Sachgrundlose Abberufung aus der Freistellung und

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Sachgrundlose Abberufung aus der Freistellung und
LAG Hamburg v. 7.8.2012 – 2 TaBV 2/12
Sachgrundlose Abberufung aus der Freistellung und Minderheitenschutz
1. Weder die Aufnahme des Punktes „Abberufung eines Betriebsratsmitglieds aus der Freistellung“ auf
die Tagesordnung noch der Abberufungsbeschluss selbst bedarf einer (sachlichen) Begründung.
2. Bei Ausscheiden eines nach § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG im Wege der Verhältniswahl in die Freistellung
gelangten Betriebsratsmitglieds ist das ersatzweise freizustellende Mitglied der Vorschlagsliste zu
entnehmen, der das zu ersetzende Mitglied angehört. Ist diese Liste erschöpft, ist das ersatzweise
freizustellende Mitglied im Wege der Mehrheitswahl zu wählen.
(Leitsätze der Schriftleitung)
LAG Hamburg v. 7.8.2012 – 2 TaBV 2/12 –
Zum Sachverhalt
Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit eines Betriebsratsbeschlusses, mit dem ein
Betriebsratsmitglied - der Beteiligte zu 1. - aus der Freistellung abberufen worden ist.
Bei der Beteiligten zu 3. bildet die Region Nord einen Betrieb mit neun Standorten. In diesem Betrieb
besteht ein Betriebsrat (Beteiligter zu 2.) mit 27 Mitgliedern. Der Beteiligte zu 1. ist Mitglied des
Betriebsrats. Bei der Betriebsratswahl in der Zeit vom 18. bis 20. Mai 2010 gab es drei konkurrierende
Wahllisten, unter anderem die Liste „Kommunikationsgewerkschaft DPVKOM (DPVKOM)". Die Wahl
wurde als Verhältniswahl durchgeführt. Von der Liste „DPVKOM" wurden zwei Bewerber als
Betriebsratsmitglieder gewählt, der Beteiligte zu 1. sowie Herr L1.
Auf der anschließenden Betriebsratssitzung wurden für die Wahl der freizustellenden
Betriebsratsmitglieder zwei Listen eingereicht. Eine Liste der Fraktion „ver.di" und eine Liste der Fraktion
DPVKOM, auf der als einziger Bewerber der Beteiligte zu 1. aufgeführt war, da das andere auf die
DPVKOM nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen entfallende Betriebsratsmitglied sich nicht freistellen
lassen wollte. Die Abstimmung erfolgte als Verhältniswahl. Der Beteiligte zu 1. wurde sodann
freigestellt. Auf das Protokoll der Betriebsratssitzung vom 26. Mai 2010 (Anlage AG 1, BI. 44f. d.A.) wird
Bezug genommen.
Der Beteiligte zu 1. erhielt von dem Betriebsrat ein Büro in Hannover zugewiesen. Einige
Betriebsratsmitglieder erhielten ein Betriebsratsbüro in Hamburg. Der Beteiligte zu 1. ist in Lübeck
wohnhaft.
Mit E-Mail vom 19. Juli 2011 (Anlage Ast 7, BI. 79 d. A.) teilte der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende
Herr S. dem Beteiligten zu 1. mit, dass die Reisekostenabrechnungen für Fahrten von Hamburg nach
Hannover nicht freigeben werden könnten. Er begründete dies mit der Regelarbeitsstätte des Beteiligten
zu 1. in Hannover. Mittlerweile hat der Antragsteller seine Reisekosten für 2011 vollständig erstattet
bekommen.
Auf der Sitzung des Beteiligten zu 2. am 4.15. Mai 2011 wurde der Beteiligte zu 1. mit der qualifizierten
Mehrheit von 3/4 der Stimmen als freigestelltes Betriebsratsmitglied abberufen. Entsprechend dem
Protokoll der 9. Sitzung des Betriebsrats (Anlage Ast 6, BI. 123, 25 d.A.) haben 24 Betriebsratsmitglieder
für und zwei gegen die Abberufung des Beteiligten zu 1. aus der Freistellung gestimmt. Es gab eine
Stimmenthaltung.
Zuvor, am 2. Mai 2011, hatte es ein Vieraugengespräch zwischen dem Beteiligten zu 1. und Herrn L2,
dem Vorsitzenden des Beteiligten zu 2. gegeben, in dem es um den Tagesordnungspunkt der
Abberufung des Beteiligten zu 1. auf der folgenden Betriebsratssitzung ging (BI. 143).
Zwischenzeitlich wurde vom Beteiligten zu 2. beschlossen, anstelle des Beteiligten zu 1. ein
Betriebsratsmitglied freizustellen, das der Mehrheitsfraktion von ver.di angehört. Herr L3, der neben
dem Beschwerdeführer auf der konkurrierenden Liste der „DPVKOM" geführt wurde, wurde zuvor nicht
gefragt, ob er freigestellt werden wolle.
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Der Beteiligte zu 1. hat die Auffassung vertreten, der Abberufungsbeschluss sei unwirksam. Dem
Beteiligten zu 1. sei am 4. Mai 2011 von dem Betriebsratsvorsitzenden Herrn L2 erklärt worden, dass es
für seine Abwahl keinen Grund gebe. Zwar sei der Abberufungsbeschluss nicht vom Vorliegen
besonderer Gründe abhängig. Der Betriebsrat entscheide vielmehr nach freiem Ermessen. Dies verlange
aber, dass für eine Abberufung Gründe von einigem Gewicht vorliegen müssten. Unter Berücksichtigung
des Minderheitenschutzes bei Verhältniswahlen sei das Abberufungsvotum des Betriebsrats hier als
willkürliche Entscheidung einzustufen und aufzuheben. Der Abberufungsbeschluss des Betriebsrats
greife nachträglich, insbesondere rechtsgrundlos in die Listenbildung und die Kompetenzen der
„DPVKOM" ein. Ansonsten könnte eine Mehrheitsfraktion im Betriebsrat listenorientierte
Freistellungsvorschläge stets leerlaufen lassen. Zudem gebe es Indizien, die auf eine Benachteiligung
des Beteiligten zu 1. hindeuteten. Dies ergebe sich aus der Zuweisung eines Betriebsratsbüros in
Hannover und den nicht freigegebenen Reiseabrechnungen für betriebsratsbedingte Fahrten nach
Hannover und zurück. Der Beteiligte zu 1. werde dadurch auch noch finanziell benachteiligt. Infolge der
Freistellung des Beteiligten zu 1. sei der Ort der Leistungserfüllung grundsätzlich der Ort des Sitzes des
Betriebsrats, also Hamburg.
Der Beteiligte zu 1. hat beantragt, festzustellen, dass der Beschluss des Antraggegners und Beteiligten
zu 2. in seiner 9. Sitzung am 4. Mai 2011 zu Ziffer 3.4.12 der Tagesordnung, den Antragsteller aus der
Freistellung abzuberufen, unwirksam ist.
Der Beteiligte zu 2. Hat beantragt, den Antrag zurückzuweisen.
Die Beteiligte zu 3., die Arbeitgeberin, hat keinen Antrag gestellt.
Der Beteiligte zu 2. hat behauptet, der Betriebsratsvorsitzende Herr L2 habe in der Betriebsratssitzung
am 4. Mai 2011 dem Gremium lediglich seine Rechtsauffassung mitgeteilt, dass es für die Abberufung
des Beteiligten zu 1. keiner Begründung bedürfe. Eine Begründung sei auch nicht möglich, da bei der
erfolgten geheimen Abstimmung die Motive der verschiedenen Betriebsratsmitglieder nicht bekannt
seien. Der Betriebsrat hat gemeint, die Abberufung eines Betriebsratsmitglieds aus der Freistellung sei
jederzeit und ohne Vorliegen besonderer Gründe zulässig. Insoweit entscheide der Betriebsrat nach
freiem Ermessen.
Das Arbeitsgericht Hamburg hat mit Beschluss vom 18. Januar 2012 - 8 BV 9/11 - BI. 83 ff. d. A. - den
Antrag als zulässig, aber unbegründet angesehen. Gemäß §§ 38 Abs. 2, 27 Abs. 1 Satz 5 BetrVG erfolge
die Abberufung eines Betriebsratsmitglieds aus der Freistellung durch Beschluss des Betriebsrats, der in
geheimer Abstimmung gefasst werde und einer Mehrheit von drei Vierteln der Stimmen der Mitglieder
des Betriebsrats bedürfe. Das Gesetz sähe für die Abberufung keine Gründe vor, so dass der Betriebsrat
bzw. das über die Freistellung abstimmende Gremium nicht verpflichtet sei, derartige Gründe
gegenüber dem abberufenen Betriebsratsmitglied darzulegen. Eine Mitteilung der Gründe sei zudem
praktisch kaum umsetzbar. Wenn das Gremium nicht ausdrücklich über den oder die Gründe für eine
Abwahl aus der Freistellung gesprochen habe, könnten solche auch nicht bekannt gegeben werden. Die
einzelnen Betriebsratsmitglieder könnten auch aus ganz unterschiedlichen Gründen für eine Abwahl
stimmen. Weil die Wahl geheim sei, könnten schon nicht die Betriebsratsmitglieder ausgemacht
werden, die der Abwahl zugestimmt hätten. Erst recht seien die Betriebsratsmitglieder nicht
verpflichtet, die Gründe für ihr Stimmverhalten offen zu legen. Es sei Sache der Selbstorganisation des
Betriebsrats, wen er mit der Freistellung und der damit verbundenen Erledigung von
Betriebsratsaufgaben betraut. Das Gericht habe nicht die Zweckmäßigkeit des Beschlusses zu
überprüfen. Auch würde der Minderheitenschutz bei Verhältniswahl durch die Abwahl aus der
Freistellung nicht unterlaufen. Beim Ausscheiden eines nach § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG im Wege der
Verhältnismäßigkeitswahl in die Freistellung gewählten Betriebsratsmitglied sei grundsätzlich das
ersatzweise freizustellende Mitglied in entsprechender Anwendung des § 25 Abs. 2 Satz 1 BetrVG der
Vorschlagsliste zu entnehmen, der das zu ersetzende Mitglied angehöre. Bei Erschöpfung der Liste sei
das ersatzweise freizustellende Mitglied allerdings im Wege der Mehrheitswahl zu wählen. Der
Listenschutz reiche insoweit nicht weiter als der Wahlvorschlag. Auch scheide eine Willkürkontrolle der
Abwahl aus, da die einzelnen bei der Abwahl mitstimmenden Betriebsratsmitglieder ihre Gründe nicht
darlegen müssten. Ferner gäbe es keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine willkürliche Abwahl aus
der Freistellung des Beteiligten zu 1.. Schließlich sei er auch nicht durch den Betriebsrat benachteiligt
worden, so dass daraus nicht auf eine unwirksame Wahl geschlossen werden könnte. Die Zuweisung
eines Betriebsbüros in Hannover könne ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht als Benachteiligung
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verstanden werden, da Arbeitsort des Beteiligten zu 1. Hannover gewesen sei. Da der Arbeitgeber nicht
verpflichtet sei, Fahrtkosten für die Fahrten zum Betriebsbüro zu erstatten, wenn die
Betriebsratstätigkeit an dem vereinbarten Ort der Arbeitsleistung zu erbringen sei, sei auch die
abgelehnte Freigabe der Reiseabrechnungen für die Fahrten nach Hannover und zurück nicht
rechtswidrig oder willkürlich. Eine Fahrtkostenerstattung verbiete sich schließlich aus dem
Begünstigungsverbot des § 78 BetrVG.
Gegen diesen Beschluss, der dem Beteiligten zu 1. am 6. Februar 2012 zugestellt worden ist (BI. 91 d. A.),
hat er mit Schriftsatz vom 21. Februar 2012, bei Gericht am selben Tag eingegangen (Bi. 96 d.A.),
Beschwerde eingelegt und diese mit selbigen Schriftsatz begründet.
Der Beteiligte zu 1. hält den Beschluss des Arbeitsgerichts für rechtsfehlerhaft. Er trägt vor, dass die mit
der DPVKOM konkurrierende Gewerkschaft ver.di ihre Mehrheit im Betriebsrat dazu benutzt habe, die
Freistellungsentscheidung ohne sachlichen Grund zu widerrufen. Der Beschwerdeführer als auch seine
Gewerkschaft, die DPVKOM, werde durch den Abberufungsbeschluss ohne sachlichen Grund gezielt
benachteiligt. Er meint, dass die §§ 38 Abs. 2 S.atz 8, 27 Abs. 1 Satz 5 BetrVG dahingehend auszulegen
seien, dass ein Abberufungsbeschluss, der gegen den erklärten Willen des Betroffenen gefasst werde,
sachlich zu begründen sei und sachlich begründet sein müsste. Anderenfalls sei der
Abberufungsbeschluss rechtswidrig. Zwar habe das Arbeitsgericht zutreffend erkannt, dass die
einzelnen Betriebsratsmitglieder aus ganz unterschiedlichen Gründen für die Abwahl des
Beschwerdeführers aus der Freistellung gestimmt haben könnten. Für den Tagesordnungspunkt der
Sitzung des Beteiligten zu 2. am 4. und 5. Mai 2011 müsse es jedoch einen Grund gegeben haben, der
offenzulegen sei. Anderenfalls wäre dieser Tagesordnungspunkt willkürlich oder in der Absicht, den
Beteiligten zu 1. gezielt zu benachteiligen, motiviert. Der Tagesordnungspunkt als auch die darauf
basierende Abberufungsentscheidung müssten sachlich begründet sein. Dies gebiete auch eine
verfassungskonforme Auslegung der betriebsverfassungsrechtlichen Normen. Zudem sei es nicht nur
Angelegenheit der Selbstorganisation des Betriebsrats, wen er für eine Freistellung von der beruflichen
Tätigkeit vorsehe und mit der damit verbundenen Erledigung seiner Aufgaben betraue. Entgegen dem
erstinstanzlichen Urteil müsse auch die Zweckmäßigkeit des Abberufungsbeschlusses überprüft
werden. Auch sei der Minderheitenschutz vorliegend nicht allein durch das Erfordernis einer
Dreiviertelmehrheit der Mitglieder des Betriebsrats gewährleistet. Ohne eine sachliche Begründung des
Abberufungsbeschlusses bzw. des ihm zugrundeliegenden Tagesordnungspunktes wäre es der
Gewerkschaft, die den Betriebsrat überwiegend stellt, aufgrund der mehrheitlichen Besetzung jederzeit
möglich, einen Abberufungsbeschluss mit der entsprechenden qualifizierten Mehrheit zu fassen und
damit die Vorgaben von § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG, mithin die Rechte des Betroffenen und der
Minderheitenliste, zu unterlaufen und sich die Freistellung selbst zu verschaffen. Das Gesetz verlange
zwar nicht ausdrücklich einen sachlichen Grund für einen Abberufungsbeschluss. Ein
Abberufungsbeschluss dürfe aber nicht willkürlich, unbillig oder aus sachfremden Erwägungen erfolgen.
Es sei deshalb auf der Grundlage objektiver Maßstäbe zu prüfen, ob ein Grund bzw. Gründe von einigem
Gewicht für die Aufhebung der Freistellung sprechen. Ein solcher Grund liege hier nicht vor. Ferner sei
der Abberufungsbeschluss unbillig. Der Beteiligte zu 1. sei in Kenntnis des Umstandes, dass er das
einzige für eine Freistellung zur Verfügung stehende Mitglied der Minderheitenfraktion sei, unter
Ausnutzung der qualifizierten Mehrheit sachgrundlos aus der Freistellung abberufen worden, mit der
Folge, dann ein Mitglied der eigenen Fraktion, der Mehrheitsfraktion, freistellen zu können. Dadurch
würde der Wählerwille, der die Zusammensetzung des Betriebsrats und die listenorientierte Anzahl von
Freistellungen vorgibt, nicht beachtet. Das BetrVG gewährleiste regelmäßig sachliche Entscheidungen.
Dass der Wortlaut des Gesetzes nicht ausdrücklich einen sachlichen Grund für einen
Abberufungsbeschluss fordere, sei damit zu erklären, dass ein solcher Beschluss ohnehin stets sachlich
zu begründen sei. Des Weiteren ist der Beteiligte zu 1. der Meinung, dass ein unbegründeter
Abberufungsbeschluss gegen das Willkürverbot aus § 75 BetrVG i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG verstoße. Die
Erklärung des Betriebsratsvorsitzenden, dass es für die Abwahl des Beteiligten zu 1. keine Gründe gebe,
deute auf Willkür hin. Auch würde ein unbegründeter Abberufungsbeschluss aus der Freistellung
schließlich gegen Treu und Glauben nach § 242 BGB und gegen die Schutzbestimmung des § 78 BetrVG
verstoßen, wonach kein Mitglied des Betriebsrats in der Ausübung seiner Tätigkeit gestört oder
behindert werde dürfe. Zudem sei das Arbeitsgericht von einer falschen Tatsachengrundlage
ausgegangen. Entgegen der Auffassung der erstinstanzlichen Kammer sei Hannover nie der Arbeitsort
des Beschwerdeführers gewesen. Vielmehr habe er zunächst, bis der dortige Standort aufgelöst worden
sei, an seinem Wohnort in Lübeck gearbeitet. Sodann habe er seine Tätigkeit in Hamburg fortgesetzt, bis
er vom Betriebsrat ein Büro in Hannover zugewiesen bekommen habe. Das Arbeitsgericht habe die
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Indizien, die für eine Benachteiligung des Beschwerdeführers sprächen, nicht ausreichend
berücksichtigt. Die Zuweisung des Betriebsratsbüros in Hannover benachteilige den Beteiligten zu 1.
gegenüber kinderlosen und verheirateten Betriebsratsmitgliedern der Mehrheitsfraktion, die ein Büro in
Hamburg zugewiesen bekommen hätten. Die Fahrtkosten zum Betriebsratsbüro in Hannover seien zu
Unrecht nicht freigegeben worden. Infolge der Freistellung sei der Ort der Leistungserfüllung
grundsätzlich der Ort des Sitzes des Betriebsrats, hier also Hamburg. Zwar sei die Beteiligte zu 2. befugt,
freigestellten Betriebsratsmitgliedern Aufgabengebiete auch nach räumlichen Abgrenzungskriterien zu
übertragen. Daran orientierte Aufwendungen seien aber notwendige Kosten der Ausübung der
Betriebsratstätigkeit i. S. v. § 40 Abs. 1 BetrVG.
Der Beteiligte zu 1. beantragt,
1. Der Beschluss des Arbeitsgerichts Hamburgs vom 18.1.2012, Az: 8 BV 9111 wird abgeändert.
2. Es wird festgestellt, dass der Beschluss des beteiligten Antragsgegners zu 2. in seiner 9. Sitzung am
4.5.2011 zu Ziffer 3.4.12 der Tagesordnung, den Beschwerdeführer aus der Freistellung abzuberufen,
unwirksam ist.
Der Beteiligte zu 2. beantragt,
die Beschwerde des Antragstellers zurückzuweisen.
Die Beteiligte zu 3. hat keinen Antrag gestellt.
Der Beteiligte zu 2. verteidigt den Beschluss des Arbeitsgerichts und ist der Auffassung, dass es
entgegen der Ansicht des Beteiligten zu 1. über die gesetzliche Regelung hinaus weder eine vorgelagerte
Begründungspflicht für die Aufnahme des Tagesordnungspunktes in die Tagesordnung der
Betriebsratssitzung noch für den Abberufungsbeschluss gebe. Die Tagesordnung würde vielmehr vom
Betriebsratsvorsitzenden nach pflichtgemäßem Ermessen festgelegt. Im Übrigen basiere die
Argumentation des Beschwerdeführers auf Spekulationen über mögliche Motive derjenigen
Betriebsratsmitglieder, die für seine Abberufung aus der Freistellung gestimmt hätten. Auch berufe er
sich zu Unrecht auf den Schutz des Grundgesetzes für die Betätigungsfreiheit der Gewerkschaften.
Entgegen der Ansicht des Beteiligten zu 1. würden die Bürozuweisung in Hannover, die er auch nie
beanstandet habe, und der Umstand, dass ihm die Fahrtkosten nicht sofort erstattet worden seien,
keine Indizien für eine Benachteiligung des Beschwerdeführers darstellen. Ferner seien diese
Erwägungen für das vorliegende Beschlussverfahren ohne Bedeutung. Auch der Vortrag dahingehend,
dass der Beschwerdeführer der Neuwahl des freizustellenden Betriebsratsmitglieds widersprochen
habe, sei unerheblich.
Aus den Gründen
II. Die Beschwerde des Beteiligten zu 1. gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Hamburg vom
18.01.2012 ist zulässig, aber unbegründet. Der Beschluss des Beteiligten zu 2. auf seiner Sitzung am
4./5.5.2011, den Beteiligten zu 1. aus der Freistellung abzuberufen, ist rechtlich nicht zu beanstanden
und damit wirksam.
1. Die Beschwerde des Beteiligten zu 1. ist gemäß § 87 Abs. 1 ArbGG statthaft. Sie wurde darüber hinaus
frist- und formgerecht erhoben und begründet und ist auch im Übrigen zulässig. Das abberufene
Betriebsratsmitglied - hier der Beteiligte zu 1. - ist hinsichtlich eines Beschlussverfahrens auf
gerichtliche Nachprüfung des Abberufungsbeschlusses auch antragsbefugt (LAG Düsseldorf vom 10.
April 1975, 14 TaBV 137/74).
2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Der Abberufungsbeschluss des Betriebsrats ist wirksam.
a) Die Abberufung eines Betriebsratsmitglieds aus der Freistellung ist nach allgemeiner Auffassung
jederzeit möglich (s. nur Fitting u.a., BetrVG, 26. Aufl., § 38 Rn. 71; Däubler u.a., BetrVG, 13. Aufl., § 38
Rn. 56; Wiese u.a., GK-BetrVG, 9. Aufl., § 38 Rn. 68; LAG Hessen vom 4. März 1993, 12 TaBV 142192). Für
die Abberufung gilt nach § 38 Abs. 2 Satz 8 BetrVG die Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 5 BetrVG
entsprechend. Danach erfolgt die Abberufung durch Beschluss des Betriebsrats. Bei der Auswahl der
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Freigestellten nach den Grundsätzen der Verhältniswahl - wie vorliegend - bedarf es für die Abberufung
einer Mehrheit von drei Vierteln der Stimmen der Mitglieder des Betriebsrats. Diese Privilegierung der
im Wege der Verhältniswahl Gewählten erklärt sich nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts aus
dem vom Gesetz bezweckten Minderheitenschutz, der mit der Verhältniswahl verbunden ist (BAG vom
29. April 1992, 7 ABR 74/91). Durch die vom Gesetz angeordnete Verhältniswahl wird erreicht, dass auch
eine Minderheitsgruppierung innerhalb des Betriebsrats entsprechend ihrer Stärke bei den
Freistellungen berücksichtigt wird. Dieser Minderheitenschutz könnte dadurch ausgehöhlt werden, dass
ein zunächst nach den Grundsätzen der Verhältniswahl aus einer Minderheitsliste gewähltes
Betriebsratsmitglied später mit einfacher Stimmenmehrheit des Betriebsrats abberufen und durch ein
anderes Betriebsratsmitglied ersetzt wird. Hierdurch könnte das Ergebnis der Verhältniswahl
nachträglich zu Gunsten der Mehrheit verändert werden. Einer solchen Umgehung des
Verhältniswahlrechts mit dem ihm innewohnenden Minderheitenschutz will das Gesetz vorbeugen,
indem es im Falle der Verhältniswahl die Abberufung des Gewählten an ein hohes Quorum von drei
Vierteln der Stimmen der Mitglieder des Betriebsrats bindet (vgl. BT-Drucksache 1112503, S. 33; BAG
vom 29. April 1992, a.a.O.; Wlotzke u.a., BetrVG, 4. Aufl., § 38 Rn. 32; Wiese u.a., a.a.O., § 38 Rn. 68).
Für die Abberufung als solche sieht das Gesetz keine Begründungspflicht des Betriebsrats vor (Fitting
u.a., a.a.O., § 38 Rn. 74; Wlotzke u.a., a.a.O., § 38 Rn. 33). Vielmehr wird der Abberufungsbeschluss
gemäß §§ 38 Abs. 2 Satz 8, 27 Abs. 1 Satz 5 BetrVG in geheimer Abstimmung gefasst. Eine geheime Wahl
zeichnet sich dadurch aus, dass das Abstimmungsverhalten der Wahlberechtigten nicht überprüfbar
sein darf. Welche Motive das Wahlverhalten bestimmt haben, darf nicht feststellbar sein.
aa) Unter Anwendung der vorstehenden Grundsätze hat das Arbeitsgericht zutreffend entschieden, dass
der Abberufungsbeschluss des Beteiligten zu 2. wirksam ist. Der Betriebsrat ist bei der Abstimmung
nicht verpflichtet, Abberufungsgründe gegenüber dem abberufenen Betriebsratsmitglied darzulegen.
Dies ist praktisch auch nicht umsetzbar. Weil der Abberufungsbeschluss in geheimer Abstimmung zu
treffen ist, bedeutet dies, dass die einzelnen Betriebsratsmitglieder nicht dazu verpflichtet sind, ihr
Stimmverhalten zu offenbaren. Es kann schon nicht festgestellt werden, welches Betriebsratsmitglied
für die Abberufung des Beschwerdeführers gestimmt hat. Ebenso wenig kann ermittelt werden, welche
Gründe die Betriebsratsmitglieder zu ihrem Stimmverhalten bestimmt haben.
bb) Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist kein Raum, die Vorschrift des § 27 Abs. 1 Satz 5
BetrVG entgegen ihrem ausdrücklichen Wortlaut dahingehend auszulegen, dass eine über die
gesetzliche Regelung hinaus vorgelagerte Begründungspflicht für die Aufnahme des
Tagesordnungspunktes in die Tagesordnung der Betriebsratssitzung als auch für den
Abberufungsbeschluss, der gegen den erklärten Willen des Betroffenen gefasst wurde, erforderlich ist.
Zwar ist grundsätzlich eine Auslegung einer Norm entgegen dem Wortlaut nicht von vornherein
ausgeschlossen, wenn andere Indizien deutlich belegen, dass ihr Sinn im Text unzureichend Ausdruck
gefunden hat (BVerfG vom 27. Januar 1998 - 1 BvL 22193 - BVerfGE 97, 186). Die Bindung des Richters
an das Gesetz nach Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG ist nicht dahingehend zu verstehen, dass er strikt,
unter allen Umständen an den Wortlaut der Norm gebunden ist. Zur Erfassung des Inhalts einer Norm
darf er sich verschiedener, insbesondere der systematischen und der teleologischen Auslegungsmethoden gleichzeitig und nebeneinander bedienen (BVerfG vom 1 g. Juni 1973 - 1 BvL 39/69 -, - 1 BvL
14/72 - BVerfGE 35, 263, zu C I 112 der Gründe). Entgegen der Auffassung des Beteiligten zu 1. ergeben
sich jedoch keine Anhaltspunkte, die eine vom eindeutigen Wortlaut abweichende Auslegung
ermöglichen. Der Gesetzgeber hat vielmehr gesehen, dass Abberufungsbeschlüsse entweder nach dem
Prinzip des Mehrheitswahlrechts oder des Verhältniswahlrechts getroffen werden können. Für den Fall
des Verhältniswahlrechts hat er normiert, dass die Abberufung nur in geheimer Wahl erfolgen dürfe.
Der Gesetzgeber hat damit zum Ausdruck gebracht, dass die Grundsätze einer geheimen Wahl gelten.
Diese sehen nicht vor, dass ein Abstimmungsverhalten zu begründen ist. Vielmehr würde eine
Begründungspflicht dem Charakter der Abstimmung als geheimer Wahl zuwiderlaufen.
Der vom Gesetz geforderte Minderheitenschutz wird nicht durch die Aufstellung einer
Begründungspflicht gewährleistet, sondern durch das Erfordernis der Mehrheit von drei Vierteln der
Mitglieder des Betriebsrats bei einer Abberufung abgesichert. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass
ein ursprünglich im Wege der Verhältniswahl für die Freistellung gewähltes Betriebsratsmitglied nicht
mit einfacher Mehrheit des Betriebsrats aus dieser wieder abberufen werden kann. Weiter geht der
Minderheitenschutz aber nicht, sehr kleine Minderheiten im Betriebsrat werden vom Gesetz daher nicht
geschützt.
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Soweit der Beschwerdeführer mit seinem Vortrag, dass es einen Grund gegeben haben müsse, seine
Abberufung aus der Freistellung als Tagesordnungspunkt auf die Tagesordnung der Betriebsratssitzung
vom 4./5.5.2011 zu setzen und dieser Grund offenzulegen sei, zum Ausdruck bringen will, dass die
Tagesordnung der Betriebsratssitzung fehlerhaft zustande gekommen sei, sodass seine Abberufung
nicht ordnungsgemäß erfolgt sei, führt auch dieser Vortrag nicht zur Feststellung der Unwirksamkeit
des Abberufungsbeschlusses.
Grundsätzlich steht es im freien Ermessen des Betriebsratsvorsitzenden die Tagesordnung zu
bestimmen. Anhaltspunkte dafür, dass das Ermessen fehlerhaft ausgeübt wurde, sind nicht ersichtlich.
Der Beteiligte zu 1. kann auch nicht mit Erfolg einwenden, ihm sei vorher nicht die Möglichkeit eines
Gesprächs mit dem Betriebsratsvorsitzenden in Bezug auf den Tagesordnungspunkte hinsichtlich seiner
Abberufung gegeben worden. Denn er hat in der Anhörung vor dem Landesarbeitsgericht am 7.8.2012
selbst erklärt, dass es noch vor der in Rede stehenden Betriebsratssitzung, nämlich am 2.5.2011,
zwischen ihm und dem Betriebsratsvorsitzenden Herrn L2 ein Vieraugengespräch gegeben habe, in dem
es um den Tagesordnungspunkt seiner Abberufung auf der folgenden Betriebsratssitzung gegangen sei.
Somit konnte der Beteiligte zu 1. auch von dem dann gefassten Abberufungsbeschluss nicht überrascht
sein und hatte die Möglichkeit, vor der Sitzung noch Gespräche mit anderen Betriebsratsmitgliedern
hinsichtlich seiner Abberufung zu führen.
Im Übrigen ist dem Arbeitsgericht darin zu folgen, dass es Sache der Selbstorganisation des Betriebsrats
ist, wen er mit der Freistellung und der damit verbundenen Erledigung von Betriebsratsaufgaben
betraut. Im Rahmen der dem Gericht einzig möglichen Rechtmäßigkeitsprüfung kann es auf Gründe der
Zweckmäßigkeit nicht ankommen. Von daher kann es auch nicht Aufgabe der Arbeitsgerichtsbarkeit
sein - wie der Beteiligte zu 1. meint -, zu prüfen, ob der Abberufungsentscheidung Gründe von
erheblichem oder weniger erheblichem Gewicht zu Grunde liegen. Zum einen ist dies aufgrund der
geheimen Abstimmung ohnehin nicht möglich, zum anderen würde auf diese Weise in die Autonomie
der Selbstorganisation des Betriebsrats unzulässig eingegriffen.
Das Arbeitsgericht hat zudem zutreffend erkannt, dass auch der Minderheitenschutz der Abberufung
des Beschwerdeführers nicht entgegensteht. Das BAG hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass
bei Ausscheiden eines nach § 38 Abs. 2 Satz 1 BetrVG im Wege der Verhältniswahl in die Freistellung
gelangten Betriebsratsmitglieds grundsätzlich das ersatzweise freizustellende Mitglied in entsprechender Anwendung des § 25 Abs. 2 Satz 1 BetrVG der Vorschlagsliste zu entnehmen ist, der das zu
ersetzende Mitglied angehört (BAG vom 20. April 2005, 7 ABR 44/04; BAG vom 25. April 2001, 7 ABR
26/00; Wlotzke u.a., a.a.O., § 38 Rn. 34; Löwisch/Kaiser, BetrVG, 6. Aufl., § 38 Rn. 24 ). Bei Erschöpfung
der Liste ist das zu ersatzweise freizustellende Mitglied im Wege der Mehrheitswahl zu wählen (BAG
vom 28. Oktober 1992, 7 ABR 2/92; Löwisch/Kaiser, a.a.O.). Der Listenschutz reicht insoweit nicht weiter
als der Wahlvorschlag.
Der Umstand, dass die Liste, auf der der Beschwerdeführer kandidierte, nur über zwei Listenplätze
verfügte, beinhaltet grundsätzlich die Möglichkeit, dass das andere auf der Liste des Beschwerdeführers
gewählte Betriebsratsmitglied die Freistellung für sich geltend machen kann. Dann allerdings muss die
Einwilligung in die Freistellung erklärt werden. Vorliegend ist jedoch unstreitig, dass Herr L3, das weitere
von der Liste „DPVKOM" gewählte Betriebsratsmitglied nicht bereit war, sich freistellen zu lassen. Der
Beteiligte zu 1. hat auch nicht vorgetragen, dass Herr L3 inzwischen anderen Sinnes geworden sei.
Deshalb ist es auch ohne Bedeutung, ob es zutrifft, dass Herr L3 vor der späteren Neuwahl eines
Freigestellten nach der Abberufung des Beteiligten zu 1. nicht gefragt worden ist, ob er die Freistellung
übernehmen wolle. Dass ein weiteres zur Freistellung bereites Betriebsratsmitglied auf der Liste
„DPVKOM" nicht vorhanden war, kann der Mehrheitsfraktion nicht angelastet werden, sondern gehört
zur Risikosphäre der Liste, der der Beteiligte zu 1. angehört.
e) Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass es sich bei der Abberufungsentscheidung um
eine Willkürhandlung handelt. Worin die Abberufungsentscheidung im Einzelnen gründete, ist aufgrund
der geheimen Abstimmung nicht feststellbar und damit einer Kontrolle nicht zugänglich. Konkrete
Anhaltspunkte, die für Willkür sprechen, sind vom Beschwerdeführer nicht vorgetragen. Ein Verstoß
gegen die Grundsätze des § 75 BetrVG ist nicht erkennbar.
Soweit der Beteiligte zu 1. Indizien vorträgt, die auf eine Benachteiligung des Beteiligten zu 1. durch den
Betriebsrat hindeuten- wie etwa die Zuweisung eines Betriebsratsbüros in Hannover, obwohl der
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Beteiligte zu 1. zu keinem Zeitpunkt dort seinen Dienstort hatte -, kann auch daraus nicht auf eine
Unwirksamkeit des Abberufungsbeschlusses geschlossen werden. Jedenfalls lässt sich diese Rechtsfolge
nicht aus § 78 BetrVG herleiten, dessen Schutzrichtung im Übrigen auf rechtswidrige Eingriffe von
außen gegen die Betriebsratstätigkeit gerichtet ist und nicht zur Klärung von Konflikten innerhalb des
Betriebsrats dienen soll.
f) Sonstige Anhaltspunkte, die gegen die Wirksamkeit des Abberufungsbeschlusses vom 4./5.5.2011 sind
nicht ersichtlich. Einwände gegen die Ordnungsmäßigkeit der Einberufung der Sitzung im Übrigen bzw.
hinsichtlich der Beschlussfähigkeit des Gremiums sind nicht vorgetragen.
Die Rechtsbeschwerde konnte nicht gemäß § 92 Abs. 1 Satz 2 ArbGG zugelassen werden, weil die
Voraussetzungen des § 72 Abs. 2 ArbGG nicht vorliegen.
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