Infobrief Juli 2016
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Infobrief Juli 2016
Infobrief Biografiearbeit Juli 2016 Liebe Leserin, lieber Leser! Kennen Sie den? "In allen/ vier Ecken/ soll Liebe/ drin stecken" – je zwei Worte verteilt auf die vier Seitenecken in einem Poesiealbum für die allerbeste Freundin. Oder auch einfach nur für die Banknachbarin, so genau hat man das damals nicht genommen. Blättert man heute durch die Poesiealben der Jugendzeit, dann lächelt man einerseits über die schwülstigen Verse und frommen Sprüche. Aber es schleicht sich auch Wehmut der Junge von nebenan, die sind aus unserem Gesichtsfeld schon lange verschwunden. Nur das Glitzerbildchen und der verschmierte Tintenklecks sind geblieben und nehmen uns mit auf eine Zeitreise in die Vergangenheit. Viel Spaß beim Lesen wünscht Gesine Hirtler-Rieger [email protected] www.schreibwerkstatt-passau.de ins Herz, denn die nette Klassenlehrerin oder Von braven Veilchen und frechen Mäusen Manche haben es längst entsorgt. Andere bewahren es auf wie einen Schatz: das Poesiealbum. Die meist quadratischen Erinnerungsbücher sind geschmückt mit Glitzerbildchen, Scherenschnitten und selbst gemalten Herzchen. Auf manchen Seiten sieht man noch die mit Bleistift sorgsam vorgemalten Linien, damit der handschriftliche Eintrag nur ja nicht aus der Reihe tanzt. Poesiealben bieten amüsanten Lesestoff. Sie atmen aber auch biografisches und atmosphärisches Erleben und lassen sich wunderbar in der Biografiearbeit einsetzen: als Gesprächsanlässe für die Familie, aber auch in SeniorenGesprächskreisen oder in der Pflege. Vor allem jüngere Generationen, denen vielleicht Zugänge zur Lebensgeschichte älterer Menschen fehlen, LebensMutig – Gesellschaft für Biografiearbeit e.V l www.lebensmutig.de 1 Infobrief Biografiearbeit Juli 2016 finden mit den Einträgen in den Alben eine Möglichkeit, in die Gefühle von Menschen mit Demenz vorzudringen. Haben Sie noch ein Poesie-Album? Da können Sie erstaunliche Dinge über den Zeitgeist herauslesen: • In der Nachkriegszeit ging es vor allem um Geduld, Demut, Fleiß und Tugend, aber auch um die Hinwendung zum Heiland • In den 60er Jahren wendet sich das Blatt – bunte Lackbildchen und fröhliche Sprüche halten Einzug. Doch altkluge Weisheiten und bleischwere Dichterworte dominieren nach wie vor Mach es wie die Sonnenuhr Zähl die heiteren Stunden nur • In den 70er Jahren verewigen sich vermehrt auch die Buben, nachdem zuvor in den Alben, die fast ausschließlich in Mädchenhand sind, höchstens Lehrer, Väter und Brüder mit Sprüchen Einzug hielten. Heinz Erhards Witz löst Johann Wolfgang von Goethes Lebensweisheiten ab. Immer öfter kommt auch der Tintenkiller zum Einsatz, wird durchgestrichen und ausgebessert. • Spätestens zu Beginn der 1990er Jahre löst das Freundschaftsbuch die Poesiealben ab. Jetzt darf man vorgefertigte Steckbriefe ausfüllen, die bereits bunt verziert sind. Das Diktat der Ökonomie und Zeitknappheit blitzt hier auf, und die Diddlmaus als Marke löst die gestanzten Blumenbilder ab. Das Internet schickt sich an, auch diese Erinnerungsbücher zu schlucken. Freundschaft versichert man sich heute auf Facebook und Co. Doch woher stammt diese Tradition überhaupt? Begonnen hat der Erinnerungskult mit den Stammbüchern des Adels im 16. Jahrhundert. Damals mussten die adeligen Söhne, die an Turnieren teilnehmen wollten, ein Stammbuch vorlegen, mit dem sie ihre hochgeborene Herkunft nachwiesen. Diese Stammbücher waren LebensMutig – Gesellschaft für Biografiearbeit e.V l www.lebensmutig.de 2 Infobrief Biografiearbeit Juli 2016 prächtig gestaltet, mit vielfarbigen und mit Gold bemalten Wappen und Miniaturen. Je mehr Eintragungen bedeutender Zeitgenossen man vorweisen konnte, umso besser fürs Prestige! Im 18. Jahrhundert und vor allem in der Zeit des Biedermeier kultivierten dann junge Bürger und Bürgerinnen diese Form der persönlichen Erinnerung. Sie schrieben moralisch und religiös getönte Widmungen und innige Freundschaftsschwüre auf lose Blätter, die in schön verzierten Kästchen aufbewahrt wurden. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Poesiealben zur Frauensache, die Sprüche wurden immer blumiger. Rosen, Tulpen und Nelken blühen ewig frisch auf den Seiten der Poesiealben und welken niemals. Nimm Freund, was ich Dir geben kann Nimm mich als Freund aus Freundschaft an Was glücklich und zufrieden macht Das sei von mir Dir zugedacht Und für dies alles? Nun dafür Wünsch' ich nur deine Freundschaft mir. (überliefert um 1845) Einen historischen Bruch gab es nach dem Untergang des Dritten Reichs. Zuvor hatten vaterländisches Denken und deutschnationale Verse die Alben bevölkert: "Sei immer treu und edel/ und bleib' ein deutsches Mädel." Damit war nach 1945 ein für alle Mal Schluss: das Poesiealbum wurde wieder unpolitisch. Poesiealben geben Impulse für Biografiearbeit: - Im biografischen Gespräch: welche Sprüche kenne ich noch? Welche fand ich früher schön und warum? Welche würde ich heute nicht mehr schreiben und warum nicht? Beim biografischen Schreiben: Was war "mein" Spruch? Wie habe ich ihn gestaltet? Gibt es eine Geschichte zu meinem Poesiealbum? Welche Bedeutung hatte es für mich? Poesiealbum 2.0: Wie könnte ich es gestalten – auf Papier? Digital? Was wäre "mein" Spruch heute? Wer darf sich verewigen – und in welcher Form? Link : http://www.bnmsp.de/home/e.huber/schulmuseum/poesiealbum/ Wenn dich böse Buben locken bleib daheim und stopfe Socken Sei wie das Veilchen im Moose bescheiden, sittsam und rein nicht wie die stolze Rose die immer bewundert will sein LebensMutig – Gesellschaft für Biografiearbeit e.V l www.lebensmutig.de 3 Infobrief Biografiearbeit Juli 2016 Literaturtipps Zeit des Erinnerns. Gesprächsanlässe für die Biografiearbeit. Ein Poesiealbum aus vergangenen Tagen. (2013) Verlag an der Ruhr. Die Einträge und Sprüche in diesem Poesiealbum basieren auf Originalvorlagen aus der Zeit ab 1920. Auf 60 Seiten finden sich nostalgische Abbildungen von Glanzbildern und historischen Fotos, Einträge in Sütterlin und in originalen Handschriften. Das Album eignet sich für die Arbeit in Pflegeeinrichtungen genauso wie zum Einsatz in Familien. Gina Bucher: Ich trug ein grünes Kleid, der Rest war Schicksal. Geschichten von der Liebe (2016). Piper Verlag. Wie stellt man sich die Liebe mit 20 vor und was ist dann tatsächlich passiert? Auf ihr Leben zurückblickend erzählen Frauen und Männer ihre Geschichten. Wie haben sie die Liebe kennengelernt, erlebt, gefunden und verloren? Wie sind sie mit Krisen umgegangen? Ein schönes Buch zum Schmökern und Staunen. Veranstaltungsempfehlungen 12.-15.9.2016 Werkwoche Niederalteich: Biografiearbeit öffnet Räume. Mit sechs Workshops und einem Ohrenschmaus zur Halbzeit. 1. Birgit Lattschar: Schätze auf dem Dachboden, Leichen im Keller. Biografiearbeit in und mit Familien. 2. Gerd W. Stolp: Was hält, wenn nichts bleibt, wie es ist. Biografiearbeit in Organisationen und Unternehmen. 3. Christine Ursel: Wenn sich ArbeitsRäume öffnen. Biografiearbeit und Team. 4. Konrad Haberger: Himmel, Herrgott, Sakrament. Biografiearbeit in kirchlichen Handlungsfeldern. 5. Susanne Hölzl: Unterwegs mit mir. Biografiearbeit in Beratung und Coaching. 6. Florian Wenzel: Ohne Angst verschieden sein. Gesellschaftliche Vielfalt und Biografiearbeit. Veranstaltungsort: Niederalteich Info & Anmeldung: www.lvhs-niederalteich.de. Anmeldung bis 29.7. möglich. LebensMutige Seminare Ausführliche Informationen zur unseren Veranstaltungen finden Sie auf www.lebensmutig.de! Infobrief Biografiearbeit l Juli 2016 l Auflage: 1300 Redaktion l Gesine Hirtler-Rieger I [email protected] l [email protected] Herausgeber l Kardinal-Döpfner-Haus & LebensMutig – Gesellschaft für Biografiearbeit e.V. Kontaktadresse l Domberg 27 l 85354 Freising. Sie können den Infobrief bestellen bzw. abbestellen unter [email protected] LebensMutig – Gesellschaft für Biografiearbeit e.V l www.lebensmutig.de 4