Sehen lernen - Bildbetrachtungen in der 11. Klasse
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Sehen lernen - Bildbetrachtungen in der 11. Klasse
Christiane Dessauer-Reiners Sehen lernen Bildbetrachtungen in der 11. Klasse am Beispiel von Monet und Munch Der Kunstunterricht der Oberstufe an der Waldorfschule bildet ein Gegengewicht zum naturwissenschaftlichen Unterricht. In demselben Lebensalter, in dem die Schüler die Naturgesetze mit dem Verstand begreifen lernen, soll daneben auch ein Kunstverständnis geweckt werden. Schon die Benennung als »Kunstunterricht« bzw. »Kunstbetrachtung« deutet darauf hin, dass es nicht darum geht, kunstgeschichtliche Kenntnisse zu vermitteln. Es handelt sich vielmehr um einen Ästhetik-Unterricht, im Falle der bildenden Kunst um eine Schule des Sehens. Aufgabe ist: »Sehen lernen so, dass der Mensch in rechter Weise in der Welt drinnen steht!«1 Sehen können ist nicht selbstverständlich und muss gelernt werden. Das bewusste Kunsterleben bedeutet für die Jugendlichen eine starke Willensbildung, da es ein aktives Sehen erübt, und auch eine große seelische Bereicherung und Kräftigung, insofern es das Empfinden von Qualitäten entwikkelt. Wesentliches Gewicht liegt daher auf der Betrachtung des einzelnen Kunstwerks, wenn auch eingebettet in die Biographien großer Künstlerpersönlichkeiten. Die Frage nach einer generell gültigen Methode der Bildbetrachtung lässt sich nicht allgemein beantworten. Es ist nicht sinnvoll, verschiedene Bilder nach dem Schema einer festen Schrittabfolge zu betrachten. Will man aus dem wirklichen Verständnis eines Kunstwerks heraus einen Weg zu einem Kunsterlebnis führen, so wird dies jeweils ein individueller sein müssen. Andererseits gilt es, auch dem Jugendlichen in seiner Entwicklung gerecht zu werden; auch hier wird jede Klassenstufe eine andere Art der Betrachtung einfordern. Jedes Kunstwerk verlangt seine Methode; jedes Alter fordert seine Methode. Beides gilt es aufeinander abzustimmen. Die Auswahl der Bilder und Kunstepochen wird sich hieran orientieren. Im Folgenden soll daher anhand von Bildbeispielen exemplarisch das mögliche Vorgehen in der 11. Klasse vorgestellt werden. Es wurden bewusst dem Leser wohlbekannte Bildbeispiele gewählt, da hierdurch besser auf das »Wie« geachtet werden kann. Wir verlassen in der 11. Klasse den sicheren Boden der realistischen Kunst, welche für die 9. und 10. Klasse die Basis war. Erst in diesem Alter sind die 1 R. Steiner, GA (Gesamtausgabe) Bd. 307, zitiert bei K. Stockmeyer, Rudolf Steiners Lehrplan für die Waldorfschulen, Stuttgart 1976 (4. Aufl. 1988 mit dem Titel: Angaben Rudolf Steiners für den Waldorfschulunterricht), S. 81 141 Claude Monet: Felder im Frühling (1887) inneren Voraussetzungen vorhanden für ein Verständnis der Kunst am Übergang in das 20. Jahrhundert und am Beginn der Moderne, einer zunehmend abstrakter werdenden Kunst, die immer stärker das Erlebnis des rein Künstlerischen fordert. Es ist eine Antwort auf die zunehmende Verinnerlichung der Jugendlichen in diesem Alter, auf eine subtiler werdende seelische Differenzierungsfähigkeit. Die Jugendlichen werden zu feinen Beobachtungen fähig. Die Kunstepoche kann dies fördern und entwickeln helfen. Eine Landschaft von Claude Monet Die Bilder von Claude Monet schildern sonntäglich schöne Landschaften, die von Schülern der 11. Klasse meist hingebungsvoll bewundert werden. Hängt man eine kleine Auswahl von Reproduktionen an die Tafel, so träumen sie gerne hinein. Wir lenken den Blick auf das Bild Felder im Frühling (1887), ohne den Titel zu nennen. Nun gibt es keine Frage, die von Schülern so kurz beantwortet wird, wie die: Was ist dargestellt? Ja, sie empfinden die Frage – durchaus zu Recht, aber beabsichtigt – fast als eine Zumutung. Ein Schüler wird sich finden, der etwas »ausführlicher« zu antworten bereit ist: eine Frau mit Schirm in einer 142 Landschaft mit Bäumen, eventuell erwähnt er noch die Hügelkette im Hintergrund, die zweite Figur rechts. Fertig! Auf den ersten bewussten Schülerblick eine recht schlichte Landschaft, die nun aber zum Erstaunen aller eine viel größere Differenzierung erlaubt. Wo befinden wir uns, in welcher Gegend Europas? Es muss eine Landschaft im Norden Frankreichs sein. Warum? Ja, solch milchigen Himmel, eine solch helles, aber diesiges Licht gibt es nicht im Süden, auch nicht diese Art von blühender Wiese oder Feld, nicht diese Pappeln. Wir werden noch genauer. Die Jahreszeit? Es wird Frühling sein. Es wirkt insgesamt noch etwas kühl, aber an manchen Stellen gibt es durchaus schon stehende Hitze, z. B. über dem goldgelben Korn links hinten; die Luft flimmert dort sogar leicht, also bereits fortgeschrittener Frühling. Tageszeit? Mittags, die Sonne steht hoch, aber nicht im Zenit – es ist ja auch nicht Hochsommer. Wir sehen sogar, dass es leicht windig ist. Das Feld wogt hin und her. Ein Lüftchen bläst durch das Laub der drei Pappeln und lässt es leicht und ganz typisch zittern. Wir hören es sogar hell rauschen. Das Lüftchen ist kühl. Ein Vergleich mit anderen Bildern Monets zeigt allen, wie ausgezeichnet er beobachtet hat, wenn er draußen in der Landschaft saß und malte: Die Überschwemmung (1896) – ein solch nasskaltes, graues Wetter gibt es auch nur im Norden; es ist kalt, das Wasser eiskalt; kein Fluss, sondern ein flaches Wasser, denn es ist spiegelglatt und strömt nur leicht und oberflächlich. Gleißender Nebel, durch den die Sonne drückt, in London. Bordighera (1884) ist dagegen eindeutig italienisch, in voller, trockener, flirrender Mittagshitze; man hört das trockene Laub rascheln. Angesichts Impression – soleil levant (1872) kann sogar diskutiert werden, ob es den Hafen um 5 Uhr oder 6 Uhr früh zeigt. So genau ist Monet und sind wir. Wir kehren zurück zu Felder im Frühling und lassen den Blick auf der Bildmitte ruhen, aber so, dass wir nicht die Mitte fixieren, sondern dass wir den Blick so »weiten«, bis wir das Ganze des Bildes gewahr werden. Nun wird den Schülern erst richtig bewusst, wie konsequent die ganze Landschaft nur aus Farbklecksen gebaut ist, aus locker gesetzten hellvioletten, gelben, rosafarbenen und grünen Tupfen in der Wiese, aus blau-grünen in den Pappeln. Je länger man schaut, desto bewegter, lebendiger, flimmernder das Ganze. Lenkt Claude Monet: Die Überschwemmung (1896) 143 man den Blick auf die Wiese, so erlebt man, wie sich der Blick im Hin- und Herwogen der Tupfen und in einer undurchdringlichen Dichte verfängt, er dringt nicht durch. Bei den Pappeln ist alles luftig; man kann hinein und durchschauen; es zittert scheinbar um uns herum. Es ist unmittelbar evident, dass das eigentliche Interesse Monets nicht dem dargestellten Motiv selber gilt. Er beobachtet und malt vielmehr das, »was es zwischen dem Motiv und mir gibt« (so Monet selber 1895). Also das Atmosphärische in der Natur, wie die Landschaft je nach Luft, Licht, Wärme, Feuchtigkeit, Sonnenstand, Klima unmittelbar erscheint. Das Leben der Natur spielt sich hierin ab. Die Schüler können sich sofort vorstellen, dass Monet, je genauer er die Natur malen wollte, umso wahnsinniger wurde angesichts der Flüchtigkeit dieses Naturgeschehens. Eine kleine Malübung kann das aufmerksame Sehen nochmals steigern. Aufgabe ist es, einen kleinen Ausschnitt eines Bildes von Monet mit Aquarellfarben möglichst genau in Farben und Malweise zu kopieren, und zwar so, dass dieser atmosphärische Eindruck (schillernde Wasseroberfläche, Rascheln von Laub, Dunst o.ä.) zu Stande kommt. Die Schüler, gezwungen, eines der aufgehängten Bilder von nahem anzuschauen, staunen: solch ein buntes, wildes Gekleckse, so viele Farben an einer Stelle – und solch eine Wirkung von weitem. Die Nachahmung erweist sich schwieriger als gedacht. Weder gleichmäßiges Aufreihen, noch backsteinartige Tupfenformen, noch Beschränkung auf die vorherrschende Farbe führen zu dem gewünschten Ergebnis. Die Schüler beurteilen – am besten am nächsten Tag –, bei welchen Schülerarbeiten und durch was genau eine lebendige, atmosphärische Wirkung erzeugt wird. Nach dieser Übung betrachten die Schüler mit wiederum anderem Blick die Bilder von Monet: Seine Malweise macht die Bilder so lebendig und seine genaue Beobachtung, bei der er einzig auf die kleinsten Farbnuancen und -reflexe in einer Landschaft achtet. Wir schauen aus dem Fenster; welch schwieriges Unterfangen, »nur« zu »sehen«, ohne Gegenstände zu »wissen«. »Monet ist ganz Auge, aber was für ein Auge!«, so bewunderte Cezanne Monets Gabe und wir mit ihm. Er achtete nur auf die Farben, und in diesen Impressionen offenbarte sich ihm und uns das Lebendige der Natur. Die Schüler sind selber einen Weg der immer genaueren, ja fast wissenschaftlichen Beobachtung gegangen: vom gegenständlichen, undifferenzierten Wiedererkennen über das Gewahren des Atmosphärischen hin zur reichen Welt der farbigen Erscheinungen. Der Weg entspricht der Art des Werkes. Er kommt zugleich dem jugendlichen Bedürfnis entgegen. Denn jedes Urteil an selbstgetätigten Entdeckungen schafft tiefe Zufriedenheit und Sicherheit. Die Schüler erleben, dass sich genaues Beobachten lohnt, denn hierdurch kann man einen tieferen Blick in das Leben der Natur gewinnen. (Der weitere Unterricht wird solche Betrachtungen natürlich ergänzen, z. B. durch Erzählungen aus Monets Biographie, aus seinem Umkreis und andere Überlegungen.) 144 Der Schrei von Edvard Munch Nach mehrtägiger Beschäftigung mit impressionistischer Kunst ist eine direkte und unmittelbare Konfrontation mit dem Schrei von Edvard Munch sehr fruchtbar. Auch bei Schülern, die das Bild schon einmal gesehen haben, ja selbst für den Erwachsenen, der es gut kennt, kann es unmittelbare Betroffenheit auslösen. Die Schüler betrachten es zunächst still, jeder für sich, ihnen wird hier ein mehr innerlicher Zugang ermöglicht; dazu sind ihnen mehrere Fragen schriftlich gestellt, zu denen sie sich Stichworte machen sollen: Welchen Eindruck macht das Bild auf sie? Unmittelbare Empfindungen? Reaktionen? Gedanken? Welchen Eindruck machen Mensch und Landschaft auf sie? Was stellt Munch dar? Was für ein Mensch ist Munch? Durch diese Vorgehensweise ist der Schüler einerseits zunächst auf sich geworfen, andererseits ist es gut, wenn er seine Betroffenheit artikulieren kann. Sie erweist sich für das anschließende Gespräch als äußerst fruchtbare Ausgangsbasis. Die Äußerungen sprudeln dann erfahrungsgemäß ausgiebig, selbst die zurückhaltendsten Schüler melden sich zu Wort. Einige Beispiele: Bedrohlich wirke das Bild, abstoßend und zugleich anziehend; bedrängend und den Betrachter anspringend – nicht einladend wie ein impressionistisches Bild; manche fühlen Beklemmung, Erstarrung. Der Mensch im Zentrum erscheint wie in tiefster Einsamkeit; er erlebt größtes Leid und Verzweiflung. Das zeigt jedem der totenschädelartig ausgezehrte Kopf mit den schreckgeweiteten Augen und dem weitgeöffneten Mund. Er krümmt sich vor Schmerz. Lebt er überhaupt noch? Die Landschaft mit Hügeln und Fjord vermittelt vielen Schülern die Stimmung von Weltende. Nach diesen starken Gefühlsäußerungen soll das Bild genauer abgetastet werden. Denn ein konkreteres und tieferes Erleben eines Kunstwerks lässt sich gerade durch ein Aufmerksamwerden auf die Ausdrucksmittel gewinnen. Fragt man als Lehrer jedoch direkt nach diesen, besteht immer die Gefahr, dass die Schüler aus dem Erleben herausfallen und die Betrachtung zu formal wird (was an anderer Stelle des Unterrichts durchaus berechtigt und auch wichtig ist). Also wird man andere Fragen suchen. Wohin wird der Blick am meisten gezogen? Antwort: in das Zentrum auf den Kopf; noch genauer: in die blicklosen Augen und den Mund. Lassen wir den Blick hierauf ruhen, versuchen aber zugleich nach schon vertrauter Methode die Aufmerksamkeit auf das Ganze zu lenken, empfinden die Schüler die Wirkung der Farben und Formen nun bewusster und genauer. Heftig und dynamisch fließt die Landschaft um die Figur herum, wie ein schlagendes Seil oder schwingende Peitschenhiebe. Folgen wir diesen Bewegungen der farbigen Linien und Streifen mit den Augen, so erleben wir rechts ein Stürzen in den Abgrund, unaufhaltsam. Blicken wir auf den Weg und das Geländer, so saugt uns die übertrieben fluchtende Perspektive entweder nach hinten, oder sie entzieht uns den festen Boden unter den Füßen und lässt uns abgleiten. Der Himmel fließt schwer wie 145 Edvard Munch: Der Schrei (1893) Lava. Nirgends gibt es Halt. Selbst der Mensch ist durchzogen von strudelnder Bewegung. Einziger winziger Halt: in den weißen Kreisen von Augen und Mund; hier scheint alles wie erstarrt und fest, doch gespenstig »leer«; der Blick des Betrachters lässt sich leicht wieder in das endlose Fließen hereinziehen. Wieder mit dem »weiten« Blick auf die Bildmitte achten wir auf die Farben: Der Himmel drückt bedrohlich auf die Figur und auf uns. Das Blutrot und Gelb der Streifen wirkt brennend, aggressiv wie ein Faustschlag. Wir stellen ihn uns als Gegenprobe in Hellblau vor und bemerken daran, wie heftig und brennend das Rot hervorstößt, gerade auch im Kontrast zu dem finsteren, »verschluckenden« Blau und Grün. Die Landschaft, das ganze Bild wird durch den roten Himmel in ein unwirkliches, gefährliches rotes Licht getaucht. Das grünliche 146 Gesicht des Menschen erscheint noch fahler und leichenhafter. Je mehr die Schüler in den Ausdruck, die Qualitäten der Farben und Formen selber eintauchen, umso intensiver und gesättigter wird das konkrete Kunsterleben sein, zugleich wird der massive Ansturm durch das Bild aber auch »objektiver« und besser zu bewältigen. Schreit der Mensch? Wie »hört« Wassily Kandinsky: Gelber Klang sich diese Landschaft, dieses Bild »an«? Die Schüler sind sich einig: Der Schrei ist stumm, so stark ist der Schmerz. Die Landschaft aber: Sie schreit, sie gellt. Die Frage steht im Raum, was der Maler nun eigentlich im Bild darstellt. Keine außen gesehene Landschaft. – Dass es sich hier um ein Polarlicht handeln könnte, wie ein Schüler vorgeschlagen hat, um die Möglichkeit einer abbildlichen Paul Klee: Wachstum in einem alten Garten Darstellung noch zu retten, wird von der Klasse sofort verworfen. – Eher ein Alptraum, aus dem man erwachen möchte. Es drückt sich seelische Stimmung aus, des Menschen in der Mitte oder sogar des Malers selber. Wo schaut Munch denn hin, wenn er malt? Ins Innere! Er schleudert heraus, was er im Inneren erlebt. Expressionen. Die Schüler stellen sich Munch als einen Menschen vor, der Schlimmes und Bedrängendes erlebt haben Anselm Kiefer: Wölundlied (mit Flügel) muss, von dem er sich wohl befreien musste. Sie können sich auch erklären, warum er dieses Motiv und andere ähnliche mehrfach gemalt hat. Denn dieselben Ängste und Gefühle können ja immer wieder aufsteigen. Das bestätigt auch Munch selber: »Meine Bilder sind mein Tagebuch.« »Mein Weg hat entlang einem Abgrund, einer bodenlosen Tiefe geführt. Ich habe von Stein zu Stein springen müssen. Ab und zu habe ich den 147 Pfad verlassen, ... aber immer musste ich wieder zurück auf den Weg entlang dem Abgrund ... Die Lebensangst hat mich immer begleitet, solange ich mich erinnern kann. Meine Kunst ist ein Selbstbekenntnis gewesen.«2 Die anschließende Aufgabe für die Schüler lautet: Gehen Sie von einem Bild Munchs aus (Der Schrei oder Angst, 1896) und übersetzen Sie es in dichterische Sprache. – Dabei ist freigelassen, wie eng sie sich an den Inhalt des Bildes halten; die Stimmung soll v.a. aufgegriffen werden und sprachlich zum Ausdruck kommen. Das folgende Gedicht eines Schülers zeigt, wie die Schüler versucht haben, für die Eindringlichkeit der malerischen Mittel adäquate sprachliche Ausdrucksformen zu finden. Apokalypse Verquirlte Welt Die Angst davor wohin zu fliehen ist größer als die Angst zu leben. Ein Schrei jaulende Sirenen blutender Himmel mutiert Die Welt durch eine Tat verlassen Ein Schrei Alles was existiert hat einen Anfang Alles was einen Anfang hat, wird ein Ende haben, das ist jetzt ein Schrei Es ist als ob die Welt sich auf mich stürzt Ein Schrei Ich kann nicht entfliehen Die Welt zielt auf mich Ein Schrei Wohin? Warum? Ein Schrei Weshalb ich? Auch bei diesen Betrachtungen ergab sich der geführte Weg aus der expressionistischen Art des Bildes: Beginnend mit den unmittelbar aufsteigenden Gefühlen der Schüler über das bewusste Gewahrwerden und »Abschmecken« der Qualitäten von Farben und Formen – hierbei entwickelten die Schüler eine große innere, seelische Aktivität im Sehen – bis hin zu den eigenen Gedichten, in denen sie aus ihrem Inneren heraus künstlerisch gestaltete Sprache »heraussetzten«. Dies kommt sowohl der wachsenden Verinnerlichung der Schüler als auch ihrer differenzierter werdenden Wahrnehmungsfähigkeit entgegen. 2 M. Arnold: Edvard Munch (rowohlts monographien), Hamburg 1993, S. 8 148 Auch aus dem Nacheinander beider Wege ist für die Entwicklung des Schülers etwas gewonnen. Es beginnt mit einem Sehen, das noch gründet im gegenständlichen Erkennen, in welches die Wirkungen von Farbe und Form noch unbewusst und daher vage hineinwirken. Durch die Bilder von Monet kommen die Schüler bis zum Gewahrwerden einer freien Malweise mit gegenständlich nicht mehr gebundenen Farbpunkten und deren Wirkung für das Auge. Die Farbe in ihrer eigenen Ausdrucksqualität (was Goethe die »sinnlich-sittliche« Wirkung nennt) ist jedoch noch kein Thema. Mit dem Expressionismus lernen die Schüler eine Kunst kennen, die nun sehr mit eben dieser Wirkung arbeitet. Sie entwickeln ein Sehen von Farb- und Formqualitäten, ohne jedoch ganz auf die Stütze einer gegenständlichen Vorstellung verzichten zu müssen. Hier wird das »Rüstzeug« für den Schritt in die ungegenständliche Kunst des 20. Jahrhunderts vorbereitet. Diese wird ein Sehen und Empfinden des rein Künstlerischen verlangen. Der Schritt in die ungegenständliche Kunst Lernt man angesichts des Gelben Klangs von Kandinsky nicht die »sinnlichsittliche« Wirkung einer gelben, einer schwarzen Fläche, den Ausdruck mehrfach wiederholter schwarzer Linien zu erleben, so wird man unbefriedigt von solchen Bildern wegtreten. – Eine Hilfe ist es, wenn man die Schüler fragt, wie denn das Bild klingt? Antworten: wie helle Geigen und dunkle Pauken, ein durchgehender langer Ton. An dem Bild Wachstum in einem alten Garten von Paul Klee (1919) kann es gelingen, den Schülern zu vermitteln, dass das Kunstwerk im Betrachten, in dem eigenen tätigen Sehen überhaupt erst entsteht. Statt dass wir abbildlich dargestellte Pflanzen, Gras und Bäume erkennen, bildet sich aus dem sich überlagernden, undurchdringlichen »Gestrüpp« aus hellfarbenen Schraffuren, Linien und Formen auf dunklem Grund das Erlebnis von »Wachsen«, »Wuchern«, »Dickicht«, und zwar aus dem Prozess des abtastenden Sehens und des inneren Mitvollziehens. In ähnlicher Art könnte man sich bei Anselm Kiefers Wölundlied (mit Flügel), 1982, angesichts von Öl, Emulsion und Stroh, aufgetragen auf ein riesiges Foto, über eine »Landschaft« durch einen aufmontierten Bleiflügel mit bleiernen Bändern schwerfällig erheben oder stürzen. Hier bietet sich ein weites Feld für ein künstlerisches Erleben, d.h. für eine ästhetische Urteilsfindung und damit für eine Arbeit an einem gesunden Seelenleben des Menschen.3 3 R. Steiner, GA Bd. 115, Psychosophie, 3. Vortrag zum ästhetischen Urteil und seiner Wirkung auf das Seelenleben, Dornach 1965 Zur Autorin: Dr. Christiane Dessauer-Reiners, geb. 1960. Studium der Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie. Promotion über Rhythmus und genetisches Bildverfahren bei Paul Klee. Seit 1993 Lehrerin an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart für Kunstbetrachtung und Deutsch. 149