben. »Das ist absolut sturmsicher
so«, der Skipper geht zur Abkühlung im
glasklaren Flusswasser baden. Schon
eine Reise in ein kleines Paradies.
Natur pur und ein Gefühl von Abenteuer - das verspricht ein Hausboot-Törn im
(noch) jungfräulichen Fluss-Revier von
Netze und Warthe in Großpolen.
Neuland-Entdecker werden sich hier
wohl fühlen.
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