Schmid_2006_NZZ_Rytcheu
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nzz 02.12.06 Nr. 281 Seite 72 li Teil 01 Tod einer Tschuktschin «Gold der Tundra»: Juri Rytchëus Roman aus dem hohen Norden Wenn man auf dem Globus die Heimat des Schriftstellers Juri Rytchëu finden will, muss man nahe an den Aufhängepunkt gehen, wo die Erdachse aus der Kugel ragt: Die Tschuktschenhalbinsel im äussersten Nordosten Russlands sieht bereits als weiss-bläulicher Fleck auf der Erdkugel unwirtlich aus. Wenn man Rytchëus Prosa liest, erfährt man mehr über das Leben in dieser entlegenen Gegend. Der mittlerweile 76-jährige Rytchëu schreibt auf Russisch und hat sein literarisches Werk ganz der Kultur der Tschuktschen gewidmet. Dabei spürt er den verschiedensten Traditionslinien nach: Er schildert die mythischen Wurzeln seines Volks, die zweifelhaften Segnungen der Zivilisation, den Kulturschock der Sowjetisierung und schliesslich den Kontakt mit der Warenkultur des Kapitalismus. Rytchëus neuster Roman, «Gold der Tundra», erzählt die Familiengeschichte zweier Geschwister aus Alaska, die sich für ihren verstorbenen Grossvater auf der russischen Seite der Beringsee interessieren. Es gelingt Rytchëu, diese Ahnensuche auf überzeugende Weise in die Geschichte des 20. Jahrhunderts einzubetten. Im Zentrum des Romans steht die Liebesgeschichte zwischen einer Tschuktschin und einem amerikanischen Eskimo, die trotz allen kulturellen Unterschieden zu einem Paar werden. Die Beziehung scheitert nicht an unüberbrückbaren Unterschieden, sondern am brutalen Ex-Ehemann, der die Tschuktschin im Suff vergewaltigt und niedersticht. Dieses tragische Schicksal spielt sich vor dem Hintergrund der schwierigen Lebensbedingungen der Tschuktschen ab: Der Alkohol zerrüttet die meisten Familien, die neue Demokratie wird durch Wahlfälschungen kompromittiert, die politische Administration ist korrupt und nur auf den persönlichen Vorteil bedacht. Gleichwohl präsentiert Rytchëu das karge Land an der Beringsee als Ort des Glücks, wo die raue Natur die Eingriffe der Menschen immer wieder auf ein vernünftiges Mass zurückstutzt. Ulrich M. Schmid Juri Rytchëu: Gold der Tundra. Roman. Aus dem Russischen von Kristiane Lichtenfeld. Unionsverlag, Zürich 2006. 268 S., Fr. 34.70.