juri rytcheu
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juri rytcheu
Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Dienstag, 22.10.2002 Nr.245 59 Der fremde Blick Juri Rytchëus neues Selbstbewusstsein Mit langjähriger Konstanz hat sich der Zürcher Unionsverlag um das ungewöhnliche Werk von Juri Rytchëu (geb. 1930) verdient gemacht. Der Russisch schreibende Rytchëu stammt aus dem äussersten Nordosten Sibiriens, aus der Siedlung Uëlen, die direkt an der Beringstrasse liegt. Er ist der erste Schriftsteller der Tschuktschen, eines Jägervolks, das 12 000 Menschen umfasst. Bis jetzt liegen von Juri Rytchëu sieben Romane vor, die um sein zentrales Thema kreisen: den schwierigen Kulturkontakt zwischen den Tschuktschen und den Europäern, die in die unwirtliche Polarregion vorgestossen sind. Es ist Rytchëu in der Vergangenheit nicht immer gelungen, seine Texte mit dem nötigen Selbstbewusstsein zu verfassen: Bisweilen treten die Tschuktschen in seinen Romanen als primitive Wilde auf, die staunend die Segnungen der westlichen Zivilisation entgegennehmen. In seinem neusten Buch mit dem Titel «Der letzte Schamane» vermeidet Rytchëu solche Schablonen und gewinnt dadurch entscheidend an literarischer Souveränität. Mit äusserster Konsequenz hält er den verfremdenden Blick der Tschuktschen auf die europäische Welt durch. Das beginnt bei den Volksnamen: Amerikaner und Russen, die es an die Tschuktschensee verschlägt, werden vom Erzähler konsequent entweder als «Haarmünder» oder einfach als «Tangitan» («Fremder/Feind») bezeichnet. Rytchëu präsentiert auch das Programm der christlichen Missionare aus der Perspektive der Ureinwohner: Man lässt sich taufen, weil man ein neues weisses Hemd bekommt. Ein weiteres nützliches Geschenk ist ein Metallkreuz, das sich leicht in einen Angelhaken umbiegen lässt. Der Inhalt der christlichen Religion ist kompliziert und widersprüchlich: Gott begehrt in der Gestalt des Heiligen Geistes die verheiratete Maria und verstösst damit selbst gegen eines seiner fundamentalen Gesetze. «Der letzte Schamane» ist ein Werk, das sich keinem Genre vorbehaltlos zurechnen lässt. Es ist gleichzeitig Schöpfungsmythos und Geschichtswerk, Bildungsroman und Biographie, ethnologisches Dokument und kulturkritischer Essay. Rytchëu beginnt seine Erzählung mit der Schöpfung der Welt, die in der Vorstellungswelt der Tschuktschen aus den festen und flüssigen Exkrementen eines Raben entstanden ist, und endet mit der eigenen Geburt im Jahr 1930. Dazwischen liegt © 1993-2004 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Dienstag, 22.10.2002 Nr.245 59 ein weit gespannter Bogen, der vom rituellen Selbstmord des Stammesvaters über die Ankunft der ersten Russen im Jahr 1648 bis zur Sowjetisierung der Siedlung reicht. Besonders ausführlich schildert Rytchëu das Leben seines Grossvaters Mletkin, das in der Tat den Stoff für einen Roman bietet: Als junger Mann wird Mletkin vom Dorfältesten zum Schamanen ausgebildet, er lernt bei einem verbannten Revolutionär Russisch, dann heuert er auf einem amerikanischen Walfangschiff an, wo er vom Kapitän in die Grundlagen des abendländischen Wissens eingeführt wird, später vertritt er sein Volk bei der Weltausstellung 1893 in Chicago, schliesslich kehrt er nach Uëlen zurück und wird dort von einem Sowjetkommissar hinterrücks ermordet. Rytchëu weiss seine erzählerischen Sensationseffekte wohl zu setzen, gleichwohl gelingt es ihm, auf überzeugende Weise die Lebenswelt eines Urvolks zu porträtieren, dessen Glücksangebote trotz extremen Naturbedingungen alle Verlockungen des westlichen way of life hinter sich lassen. Ulrich M. Schmid Juri Rytchëu: Der letzte Schamane. Unionsverlag, Zürich 2002. 352 S., Fr. 29.–. Die © 1993-2004 Neue Zürcher Zeitung AG Tschuktschen-Saga. Blatt 2