Mit unserer Beteiligung wächst das Neue

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Mit unserer Beteiligung wächst das Neue
Mit unserer Beteiligung wächst das Neue ...
Die Bewohner des Stadtteils Novo Bacabal im Nordosten Brasiliens entdecken ihr Potential
Zum Alltag der Kleinstadt Bacabal mit etwa 70.000 Einwohnern gehören Arbeitslosigkeit, Armut, Gewalt,
Hunger und Krankheit. Verschärft wird diese Situation durch ein mangelhaftes Bildungssystem, unzureichende
Gesundheitsversorgung - und vor allem durch den fehlenden politischen Willen, daran grundlegend etwas zu
ändern. Was tut eine „Fachkraft im kirchlichen Entwicklungsdienst“, betraut mit der Beratung und Begleitung
sozialpastoraler Projekte in diesem Kontext? Welche Rolle spielt dabei Partizipation? Meinolf Schröder hat die
Aktionsgruppe VAMOS im Stadtteil Novo Bacal begleitet. Ein Bericht über einen Erfolg.
Puzzlestücke
Es ist Samstagvormittag. In der Stadtrandsiedlung Novo Bacabal treffen sich elf Frauen und zwei Männer im
rustikalen Tanzlokal „Big Brother“. Die Barstühle sind zu einem Kreis gestellt, in der Mitte liegen die Teile eines
Buchstabenpuzzles, das die Teilnehmer/innen zu Beginn des Treffens gemeinsam zu lösen versuchen.
Buchstaben werden hin und her geschoben, zu Wörtern gefügt: AÇÃO, PIPOCA, TAPIOCA, TRAIÇÃO,
*
PÁTRIA . Schließlich entsteht ein Begriff, der alle Buchstaben integriert: PARTICIPAÇÃO. In einem kurzen
Gespräch wird kommentiert: Was hat das gemeinsame Lösen des Puzzles mit uns und unserem Treffen zu
tun? Welche Bedeutung hat Partizipation für uns und unser Engagement als Aktionsgruppe im Stadtteil? „Alle
Entwicklungen fangen klein an: langsam, mit den Unterschieden, die existieren. Es fängt mit der Partizipation
an. Da merkt man, dass man beteiligt ist, und das ist eine sehr gute Sache.“ – „Zuerst hat man den Eindruck, im
Stadtteil gibt's nur Durcheinander, Probleme und Konflikte. Aber gemeinsam wird Sinn konstruiert.“ – „Man
wohnt hier im Stadtteil, aber manchmal erwartet man Lösungen von außerhalb.“ – „Jeder von uns sollte seinen
Wert entdecken, seine Kapazitäten nutzen. Wir müssen daran glauben, dass wir etwas können, und ich
persönlich bin davon fest überzeugt. Es ist gut zu wissen, dass wir uns entwickeln!“ – „Mit unserer Beteiligung
wächst das Neue ...“ – „Wenn die Gruppen im Stadtteil sich vernetzen, kann man gemeinsam für
Veränderungen kämpfen.“ – „Man trifft sich, diskutiert, streitet, analysiert, plant und wertet aus ...“ – „Wenn man
teilnimmt, findet man heraus, was jeder zur Verbesserung beitragen kann.“ – „Heute sehe ich die Kraft, die in
uns steckt.“
Berührbarkeit
„Entwicklungen fangen klein an ...“ - Seit zehn Jahren lebe und arbeite ich im Nordosten Brasiliens, zusammen
mit Basisgruppen und -gemeinden, Bürgerinitiativen und Volksbewegungen im ländlichen und städtischen
Raum. Mein Einleben und Einarbeiten in diese andere kulturelle, wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit hat mir
meine Frau wesentlich erleichtert. Sie ist Brasilianerin, Krankenschwester und Pädagogin und hat mich im
Rahmen ihrer Arbeit als Diözesankoordinatorin der Kinderpastoral an unzähligen Besuchen am Stadtrand,
Reisen ins ländliche Hinterland, Ausbildungsveranstaltungen und Seminaren mit ehrenamtlichen
Gesundheitshelferinnen teilhaben lassen.
Das Zu-Gast-Sein in den Lebensräumen und -geschichten der Anderen hat wichtige Lernerfahrungen, heilsame
Verunsicherungen und nachhaltige Perspektivenwechsel ermöglicht. So habe ich etwa gelernt,
• ... dass Armut nicht nur der fehlende Zugang zu Gütern, Möglichkeiten und Macht ist, sondern oft auch
den Verlust von Selbstwert und Würde bedeutet, die es zu rekonstruieren gilt, wenn Armutsbekämpfung
wirksam sein soll.
• ... dass die schnelle Hilfe von außen und von oben in der Regel zu neuen Abhängigkeiten bzw. neuen
Problemen führt und es daher entscheidend ist, angesichts individuellen Leids nicht dem spontanen
Helferimpuls nachzugeben und mit gut gemeinten Lösungen gegen die vermeintlichen Probleme der
anderen anzugehen.
• ... dass sich subjektive Betroffenheit mit gemeinsamem und solidarischem Handeln verbinden kann,
indem die Betroffenen zu beteiligten Akteuren ihrer Veränderung werden und gemeinsam einen
Zuwachs an Gerechtigkeit und Freiheit erkämpfen.
• ... dass es dabei darauf ankommt, das Augenmerk - auch der Betroffenen selbst - auf deren
Ressourcen zu richten, um diese als Entwicklungspotenzial zu nutzen und zu stärken.
Daher meine Vermutung: Eine Voraussetzung 'fachkräftiger' Entwicklung ist das Offensein für eigene
Entwicklungen, angestoßen durch die teilnehmende Wahrnehmung und solidarische Partizipation an „Freude
und Hoffnung, Angst und Trauer der Menschen, besonders der Armen und Bedrängten“, wie es die Kirche
einmal formuliert hat. Das erfordert Empathie, Berührbarkeit, Mit-Leidenschaft - oder, wie es hier in Brasilien
heißt: compaixão.
Teilhabe der Betroffenen
•
übersetzt: Aktion, Popcorn, Tapioka (= Speisestärke aus Maniok), Verrat, Vaterland.
Die Aktionsgruppe in Novo Bacabal hat sich vor etwa einem Jahr aus Bewohner/innen des Stadtteils gebildet:
Jugendliche und Erwachsene, Hausfrauen und Handwerker, Rentner/innen und Arbeitslose. Viele der
Teilnehmer/innen sind auch in anderen Gruppen bzw. Einrichtungen des Stadtteils engagiert: Siedlerverein,
Frauenkreis, Prostituierteninitiative, sozialpädagogische Projekte, Kirchen, Gesundheitsposten, Grundschule.
Beratend begleitet wird die Gruppe von freiwilligen Mitgliedern des „Vereins solidarischer Bürgerinnen und
Bürger - VAMOS!“, die in diesem Prozess vor allem als Organisationshelfer/innen und Moderatoren/innen
fungieren. Das Ziel der selbstorganisierten Aktionsgruppe ist es, unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte und
Interessengruppen zu vernetzen, Strategien zur Befriedigung individueller und kollektiver Bedürfnisse zu
entwickeln und gemeinsam in die Praxis umzusetzen.
Nach einer Erhebung der Problemlagen im Stadtteil wurde beschlossen, durch die Förderung alternativer und
solidarischer Formen des Wirtschaftens zur Verbesserung der Lebensqualität der Familien in Novo Bacabal
beizutragen. In einer ersten Phase sollte das Potential des Stadtteils und seiner Bewohner erhoben werden.
Daher organisierte die Aktionsgruppe Workshops und Seminare: Schmuckherstellung, gesunde Ernährung,
Kunst aus Müll und Naturmaterial, Musik und Theater. Die Ergebnisse wurden Ende 2005 auf einem „Markt der
Möglichkeiten und Talente“ vorgestellt: Im Rahmen eines kleinen Kulturprogramms mit Musik, Tanz und Theater
wurde gezeigt und verkauft, was vorher zu Hause und in den Workshops produziert worden war. Dieser
Prozess hat deutlich gemacht: Novo Bacabal hat in seinen Bewohnern und Gruppen ein großes Potential, das
es für die zukunftsfähige Entwicklung des Gemeinwesens nutzbar zu machen gilt. Und schon bei der
Auswertung dieser ersten Etappe war die einhellige Aussage: „Der Stadtteil Novo Bacabal hat sich verändert!“
Neues Selbstbewusstsein
Inzwischen sind sieben solidarische „Kleinstunternehmen“ im Stadtteil entstanden, die für neues
Selbstbewusstsein der Beteiligten und zusätzliche Einkommensquellen sorgen. Kleidung der Konfektions- und
Änderungsschneiderei „nbXiq“, Modeschmuck und Accessoires der Gruppe „nbArte“, Tanz- und
Musikaufführungen der Musik- und Theatergruppen „Novo Samba“ und „Damas de Preto“ sind heute nicht nur
in Bacabal, sondern auch schon in der Landeshauptstadt São Luís bekannt. Auf der „1. Nationalen Messe für
solidarisches Wirtschaften“ in São Paulo haben Mitglieder der Aktionsgruppe Produkte aus Novo Bacabal
ausgestellt. Und bei der „1. Bundeskonferenz für solidarisches Wirtschaften“ in Brasília konnten im Juni 2006
zwei Mitarbeiterinnen der Gruppe - zusammen mit Delegierten aus anderen Produktionsgruppen, NGOs und
Regierungsvertretern - die strategischen und politischen Linien diskutieren und mitbestimmen, unter denen
zukünftig diese alternative Wirtschaft in den Dienst nachhaltiger Entwicklung gestellt werden soll.
„Es ist gut zu wissen, dass wir uns entwickeln!“ - Die Beteiligung der Betroffenen fördern, gemeinsam
Ressourcen entdecken und stärken, zur Wiederaneignung von Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein
ermutigen und befähigen - darin kann ein 'fachkräftiger' Dienst zur Entwicklung bestehen, unter der Perspektive:
Eine andere Welt ist möglich - und nötig.
Meinolf Schröder
Meinolf Schröder ist Theologe und arbeitet als AGEH-Fachkraft zusammen mit der Brasilianischen
Bischofskonferenz in Maranhão - Brasilien. Er ist Gründungsmitglied der "Associação VAMOS!" in Bacabal.
Seine Arbeit wird von ADVENIAT, Kindermissionswerk, VAMOS! e.V. und der Diözese Paderborn finanziert.