Die große Erzählung – Die Odyssee in einer Stunde
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Die große Erzählung – Die Odyssee in einer Stunde
Die große Erzählung – Die Odyssee in einer Stunde Materialsammlung Spielzeit 2011/12 Homer: Odyssee (um 700 v. Chr.) Nach der Ilias ist die um 700 v. Chr. entstandene Odyssee das älteste Werk der griechischen und damit der abendländischen Literatur. Das aus 12200 Hexameterversen bestehende Epos erzählt in 24 Gesängen von der durch viele Irrwege verzögerten Heimfahrt des zum griechischen Heer gehörenden Trojakämpfers Odysseus. Wie die Ilias beginnt auch die Odyssee mit einem Musenanruf: "Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes." (I, 1) Die Erzählung setzt ein mit einer Sitzung der olympischen Götter, bei der die Göttin Athene dafür plädiert, den bereits im achten Jahr von Kalypso festgehaltenen Odysseus, König von Ithaka, zu seiner Gattin Penelope und seinem Sohn Telemachos zurückkehren zu lassen. Die Handlung wird zunächst in zwei Strängen geführt: Während Athene sich nach Ithaka begibt und Telemachos dazu bewegt, sich auf die Suche nach seinem Vater zu begeben, wird der Götterbote Hermes zu Kalypso gesandt, um Odysseus freizubitten. Odysseus begibt sich daraufhin mit einem Floß auf den Heimweg, erleidet aber bei einem vom Meeresgott Poseidon geschickten Unwetter Schiffbruch und erreicht mit letzter Kraft das rettende Ufer im Land der Phaiaken. Am Hof des Königs trägt bei einem festlichen Gastmahl ein Rhapsode (Sänger) Lieder über den durch die berühmten Krieger Achilleus und Odysseus herbeigeführten Untergang Trojas vor. Odysseus, der seine Identität bislang nicht preisgegeben hatte, wird durch die Erinnerung an seine Geschichte gerührt und beginnt zu weinen. Auf Wunsch des Königs des Phaiaken erzählt er nun seine Geschichte. Erst diese Rückblende, Erzählung in der Erzählung, unterrichtet den Leser von den Abenteuern, die Odysseus vor seinem Aufenthalt bei Kalypso bestanden hatte: die Blendung des Poyphem, die Überwindung der verführerischen Sirenen, der frevelhafte Diebstahl der Sonnenrinder, den die Gefährten des Odysseus mit dem Leben bezahlten und viele mehr. Im zweiten Teil des Epos wird nun die Heimkehr des Odysseus geschildert: Nachts fährt er vom Land der Phaiaken nach Ithaka, verkleidet sich dort auf Anraten Athenes als Bettler und begibt sich zu dem Sauhirten Eumaios, der ihn freundlich bewirtet, obwohl er ihn nicht als seinen König erkennt. Nun werden die beiden Erzählstränge zusammengeführt: Telemachos kehrt von seiner ergebnislosen Suche nach dem Vater zurück und trifft ebenfalls beim Sauhirten ein. Auf getrenntem Wege begeben sie sich in die Stadt und Odysseus kommt verkleidet in sein eigenes Haus, den Königspalast, wo unzählige Freier um die Hand seiner Frau Penelope anhalten und bei Gelagen seine Reichtümer verprassen. Die verzweifelte Penelope hat einen Wettkampf zur endgültigen Auswahl eines zukünftigen Ehemannes angesetzt: Aber es ist der Bettler Odysseus, der, nachdem alle anderen Bewerber die Aufgabe nicht lösen konnten, als einziger den mächtigen Bogen spannen und den Pfeil durch zwölf Äxte schießen kann. Nun gibt er sich zu erkennen und tötet gemeinsam mit Telemachos alle Bewerber. Seine Frau Penelope aber kann er nur dadurch davon überzeugen, daß er wirklich Odysseus ist, daß er sein Wissen um das Geheimnis der Konstruktion des Ehebettes zu erkennen gibt. Stärker als die Ilias ist die Odyssee auf die Geschichte eines Helden ausgerichtet. Darüber hinaus ist Odysseus weniger ein strahlender Held, ein unerreichbarerer Heros, wie die Protagonisten der Ilias, sondern er ist ein vorbildlicher Charakter: er trägt die Beinamen "der Listenreiche" und "der göttliche Dulder" und zeichnet sich eher durch menschliche und soziale als durch heroische Züge aus. Gerade durch diese individualisierenden Tendenzen der Odyssee ist dieses Epos vielleicht noch einflußreicher für die Entwicklung der gesamten abendländischen Literatur geworden als die Ilias – nicht zufällig liest Goethes Werther die Odyssee (nicht etwa die Ilias) und schreibt James Joyce einen Ulysses. Hegel vertritt in seiner Ästhetik die These, daß der epische Held Odysseus kein individuelles Schicksal, sondern das der Gemeinschaft trage, und stellt dieses den heroischen Weltzustand kennzeichnende Entsprechungsverhältnis von Individuum und Ganzem ("Totalität") dem entwurzelten Subjekt des modernen Romans gegenüber. Adorno / Horkheimer schließlich zeigen in der Dialektik der Aufklärung am Beispiel des sich gegen mythische Naturgewalten behauptenden Odysseus, daß schon im Mythos Aufklärung steckt: Sie lesen die Odyssee als "Urgeschichte der Subjektivität". Homer: Ilias. Odyssee, übers. v. J.H. Voß, Frankfurt/M. 1990. Sekundärliteratur: 1. J. Latacz: Homer. Der erste Dichter des Abendlandes, 2. Aufl., München 1989. 2. U. Hölscher: Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München 1988. 3. Th.W. Adorno / M. Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988. http://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/poetik/odyssee.htm Die Stationen der Irrfahrt 1 Troja (Ilion) 2 Alexandroupolis (Ismaros): Kikonen 3 Kap Maleia (Malea): Nordsturm 4 Djerba (Meninx): Lotophagen 5 Favignana (Caprera): Ziegeninsel 6 Trapani: Kyklopen, Polyphemos 7 Lipari und Vulcano: Reich des Aiolos 8 Bonifacio (Telepylos): Laistrygonen 9 Kap Circeo ("Insel" Aiaia): Kirke 10 Gibraltar: Hades 11 Capri/Galli: Sirenen 12 Straße von Messina: Skylla und Charybdis 13 Taormina (Thrinakia): Rinder des Sonnengottes Helios' 14 Malta/Gozo (Ogygia) : Schiffbruch; Landung bei Kalypso 15 Korfu (Scheria): Schiffbruch; bei den Phäaken 16 Ithaka (Phorkys-Bucht): Heimkehr Kapitel 12: Skylla und Charybdis nacherzählt von Ulrich Karger Kirkes Ratschläge an Odysseus* Nach dem Ende des Trojanischen Krieges, auf dem Heimweg nach Ithaka, muss Odysseus eine Reihe von Abenteuern bestehen. Eines führt ihn zu der Zauberin Kirke. Als es dunkel geworden war, legten sich meine Gefährten bei dem angetäuten Schiff nieder. Mich aber führte Kirke an der Hand ein wenig abseits. Schließlich lagen wir beieinander, und ich musste ihr erzählen, wie es mir im Hades ergangen war. "Das hast du also hinter dich gebracht - so weit, so gut! Doch in Kürze musst du an den Sirenen vorbei. Komme ihnen mit deinem Schiff auf keinen Fall zu nahe. Ihr Gesang bezaubert die Seeleute, deren Leichname dann rings um sie her verfaulen, bis nur noch die blanken Knochen übrigbleiben. Gegen den Bann ihrer Gesänge hilft nur Wachs in den Ohren. Wenn du aber ihren zauberischen Weisen lauschen willst, lasse dich von deinen wachsgeschützten Gefährten an den Schiffsmast fesseln. Je heftiger du dann flehst, dass sie dich doch losbinden sollen, um so stärker sollen sie die Fesseln anziehen. Seid ihr an den Sirenen vorbeigerudert, musst du zwischen zwei Wegen wählen. Die Entscheidung kann ich dir nicht abnehmen, aber ich kann dich auf beide Wege vorbereiten. In der einen Richtung wirft die Schaumkronen tragende Meeresgöttin Amphitrite ihre Gischt auf hohen Wellen gegen überhängendes Felsgestein. Diese Felsen werden Planktai, also Klappfelsen, genannt. An ihr zerschellen selbst die Tauben, welche dem Zeus Ambrosia bringen, sodass unser Vater ihre Zahl immer wieder aufs Neue ergänzen muss. Die Schiffe, die daran vorbeisteuern wollten, sind augenblicklich in Trümmer gegangen, und die Leichen und losen Planken werden in der Brandung wild durcheinandergewirbelt. [...] Wählst du den anderen Weg, kommst du an eine Felsenschlucht. Die schartige Gipfelspitze der einen Wand ist vom Wasser aus nicht zu erkennen, denn sie reicht bis zum Himmel. Die dunkle Wolke um sie herum weicht weder im Sommer noch zur Erntezeit. Den Gipfel zu erklimmen, wäre selbst einem Mann mit zwanzig Händen und Füßen unmöglich. Die Wand ist, wie von einem Bildhauer bearbeitet, vollkommen glatt. Weit oberhalb der Wasserlinie durchbricht eine Höhle den Fels, deren Dunkel sich nach Westen, dem düsteren Erebos entgegenstreckt. Sie liegt so hoch, dass kein Pfeilschuß sie erreichen kann. In ihr haust Skylla. Sie winselt und bellt wie ein frischgeborener Welpe, aber sie ist ein Ungeheuer, vor dem es selbst die Götter graut. Mit zwölf schrecklichen Klauen krallt sie sich in den Fels, und ihre sechs unfassbar langen Hälsen tragen sechs widerwärtige Köpfe. Sie können ins Wasser tauchen, während der Unterleib noch in der Höhle steckt. Sechs mal drei dicht gedrängte Reihen scharfer Zähne schnappen nach Hundsfischen, Delfinen und größeren Tieren, die ihr Amphitrite in großer Zahl entgegentreibt. Ohne Opfer ist an ihr noch kein Schiff vorbeigesteuert. Skyllas raffgierige Rachen raubten stets mindestens sechs Männern der Besatzung das Leben. Über den der Skylla gegenüberliegenden Felsen könntest du dagegen einen Pfeil hinwegschießen, so flach ist er. Auf ihm steht ein großer, dichtbelaubter Feigenbaum, dessen Äste weit über den Felsenrand ragen. Darunter aber lauert Charybdis. Dreimal am Tag saugt sie gewaltige Wassermassen in sich hinein und genauso oft gurgeln sie wieder aus ihr heraus. Näherte sich dein Schiff der saugenden Charybdis, könnte dich, selbst wenn er es wollte, auch Poseidon nicht retten. Darum steuere so dicht und so schnell wie möglich an Skylla vorbei. Besser sechs Leute verlieren, als die ganze Besatzung." "Ist denn die Skylla wirklich so unbesiegbar, dass man sich gegen sie nicht wehren kann?" fragte ich Kirke, aber sie wehrte sogleich ab: "Wahnsinniger! Meinst du etwa, du könntest mit einer Heldentat etwas gegen sie ausrichten? Skyllas Schrecken ist unsterblich! Du kannst bei ihr nur dein Glück in der Flucht zu suchen. Alles andere ist sinnlos. Rudere so schnell wie möglich an ihr vorbei und bete dabei zu Krataiis, der Mutter Skyllas, auf dass sie ihre Tochter zurückhält, ein zweitesmal dein Schiff anzugreifen. Nur so gelangst du jemals zur Insel Thrinakia. Dort weiden die Rinder und Schafe des Sonnengottes. Die Töchter des Helios und der Neära, die schöngelockten Nymphen Phaëthusa und Lampetië, geben auf sie Acht. Es sind sieben Rinderherden und sieben Schafherden, soviel wie die Woche Tage hat, und zu jeder Herde zählen fünfzig Tiere, soviel wie sich das Jahr in Wochen teilt. Sie vermehren sich nicht, aber sie werden auch nicht weniger. Verletzt ihr sie nicht, werdet ihr einigermaßen heil Ithaka erreichen. Im anderen Fall werdet ihr alle untergehen. Selbst wenn du als einziger überleben solltest, würdest du erst viel später und sehr elend heimkehren." Damit verabschiedete sich die zauberreiche Kirke von mir, denn Eos war schon dabei, sich ihr rosiges Kleid anzulegen. Ich weckte meine Gefährten und trieb sie zur Eile an. Nach einigen Ruderschlägen spannte sich das Segel vor einem günstigen Wind, den uns die schöne Zauberin als letzten Gruß entsandte. Nachdem auf dem Schiff alles seine Ordnung hatte und wir gut im Wind lagen, sprach ich zu meinen Gefährten: "Freunde, ich will euch nun mitteilen, was ich von Kirke in Erfahrung gebracht habe. Zunächst müssen wir an den Sirenen vorbei." Kaum hatte ich ihnen alles berichtet, was ich von den Sirenen wußte, war es plötzlich vollkommen windstill, und es kräuselte sich keine einzige Welle mehr. Wie verabredet, holten die Gefährten das Segel ein und setzten sich an die Ruder. Ich schlug indessen mit meinem Schwert Wachs von einer großen Scheibe ab. Die kleinen Stücke knetete ich unter der heißen Sonne und verklebte damit die Ohren der Gefährten. Daraufhin banden sie mich mit Tauen am Schiffsmast fest und begannen im stetigen Schlag zu rudern. Als wir schließlich der Insel in Rufweite nahegekommen waren, entdeckten uns die beiden Sirenen. "Komm doch, viel besungener Odysseus, der du unter den Achaiern einer der Besten bist! Lege an mit deinem Schiff und erfreue dich an unserem Gesang! Wir wissen alles, was sich in Troja zugetragen hat, wissen von allem, was auf der Erde geschieht!" Ich flehte meine Gefährten mit den Augen an, mich doch loszubinden. Sie aber schlugen die Ruder noch heftiger in die graue See, während Eurylochos und Perimedes die Fesseln stramm hielten. Erst als wir ein gutes Stück an der Insel vorbeigezogen waren, entfernten sie das Wachs aus ihren Ohren und banden mich vom Mast los. Kurze Zeit später wurden meine Gefährten von einem fürchterlichen Rauschen erschreckt. Die Brandungswellen vor uns waren so gewaltig, daß ihre Gischt wie Dampf über den Felsen hing. Da ließen die Männer ihre Ruder aus der Hand fahren und gaben das Schiff der Strömung preis. Wie sollte ich sie nur wieder ermutigen? "Freunde, das ist doch nicht die erste Gefahr, der wir begegnen!", rief ich ihnen zu. "Ich habe euch aus der Hand des Kyklopen befreit, und wenn ihr jetzt auf mich hört, umschiffen wir auch diese Klippe: Ihr müsst rudern, was das Zeug hält, und auf Zeus' Beistand hoffen. Du, Steuermann, komme dem Strudel nicht zu nah, sondern halte genau auf den Felsen dort zu, damit wir nicht abtreiben. Sonst sind wir alle dem Untergang geweiht!" Von der Skylla sagte ich nichts, sonst wären sie vor Angst völlig gelähmt gewesen. So aber gehorchten sie mir. Ich vergaß indessen Kirkes Mahnung, legte meine Rüstung an, ergriff zwei lange Speere und hielt am Bug des Schiffes nach Skylla Ausschau. Jedoch, so sehr ich auch den braunen Felsen absuchte, ich konnte sie nirgends entdecken. Vor Anstrengung schmerzten mir schon bald die Augen. Wir gelangten schließlich in die Enge und es gab kein Zurück mehr. Auf unserer Seite Skylla, auf der anderen die gurgelnde Charybdis. Kirke hatte nicht übertrieben! Wenn Charybdis das Wasser brodelnd von sich gab, schien es zu kochen. Die Gischt sprang bis zu den Spitzen der beiden Klippen. Saugte sie das Wasser aber wieder an, bildete sich ein Strudel, in dessen Mitte man bis zum schwarzsandigen Grund sehen konnte. Während wir gebannt dieses Schauspiel verfolgten, langte Skylla mit ihren Köpfen in unser Schiff und holte sich sechs meiner besten Männer. Ihre Entsetzenschreie übertönten sogar den Lärm der Brandung, und ich hörte sie verzweifelt meinen Namen rufen. Hilflos mußte ich mit ansehen, wie meine Gefährten von dem Ungeheuer verschlungen wurden. Diesen jammervollen Anblick werde ich nie vergessen. Dann aber hatten wir die Meerenge passiert und gelangten schließlich zur Insel des Sonnengottes. *(Überschrift und kursive Einführung analog zum ausgewählten Abschnitt für PROJEKT Lesen A 6; S. 148 ff.; Bayerischer Schulbuch Verlag; München 2001; siehe auch Kapitel 12 Skylla und Charybdis S. 94 ff. der TBAusgabe 2004 und S. 97 ff. der Erstausgabe 1996) http://home.arcor.de/karger/uk-rody-Tp.htm Wann Odysseus nach Ithaka zurückkehrte Eine Sonnenfinsternis ermöglicht eine Datierung der Odyssee Astronomen haben anhand einer in Homers Odyssee beschriebenen Sonnenfinsternis die Ankunft von Odysseus in Ithaka datiert: Demnach kehrte der sagenhafte König und Heerführer am 16. April 1178 vor Christus nach seiner Irrfahrt auf seine Heimatinsel zurück. Das fanden die Wissenschaftler heraus, als sie den in der Odyssee beschriebenen Bericht über die Sonnenfinsternis und weitere Anspielungen auf astronomische Begebenheiten auf ihre Stimmigkeit hin untersuchten. Die Forscher wollten herausfinden, um welche Sonnenfinsternis es sich gehandelt haben könnte, die in der Odyssee beschrieben ist. Dazu suchten sie in anderen Passagen aus dem Epos nach Aussagen zu bestimmten Himmelsereignissen, mit denen sich der Zeitpunkt des astronomischen Ereignisses näher eingrenzen lassen kann. Zum beschriebenen Zeitpunkt war demnach Neumond, eine Grundvoraussetzung für eine Sonnenfinsternis, die Venus stand hoch am Firmament und zwei Sternenkonstellationen waren am Himmel gleichzeitig sichtbar: der Sternhaufen der Plejaden und Boötes, das Sternenbild des Bärenhüters. Zudem stand der Merkur nahe des westlichen Endes seiner Umlaufbahn, schlossen die Forscher aus den Beschreibungen in der Odyssee. Da diese Ereignisse nicht im selben Muster zwei Mal auftreten, konnten die Forscher die Sonnenfinsternis und damit den Tag der Heimkehr des Odysseus exakt datieren. Da sich die Beschreibungen in der Odyssee so exakt mit den Ereignissen am Himmel in Einklang bringen lassen, unterstützten die Ergebnisse die generelle Glaubwürdigkeit der Aussagen aus dem bekannten Weltepos, erklären die Wissenschaftler. Constantino Baikouzis (Rockefeller Universität, New York) und Marcelo Magnasco (Astronomisches Observatorium, La Plata): PNAS, Online-Vorabveröffentlichung, DOI: 10.1073/pnas.0803317105 http://www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/292427.html Das Troja Homers Viele verschiedene Schriftsteller der Antike haben an der trojanischen Sage mitgearbeitet. Das Epos ist in unzähligen Epen und Gesängen über Jahrtausende hinweg immer wieder verewigt und neu besungen worden. Doch als Urvater der Legende vom trojanischen Krieg ist Homer in die Geschichte eingegangen. Homer – Vater der Dichtkunst Homer war ein griechischer Dichter, der vor etwa 2800 Jahren gelebt hat. Er stammte vermutlich aus Kleinasien, von der anatolischen Westküste. Homer gilt als Urvater der europäischen Dichtkunst, seine beiden Epen "Ilias" und "Odyssee" gehören zu den ältesten Werken der abendländischen Literatur. Der griechhische Dichter überliefert uns die sagenhafte Geschichte eines Krieges, in dem eine schöne Frau, Helden und Götter die Hauptrollen spielen. Die Troja-Erzählung, die zu den beliebtesten Stoffen der Weltliteratur gehört, ist sicherlich keine Erfindung Homers gewesen. Damals wurde die Troja-Sage vermutlich von fahrenden Sängern und Dichtern immer wieder vorgetragen, verändert und verdichtet. Homer - Vater der Dichtkunst Wir wissen nicht viel über Homer. Es ist nicht einmal belegt, dass er wirklich gelebt hat und dass seine beiden Epen auch wirklich von ihm verfasst wurden. Aber es ist sehr wahrscheinlich. Der antike Geschichtsschreiber Herodot, der 300 Jahre später gelebt hat, geht zumindest von einer historischen Person aus. Homer soll seinerzeit ein kleiner Star gewesen sein, seine Vortragskunst war sehr beliebt. Mit den Heldengesängen vom Trojanischen Krieg begeisterte er die Mächtigen seiner Zeit auf vielen Vortragsreisen, die ihn durch die damaligen Fürstenhöfe führten. Die Auseinandersetzung zwischen Agamemnon und Achilles um die Sklavin Briseis ist das Leitmotiv seiner Erzählung "Ilias". Die Sage endet mit dem Zweikampf zwischen den großen Protagonisten Hector und Achill. In der Illias informiert uns Homer jedoch noch nicht über das Ende des Trojanischen Krieges. Erst in der "Odyssee", dem zweiten großen Werk Homers, das die Irrfahrten des Odysseus erzählt, wird über den Untergang Trojas berichtet. Homer und die Entdeckung der Schrift Homers größter Verdienst ist die schriftliche Fixierung: Er hat sein Werk aufgeschrieben und den Stoff dadurch nicht nur seinen Zeitgenossen, sondern auch uns zugänglich gemacht. Das war damals keine Selbstverständlichkeit. Genau zu Homers Lebzeiten entwickelte sich in Griechenland gerade eine neue Schrift. 400 Jahre zuvor - zu Zeiten des trojanischen Krieges - behalfen sich die Griechen noch mit der unvollkommenen Silbenschrift Linear B. Doch mit der Zerstörung der mykenischen Kultur 1200 Jahre vor Christus war auch diese Schrift verloren gegangen. Man nennt diese Epoche des kulturellen Niedergangs auch das dunkle Zeitalter Griechenlands. Der trojanische Krieg fand der Legende nach etwa 1200 Jahre vor unserer Zeitrechnung statt. Für Homer lag die Zeit des besungenen Krieges bereits ein halbes Jahrtausend zurück. Doch der Dichter beschreibt in seinen Epen nicht nur die fantastischen Begebenheiten einer mythischen Schlacht zwischen Heroen, Göttern und Sehern. Seine Erzählungen sind zudem außergewöhnlich detailreich: Er schildert genau die Rüstungen und Waffen der Kriegsparteien, er beschreibt Kopfbedeckungen, Riten, Kulte und viele andere Zusammenhänge, die es zu seinen Lebzeiten schon lange nicht mehr gab. So können Teile der homerischen Überlieferung wie eine Chronik gelesen werden, als Zeugnisse aus der Bronzezeit. Theorie der Oral History Wie konnte Homer aber von solchen Details Kenntnis haben, wenn er doch auf keine schriftlichen Zeugnisse zurückgreifen konnte? Spezialisten der homerischen Epen haben in jahrelanger Arbeit auf dem Feld der "Oral History", der Geschichtswissenschaft von der mündlichen Überlieferung, geforscht. Die mündliche Überlieferung spielt vor allem für die Rekonstruktion der Epochen eine große Rolle, die keine Schrift kannten. Geschichten, Mythen und Traditionen wurden in diesen Kulturen von Generation zu Generation weitererzählt und erst viel später schriftlich fixiert. Wenn aber die Sage vom trojanischen Krieg mündlich immer aufs Neue weitergegeben wurde, musste sie sich im Laufe der langen Zeit durch das Hinzufügen und Weglassen bestimmter Handlungsstränge so sehr verändert haben, dass von ihrem ursprünglichen Erzählkern kaum mehr als eine vage Erinnerung überlebt hätte. Es sei denn, der mündlich überlieferte Text wäre aus stilistischen Gründen unverändert weitergegeben worden. Wenn wir ein Gedicht aufsagen oder einen Abzählreim, transportieren wir neben dem Inhalt auch Rhythmus und Reimschema. Rhythmus und Reimschema bewirken im Gegenzug, dass der Text wortwörtlich weitergereicht wird. Diese Idee greift der Basler Homerforscher Joachim Latacz auf und führt als Beleg die strenge Form des Hexameters an. Der Hexameter - das rhythmische Versmaß der Homerschen Epen - ist das Stützkorsett für den Inhalt: Die Texte sind durch Rhythmus und Reim leichter lernbar und können so auch über große Zeiträume hinweg weitergegeben werden. So ist es also durchaus möglich, dass die Sage von Troja über mehrere Jahrhunderte hinweg nicht verändert wurde. http://www.planet-wissen.de/politik_geschichte/archaeologie/troja/homers_troja.jsp Niels Weidtmann Kann Schriftlichkeit fehlen? Afrikanische Weisheitslehren im interkulturellen Dialog Einführung 1 Hampâté Bâs viel zitierter Ausspruch, dass mit jedem Alten, der in Afrika stirbt, eine ganze Bibliothek verbrenne, deutet an, welch riesigen Wissensschatz die mündlichen Überlieferungen Afrikas bergen. Die Bewahrung einmal gewonnener Einsichten, die in anderen Kulturregionen durch ihre schriftliche Fixierung in Texten sichergestellt ist, wurde in Afrika noch bis vor wenigen Generationen überwiegend durch mündliche Überlieferung geleistet. Mit der Einführung des Gebrauchs kolonialer Schriftsprachen sowie der Transkription afrikanischer Sprachen zu Beginn unseres Jahrhunderts hat das Interesse an diesen Überlieferungen stetig nachgelassen und schließlich dazu geführt, dass heute viele alte Menschen ihre Kenntnisse oraler Traditionen mit ins Grab nehmen. Damit drohen auch die oralen Zeugnisse philosophischen Denkens verlorenzugehen. 2 Um dem entgegenzuwirken, hat Odera Oruka 1974 ein Projekt zur Sammlung von Weisheitslehren ins Leben gerufen. 1 Ziel dieses Projekts ist es, diejenigen Männer und Frauen, die in ihren jeweiligen Dörfern als besonders weise anerkannt sind, zu interviewen und ihre Aussagen schriftlich festzuhalten. So sollen die oralen Traditionen in eine schriftliche Form gebracht werden. Oruka möchte dadurch zugleich die Kontinuität philosophischen Denkens in Afrika herausstellen und die afrikanischen Denktraditionen trotz ihrer oralen Struktur in den philosophischen Diskurs der Gegenwart einbringen. Der Beitrag erschien zuerst in: Nr. 1 (1998) Henry Odera Oruka: "Grundlegende Fragen der afrikanischen 'Sage-Philosophy'". In: Franz Martin Wimmer (Hg.): Vier Fragen zur 3 Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika. Wien: Passagen, 1988, 35-53. »Die Schrift ist eine 4 Sache und das Wissen eine andere. Die Schrift ist die Photographie des Wissens, aber nicht Tatsächlich hat das Fehlen einer schriftlichen Tradition die Debatte um die Existenz einer afrikanischen Philosophie in den letzten Jahrzehnten nachhaltig beeinflußt. Kwasi Wiredu beispielsweise meint, daß der afrikanische Philosoph gar keine andere Wahl habe, als sich für seine eigenen Forschungen auf Texte anderer Völker zu stützen, da ihm seine eigenen Vorfahren keine solchen Texte überliefert haben. 2 Und Peter O. Bodunrin spricht aus demselben Grund von einem »späten Start« der afrikanischen Philosophie. 3 Hier möchte Oruka mit seiner Arbeit einspringen und helfen, die Lücke zwischen "afrikanischer Tradition" und "globaler Moderne" zu schließen. Seiner Vorgehensweise liegt die Annahme zugrunde, dass orale Traditionen prinzipiell in Texte übersetzbar sind beziehungsweise dass die Kultur, deren mündliche Überlieferungsform durch eine schriftliche ersetzt wird, dennoch ihre Kontinuität bewahrt. Oralität wird demnach als das Fehlen von Schrift verstanden, in Bezug auf das Wesen von Kulturen erscheint sie als eine quantité négligeable. In den Dialog der Kulturen geht die Oralität afrikanischer Traditionen deshalb auch gar nicht mehr ein. Im Gegenteil, gerade die Teilnahme am "globalen philosophischen Diskurs" scheint die Verschriftlichung der afrikanischen Weisheitslehren zu erzwingen. 5 das Wissen selbst. Das Wissen ist ein Licht im Menschen. Es ist das Erbe all dessen, was die Vorfahren zu erkennen in der Lage waren und als Keim in uns legten, so wie der Affenbrotbaum sich 6 potentiell in seinem Samenkorn befindet.« Tierno Bokar Weisheitslehrer aus Bandiagara, Mali (zit. nach A.H. Bâ (1993), s. Anm. 7) Damit wird der Oralität afrikanischer Weisheitslehren und anderer Überlieferungen jedoch von vornherein eine eigene Bedeutung abgesprochen. Dann aber bleibt es unverständlich, weshalb sich im subsaharischen Afrika nicht schon viel früher eine Buchstabenschrift etabliert hat. Es ist bekannt, dass im westafrikanischen Raum mehrfach solche Schriften aufgekommen sind, sich aber nicht haben durchsetzen können. 4 Offenbar hat die Oralität Stärken, die sich unter gegebenen Umständen auch gegen eine Buchstabenschrift zu behaupten vermögen. Heinz Kimmerle weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die oralen Weisheitslehren, die Oruka sammelt und transkribiert, eigentlich situativ verstanden werden müssten, da sie ursprünglich an die konkrete Situation des Ratgebens gebunden waren. 5 In der schriftlichen Fixierung geht diese Situiertheit der Weisheitslehren jedoch verloren. Zudem macht Kimmerle entlang der Philosophie Derridas deutlich, dass Oralität und Schriftlichkeit mitnichten ein Gegensatzpaar darstellen. 6 Vielmehr geht die Oralität der afrikanischen Tradition mit einer bestimmten Form von Schriftlichkeit einher, ebenso wie die Kulturen, die über eine Buchstabenschrift verfügen, dennoch auch orale Elemente besitzen. In den afrikanischen Kulturen beispielsweise sind solche oralen Elemente nach wie vor sehr lebendig. Gerade die großen afrikanischen Erzähler, wie Chinua Achebe, Francis Bebey oder Hampâté Bâ, deren Werke mittlerweile auf der ganzen Welt gelesen werden, heben immer wieder die besondere Kraft hervor, die das gesprochene Wort in Afrika auch heute noch besitzt. Oralität als eine Grundstruktur menschlicher Gesellschaft »Jedes Wissen wird 7 als ein Privileg erfahren und die Eröffnung eines neuen Wissensbereichs bekommt die Bedeutung einer Einweihung in diesen Bereich, das heißt einer Initiation.« Ich möchte im folgenden versuchen, die eigene Bedeutung der Oralität afrikanischer Weisheitslehren in ihren Grundzügen aufzuzeigen. Dazu ist eine Vorüberlegung nötig: Die Oralität betrifft zum einen die Art der Tradierung und in dieser Hinsicht begegnet sie uns in der Diskussion um eine afrikanische Philosophietradition. Zum anderen darf die mündliche Überlieferungsform aber nicht isoliert gesehen werden, so als wäre Oralität einzig ein Merkmal von Traditionen und hätte weiter keine Bedeutung für die Gestalt einer kulturellen Lebenswelt. Tatsächlich findet sie sich jedoch in den verschiedensten Bereichen der Lebenswelt wieder. Nachrichten etwa wurden in den schwarzafrikanischen Kulturen bis in unser Jahrhundert hinein überwiegend mündlich verbreitet, die Regularien des gesellschaftlichen Zusammenlebens wurden mündlich festgehalten, Wissen wurde und wird auch heute häufig ohne Zuhilfenahme von Büchern vermittelt und so weiter. 8 Das hat entsprechende Folgen für die jeweiligen Bereiche. Die Aneignung von oralem Wissen etwa trainiert das Gedächtnis in besonderem Maße, weil nur auf auswendig Gewusstes auch tatsächlich zurückgegriffen werden kann. Das bedingt wiederum ein eigenes Verhältnis zum Wissen und dem Umgang mit ihm: Es können nur relativ kleine Teilbereiche in ihrer Gänze auswendig gewusst werden und ebenso werden es immer nur relativ wenige sein, die dieses Wissen teilen. Da das Wissen nicht in Büchern dokumentiert ist, steht es dem einzelnen auch nicht jederzeit zur Aneignung zur Verfügung. Dagegen müssen Schüler persönlich von ihren Lehrern in ein Wissensgebiet eingeführt werden, das ihnen andernfalls verschlossen bleibt. »Die Sprache, die 9 das Wort verfälscht, beschmutzt das Blut dessen, der lügt.« So wird jedes Wissen als ein Privileg erfahren und die Eröffnung eines neuen Wissensbereichs bekommt die Bedeutung einer Einweihung in diesen Bereich, das heißt einer Initiation. Der Einzelne, der über Wissen verfügt beziehungsweise in einen bestimmten Wissensbereich eingeweiht wird, bildet dementsprechend ein anderes Verhältnis zu ihm aus, als er es bei einer breiteren Verfügbarkeit tun würde. Er ist persönlich für die Bewahrung und Weitergabe des Wissens verantwortlich, und er ist durch die Teilhabe an ihm auf eine bestimmte Weise aus der Gesellschaft herausgehoben. Die orale Struktur hat in diesem Fall folglich Einfluss sowohl auf die Art des Wissens und die Form des Gewussten als auch auf das Selbstverständnis und das gesellschaftliche Ansehen des Wissenden. Dibi Sänger des Komo aus Koulikoro, Mali (zit. nach A.H. Bâ (1993), s. Anm. 7) 10 Ähnliches gilt, um ein zweites Beispiel wenigstens kurz zu nennen, etwa auch für Vereinbarungen über einen Handel oder dergleichen, die mündlich getroffen werden. Das Funktionieren der oralen Gesellschaft hängt daran, dass solche Vereinbarungen nicht beliebig gebrochen werden, obwohl sie nicht schriftlich festgehalten werden und deshalb auch nicht einklagbar sind. Mündliche Vereinbarungen erfordern daher eine gute Vertrauensbasis und können nur dann auch mit Fremden getroffen werden, wenn in einem solchen Fall größere gesellschaftliche Einheiten für die Gültigkeit der Vereinbarungen einstehen. Dies können beispielsweise Clangruppen sein, die ihrerseits aufgrund weiter ausgreifender und zurückreichender Verbindungen miteinander vertraut sind. Außerdem muss die Gesellschaft denjenigen, der sein Wort nicht hält, entsprechend ächten. Bâ berichtet, dass die Lüge in Afrika als »eine Art moralische Lepra« angesehen wird und derjenige, der nicht Wort hält, »besser tot als lebendig« wäre. 7 Das macht deutlich, wie sehr auch die Person des Einzelnen und seine Stellung in der Gesellschaft davon betroffen sind, ob ein einmal gegebenes Wort gehalten wird oder nicht. Derjenige, der sein Wort bricht, verstößt damit nicht bloß gegen ein Gesetz, sondern verletzt die Grundlage, auf der die Gesellschaft steht. Er wird deshalb auch nicht einfach bestraft, sondern geächtet, das heißt, ihm wird seine gesellschaftliche Daseinsberechtigung abgesprochen. »Die Oralität ist 11 kein einfacher Sachverhalt, sondern repräsentiert sowohl eine bestimmte Ebene der Selbstinterpretatio n der jeweiligen Gesellschaft als auch eine entsprechende Interpretation der Lebenswelt.« 12 An diesen beiden Beispielen, der Erlangung von Wissen und dem Treffen einer Vereinbarung, wird deutlich, dass Oralität nicht als ein bloßes – im Vergleich zur Schrift überdies minderwertiges – Werkzeug zur Vermittlung und Bewahrung von Informationen, Kenntnissen und Traditionen verstanden werden darf. Tatsächlich beeinflusst sie dagegen die Struktur des gesellschaftlichen Lebens und das Selbstverständnis der Menschen von Grund auf. Nicht nur das Werkzeug ist ein anderes, sondern dieses bekommt auch anderes anders zu fassen und lässt zugleich den Menschen, der es gebraucht, einen anderen sein, indem es ihm einen oralen Zugang zur Welt eröffnet. Die Bedeutung von Oralität liegt in dem lebensweltlichen Geflecht, das der einzelne Mensch, die Gesellschaft und die "Umwelt" mit ihrer Hilfe untereinander knüpfen. 13 Zusammengefasst: Die Oralität ist kein einfacher Sachverhalt, sondern repräsentiert sowohl eine bestimmte Ebene der Selbstinterpretation der jeweiligen Gesellschaft als auch eine entsprechende Interpretation der Lebenswelt. Ihre Bedeutung für die Weisheitslehren kann deshalb auch nur vor dem Hintergrund dieses Interpretationsgeschehens adäquat erfasst werden. Heinrich Rombach bezeichnet ein solches Geflecht als eine "Grundstruktur" beziehungsweise "Tiefenstruktur" des menschlichen Daseins, um hervorzuheben, dass die Konstitution dieses Geflechts nicht in der alleinigen Verfügung des Menschen steht, es ihn aber dennoch im Innersten betrifft. 8 Die Oralität ist deshalb gar nicht anders in den Blick zu bekommen als dadurch, dass man versucht, die verschiedenen durch sie bedingten Verstrebungen dieser Grundstruktur nachzuzeichnen. Um das Phänomen der Oralität verstehen zu können, ist also eine Analyse erforderlich, die in ihrer eigenen Logik der Logik der durch die Oralität begründeten Struktur folgt. Das ist der Sinn einer phänomeno-logischen Analyse: Sie unterwirft die Phänomene keinen von außen herangetragenen Verständniskriterien, sondern versucht, sie in ihrem jeweils eigenen Sinnzusammenhang ins Sehen zu bringen, indem sie den von den Phänomenen aufgestellten Verweisungen nachgeht und sich derart selbst um die Gewinnung des jeweiligen phänomeneigenen Blicks bemüht. Die Präsenz des geschichtlichen Horizonts »Alle Überlieferung 14 ist folglich vermittelt, das Wort der Vorväter Wenden wir uns nun zunächst der Bedeutung zu, die die Oralität für die Art und Weise der Tradierung von historischen Ereignissen, religiösen wie gesellschaftlichen Werten, praktischen Kenntnissen und eben auch von Weisheitslehren besitzt. Die mündliche Überlieferung wird in den meisten Fällen durch das "Weitersagen" dieser Kenntnisse von einer an die nächste Generation getragen. Der Prozess des Weitersagens kann nicht unterlaufen werden, indem auf ältere Quellen rekurriert wird, denn jede solche ältere Quelle ist ihrerseits mündlich überliefert. Alle Überlieferung ist folglich vermittelt, das Wort der Vorväter erreicht die Jüngeren durch den Mund ihrer Väter. erreicht die Jüngeren durch den Mund ihrer Väter.« »Die Oraltradition 15 begünstigt die Konsolidierung von Wissen als dogmatische, unbestimmte Systeme, während die archivarische Übertragung eher die Möglichkeit der Kritik des Wissens zwischen den Individuen und den Generationen fördert.« Paulin J. Hountondji (Anm. 9) Das bedeutet, dass nur das überliefert wird, was in der vorangehenden Generation in lebendiger Erinnerung ist. Die mündliche Überlieferung spiegelt daher die Interessen und Interpretationen der jeweils überliefernden Generation viel stärker wider, als das in einer schriftlichen Tradition, in der einzelne Texte zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten können, der Fall ist. Es wird immer irgendwie "Verstandenes" tradiert, selbst der Überlieferung bloßer Fakten geht eine Auswahl dieser Fakten voraus. Ebenso bedeutet die Aufnahme, Erinnerung und die erneute Weitergabe der Überlieferungen zu einem späteren Zeitpunkt, dass diese von der jüngeren Generation eigens interpretiert, das heißt, angeeignet werden. Mündliche Überlieferungen sind so gesehen immer sinnvoll. Es bildet sich keine Differenz zwischen einem historischen und einem gegenwärtigen Horizont heraus, die durch einen Zirkel hermeneutischen Verstehens und eine daraus resultierende Verschmelzung dieser beiden Horizonte überwunden werden müsste. 16 Daraus ist nun allerdings nicht abzuleiten, dass das geschichtliche Selbstverständnis einer Gesellschaft mit mündlicher Überlieferung weniger veränderlich und entwicklungsfähig ist als das einer solchen mit Schrifttradition, wie beispielsweise Paulin J. Hountondji meint. 9 Vielmehr wird es bei jedem Überlieferungsschritt an den gegenwärtigen Horizonten gemessen, und der Wandel ist auf Grund dieser Kontinuität lediglich weniger offensichtlich. In jeder einzelnen Überlieferung steht auch das gesellschaftliche Selbstverständnis im Ganzen mit zur Diskussion, da sowohl die bloße Tatsache, dass, als auch die Art und Weise, wie eine bestimmte Kenntnis überliefert wird, dieses Verständnis mitgestalten beziehungsweise repräsentieren. 17 Für die mündliche Überlieferung lassen sich immer mindestens diese zwei Dimensionen unterscheiden: Zum einen die konkrete überlieferte Kenntnis und zum anderen das gesellschaftliche Selbstverständnis, das darin mitgesagt und mitgestaltet wird. Diese Tiefenschärfe oraler Tradierung bedingt nun einerseits, dass Erzählungen, Heldenmythen und Preislieder vom Vortragenden nur, soweit es der Steigerung der rhetorischen Brillanz dient, verändert oder ergänzt werden können. Weicht der Vortrag dagegen stärker vom bekannten Vorbild ab, dann wird er vom Publikum korrigiert. 10 18 Andererseits begründen unterschiedliche Interpretationen von Überlieferungen dann, wenn sie tatsächlich beide über mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden, in der Folge auch auseinander driftende Traditionsstränge. Sie können nicht zu einem späteren Zeitpunkt an einer Originalquelle gemessen und wieder zusammengeführt werden. Die mündliche Überlieferung ist also nicht bloß die Wiedergabe einer einfachen Kenntnis, sondern vor allem die Aktualisierung und "(Re-)Präsentierung" jenes geschichtlichen Horizonts einer Gesellschaft, der in Kulturen mit schriftlicher Tradierung erst in einem hermeneutischen Zirkel aufgedeckt werden muss. Das bedeutet, es geht in ihr immer auch um das Sinnganze des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, das entsprechend präsent ist. 19 Die Tatsache, dass jede einzelne Überlieferung den geschichtlichen Horizont mitsagt und so das gesellschaftliche Selbstverständnis mitgestaltet, ist auch für die weitgehende Anonymität der Autoren dieser Überlieferungen verantwortlich. Was der Einzelne lehrt, wird nur dann tradiert, wenn es dem gesellschaftlichen Gesamthorizont entspricht oder zu dessen Veränderung beiträgt. Dann aber spricht diese Lehre eben das gemeinsame Verständnis aus und wird entsprechend auch als Gemeingut empfunden. Orukas Unterscheidung zwischen sogenannten "Volksweisheiten", die weithin bekannt sind, ohne im Einzelfall kritisch reflektiert zu werden, und "philosophischen Weisheitslehren", die das Ergebnis eben einer solchen kritischen Auseinandersetzung mit den Überlieferungen sind, 11 sagt deshalb nichts über den Wert der jeweiligen Lehren aus. Vielmehr kennzeichnet er damit lediglich unterschiedliche Phasen in der Entstehung und oralen Tradierung von Weisheitslehren, die aber tatsächlich jede einzelne von ihnen immer wieder durchläuft. Interview von Kai Kresse: "Gespräch mit Henry Odera Oruka: Zur Lage der Afrikanischen Philosophie". In: Widerspruch. Zeitschrift für Philosophie 16.29 (1996), 162-171. Autorität und Kritik mündlicher Überlieferungen »Vielmehr rührt die 20 größere Autorität überlieferter Aussagen daher, dass diese sich qua ihres Überliefertseins auf das geschichtliche Selbstverständnis der Gesellschaft berufen können und sich somit als Sprachrohr Die Tatsache, dass in mündlichen Überlieferungen das geschichtlich gewachsene Selbstverständnis der Gesellschaft mitschwingt, verleiht ihnen eine besondere Autorität. In einem Streitfall versuchen die verschiedenen Konfliktparteien deshalb häufig, ihre jeweiligen Argumente dadurch zu bekräftigen, dass sie sich auf Aussagen der "Ahnen", das heißt gemeinsamer, zum Teil nicht mehr namentlich bekannter Vorfahren, berufen. Eine überlieferte Lehre oder ein Sprichwort haben mehr Gewicht als ein Argument, das nicht für sich in Anspruch nehmen kann, überliefert zu sein. Der Grund dafür ist keineswegs der, dass die Autorität der Ahnen unkritisch anerkannt wird; in Wirklichkeit ist jede Lehre in der Form, in der sie überliefert wird, bereits irgendwie interpretiert und kritisch angeeignet worden. Vielmehr rührt die größere Autorität überlieferter Aussagen daher, dass diese sich qua ihres Überliefertseins auf das geschichtliche Selbstverständnis der Gesellschaft berufen können und sich somit als Sprachrohr gemeinschaftlicher Ansichten präsentieren. In dieser Rückbindung an die Ebene der Intersubjektivität liegt der eigentliche Ausweis ihrer Objektivität. 21 Nun sind solche gemeinschaftlichen Ansichten, die das Zusammenleben einer Gesellschaft regeln, aber nicht schriftlich niedergelegt. Es gibt keinen Gesetzestext (sei er weltlicher, religiöser oder anderer Natur), an Hand dessen in einer konkreten Auseinandersetzung die Relevanz einander entgegenstehender Argumente, die sich beide auf Überlieferungen stützen, beurteilt werden könnte. Vielmehr sind die Überlieferungen in der Form, in der sie in die Auseinandersetzung eingebracht werden, immer bereits auf bestimmte Weise aufgenommen und repräsentieren entsprechend auch eine bestimmte Interpretation des gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Sie können die Ebene gemeinsamer Ansichten also nur ansprechen, nicht aber aussagen. Demnach sind auch solche Argumente anfechtbar, die sich darauf berufen, überliefert zu sein, wenngleich auch nur durch weitere Überlieferungen beziehungsweise abweichende Interpretationen der bereits vorgebrachten Überlieferungen. 22 Worum dann aber gestritten wird, ist das Selbstverständnis der Gesellschaft, innerhalb welcher der Streitfall aufgetreten ist. Das bedeutet also, dass nun nicht mehr eigentlich gegeneinander, sondern vielmehr miteinander um eine gemeinsame Sache gestritten wird. Zwar werden die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft den Boden, auf dem diese gründet, immer etwas unterschiedlich verstehen, aber es muss doch derselbe Boden sein. Sie können verschiedene Meinungen überhaupt nur dann haben, wenn sie diese zu einer Sache haben, die sie gemeinsam verorten können. Deshalb werden die Konfliktparteien, gerade um ihre eigene, persönliche Position profilieren zu können, bemüht sein, auf der Ebene des gesellschaftlichen Selbstverständnisses eine Einigung zu erzielen. 23 Die Autorität oraler Traditionen beruht folglich darauf, dass diese eine Ebene ansprechen, die in der gemeinsamen Verantwortung der Konfliktparteien steht und deren eigenes Selbstverständnis mitbestimmt. Sie darf nicht als Zeichen eines unkritischen Bewusstseins missverstanden werden. Im Gegenteil, Kritik läuft beständig auf einer sehr fundamentalen Ebene ab, insofern sich die Konfliktparteien des geschichtlichen Horizonts der Überlieferungen immer wieder von neuem vergewissern müssen und dieser deshalb laufender Korrektur ausgesetzt ist. 24 Die Tatsache, dass ein grundlegendes Einverständnis sozusagen als anerkanntes Regularium einer jeden Auseinandersetzung beständig neu gefunden beziehungsweise gemeinschaftlicher Ansichten präsentieren.« Lisa McNee: "Le cadastre de la tradition: Propriété intellectellectuelle et oralité en Afrique occidentale". In: Mots Pluriel 8 (1998). erstellt werden muss, weil es nicht in Gesetzesform oder dergleichen schriftlich festgelegt ist, ist – das sei hier nur erwähnt – wohl auch der Grund dafür, dass das afrikanische Streitgespräch, das Palaver, mit einem Konsens endet. Durch die gemeinsame Vergewisserung der gesellschaftlichen Grundlagen werden die verschiedenen Positionen im Ganzen des gesellschaftlichen Selbstverständnisses verortet. Die einander entgegenstehenden Meinungen werden also nicht aufgehoben, sondern lediglich gemeinsam in den Blick genommen. Der ConSensus meint eigentlich diesen gemeinsamen Wahrnehmungssinn und nicht eine "einheitliche Meinung". Konsens in diesem Sinne gibt es deshalb nur im Zusammenhang mit Oralität. Die Situationsgebundenheit oraler Traditionen 25 »Das entscheidende Merkmal mündlicher 26 Überlieferung ist, dass sich keine Differenz zwischen historischem und gegenwärtigem Horizont ausbildet.« 27 Das entscheidende Merkmal mündlicher Überlieferung ist, dass sich keine Differenz zwischen historischem und gegenwärtigem Horizont ausbildet. Kenntnisse müssen, um überliefert werden zu können, auch tatsächlich angeeignet und irgendwie verstanden werden. Mündliche Überlieferungen stellen folglich im Unterschied zu Texten kein Quellenmaterial dar, das einer späteren kritischen Interpretation offensteht. Sie sind immer schon verstanden. Und doch lässt sich der geschichtliche Horizont, der den Boden dieses Verständnisses bereitet, nicht selbst und nicht unmittelbar ausdrücken. Er wird in der konkreten Überlieferung lediglich mit-gesagt und ist unterschwellig als Grundlage für ihr Überliefert- und Verstandensein mit-gegeben. Dementsprechend ist er in der konkreten Form der Überlieferung zunächst keineswegs offensichtlich oder gleichsam verfügbar. Auch mündliche Überlieferungen stellen daher gewisse Anforderungen und Bedingungen, die erfüllt sein müsen, damit sie das, was sie mit-sagen, auch deutlich machen können. Wie sehen diese Anforderungen aus und wie können sie erfüllt werden? Während sich die verschiedenen Teile eines Textes zu einem Ganzen zusammenfügen und durch wiederholtes Lesen rückwirkend sinnvoll werden können, verlangt der Rückgriff auf früher Gesagtes, es erneut zu sagen – und dann wird, wenn überhaupt eine Bewegung stattgefunden hat, eben anderes gesagt. Weder erlaubt die mündliche Überlieferung deshalb, den geschichtlichen Horizont erst noch aufzudecken, noch erfordert sie dies. Der geschichtliche Horizont ist immer gerade so präsent, wie er in der konkreten Überlieferungsform mitgesagt wird. Das heißt aber auch, dass er immer gerade so deutlich ist wie die konkrete Form der Überlieferung selbst. Hier kommt nun die Situationsgebundenheit mündlicher Überlieferungen ins Spiel. Ihr tieferer Sinn kann nur dann deutlich werden, wenn ihre konkrete Aussageform vollkommen klar ist. Und das ist eben dann der Fall, wenn sie ganz genau die Situation trifft, in der die Überlieferung vorgetragen wird. Die Überlieferung hält dieser konkreten Situation dann sozusagen den Spiegel ihrer (der Situation) eigenen geschichtlichen Tiefendimension vor. Gerade weil die mündliche Überlieferung immer schon verstanden und auf bestimmte Weise interpretiert ist, kann sie nur dort ihren tieferen Sinn deutlich machen, wo die konkrete Form, in der sie überliefert ist, eine Aussage transportiert, die ganz genau auf die augenblickliche Situation passt. Ihr "BereitsVerstandensein" legt sie auf bestimmte Situationen fest. 28 »So wird das Wort, eine natürliche Lebensäußerung, jetzt durch eine Erfahrung ersetzt, die Gemeingut der Menschen geworden ist: die Schrift. Daraus 29 ergibt sich, dass das Leben selbst ein wenig an Gewicht verliert ...« Francis Bebey (Eine Liebe in Duala. München: dtv, 1993, 22) 30 »Dabei machen die Weisheitslehren die tieferen Sinnschichten, auf die sie hinweisen wollen, gerade nicht explizit.« Es geht in mündlichen Überlieferungen also nicht um ein hermeneutisches Verstehen des in ihnen Gemeinten, sondern darum, die Präsenz tieferer Sinnebenen zur Erfahrung zu bringen. Damit ist allerdings keineswegs gesagt, dass die mündliche Überlieferung nicht verstanden wird. Im Gegenteil, es geht gerade deshalb nicht um Verstehen, weil sich die mündlichen Überlieferungen immer schon im Feld des Verstehens bewegen. Das bedeutet umgekehrt aber auch, dass die mündlichen Überlieferungen gar nicht zu einem besseren Verständnis der konkreten Situation beitragen, in denen sie vorgebracht werden. Dagegen verorten sie die konkrete Situation gleichsam in der Mehrdimensionalität der Lebenswelt. Darin liegt auch die eigentliche Bedeutung der afrikanischen Weisheitslehren und der verborgene Sinn ihrer Mündlichkeit. Der Weise hält den Problemen und Fragen, die der Ratsuchende an ihn heranträgt, den Spiegel der weiteren Horizonte des Lebens vor, so wie mündlich überlieferte Traditionen der Gesellschaft den Spiegel des geschichtlichen Horizonts vorhalten. Dem Ratsuchenden wird gerade dadurch geholfen, dass seinem Problem ein Platz im größeren Gesamtgeschehen, in dem es steht, zugewiesen wird, sei dieses Gesamtgeschehen nun das Leben eines einzelnen, das gesellschaftliche Wohlergehen, die Geschichte, die Natur o.a. Eben diese Erfahrung des "Drin-seins" steht im Mittelpunkt afrikanischer Weisheitslehren: Die Ebene konkreter Aussagen respektive entsprechender konkreter Situationen wird an Hand der Weisheitslehren als Präsentation der Ebene weiter ausgreifender Lebenszusammenhänge und damit in ihrem eigenen tieferen Sinn erfahren, aber nicht von dieser anderen Ebene her verstanden oder geklärt. Diese Erfahrung gibt zugleich einen gewissen Halt und weckt ein größeres Verantwortungsbewusstsein. Dabei machen die Weisheitslehren die tieferen Sinnschichten, auf die sie hinweisen wollen, gerade nicht explizit. Sie haben dagegen häufig eine bildliche Form oder bedienen sich der Sprichwörter. Die Ursache dafür liegt in der Art der Bewahrung oraler Kenntnisse: Sie müssen auswendig erinnert werden und erfordern deshalb eine konkrete Darstellungsweise. Die besondere Bedeutung dieser bildhaften, oralen Form ist jedoch die, dass die Weisheitslehren dem Ratsuchenden so die Tiefendimension seiner eigenen Situation vor Augen führen, während sie, könnten sie die tieferen Sinnschichten direkt ausdrücken, lediglich eine hilfreiche Belehrung darstellen würden. 31 Die Situationsgebundenheit der Weisheitslehren ist demnach keineswegs auf eine größere "Unmittelbarkeit" oraler Traditionen zurückzuführen. Sie ist dagegen der Tatsache geschuldet, dass die eigentliche Bedeutung der Weisheitslehren in ihrer Übersetzungsfunktion liegt, also darin, die konkrete Situation in der Vielschichtigkeit der Lebenswelt zu verorten, und nicht darin, eine bestimmte Aussage zu machen oder einen besonderen Rat zu erteilen oder auch irgendeine abstrakte Idee zu vermitteln. Diese Übersetzungsfunktion wird aber verunmöglicht, wenn den Weisheitslehren durch ihre Verschriftlichung die Ebene der konkreten Situation des Ratsuchens genommen wird. Der Grund dafür, dass die Weisheitslehren durch die Verschriftlichung nivelliert werden, ist also nicht der, dass sie dadurch aus ihrem Kontext gerissen werden (schon der Begriff des "Kon-Texts" ist in Bezug auf orale Traditionen unpassend). Das Problem ist vielmehr, dass sie in Schriftform als feststehende Aussagen interpretiert werden, was sie gar nicht sein wollen. Die Zauberkraft des Wortes 32 »Proverbs may be better than food. If a man tells you good proverbs, he has done something ... if he gives you a lot of ugali (bread made from maize meal or millet), that may be nothing ... you won't be equally satisfied. Proverbs are big messages in small words.« Simiyu Chaungo Weisheitslehrer aus 33 Kenia (zit. nach H.O. Oruka (1990), s. Anm. 1). Die Anmerkungen zur Situationsgebundenheit afrikanischer Weisheitslehren zeigen bereits, dass sich die für die mündliche Überlieferung beschriebenen Grundzüge der Oralität in anderen Bereichen wiederfinden lassen. Ich möchte an dieser Stelle lediglich einen Aspekt nochmals etwas schärfer herausstellen. Die Kraft der Weisheitslehren beruht darauf, dass sie konkrete Situationen und Probleme in die Vielschichtigkeit der Lebenswelt zurückstellen. In der Weise, wie die Lebenswelt derartige konkrete Probleme auffangen kann, können diese sie umgekehrt aber ebenso verändern. Die Weisheitslehren verorten nicht nur die konkrete Situation in einem größeren Lebenszusammenhang, sondern korrigieren zugleich diesen selbst an Hand der jeweiligen Situation. Sie müssen deshalb auch in ihrem gestalterischen Moment gesehen werden. Sie übersetzen die verschiedenen Ebenen der Lebenswelt ineinander und bewirken so, dass Änderungen auf einzelnen Ebenen der Lebenswelt Einfluss auf die Gestaltung aller anderen Ebenen nehmen können. Auch dieser Zug der Oralität findet sich an anderer Stelle wieder. So kennzeichnet die Durchschlagskraft von Erneuerungen, die konkret zunächst nur in einem einzelnen Bereich stattfinden, vor allem Initiationen. Die Übersetzungsfunktion der Weisheitslehren übernimmt bei Initiationen die Verleihung eines neuen Namens. Durch ihn wird die Erneuerung in andere Bereiche übersetzt, was in diesen vergleichbare Veränderungen motivieren kann. Ähnlich wie die Weisheitslehren haben die Namen deshalb die Form von Sprichwörtern, das heißt, sie zeichnen ein Bild des im jeweiligen Prozess der Erneuerung Gemeinten. 12 Tatsächlich werden in jedem einzelnen gesprochenen Wort immer mehrere Horizonte mitgesagt und stehen in ihm mit auf dem Spiel. Daher rührt die eigentliche »Zauberkraft des Wortes«, von der Janheinz Jahn spricht, 13 dass nämlich das einzelne Wort Brennpunkt der gesamten menschlichen Lebenswelt ist. Die Oralität im interkulturellen Dialog 34 Die Oralität afrikanischer Weisheitslehren gibt diesen einen eigenen Sinn, was zur Folge hat, dass sie nicht ohne weiteres in eine Buchstabenschrift übertragen werden können. Die Weisheitslehren entsprechen in ihrer Gestalt einer Interpretation des menschlichen Daseins, die nicht nur durch die Art und Weise, wie Traditionen überliefert werden, sondern im ganzen oral strukturiert ist. Damit die Weisheitslehren einen wirklichen Beitrag zum philosophischen Dialog der Kulturen leisten können, müssen sie deshalb im Sinnzusammenhang dieser oralen Grundstruktur gesehen werden. Dementsprechend müssen sich die anderen Teilnehmer des Dialogs zunächst um ein Verständnis der Oralität bemühen, erst dann ist auch eine Kritik am Inhalt der einzelnen Weisheitslehren möglich. Das motiviert diese Kulturen andererseits dazu, nun die Schriftlichkeit des Diskurses ihrer eigenen philosophischen Traditionen zu reflektieren. Eine derartige Reflexion macht bewusst, dass die für selbstverständlich erachtete Schriftlichkeit selbst eine bestimmte Interpretation des menschlichen Daseins darstellt und folglich den eigenen Wert der Oralität gar nicht antastet. Im interkulturellen Dialog geht es zunächst um die Klärung und das Verstehen solcher Grundstrukturen wie beispielsweise der der Oralität oder der Schriftlichkeit. Gerade die Oralität ist deshalb der eigentliche Beitrag, den die afrikanischen Weisheitslehren zum interkulturellen Dialog leisten, und stellt keineswegs ein Hindernis für deren Einbringung in den Dialog dar. 35 Im interkulturellen Dialog wird zunächst auf die Grundstrukturen des menschlichen Daseins reflektiert. Insofern es diesen allen um dieselbe "Sache" geht, schließen sie sich auf der Ebene einer solchen Reflexion gerade nicht aus. Tatsächlich kommen in jeder einzelnen Kultur eine Vielzahl verschiedener Grundstrukturen zum Tragen, ohne dass die Kultur selbst jedoch einfach die Summe all dieser Grundstrukturen ist. 14 Eine Kultur ist kein monolithischer Block, eher ließe sie sich als die je besondere Gestalt verstehen, in der die verschiedenen Grundstrukturen in ihr zusammengehören. Der besondere Charakter einer Kultur ergibt sich gerade aus der Weise, wie sie die verschiedenen, je die ganze Lebenswelt betreffenden Gestaltungen miteinander in Einklang bringt. Oralität und Schriftlichkeit beispielsweise schließen sich nicht gegenseitig aus, aber die jeweilige »Gerade die Oralität ist deshalb der eigentliche Beitrag, den die afrikanischen Weisheitslehren zum interkulturellen Dialog leisten.« Niels Weidtmann ist als wissenschaftlicher Referent bei der Studienstiftung des deutschen Volkes tätig. Gewichtung dieser beiden Grundstrukturen verleiht einer Kultur ein besonderes Gesicht. Im interkulturellen Dialog werden sich die Kulturen ihres jeweilig eigenen Charakters bewusst und können dadurch, dass sie die verschiedenen Grundstrukturen in den anderen Kulturen auf andere Weise aufgenommen finden, im Einzelfall auch zu Korrekturen motiviert werden. Durch eine derartige Korrektur wird eine Kultur aber nicht in ihrer Gesamtkonzeption nivelliert, sondern gerade in ihrem eigenen Interpretationsgeflecht geklärt und gefördert. 36 Die Frage, welche Rolle die Oralität heute in den afrikanischen Kulturen spielt, vermag ich hier nicht zu beantworten. Die Oralität wird durch die Einführung einer Buchstabenschrift jedenfalls nicht obsolet. Gerade weil sie eine Grundstruktur menschlichen Daseins beschreibt, stellt sich zu keinem Zeitpunkt die Frage, ob eine Kultur oral ist oder ob sie es nicht ist. Die Frage ist dagegen, welchen Gestaltungswert die Oralität für eine Kultur hat. Eine Beschäftigung mit den überlieferten Weisheitslehren kann nicht nur den afrikanischen Kulturen bei der Beantwortung dieser Frage helfen. polylog. Forum für interkulturelle Philosophie 3 (2001). Online: http://them.polylog.org/3/awn-de.htm ISSN 1616-2943 Quelle: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 1 (1998), 74-84. Anmerkungen 1 Vgl. Henry Odera Oruka (1990): Sage philosophy. Indigenous thinkers and modern debate on African philosophy. Leiden: Brill. 2 Kwasi Wiredu (1980): Philosophy and an African culture. London: Cambridge University Press, 48. 3 Peter O. Bodunrin (1984): "The question of African philosophy". In: Richard A. Wright (ed.): African philosophy. An introduction. 3rd ed. Lanham: University Press of America, 19. 4 Vgl. Janheinz Jahn (1995): Muntu. Die neoafrikanische Kultur. 2nd ed. München: Diederichs, 197. Außerdem Wiredu (1980), 40. 5 Heinz Kimmerle (1993): "Afrikanische Philosophie als Weisheitslehre?" In: R.A. Mall / D. Lohmar (Hg.): Philosophische Grundlagen der Interkulturalität . Amsterdam: Rodopi, 164. 6 Heinz Kimmerle (1991): Philosophie in Afrika – Afrikanische Philosophie. Frankfurt/M.: Campus, 60-66. 7 Amadou Hampâté Bâ (1993): "Von Mund zu Ohr. Initiation, Oralität, Gedächtnis: Afrikas lebende Tradition". In: Lettre International Berlin 21, 47. 8 Vgl. Heinrich Rombach (1980): Phänomenologie des gegenwärtigen Bewußtseins. Freiburg: Alber, 283332. 9 Paulin J. Hountondji (1993): Afrikanische Philosophie. Mythos und Realität. Berlin: Dietz, 117-118. 10 Finnegan sieht in der Möglichkeit, dass die Zuhörerschaft korrigierend in eine Erzählung eingreift, den wesentlichen Unterschied zwischen oraler und schriftlicher Überlieferung. Ruth Finnegan (1970): Oral literature in Africa. Oxford: Oxford University Press, 11. 11 Vgl. Oruka (1990). 12 Didier Njirayamanda Kaphagawani (1987): "The philosophical significance of Bantu nomenclature: A shot at contemporary African philosophy". In: Guttorm Fløistad (ed.): Contemporary philosophy. Vol. 5: African philosophy. Den Haag: Martinus Nijhoff, 147 ff. 13 Jahn (1995), 131-165. 14 Die vielschichtige und lebendige Gestalt einer jeden Kultur, die ich hier nur andeute, hat Rombach in einer Analyse der "sozialen Ordnungen" ausgearbeitet. Vgl. Heinrich Rombach (1994): Phänomenologie des sozialen Lebens. Grundzüge einer phänomenologischen Soziologie . Freiburg: Alber, 31-145. http://them.polylog.org/3/awn-de.htm erstellt von Eva Bormann, Junges Theater Marburg, September 2011