Psychosomatische Aspekte des Kopfschmerzes

Transcription

Psychosomatische Aspekte des Kopfschmerzes
Psychosomatische Aspekte des Kopfschmerzes
Differentialdiagnose Kopfschmerz:
Hinsichtlich der Ursachen von Kopfschmerzen unterscheidet man zwischen funktionellen und
symptomatischen Kopfschmerzen. Hierbei fasst man unter den chronischen funktionellen
Kopfschmerzen die Entitäten Migräne, Spannungskopfschmerz,
Kombinationskopfschmerz und Clusterkopfschmerz zusammen, mit denen ich mich in
meinen Vortrag näher befassen möchte.
Bei den symptomatischen Kopfschmerzen unterscheidet man solche mit klaren
extrazerebralen Ursachen wie HNO­Erkrankungen, Hypertonie, Stoffwechselerkrankungen von
solchen mit eindeutigen zerebralen Ursachen (vaskulärer, infektiöser, tumoröser Genese).
In der Differentialdiagnostik des akuten Kopfschmerzes ist stets an eine akute Subarachnoidalblutung,
Migräne, A. temporalis oder eine Hirnnervenneuropathie zu denken.
Migräne:
Es gibt zwei grobe Differenzierungen der Migräne, nämlich die einfache Migräne (ohne Aura) und die
klassische Migräne (mit Aura). Erstere zeichnet sich aus durch 4 bis 72 Stunden dauernde
rezidivierende Kopfschmerzattacken, die einseitig, pulsierend und von mäßiger bis starker Intensität
verspürt werden. Charakteristisch ist die Verstärkung der Schmerzen bei gewöhnlicher körperlicher
Aktivität, Begleitsymptome sind oft Übelkeit sowie Foto­ und Phonophobie. Die klassische Migräne ist
charakterisiert durch dieselbe Schmerzcharakteristik wie die einfache Migräne, aber zusätzlich mit
typischer Aura. Als Aurasymptomatik bezeichnet man homonyme Gesichtsfeldausfälle mit/ohne Flimmern
oder Fortifikationsspektrum, einseitige Parästhesien/ Schwächegefühl, Aphasie. Die Aurasymptome
entwickeln sich in einem Zeitraum von 5 bis 20 Minuten und dauern gewöhnlich weniger als eine Stunde.
Unmittelbar auf die Aurasymptome oder nach einem symptomfreien Intervall von unter einer Stunde
folgen dann die eigentlichen Migränekopfschmerzen.
Als Sonderformen der Migräne sind die familiäre hemiplegische Migräne (mit hemiparesischer Aura) sowie
die ophthalmoplegische Migräne (mit Lähmung der Hirnnerven III/IV/VI) anzusprechen.
Als Komplikation der Migräne sind zu nennen der Status migraenosus (Migräneattacke über 72 Stunden
Dauer), die Migraine accompagnée (mit möglichem Hirninfarkt) sowie prinzipiell ein erhöhtes
Schlaganfallrisiko bei Frauen im prämenopausalen Alter mit Migräne (und Nikotinabusus bzw. Einnahme
hormonaler Kontrazeptiva).
Spannungskopfschmerz:
Beim Spannungskopfschmerz unterscheidet man einen episodischen von einem chronischen
Kopfschmerztyp.
Der episodische Spannungskopfschmerz äußert sich durch rezidivierende, minuten­ bis tagedauernde
Cephalgien mit drückend­spannender Schmerzqualität von schwacher bis mittlerer Intensität. Die
Kopfschmerzen werden bilateral lokalisiert und erfahren keine Verschlimmerungstendenz bei körperlicher
Alltagsaktivität. Übelkeit ist kein Symptom des episodischen Spannungskopfschmerzes. Definitorisch erlebt
der Patient im Jahr überwiegend schmerzfreie Tage.
Der chronische Spannungskopfschmerz unterscheidet sich vom episodischen dadurch, dass
überwiegend Tage mit Kopfschmerzen erlebt werden, zusätzlich zur geschilderten Schmerzcharakteristik
Übelkeit, aber nicht Erbrechen hinzutreten kann.
Eine weitere Unterscheidung beim Spannungskopfschmerz ist die Differenzierung von Typen mit bzw. ohne
Beteiligung der perigranialen Muskulatur. Zu dieser Differenzierung ist in der Regel eine
druckalgometrische bzw. EMG­Messung erforderlich.
Als Ursachen des Spannungskopfschmerzes sind uromandipuläre Dysfunktionssyndrome zu nennen, ebenso
wie psychosozialer Stress, Angststörungen, depressive Erkrankungen, Überbeanspruchung der Kopf­/Hals­
/Schultermuskulatur sowie eine zugrundeliegende konversionsneurotisch­hypochondrische Symptomatik.
Epidemiologie des Kopfschmerzes:
Studien für den deutschen Sprachraum zufolge leiden ca. 70 % der Personen zumindest zeitweise an
Kopfschmerzen; an Migräne etwa 28 %, an Spannungskopfschmerzen etwa 38 %.
Bezüglich der Prävalenz überwiegen bei der Migräne die Frauen, während sich der Spannungskopfschmerz
geschlechtsäquivalent darstellt. Die Migräne findet sich im Alter seltener, im Gegensatz zum chronischen
Spannungskopfschmerz, der im Alter häufiger anzutreffen ist. Bei beiden Kopfschmerzformen besteht eine
deutliche Kopplung mit psychiatrischer Komorbidität, hier vor allem Angststörungen und Depressivität. Bei
Kindern findet sich zunehmend häufiger Migräne, die dann zu 60 % auch im Erwachsenenalter auftritt.
Von den Migränepatienten insgesamt leiden 70 % an der einfachen, 10 % an der klassischen
Migräneform.
Physiologische Grundlagen der Migräne:
Als wahrscheinlichste Grundlage der Migränekopfschmerzattacken werden Störungen im Serotoninsystem
vermutet. Serotonin ist ein vasoaktiver und allgetischer Neurotransmitter, der Hauptspeicher von
Serotonin im Gehirn, der Nucleus raphe, steht in neuraler Verbindung zum limbischen System. Messbar
sind Veränderungen des Serotoninspiegels im Blutplasma während der Migräneattacke. Des Weiteren
besteht eine Abhängigkeit der thrombozytären Serotoninliberation von Stresshormonen, diätetischen,
hormonellen und cerebralischämischen Einflüssen.
Physiologie des Spannungskopfschmerzes:
Bei den Spannungskopfschmerztypen mit Beteiligung der perigranialen Muskulatur werden zentralnervöse
und periphäre Schmerzentstehungsmechanismen diskutiert, die sich durch chronisch erhöhte
Muskelspannung/Vasokonstriktion dokumentieren. Es wird eine Sensibilisierung periphärer Nozizeptoren
bei veränderter zentralnervöser Schmerzmodulation angenommen. Beim Spannungskopfschmerz ohne
Beteiligung der perigranialen Muskulatur werden Störungen zentraler antinozizeptiver Strukturen
diskutiert, die auch unter dem Einfluss des limbischen Systems stehen, d. h. durch emotionale Erlebnisse
und Konstellationen modelliert werden können.
Auslöser von Migräne:
Als unmittelbare Auslöser von Migräne wird eine Mehrzahl von Faktoren diskutiert:
Migräneanfälle treten gehäuft prämenstruell, bei manchen Patientinnen, ausgelöst durch hormonelle
Kontrazeptiva auf. Als alimentäre Faktoren werden genannt: Konsum von Rotwein, Schokolade, Käse,
Weizen, Orangen, Eier, Milch, Alkohol, Histamin und Koffeinentzug.
Als hauptsächliche psychische Auslöser gelten ungünstige Stressverarbeitungsstrategien mit den
Koordinaten: negative Kognition, Resignation, Depression, Isolierung und Vermeidungsstrategien.
Auslöser von Spannungskopfschmerz:
Hier rangieren die psychosozialen Ursachen deutlich im Vordergrund. So sind vor allen Dingen Angst,
Depression, Arbeitsstress, zwischenmenschliche Belastungen, Schlafstörungen und sexuelle Probleme zu
nennen, neben sicherlich auch begünstigenden bzw. verursachenden physikalischen Faktoren wie
Kopftraumata und Skoliose.
Somatische Disposition für Kopfschmerz:
Migräne:
Bezüglich somatisch disponierender Faktoren ist hier eine verstärkte Reaktionsbereitschaft im visuellen
Kortex zu beobachten, eine geringere Reizhabituation. Des Weiteren ein verminderter regionaler cerebraler
Blutfluss und eine erhöhte sympatikotone Erregungslage sowie, wie beschrieben, eine Instabilität des
Serotoninsystems.
Spannungskopfschmerz:
Hier bestehen heterogene, zentrale und periphäre Schmerzverursachungsmechanismen mit und ohne
Beteiligung der perigranialen Muskulatur.
Genetische Faktoren:
Eine gesicherte genetische, Chromosom 19 lokalisierte Bedingtheit besteht bei der familiären
hemiplegischen Migräne. Deutliche genetische Faktoren lassen sich eruieren bei der Migräne mit Aura und
dem chronischen Spannungskopfschmerz. Relevant dürften heriditäre Faktoren auch bei der Migräne ohne
Aura sein.
Psychische Dispositionen für Kopfschmerz:
Migränepatienten:
In Kasuistiken und einschlägiger Literatur werden Migränepatienten oft als ehrgeizig, erfolgsorientiert und
perfektionistisch bei leichter Irritier­ und Kränkbarkeit beschrieben. Ihre sozialen Beziehungen seien eher
unpersönlich gestaltet. Des Weiteren finden sich häufig Passivität und geringe Frustrationstoleranz.
Spannungskopfschmerzpatienten:
Hier finden sich in Beschreibungen feindselige, abhängige und depressive Verhaltensformen bei Häufung
psychosozialer Konflikte.
Zu den Verhaltenszuschreibungen ist allerdings zu sagen, dass hier, was konsistente
Persönlichkeitseigenschaften anbelangt, methodische Erhebungsmängel zu konstatieren sind.
Eine höhere Validität hat die Konzeptionalisierung differenter situativ abhängiger Erlebens­ und
Verhaltensstile von Kopfschmerzpatienten: So reagieren Kopfschmerzpatienten schlechthin in
Stresssituationen mit verstärkter Isolation, sie versuchen Belastungen eher mit sich selbst abzumachen
und nehmen weniger soziale Unterstützung in Anspruch. Für Migräniker zusätzlich charakteristisch ist
eine physiologische wie auch psychosoziale Dishabituationstendenz.
Exkurs „Clusterkopfschmerz“
Die Ätiologie des Clusterkopfschmerzes ist unklar, diskutiert werden aseptische Entzündungen im Bereich
des Sinus kavernosus oder der Vena ophthalmica superior des Schädels. Charakteristische Trigger dieser
Kopfschmerzform sind Alkohol, blendendes Licht, Histamin, Nitropräparate, Nifedipin. Die Erkrankung
beginnt um das 30. Lebensjahr, Männer überwiegen mit 5 : 1 deutlich. Die Prävalenz des
Clusterkopfschmerzes ist mit 90/100.000 zu veranschlagen.
Einteilung:
Man unterscheidet zwischen episodischem und chronischem Clusterkopfschmerz. Letzterer ist durch
Kopfschmerzattacken ohne Remission über ein Jahr Dauer definiert.
Das Schmerzgeschehen des Clusterkopfschmerzes besteht in dicht gehäuften Kopfschmerzattacken für 15
Minuten bis maximal drei Stunden (durchschnittlich 30 – 45 Minuten), alle zwei Tage einmal bis zu
achtmal täglich (durchschnittlich zweimal pro Tag), häufig nachts aus dem Schlaf heraus oder in den
frühen Morgenstunden. Unter diesen Konstellationen dauert eine Attackenepisode einen bis zwei Monate
mit anschließendem schmerzfreien Intervall zwischen sechs Monaten bis zwei Jahren (wie gesagt, nicht
beim chronischen Clusterkopfschmerz). Bei dieser Kopfschmerzform erleidet der Patient heftigste, streng
einseitig orbital/frontal/temporal lokalisierte Schmerzen mit begleiteten vegetativen Symptomen wie einer
Ipsilateralen konjunktivalen Injektion, Gesichtsrötung, Hyperhidrose, Nasensekretion, Tränenfluss,
partiellem HOrnersyndrom und Lidödem.
Während der Kopfschmerzattacken sind die Patienten meist unruhig und laufen umher.
Therapie:
Wirksame Akutbehandlungsmöglichkeiten bestehen in der Inhalation von 100 %­igem O2 (sieben Liter pro
Minute), der nasalen Gabe von Lidocain sowie in der subkutanen oder über Nasenspray erfolgenden
Applikation von Sumatriptan.
In der rezidivprophylaktischen Intervalltherapie haben sich Verapamil, Lithium und Valproinsäure sowie
mit zeitlicher Anwendungslimitierung Methysergid, Ergotamintartrat und Glukokortikoide bewährt.
Psychogenetische Modelle des Kopfschmerzes:
Verhaltensmedizinische Ansätze
Hier sind zwei Theorien zu nennen:
Migränetheorie (Gerber und Schönen, 1998):
Diese Theorie geht von der physiologischen Disposition einer Reizdishabituation bzw. –über­
empfindlichkeit bei neuronalem Energiereservedefizit aus. Diese Veranlagung bedingt das auffällige
Verhalten kindlicher Migräniker mit Hyperaktivität, Hypersensibilität, Stimmungslabilität und
Schlafstörungen, was oft ein bestrafendes Elternverhalten zur Folge hat. Die lerntheoretische Konsequenz
liegt in der durch Wegfall von Bestrafung negativ verstärkten kindlichen Autostimulation zur
Anfallsauslösung, da die Schmerzattacke sicher vor Bestrafung und Verantwortlichmachung schützt.
Myogene Kopfschmerztheorie (Bischoff und Traue, 1983)
Die Basishypothese dieser Theorie besteht in der Charakterisierung von Kopfschmerz als Folge
dysfunktionaler Muskelmehrarbeit/­anspannung.
Beispielhaft hierfür kann die lebensgeschichtliche Erfahrung des Patienten sein, dass sich ein
unkonditionierter Reiz wie „väterliche Prügel“ in Verbindung mit unerfüllten väterlichen
Leistungserwartungen mit der unkonditionierten physiologischen Reaktion „Muskelverspannung“ des
Patienten verbunden hat. Die Schmerzentwicklung wäre dann einerseits über Reizgeneralisierung und
klassische Konditionierung erklärbar: Der konditionierte Reiz „Leistungsanforderung (generalisiert z. B. bei
Leistungsanforderungen auf der Arbeit/des Vorgesetzten)“ führt zur konditionierten Reaktion
„Muskelverspannung“. – Eine lebensgeschichtliche Erfahrung der Vermeidung weiterer Prügel durch
Vermeidung von Weinen/emotionalen Äußerungen des Patienten führt zu operant (Vermeidung weiterer
Bestrafung) konditionierter Muskelverspannung zum Zwecke der Unterdrückung emotionaler Reaktionen.
Psychodynamische Erklärungsansätze:
Hier bestehen im Wesentlichen drei Hypothesen:
1.
2.
Kopfschmerz als „Psychoprothese“ zur Abwehr unlustbetonter Gefühle (Angst, Depression, Wut)
Schmerz als somatische Symbolisierung von Schuldgefühlen, Sühneleistung, aggressiven Impulsen
(konversionsneurotisches Modell) und
3.
Schmerz als Ausdruck vegetativer Spannung, bei anders nicht fühl­ und erlebbaren Affekten
(Alexithymiekonzept).
In diesem Kontext fällt bei der Analyse von Migränikerbiographien oft eine affektive Mangelkonstellation
bei mütterlicher Kühle/Härte und väterlicher Permissivität auf bei gleichzeitigem leistungs­ und
erfolgsorientierten Ich­Ideal.
Pharmakologische Behandlung der Migräne:
Akutbehandlung:
Bei Übelkeit und Erbrechen empfiehlt sich die medikamentöse Therapie mit Metoclopramid, Domperidon
oder Dimenhydrinat, 15 Min. später die Gabe von Analgetika wie ASS, Ibuprofen, Naproxen oder
Paracetamol.
Bei schweren Schmerzen sind Triptane Mittel der Wahl ((Zolmitriptan­AscoTop®, Naratriptan­Naramic®,
Rizatriptan, MAXALT®, Eletriptan­Relpax®; Kontraindikationen: Hypotonie, KHK oder Herzinfarkt, pAVK,
Raynaud­Syndrom, Schwangerschaft oder Stillzeit, Anwendung von Ergotaminen, Basilarismigräne u.a.).
Die Notfallbehandlung der schweren Migräneattacke umfasst die Gabe von 10 mg Mitoclopramid i. v., 900
– 1800 mg LAS (Aspisol®) i.v. (nach Ausschluss cerebraler Hämorrhagie) oder Sumatriptan (Imigran®) 6 mg
sc. Beim Status migraenosus wird zusätzlich die Gabe von Prednisolon und Benzodiazepinen erforderlich.
Langzeitprophylaxe
Eine langzeitprophylaktische Medikation der Migräne ist indiziert bei mehr als zwei Attacken pro Monat
oder einer Attacke pro Monat über zwei Tage Dauer oder Unwirksamkeit der Attackenkupierung oder einer
Migräne mit neurologischen Ausfällen.
In diesem Kontext ist die Führung eines Kopfschmerztagebuches wichtig. Des Weiteren ist zu beachten,
dass ein Behandlungseffekt erst nach vier bis sechs Wochen einsetzt und die Prophylaxedauer bei sechs
bis zwölf Monaten anzusiedeln ist. In der Langzeitprophylaxe sind Medikamente der ersten Wahl:
Betaadrenorezeptorblocker: Metoprolol oder Propranolol sowie der Kalciumantagonist Flunarizin.
Medikamente der zweiten Wahl sind: Valproat (z. B. Orfiril), Naproxen, ASS, Magnesium, Pizotifen
(Mosegor®), Gabapentin (Neurontin®), Topiramat.
Hinsichtlich Kurzzeitprophylaxe der menstruellen Migräne lauten die medikamentösen Empfehlungen auf
ein Östrogenpflaster oder Naproxen mit Beginn zwei Tage prämenstruell über (maximal) sieben Tage sowie
Erwägen eines Wechsels oder Absetzens der „Pille“.
Pharmakologische Behandlung des Spannungskopfschmerzes
Der starke episodische Spannungskopfschmerz spricht an auf eine Medikation mit ASS, Paracetamol,
Ibuprofen oder topisch appliziertem Pfefferminzöl (10 %­iges Öl in alkoholischer Lösung, das lokal auf
Stirn und Schläfen aufgetragen wird).
Wegen der Gefahr medikamenteninduzierter Kopfschmerzen/Abhängigkeiten empfiehlt sich eine
medikamentöse Ordination nicht über 10 Dosierungen pro Monat sowie nicht über mehr als drei Tage
hintereinander. Deshalb wird der chronische Spannungskopfschmerz nicht mit Analgetika sondern
trizyklischen Antidepressiva (Amitriptylin/­oxid; Kontraindikation: Harnverhalten, Prostatahypertrophie,
Engwinkelglaukom, Leber­/Nierenschäden, kardiale Vorschädigung u. a.) behandelt, die bei episodischem
Spannungskopfschmerz wirkungslos sind. Triptane sind bei episodischem und chronischem
Spannungskopfschmerz wirkungslos.
Risiko Analgetikaabusus/medikamentenindizierter Kopfschmerz:
Phänomenologisch imponiert der medikamenteninduzierte Kopfschmerz wie der chronische
Spannungskopfschmerz bzw. äußert er sich in einer Zunahme von Migräneattacken.
Risikoprädiktoren sind die Einnahme von Kombinationspräparaten mit Suchtpotential (Codein) sowie die
Einnahme von über 1.200 mg Sumatriptan bzw. 7.000 mg Acetylsalicylsäure pro Monat. Am gefährdetsten
sind betroffene männliche Patienten mit Spannungskopfschmerz bzw. Einnahme analgetischer
Kombinationspräparate.
Psychotherapeutische Möglichkeiten der Kopfschmerzbehandlung
Psychodynamisch orientierte Behandlungsverfahren
„Rein“ verbale Psychotherapie erscheint bei primären Kopfschmerzpatienten von fraglichem Effekt.
Wichtig ist es, sich thematisch vorsichtig an den psychosozialen Kontext von Kopfschmerzanfällen des
Patienten anzunähern. Hierzu kann ein Kopfschmerztagebuch außerordentlich hilfreich sein.
Verhaltenstherapeutische Behandlungsverfahren der Migräne
In diesem Rahmen sind zunächst die Entspannungstrainingsmethoden ohne und mit apparativer
Unterstützung zu nennen. Als Entspannungstraining ohne apparative Unterstützung gilt die progressive
Muskelentspannung nach Jacobson (des Weiteren, analytisch orientiert: Autogenes Training nach Schultz
sowie die Hypnose)
Entspannungstrainingsmethoden mit apparativer Unterstützung, also Biofeedbackmethoden sind: das
Handerwärmungstraining, das Autogene Feedbacktraining, das Vasokonstriktionstraining sowie das EEG­,
EMG­Feedbacktraining.
Beim Handerwärmungstraining wird dem Patienten die Fingerdurchblutung mittels Messung der
Hauttemperatur mit einem Temperaturfühler rückgemeldet. Aufgabe des Patienten ist es, mittels kognitiv­
vegetativer Impulse die Durchblutung der Hand zu steigern. Hierzu wird beim Autogenen Feedbacktraining
die Handerwärmung durch formelhafte Vorsatzbildungen aus dem Autogenen Training unterstützt.
Beim Vasokonstriktionstraining übt der Patient eine gedankliche Strategie zur Konstriktion der
oberflächlichen Schläfenarterie ein. Auch hier wie bei allen Biofeedbackmethoden findet sich eine
apparative Messvorrichtung mit akustischer oder visueller Signalgebung. Die Kontrolle über das
Gefäßkaliber erlangen viele Patienten durch die Vorstellung von Enge oder einer Tunnelfahrt. Wenn die
Patienten in der Lage sind, das Gefäßkaliber der Schläfenarterie zu kontrollieren, sind sie zunehmend
befähigt, die Gefäße auch ohne apparative Hilfe bei den ersten Migräneanzeichen eng zu stellen. Das
Vasokontriktionstraining zielt also in Analogie zur medikamentösen Anfallsbehandlung auf die
Anfallskupierung ab, während die zuvor genannten Biofeedbackverfahren ausschließlich im schmerzfreien
Intervall angewendet werden.
Weitere verhaltenstherapeutische Behandlungsformen sind die kognitive (Stressbewältigungs­) Therapie
sowie multimodale Therapieformen.
Alle VT­Verfahren sind wissenschaftlich fundiert, effektiver als Placebo und vergleichbar wirksam wie eine
medikamentöse Prophylaxe anzusehen. Additive therapeutische Effekte ergeben sich bei der Kombination
von Biofeedback und Progressiver Muskelrelaxation. Insgesamt ist eine 50 %­ige Effektivität von VT­
Verfahren bei Migränepatienten zu konstatieren. Hierbei erweist sich die Progressive Muskelrelaxation als
besonders effektiv bei jüngeren Patienten mit kürzerer Dauer der Erkrankung sowie geringer
Schmerzfrequenz. Die Kognitive Verhaltenstherapie ist besonders wirksam bei Patienten mit hohen
Alltagsbelastungen, ausgeprägter depressiver Symptomatik und maladaptiven Bewältigungsverhaltens.
Hinsichtlich kindlicher Migräne ergibt sich die höchste Effektivität für Handerwärmungsverfahren und
Kombinationen aus Handerwärmungsverfahren und PMR. PMR einzeln bzw. Kognitive Verhaltenstherapie
allein sind ähnlich effektiv wie eine medikamentöse Prophylaxe mit längsten Wirkungsdauern für die KVT
(bis zu zehn Jahren). Als Behandlungsverfahren haben die oligoantigene Migränediät und die Homöopathie
einen ungeklärten Stellenwert in der Versorgung der kindlichen Migräne.
Alternative Therapien der Migränebehandlung:
Hierzu sind aerobe Ausdauersportarten wie Schwimmen, Joggen, Fahrrad fahren zu nennen sowie
Physiotherapie in Kombination mit VT­Verfahren.
Verhaltenstherapeutische Behandlungsverfahren des
Spannungskopfschmerzes:
Hier finden sich folgende etablierte Methoden: PMR nach Jacobson mit regelmäßig auch zu Hause
durchzuführenden Übungen („Hausaufgaben“), oft gekoppelt mit einem verbalen Hinweisreiz an den
Zustand der Entspannung, damit der Patient die Entspannungsreaktion später alleine besser abrufen kann.
Sinnvoll sind auch Kombinationen mit systematischer Desensibilisierung.
Ebenfalls wirksam ist das EMG­Biofeedback mit Fokussierung z. B. des Musculus frontalis oder trapezius
bzw. des betroffenen verspannten Muskels. Fundament der Therapie bildet hier die EMG­getriggerte
Biofeedbacksignalgebung. EMG­Biofeedback ist erfolgreich kombinierbar mit PMR. Effektiv ist des
Weiteren ein in (gespielten) belastenden Situationen durchgeführtes oder in bestimmten Körperhaltungen
exerziertes Biofeedback (situatives/körperdynamisches BFB).
Die Effektivität der VT­Verfahren beträgt seriösen Untersuchungen zur Folge etwa 53 %.
Wirkmechanismus EMG-Biofeedback
Diesbezüglich existieren zwei physiologische und eine psychologische Lerntheorie:
Die Modelle des physiologischen Lernens gehen von einer durch Training erzielten Myorelaxation und
konsekutiver Schmerzlinderung aus bzw. von einer Verminderung des Spannungskopfschmerzes mit
konsekutiver Veränderung zentralnervöser Schmerzregulation.
Die psychologische Lerntheorie postuliert die Entfaltung der EMG­Biofeedbackeffizienz über die
Steigerung der Selbsteffizienzerwartung des Patienten. Dies stellt den wahrscheinlich stärksten
Wirkmechanismus des EMG­Biofeedback dar.
Beim Spannungskopfschmerz wird ebenfalls die Kognitive Verhaltenstherapie angewandt. Ihr liegt die
theoretische Annahme zugrunde, dass Spannungskopfschmerz durch Stress, Stress wiederum durch
dysfunktionale Kognitionen verursacht wird.
Folgende Therapieschritte sind hier zielführend:
1.
Kausale Reattribution
Hier lernen die Patienten, dass es nicht die Situation an sich oder eine persönliche Disposition ist,
sondern die situativ entstehenden dysfunktionalen Kognitionen sind, die das Kopfschmerzgeschehen
bewirken.
2.
Selbstüberwachung
Hierbei werden gemeinsam mit dem Patienten situative Hinweisreize auf jene psychosozialen
Geschehnisse gesucht, innerhalb derer beim Patienten Kopfschmerzen auftreten. Es wird eruiert, wie
der Patient reagiert, wenn er ängstlich ist und welche Kognitionen auftauchen ehe, während und
nachdem sich ein Schmerz­/Spannungszustand eingestellt hat.
3.
Bewältigungsstrategien
Hier ist die allmähliche selbständige Unterbrechung dysfunktionaler Kognitionen durch Erlernen,
Internalisierung und Produktion salutogenetischer Kognitionen zielführend.
In ihrer Effizienz ist die KVT so effizient wie das EMG­BFB. Die Langzeiteffektivität ist möglicherweise
höher.
Verhaltensmedizinische Perspektiven
In den Anwendungsmodalitäten von VT­Verfahren zeichnet sich ein praktikabler auf den einzelnen
Patienten bezogener Mittelweg zwischen Therapiestandardisierung und –individualisierung ab. Des
Weiteren rücken vermehrt pädiatrische Erkrankungen in den Fokus des Interesses. Schließlich setzen sich
zunehmend die so genannten „Managed Care“­Ideen durch, die auf geringem Therapeutenkontakt mit
möglichst viel selbsttätig durchgeführter Behandlung bzw. Autotherapie zu Hause beruht.
Quellen:
Rote Liste 2005
Psychosomatische Medizin, Uexküll, 6. Auflage
Praxisleitfaden Allgemeinmedizin, Gesenhues, 4. Auflage
Klinikleitfaden Neurologie/Psychiatrie, Klingelhöfer, 3. Auflage
DGPPN, Leitlinien zur Migränebehanldung
Autor:
Jürgen Schichterich
Leitender Abteilungsarzt
Kliniken Daun­Am Rosenberg
Schulstr. 6
54550 Daun