Travail de candidature Abgründiges Biedermeier der

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Travail de candidature Abgründiges Biedermeier der
Travail de candidature
Abgründiges Biedermeier der Bonner
Republik
Bundesdeutsche Literatur der 1980er
Jahre am Beispiel zweier Romane
von Martin Walser und Heinrich Böll
1
Erklärung bezüglich der persönlichen Urheberschaft
vorliegender Arbeit
Hiermit versichere ich, dass meine dem Ministerium für
Hochschulbildung und Forschung vorgelegte Arbeit „Travail de
candidature“ zum oben angeführten Thema von mir selbst und
ohne jegliche Zuhilfenahme Dritter geplant und verfasst wurde.
Ferner habe ich keine weiteren Hilfsmittel als die im beigefügten
Literaturverzeichnis angegebenen benutzt. Jedes Mal, wenn ich
eine wie auch immer geartete Information zu meinem Gegenstand
aus einem anderen Werk entlehnt habe, so ist diese explizit als
Zitat gekennzeichnet und Letzteres mit einer am jeweiligen
Seitenende angeführten Fußnote unter Angabe sämtlicher
bibliographischer Daten versehen.
Hochachtungsvoll,
gez. Eric Bruch
2
Bruch Eric
Candidat-professeur au Lycée de Garçons d’Esch-sur-Alzette
Abgründiges Biedermeier der Bonner
Republik
Bundesdeutsche Literatur der 1980er
Jahre am Beispiel zweier Romane
von Martin Walser und Heinrich Böll
Date et lieu d’affectation: Septembre 2010, LGE
3
Resümee
Vorliegende Arbeit befragt zwei Romane der 1980er Jahre unter dem Gesichtspunkt einer
übergreifenden Thematik. Gesucht wird nach einer textnahen und stichhaltigen Antwort auf
die Ausgangsfrage, inwiefern Martin Walser mit „Brief an Lord Liszt“ bzw. Heinrich Böll
mit „Frauen vor Flusslandschaft“ zwei Prosawerke vorgelegt haben, in denen das
Abgründige, sprich das zwischenmenschlich und gesellschaftlich Verheerende hinter einer
nach außen hin gutbürgerlichen Kulisse hervortritt. Die beiden Romane werden ausschließlich
aus literarischer Perspektive untersucht. Sie bilden wie alle belletristischen Werke keine
bloßen Abdrücke der Wirklichkeit, sondern fungieren als Kunstgebilde, denen eine eigene,
autonome Gesetzmäßigkeit zukommt. Dabei wird sich der Einzelanalyse insofern genähert,
als zum einen die allgemeinen Entstehungsbedingungen beider Romane im Jahrzehnt der
bipolaren Aufrüstung dargelegt werden. Zum andern werden Schnittmengen mit jeweils einer
anderen Prosaschrift desselben Autors und derselben Schaffensperiode aufgezeigt.
Alsdann folgt der Versuch, das aus der Linguistik stammende Verfahren der Thema-RhemaStruktur auf zwei repräsentative Textauszüge aus beiden Romanen zu applizieren. Es wird
ersichtlich, dass ungeachtet der stilistischen Differenzen die übergeordnete Thematik in
beiden Passagen allgegenwärtig zum Vorschein kommt. Den Hauptteil dieser Arbeit bilden
Abschnitte zur Einzelanalyse. Diesen vorangestellt werden theoretische Fluchtlinien, welche
von den Schriften Adornos, Horkheimers und Canettis ausgehen. Hier wird kein Exkurs in das
jeweils besprochene Werk geliefert, sondern die einzelnen Essays werden auf ihre
Aussagekraft mit Blick auf die beiden Romane hin befragt. Die zu Tage tretenden Parallelen
sind überzeugend. Daran anschließen werden Abschnitte, welche die Romane jeweils unter
besonderen Analysepunkten ausleuchten: Zur Sprache kommen u. a. kompositorische und
narrative Fragestellungen. Ferner wird sich in thematischer Hinsicht verstärkt mit der
Funktion des Mythos, mit der Intertextualität sowie mit den Geschlechterbeziehungen
beschäftigt. Abschnitte zur Raumsemantik und zur Rolle der Naturbeschreibung gehören
ebenso zum Hauptteil wie der abschließende Abschnitt mit Blick auf die Strategien zur
Konfliktlösung.
In all diesen Einzeluntersuchungen wird klar ersichtlich, dass Walser und Böll, um zur
eingangs gestellten Frage zurückzukommen, die bundesrepublikanische Wirklichkeit der
1980er Jahre kritisch hinterfragen. Gemeinsam ist beiden Werken ungeachtet ihrer
unterschiedlichen regionalen Einbettung das Aufzeigen von Beziehungsgeflechten, die das
Bonner bzw. das alemannische Biedermeier gründlich abschminken. Hinter der bröckelnden
Fassade werden dabei ein Netzwerk von Machtmissbrauch und Verbrechertum (Böll) bzw.
die Inszenierung einer Ehe und die Schattenseite der Ellenbogengesellschaft sichtbar.
4
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung............................................................................................................................... 7
II. Die beiden Romane in ihrem Entstehungskontext......................................................... 11
II.1. Entwicklungstendenzen erzählender Prosa der 1980er Jahre in der BRD ................... 11
II.2. Heinrich Böll: Im Zentrum der Macht.......................................................................... 21
II.2.1. Bonn und Umgebung: Machtzentrum und verschlafenes Rheinland .................... 22
II.2.2. Parallelen zur Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ .................... 25
II.3. Martin Walser: Die süddeutsche Provinz ..................................................................... 27
II.3.1. Der Bodensee: Literatur in und aus der Peripherie................................................ 27
II.3.2. Schnittmengen mit der Novelle „Ein fliehendes Pferd“ ........................................ 29
II.4. Thema-Rhema-Struktur und Isotopiekonzepte............................................................. 33
III. Analysekategorien ........................................................................................................... 47
III.1. Theoretische Fluchtlinien ............................................................................................ 47
III.1.1. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung .................... 47
III.1.2. Theodor W. Adorno: Minima Moralia................................................................. 51
III.1.3. Elias Canetti: Masse und Macht........................................................................... 55
III.2. Komposition ................................................................................................................ 59
III.2.1. Martin Walser: Rahmenmodell ............................................................................ 59
III.2.2. Heinrich Böll: Dramenähnlicher Aufbau ............................................................. 60
III.3. Erzählsituationen ......................................................................................................... 63
III.3.1. Martin Walser: Wechsel von auktorialer Erzählsituation, Ich-Erzählsituation und
freier indirekter Rede ....................................................................................................... 63
III.3.2. Heinrich Böll: Dialog- und Monologform mit Vorspann .................................... 65
III.4. Zur Bedeutung des Raumes......................................................................................... 67
III.4.1. Die Privatwohnung bei Böll: Exil im goldenen Käfig und Paria im Wohnwagen
.......................................................................................................................................... 67
III.4.2. Die Privatwohnung bei Walser: Archiv von Alltagsgegenständen ...................... 69
III.5. Zur Funktion der Naturbeschreibung .......................................................................... 71
III.5.1. „Frauen vor Flusslandschaft“: Das Rheinufer als stumme Kulisse...................... 71
III.5.2. Die Natur bei Walser: Persiflage, Retardierung und Projektionsfläche............... 73
III.6. Die Rolle von Mythos und Legende ........................................................................... 77
III.6.1. Heinrich Böll: Mythentravestie und eine lebensmüde Walküre .......................... 77
III.6.2. Martin Walser: Liszts Pseudobildung und Horns Sehnsucht nach Vereinigung . 79
III.7. Intertextualität ............................................................................................................. 83
III.7.1. Heinrich Bölls Kanon – linksgerichtetes Engagement und l’art pour l’art .......... 83
III.7.2. Martin Walsers spärlicher Kanon: Ein Böll-Roman als Zankapfel...................... 85
III.8. Geschlechterrollen und Beziehungsstrukturen............................................................ 87
III.8.1. Heinrich Böll: Eheleben im Zeichen der Zementierung von Macht .................... 87
III.8.2. Martin Walser: Inszenierung(en) einer Ehe ......................................................... 89
III.9. Strategien zur Konfliktlösung ..................................................................................... 91
III.9.1. Heinrich Böll: Wegsperren ins Hotel „Irrenanstalt“ und zynische
Zweckentfremdung des Therapeuten ............................................................................... 91
III.9.2. Martin Walser: Das Briefeschreiben als Therapie ............................................... 95
IV. Zusammenschau............................................................................................................... 99
V. Bibliographie.................................................................................................................... 103
5
6
„Wenn das Bewußtsein zurückkehrt, das Brennen des Fleisches, das Zittern aufhört, werden
wir ein neues Leben beginnen. Alles richten wir schon darauf hin aus. In alten Zeitungen
suchen wir Ansatzpunkte – ohne viel zu finden“.
(Wolfgang Held, 79 – ein Brief des jüngeren Plinius, S. 24)
„Wohin denn ich? Es leben die Sterblichen
Von Lohn und Arbeit; wechselnd in Müh und Ruh
Ist alles freudig; warum schläft denn
Nimmer nur mir in der Brust der Stachel?“
(Friedrich Hölderlin, Abendphantasie)
I. Einleitung
Bei der Lektüre zweier mir bis dato unbekannter Romane von Autoren, die seit
Jahrzehnten ihren festen Platz im Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur haben, bin ich
sukzessive auf zahlreiche Berührungspunkte gestoßen. Nach einer erneuten vergleichenden
Betrachtung beider Werke fiel mir das antithetische Begriffspaar „abgründiges Biedermeier“
ein. Ich hatte es erstmals beim Querlesen einer maßgeblichen Grillparzer-Biographie
angetroffen1. Nachdem ich die Sekundärliteratur zu meinem geplanten Themenbereich
gesichtet hatte, wurde mir klar, dass es hier noch teilweise brachliegendes Terrain zu bestellen
gab. Die Grobstruktur meiner Arbeit nahm endgültig deutliche Konturen an, als ich
Horkheimers, Adornos und Canettis Schriften zu einigen in den Romanen verhandelten
Themenkomplexen befragte. Die Überlappungen waren klar ersichtlich. Im Folgenden sollen
nun Aufbau und Zielsetzung dieser Arbeit kurz umrissen werden. Der eigentlichen
Detailanalyse und der damit verbundenen Vernetzung beider Romane wird ein kurzer
Abstecher in die Literatur der 1980er Jahre vorangestellt. Dabei wird neben den Themen
„Konsumwut“ und „Sprachproblematik“ auch auf eine erneut anzutreffende Fabulierlust
sowie auf den Widerstand der Ästhetik eingegangen. Ferner werden Streiflichter auf andere
wichtige Autoren und Werke dieses Jahrzehnts geworfen. Unter diesem Abschnitt erfolgt
keine vollständige Darstellung eines Jahrzehnts deutscher Literaturgeschichte. Vielmehr
sollen einige gezielte Schlaglichter den literarischen Raum dieser Dekade ausleuchten. Diese
Überlegungen stellen mithin keinen Anspruch auf Vollständigkeit, weder, was die Breite der
betrachteten Autoren und Werke, noch was die Vertiefung einzelner Strömungen und
Schwerpunkte anbelangt. Die Gattungen „Lyrik“ und „Drama“ werden bei diesem Abriss
1
Politzer, Heinz: Franz Grillparzer oder das abgründige Biedermeier. Mit einem Vorwort von Reinhard Urbach.
Paul Zsolnay Verlag. Wien u. Darmstadt 1990
7
ausgeblendet. Diese Wahl ergibt sich aus zwei klar ersichtlichen Gründen. Zum einen würde
eine engmaschigere und alle Gattungen einbeziehende Darstellung den Rahmen vorliegender
Arbeit sprengen. Zum anderen befassen sich die nachfolgenden Abschnitte ausschließlich mit
Prosawerken, sodass der Fokus unter diesem Punkt auf die erzählende Literatur gerichtet
wird.
Alsdann folgen Abschnitte, in denen jeweils Parallelen zu einem anderen Werk beider
Autoren aufgezeigt werden. Sinn und Zweck dieser Passagen ist es, Konstanten in
thematischer, motivtechnischer und wirkungsästhetischer Hinsicht offenzulegen. Der
Abschnitt
zur
Thema-Rhema-Struktur
stellt
den
Versuch
dar,
eine
linguistische
Verfahrensweise anhand zweier Textpassagen zu applizieren. Mit Blick auf die Fragestellung
meiner Arbeit bietet folgender Ansatz die Möglichkeit, sowohl die Textoberfläche als auch
die Tiefenstruktur eines Textes bei der Aufstellung einer im Voraus nicht klar umrissenen
Lesart zu beleuchten. Diese Sachlage ist für die Belange vorliegender Arbeit insofern reizvoll,
als die thematischen Schnittmengen beider Romane bzw. zweier Textpassagen mittels eines
genauen Begriffsinventars und einer klar definierten Vorgehensweise entweder untermauert
oder relativiert werden können. Die Ergebnisse sind demnach völlig offen. Während die
anderen Abschnitte bestimmten Motiven, der Raumsemantik, den Geschlechterrollen, der
Kanonbildung sowie anderen Schwerpunkten nachspüren, bietet die hier zu erprobende
Methode eine andere Sichtachse auf die beiden Werke. Ziel ist es, einen mikroskopischen
Ausschnitt als Textganzes vorauszusetzen. Diese Analyse soll ihren Teil zur Behandlung der
übergeordneten Fragestellung beitragen, d. h. auf die Frage antworten, ob, und wenn ja,
inwiefern Böll und Walser eine Biedermeier-Szenerie entwerfen, hinter der sich menschliche
und seelische Abgründe auftun.
Den dritten Teil vorliegender Arbeit („Analysekategorien“) leiten Abschnitte ein, die
einen theoretischen Überbau darstellen. Hierbei kommen repräsentative Passagen aus den
Werken „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer / Adorno), „Minima Moralia“ (Adorno)
sowie „Masse und Macht“ (Canetti) zur Sprache. Diese Fluchtpunkte werden selbstredend
nicht um ihrer selbst willen besprochen, sondern mit dem Ziel, die beiden Romane aus
textimmanenter Sicht zu untersuchen und ein theoretisches Fundament zu erstellen, auf
welchem die nachfolgenden Überlegungen und Analysepunkte aufbauen. Die tragende Idee
dieser theoretischen Vorüberlegungen ist es, die Phänomene der „Interdependenz zwischen
Masse und Macht“ einerseits und „Regressionen innerhalb aufgeklärter Gesellschaften“
8
andererseits aufzuzeigen. In Martin Walsers Roman „Brief an Lord Liszt“ – um nur diesen
Roman heranzuziehen – kann man unschwer eine „Beute“ verorten, welche von der „Meute“,
um Canettis Begrifflichkeiten zu bemühen, gewissermaßen einer Wildjagd ausgesetzt ist. Die
Hauptfigur, ein alternder Angestellter eines expandierenden Pharmaunternehmens, möchte
seine Erfahrung des „Gejagtwerdens“ seinem ehemaligen Konkurrenten Liszt in Briefform
vor Augen halten. Der in den Briefpassagen als Ich-Erzähler fungierende Franz Horn entwirft
nach eigener Aussage eine Gesellschaftsphysik, bestehend aus gut einer Handvoll
aufgestellter Lehrsätze. Von Letzteren lässt sich wiederum deduktiv auf die Funktionsweise
des zwischenmenschlichen Lebens innerhalb jenes knallharten Geschäfts schließen, welches
Horn und Liszt zuerst zu Gewinnern, dann zu Verlierern im Sinne der brancheninternen
Koordinatenwelt macht. Selbstredend gibt es auch in Heinrich Bölls Roman „Frauen vor
Flusslandschaft“ genügend Textbelege für Phänomene von „Masse und Macht“ und ihrer
destruktiven Rückwirkungen auf den Einzelnen.
Der Ansatz ist mithin der einer vergleichenden Gegenüberstellung zweier Romantexte
der 1980er Jahre. Gesucht werden Schnittpunkte und Abweichungen zwischen beiden Texten
vor dem Hintergrund einer thematischen Gemeinsamkeit, nämlich einer bröckelnden
Biedermeierfassade, hinter der sich, sei es nun im provinziellen Polit-Zentrum Bonn oder in
der süddeutschen Provinz, zwischenmenschliche Abgründe verschiedenster Art auftun. Damit
ist auch die Verfahrensweise der Arbeit angedeutet: Analysekategorien textimmanenter Art
wie etwa Syntax, Komposition, Thema-Rhema-Struktur und Erzählerhaltung, ferner diejenige
des Raumes, der Geschlechterrollen und des Mythos sollen jeweils begreifbar machen,
inwieweit das Biedermeier im Zerfall begriffen ist. Ein weiterer Schwerpunkt ist die
literarische Kanonbildung innerhalb der beiden Werke, da man hierbei Aufschlüsse bezüglich
des Umgangs mit und des Stellenwerts von Literatur innerhalb unserer Epoche erhält.
Schließlich werden die Strategien zur Konfliktlösung, die in beiden Romanen eine
unterschiedliche Ausprägung haben, verhandelt. Bei Heinrich Böll werden einige
Politikergattinnen kurzerhand in eine nach außen hin als Hotel fungierende Irrenanstalt
eingewiesen, da sie ihren Gatten aus diversen Gründen gefährlich werden. Sie stellen ein
Hindernis im Alltag des Machtgerangels und der Vertuschung von Vergangenheit dar. Bei
Martin Walser hingegen wird die Therapie nicht in Form des Wegsperrens bewerkstelligt,
sondern über den Weg des Schreibprozesses, wie es der Titel des Romans bereits erkennen
lässt. Erst in der Zusammenschau, wo sämtliche Fäden der einzelnen Analysepunkte
zusammenkommen, ergibt sich das Gesamtbild, welches den Titel der Arbeit widerspiegelt
9
und auf die übergeordnete Fragestellung antwortet. Der Aufbau meiner Arbeit verweist
demnach auf eine Rahmenkonstruktion. Diese wird von den hinführenden Abschnitten (II.1.
bis II.4.) zu Beginn und von der eben erwähnten Zusammenschau gebildet. Dazwischen wird
der Einzelanalyse unter bestimmten thematischen Gesichtspunkten Raum geboten.
Textimmanenz steht als Verfahren stets im Vordergrund. Nur im Abschnitt II.1. werde ich auf
außertextliche Gegebenheiten wie Intertextualität, gesellschaftliche Entwicklungen und vita
einzelner Autoren eingehen.
Hinsichtlich des Diskussionsstandes bezüglich meiner Fragestellung sowie mit Blick
auf die beiden Romane und ihre Autoren liegen einige grundlegende Arbeiten vor. Der hier
unternommene Vergleich jedoch ist meines Wissens bisher der erste seiner Art. Für Walsers
Roman haben Doane2 und Scholz3 breit angelegte Analysen zur Funktion des Briefs, zur
Konfliktgenese und zur Gesellschaftskritik am Kapitalismus vorgelegt. Unter den zahlreichen
Werkmonographien zu Walser sind Hick4 und Fetz5 zu nennen. Selbstredend hat die
Sekundärliteratur zu Böll ebenfalls längst unüberschaubare Ausmaße angenommen. Die in
vorliegender Arbeit herangezogenen Untersuchungen stellen Bölls Schaffen als ständige
Beschäftigung mit den Schrecken der Nachkriegszeit und deren Gesellschaftsform dar.
Compton6 unternimmt für Bölls wohl bekanntesten Roman den Versuch, den Clown zu
demaskieren, indem der Kritiker als ein unzurechnungsfähiger, bornierter Eigenbrötler gezeigt
wird. Somit bekommt Bölls Roman eine ganz neue Tiefe und Vielschichtigkeit, da der Autor
nicht mehr nur als Anwalt des „kleinen Mannes“, sondern gleichzeitig als dessen Kritiker
hervortritt. Eine Untersuchung zum Sprachgebrauch und dessen Funktion hat Finlay7
vorgelegt. Ebenfalls aus rein werkimmanenter Sicht liefert Lehnick8 eine Analyse der
erzähltechnischen Verfahren sowie deren Entwicklungskurven. Eine Werkmonographie
2
Doane, H. A.: Die Anwesenheit der Macht. Horns Strategie im Brief an Lord Liszt. In: Martin Walser.
International Perspectives. Edited by. J. E. Schlunk u. A. E. Singer. American University Studies. Series I:
Germanic Languages and Literature Vol. 64. Peter Lang Publishing. New York, Bern u.a. 1987, S. 81ff.
3
Scholz, Joachim J.: Der Kapitalist als Gegentyp. Stadien der Wirtschaftswunderkritik in Walsers Romanen. In:
Martin Walser. International Perspectives. Edited by. J. E. Schlunk u. A. E. Singer. American University Studies.
Series I: Germanic Languages and Literature Vol. 64. Peter Lang Publishing. New York, Bern u.a. 1987, S. 71ff.
4
Hick, Ulrike: Martin Walsers Prosa. Möglichkeiten des zeitgenössischen Romans unter Berücksichtigung des
Realismusanspruchs. Reihe: Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik. Akademischer Verlag Hans-Dieter Heinz.
Stuttgart 1983
5
Fetz, Gerald A.: Martin Walser. Metzler. Stuttgart u. Weimar 1997
6
Compton, Irene B.: Kritik des Kritikers: Bölls Ansichten eines Clowns und Kleists „Marionettentheater“.
Studies in Modern German Literature. Vol. 89. P. Lang. New York 1998
7
Finlay, Frank: On the Rationality of Poetry. Heinrich Böll’s Aesthetic Thinking. Amsterdamer Publikationen
zur Sprache und Literatur. Hg. C. Minis u. A. Quak. Vol. 122. Editions Rodopi. Amsterdam - Atlanta, GA 1996
8
Lehnick, Ingo: Der Erzähler Heinrich Böll. Änderungen seiner narrativen Strategie und ihre Hintergründe.
Beiträge zur neuen Epochenforschung. Peter Lang. Europäischer Verlag der Wissenschaften. Fr. a. Main 1997
10
einschließlich des neuesten bibliographischen Standes zu Bölls Schaffen hat Sowinski9
vorgelegt. Schließlich wird an einigen Passagen dieser Arbeit Vormwegs Schrift „Der andere
Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie“10 bemüht, um erhellende Aussagen auch für Bölls
letzten Roman beizusteuern.
II. Die beiden Romane in ihrem Entstehungskontext
II.1. Entwicklungstendenzen erzählender Prosa der 1980er Jahre in der
BRD
Der Gegenstand und dessen Periodisierung
Nimmt man als Ausgangspunkt für eine Darstellung bundesdeutscher Literatur die
Angabe eines bloßen Datums, welches man seiner Arbeit voranstellt, so lässt sich mit Blick
auf die hier kurz zu beleuchtende Dekade etwa der 10. Dezember des Jahres 1981 anführen.
An diesem Tag wurde Elias Canetti der Nobelpreis für Literatur verliehen. An der Figur
Canettis wird vor allem eines klar sichtbar. Aufgrund seiner Abstammung und bewegten vita
als Schriftsteller „gerieten viele Kritiker in Verlegenheit, als sie Elias Canetti beschreiben
mussten. […] Canetti ist einer unserer besten Schriftsteller, sagten die Deutschen; er fühlt sich
als Wiener, sagten die Österreicher; er ist aufgrund seiner Geburt einer von uns, sagten die
Bulgaren; er hat die glücklichsten Jahre seines Lebens in Zürich verbracht, sagten die
Schweizer; seine Abstammung ist spanisch, sagten die Madrilenen; er hat vierzig Jahre lang
unter uns gelebt, sagten die Engländer.“11 Der sperrige und damit reizvolle Charakter des
Gegenstandes „Literatur der Bundesrepublik Deutschland“ wird am Beispiel Canettis
sinnfällig. Es fiel der literarischen Welt offenbar schwer, sich ein für allemal auf die nationale
Zugehörigkeit dieses Schriftstellers festzulegen und einen dauerhaften Konsens in dieser
Frage herbeizuführen. Hieraus wird ersichtlich, dass es bei folgenden einleitenden
Ausführungen zur bundesdeutschen Literatur nicht wie beim Grenzschutz zugehen wird, wo
räumliche Demarkationslinien strikt und pedantisch eingehalten werden. In Anlehnung daran
deckt der Exkurs auch mit Blick auf die chronologische Abfolge keinen haargenau
quantifizierbaren Zeitabschnitt vom 1. Januar 1980 bis zum 31. Dezember 1989 ab.
9
Sowinski, Bernhard: Heinrich Böll. Metzler. Stuttgart u. Weimar 1993
Vormweg, Heinrich: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie. Kiepenheuer und Witsch. Köln
20002
11
Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur. Hg. D. E. Wellbery, J. Ryan u. a. Deutsche Ausgabe. Berlin
University Press 2007, S. 1129
10
11
Nichtsdestoweniger wird natürlich primär der auf bundesdeutschem Territorium und von dort
ansässigen und schaffenden Schriftstellern belebte Literaturbetrieb fokussiert. Geringfügige
chronologische Unter- bzw. Überschreitungen sind inhärenter Bestandteil einer solchen
Darstellung.
Die Sprachproblematik bei Elias Canetti, Martin Walser und Heinrich Böll
Die Rezeption von Canettis dichterischem Werk wirft einige interessante Schlaglichter
auf das Feld vorliegender Untersuchung, insofern es u. a. „auf den ‚monströsen Charakter’
eines Geschöpfes [verweist], das nur darauf aus ist, zu konsumieren und sich alles
einzuverleiben“.12 Auch die beiden hier zur Diskussion stehenden Romane atmen in fast jeder
Zeile die Konsumwut13 des postmodernen Menschen. Mit dem Schlagwort „Konsumwut“ ist
keinesfalls die heute geläufige Vorstellung von Kaufrausch oder anderweitigen, mehr oder
minder pathologisch anmutenden Ablegern des Kaufverhaltens gemeint. Gemein ist Bölls14
und Walsers15 Romanen, dass die handelnden Figuren bewusst oder unbewusst danach
trachten, sich ihre Um- und Mitwelt „einzuverleiben“, um die Vokabel noch einmal zu
bemühen. Die Einverleibung, das Fressen der Umwelt, geschieht bei Martin Walser etwa im
Bereich der Pharmaindustrie, wo der Marktanteil die alles leitende Kompassnadel darstellt.
Bei Heinrich Böll vollzieht sich dieses „karnivore“ nimmersatte Gehabe im Bezirk der
politischen Machtkonzentration.16
Auch die Sprachproblematik taucht in der Besprechung von Canettis Werk auf. „In
[seiner Biographie] Die gerettete Zunge begegnet Elias dem Deutschen zunächst als einem
Mittel des Ausschlusses: Während seiner Kindheit in Rustschuk ist Deutsch die Privatsprache
seiner Eltern, die Sprache ihrer jungen Liebe […], die Sprache, die sie sprechen, wenn Elias
sie nicht verstehen soll. Er lernt daraus die Lektion, dass es ein Fehler ist anzunehmen, dass
Sprache immer ein Kommunikationsmittel ist, sie kann genauso oft eine Barriere des
Verstehens sein.“17 Damit ist ein weiteres Arbeitsfeld dieser Arbeit angedeutet, nämlich jenes
12
Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur, S. 1134
Der Begriff „Konsumwut“ deckt sich übrigens auch mit Adornos Thesen über die verheerende Entwicklung
eines Systems, welches seine Handlungsmaxime ausschließlich auf ein schier krebsartig wucherndes Wachstum
auslegt. Vgl. hierzu die diesbezüglichen Ausführungen zu „Minima Moralia“
14
Böll, Heinrich : Frauen vor Flusslandschaft. Kiepenheuer und Witsch. Köln 1985
15
Walser, Martin : Brief an Lord Liszt. Suhrkamp. Fr. a. Main 1982
16
Die Detailanalyse wird diese und andere Behauptungen mit konkreten und repräsentativen Textpassagen zu
untermauern versuchen.
17
Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur, S. 1132
13
12
der Unmöglichkeit gelungenen Kommunizierens. Es besteht zwar ein deutlicher Unterschied
zwischen jener sprachlichen Barriere, die der junge Canetti anlässlich der auf Deutsch
vorgetragenen Kosewörter seiner Eltern feststellt und der sprachlichen Gefangenschaft
Elisabeth Blaukrämers in Bölls Roman. In beiden Fällen aber ist das Ergebnis dieser
Sprachlosigkeit der gesellschaftliche Ausschluss. Im ersten Fall kann im weitesten Sinne von
„Soziolekt“ die Rede sein, also von der „Sprache […] einer Gruppe“18, die aus Gründen der
Identitätsstiftung und Abgrenzung gegenüber anderen, hier gegenüber dem eigenen Sohn,
eine diesem nicht zugängliche Sprache wählt. Bei Böll hingegen erinnert diese Sprachbarriere
einerseits an Goethes „Werther“19, viel stärker drängt sich in Bezug auf Elisabeth Blaukrämer
jedoch Thomas Bernhards Roman „Verstörung“20 als Parallele auf. Hier kommt der in ewigen
kreisförmigen Bewegungen redende Graf nicht aus seinem Solipsismus heraus. Auch Bölls
Figur Elisabeth Blaukrämer weist solche Störungen auf. Franz Horn, Walsers Hauptfigur,
wird ebenfalls mit der Sprachproblematik konfrontiert. Er begibt sich aufgrund der
erschreckend fragilen Beschaffenheit zwischenmenschlicher Kommunikation und des
allgegenwärtigen Risikos eines Versagens derselben in eine selbst auferlegte Therapie. Mit
den Worten „nur daß alles endlich einmal richtig ausgesprochen wäre. Daß man wieder atmen
könnte“21 beschreibt der Erzähler kurz vor Einsetzen des Schreib- und Sinngebungsprozesses
Horns seelisch prekäre Lage.
Erneuerte Fabulierlust am Beispiel Uwe Johnsons und Martin Walsers
Das soeben angerissene Thema der Sprachbarriere verhindert nicht, dass sich in den
1980er Jahren manche Autoren einer seit Rilkes Roman „Die Aufzeichnungen des Malte
Laurids Brigge“ einsetzenden Skepsis gegenüber linearem Erzählen widersetzen. An einer
gewissen Stelle behauptet Malte: „Es ist gut, es laut zu sagen: ‚Es ist nichts geschehen.’ Noch
einmal: ‚Es ist nichts geschehen.’ […] Daß ich den ganzen Tag in den Gassen umhergelaufen
bin, ist meine eigene Schuld. Ich hätte ebensogut im Louvre sitzen können. Oder nein, das
hätte ich nicht.“22 Die Worte des Ich-Erzählers mäandern hier wie ein im Dunkeln Tappender
ohne wirkliches „Ziel“ vor sich hin. Dem Leser der vorletzten Jahrhundertwende wird kein
klar geordnetes Erzählgerüst Fontane’scher oder Keller’scher Prägung mehr angeboten. Diese
18
Dtv-Atlas Deutsche Sprache, S. 11
Goethe, Johann Wolfgang : Die Leiden des jungen Werther. Hamburger Ausgabe. Bd. 6. München 199614
20
Bernhard, Thomas : Verstörung. Suhrkamp. Fr. a. Main 1970
21
Walser, Martin : Brief an Lord Liszt, S. 28
22
Rilke, Rainer Maria : Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Kommentierte Ausgabe. Reclam.
Stuttgart 1997, S. 40
19
13
Absage an die Lust am Erzählen zieht sich leitmotivisch durch die kommenden Jahrzehnte.23
Das Jahrzehnt zwischen 1980 und 1990 aber sieht das Alterswerk Uwe Johnsons und eine
Wiederaufnahme des vormodernen Fabulierens zu Tage treten: „Johnsons opus magnum
bricht mit der avantgardistischen Puzzle-Technik der beiden frühen Romane [gemeint sind
„Mutmaßungen über Jakob“ und „Das dritte Buch über Achim“] und erzählt, erzählt wirklich
in jedem Sinn. Die vierbändigen Jahrestage […] haben keine Angst vor dem
geschichtsphilosophischen Anachronismus der epischen Erzähllust. [Die „Jahrestage“]
bekämpfen ebenso geduldig wie freundlich den Erfahrungsverlust, indem sie, unbeirrt
erzählend, sich in das seltsame Paradox verstricken, den Verlust von Erfahrung ex positivo
erfahrbar zu machen.“24 Mit Blick auf die beiden Romane von Heinrich Böll und Martin
Walser ist es vor allem Walsers Text, der die soeben angedeutete Wiederentdeckung des
Erzählens untermauert. Beispielsweise kann an der bereits erwähnten therapeutischen
Funktion des Schreibens für Franz Horn Walsers optimistische Grundeinstellung gegenüber
dem Schreiben abgelesen werden. Walser erblickt eine nahezu interferenzfreie Verbindung
zwischen dem geschriebenen Wort und dem Leser, aufgrund derer Kommunikation und damit
Sinnstiftung ermöglicht wird.
Ähnlich wie das Briefeschreiben seiner Romanfigur dazu verhilft, ihren gequälten
Geist zu disziplinieren und der ihn umgebenden Wirklichkeit Sinn zu verleihen, schreibt
Walser dem Akt des Lesens wirkungsmächtiges, ja schier klassisch anmutendes Potential zu:
„Warum richte ich mich nicht auf Dauer vor dem Fernsehapparat ein? Weil es mir auf Dauer
zu anstrengend ist, so passiv zu sein. […] Wenn das Bewußtsein oder die Seele oder der Geist
– egal, wie wir unsere innere Unruhe nennen –, wenn diese imaginäre Wesensmilch längere
Zeit nicht selber brodeln darf, wird sie sauer.“25 An einer anderen Stelle desselben Versuchs
über die anthropologischen Urgründe allen Lesens findet sich eine Aussage über das
Schreiben, die auch auf das Leistungsvermögen des Schreibprozesses im Roman „Brief an
Lord Liszt“ zutrifft: „In der Fiktion bestreiten wir der Wirklichkeit ihr Recht, in unsere
Erwartungen hineinzupfuschen. Man muß es hundertmal sagen, daß das Schreiben nicht
23
Eine weitere Station in dieser Entwicklung nimmt etwa die Montage-Technik Alfred Döblins in seinem
Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“ ein. Ein viel späteres Beispiel für das Abbrechen linearer Erzählstränge
ist Wolfgang Helds postmoderne Kollage „79 – ein Brief des jüngeren Plinius“.
24
Eine Neue Geschichte der Literatur, S. 1141f.
25
Walser, Martin: Warum liest man überhaupt? Aus: Über den Leser – soviel man in einem Festzelt sagen soll.
In: literatur (sic) konkret. Jg. 2, H. 3, S. 59
14
Darstellen ist, nicht Wiedergeben ist, sondern Fiktion, also eo ipso Antwort auf Vorhandenes,
Passiertes, Wirkliches, aber nicht Wiedergabe von etwas Passiertem.“26
Widerstand der Ästhetik bei Martin Walser
Diese nachdrückliche Absage an die Mimesisfunktion der Kunst redet einer Literatur
das Wort, in der die Bezüge zur Wirklichkeit frei nach Magrittes provokativem Motto „Ceci
n’est pas une pipe“ stets einen eigenen Wirklichkeitsanspruch haben. Primäres Ziel des
Briefeschreibens in Walsers Roman ist es in der Tat, angesichts der Unmöglichkeit einer
Klarstellung und Bereinigung des Streits zwischen Horn und Liszt mittels eines
Schreibprozesses einen zweiten, von der Außenwelt losgelösten Bezirk zu schaffen, in dem
der Außenwelt „ihr Recht [bestritten]“ wird, um mit Walser zu reden. Gleichwohl möchte
Martin Walser auf die Wirklichkeit Einfluss ausüben, ohne dabei auf ästhetischen Anspruch
zu verzichten27: „Die Beobachtung, dass sich im Übergang zu den 80er Jahren eine Rück- und
Neubesinnung auf die ‚Eigenart des Ästhetischen’ (Lukács) vollzieht, dass verstärkt sogar auf
die Widerstandskraft der Poesie gesetzt wird, lässt sich im Blick auf Kontinuitäten im Werk
schon bekannter Autoren erhärten. [Heinrich Böll u. Martin Walser] haben konsequent auf der
Fähigkeit der Literatur bestanden, Wirklichkeit fassen, verarbeiten und formen zu können.
[Sie intendieren] schreibend auf die Leser und deren Wirklichkeitswahrnehmung, also auf
vermittelte Weise auch verändernd auf die Wirklichkeit einzuwirken.“28 Diese Feststellung
bekräftigt vornehmlich mit Blick auf Walsers Romane „Brief an Lord Liszt“ und „Das
Schwanenhaus“29 sowie auf die Novelle „Ein fliehendes Pferd“30 obige Feststellung, dass
Walser der Kunst einen eigenen Raum zubilligt, dabei jedoch keineswegs in den
Elfenbeinturm des „lart pour l’art“ flüchtet, sondern gerade über die Ästhetik die
Wirklichkeit, an welcher der Einzelne leidet, mittelbar verändern will. Gleichwohl trifft die
Bezeichnung „engagierter Schriftsteller“ kaum auf Martin Walser, sondern eher auf Heinrich
Böll zu. Inwiefern dem so ist, zeigen die folgenden Abschnitte.
26
Walser, Martin: Warum liest man überhaupt, S. 59
Diese Feststellung erinnert insofern an Heines literarische Fehde mit dem Tendenzdichter Georg Herwegh, als
Heine dabei stets gefordert hat, nicht nur „gereimte Zeitungsartikel“ zu schreiben, sondern literarisches
Engagement stets mit ästhetischen Ansprüchen in Einklang zu bringen, um die Kunst nicht auf dem Altar der
Tendenz zu opfern. Walser ist wie Heine ein Literat, der klassische Autonomieästhetik und subtile Einwirkung
auf die den Leser umgebende Wirklichkeit miteinander verzahnt.
28
Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Metzler. Stuttgart und Weimar
20016, S. 653
29
Walser, Martin: Das Schwanenhaus. Suhrkamp. Fr. a. Main 1980
30
Ders.: Ein fliehendes Pferd. Suhrkamp. Fr. a. Main 1978
27
15
Sei Kanone, sei Kartaune31. Literarisches Engagement im Jahrzehnt der bipolaren
Aufrüstung
In diametralem Gegensatz zu Walsers Autonomieästhetik steht, obgleich diese
ebenfalls einen Zugriff auf die Wirklichkeit intendiert, das literarische Engagement, welches
in den achtziger Jahren auf den ersten Blick etwas abzuebben scheint. Bei genauerem
Hinschauen jedoch offenbart sich auch im Jahrzehnt der scheinbaren Entpolitisierung
breiterer Volksschichten ein Aufflackern engagierter Literatur. Ein eher unkonventionelles
Beispiel – weil es nicht aus der Feder eines Schriftstellers stammt – ist ein Aufsatz des
damaligen Saarbrücker Bürgermeisters Oskar Lafontaine innerhalb einer Festschrift zum
sechzigsten Geburtstag von Walter Jens32. Die plakative, an regionalpolitische Feiertagsreden
erinnernde Eingangszeile „Demokratie braucht Literatur – engagierte Literatur gerade jetzt“33
ist nur ein Präludium zu einem für das Jahrzehnt der Proteste gegen atomare und bipolare
Aufrüstung typischen Diskurs über Technisierung, Arbeitsteilung und die davon ausgehende
Entfremdung des Einzelnen34. Oskar Lafontaine kommt alsdann auf Walter Jens zu sprechen,
eine Figur des bundesdeutschen und europäischen Literaturbetriebs, die besonders in den
späten siebziger und während der achtziger Jahre durch eine verstärkte öffentliche Präsenz als
engagierter Intellektueller hervorragte. Jens’ Ehefrau Inge, selbst Publizistin, widmet diesem
Engagement in ihrer jüngst erschienenen Veröffentlichung ein eigenes Kapitel.35 Mit Blick
auf die zeitgenössischen Äußerungen Lafontaines fällt ein ziemlich unbefangener, schier
unreflektierter Umgang mit literarischen Gewährsleuten auf: „Als die Konservativen die
Sozialreformen diffamierten und den Sozialstaat in Frage stellten, da wies er [d. i. Walter
Jens] darauf hin, dass Thomas Mann der Demokratie nur noch in der Gestalt des Sozialismus
eine moralische Existenz zubilligte.“36
Diese selbstbewusste Behauptung liefert weder eine Quellenangabe der Mann’schen
Aussage37 noch präzisiert sie, wer mit „den Konservativen“ denn nun gemeint ist. Genauso
31
Heine, Heinrich: Die Tendenz. In: Sämtliche Gedichte. Insel. Fr. a. Main u. Leipzig 2005, S. 348
Lafontaine, Oskar: Dem engagierten Literaten. In: Literatur in der Demokratie. FS Walter Jens. Hg. W.
Barner, M. Gregor-Dellin, P. Härtling und E. Schmalzriedt, S. 216ff.
33
Ders., S. 216
34
Aus rein thematischen Erwägungen werden diese Passagen nicht ausführlicher zitiert und diskutiert, da eine
Vertiefung den Rahmen vorliegender Arbeit sprengen würde.
35
Jens, Inge: Unvollständige Erinnerungen. Rowohlt. Reinbek 20094, S. 165ff.
36
Literatur in der Demokratie, S. 217
37
Zu einer differenzierteren Beschäftigung mit diesem Punkt vgl. etwa Hans Mayers Rede „Deutsche Geschichte
und Deutsche Aufklärung“, wo es auf S. 27/28 des Suhrkamp-Sonderdrucks heißt: „Und der andere vom 6. Juni,
Thomas Mann, […] der […] 1918 die Betrachtungen eines Unpolitischen geschrieben hat, die durchaus ein
32
16
gut hätte hier ein Vertreter der „konservativen“ Werteskala anstatt Lafontaine zitiert werden
können, am Prinzip der vereinfachenden Konstruktion von Gegnerschaften im Kontext des
Kalten Krieges, der nachhallenden 68er Bewegung und der konsumkritischen Atmosphäre
einerseits und ihrer frenetischen Bejahung andererseits ändert das nichts. Dieses Abdriften in
eine undifferenzierte Gegenüberstellung von Bösen und Guten, sprich von Linken und
Konservativen, scheint ein konstitutives Merkmal vieler Diskurse aus diesem Jahrzehnt zu
sein. Dabei handelt es sich zwar um ein Erbe der sechziger und siebziger Jahre, doch die
Dichotomie „Links – Rechts“ scheint in den achtziger Jahren nichts an Strahlkraft eingebüßt
zu haben. In diesem Zusammenhang sei auch auf die 1981 erstmals einberufene
Diskussionsrunde in Ost-Berlin hingewiesen, welche auf Initiative des DDR-Schriftstellers
Stephan Hermlin ein Zeichen des Protestes gegen atomare Aufrüstung setzte. Dieser
Einladung folgten „namhafte Autoren aus der Bundesrepublik und der DDR […], unter ihnen
auch DDR-Emigranten wie Jurek Becker und Thomas Brasch.“38 Doch bereits beim dritten
Treffen dieser Art Ende 1983 in Heilbronn „fehlten schließlich die eingeladenen DDRSchriftsteller vollends.“39 Das anfangs gemeinsame Auftreten von Literaten aus beiden Teilen
Deutschlands und der davon ausgehende Friedensappell zur Auflösung der bipolaren
Aufrüstung wurden jedoch stark mediatisiert. Somit konnte über die dann einsetzenden
Zwistigkeiten hinaus ein bleibendes Zeichen intellektuellen Engagements in Deutschland
gesetzt werden.
Das
literarische
Engagement
der
1980er
Jahre
muss
in
den
damaligen
gesellschaftspolitischen Kontext gestellt werden. Die Bildung der Regierung Kohl im Jahre
1983 führte „zu einem Erstarken des politischen Konservatismus […] Die Restriktionen auf
politisch-kulturellem Gebiet […], die Sparmaßnahmen, die im Kulturbereich insbesondere die
öffentlichen Bibliotheken und damit einen wesentlichen Bereich der Lesekultur trafen [sowie
Diskussionen,] die beispielsweise ein Auftrittsverbot für unliebsame Autoren wie Günter
Bekenntnis zu einem Deutschtum der Repression und der Gegenaufklärung sind [.] 1922, zum Geburtstag
Gerhart Hauptmanns, […] hielt Thomas Mann eine Rede zu Ehren dessen mit dem Titel Von deutscher Republik
und bekannte sich damit zur Republik und zu dem Dichter der Republik, Gerhart Hauptmann.“ Hieraus wird
ersichtlich, inwieweit die ideologisch gefärbte Inanspruchnahme Thomas Manns durch Lafontaine von einer
akademischen Auseinandersetzung mit demselben Thema abweicht. Ferner bestätigt sich hiermit, dass die
achtziger Jahre alles in allem mehr oder minder stark von der Dichotomie „Links – Rechts“ geprägt waren.
Relativierend muss natürlich angeführt werden, dass Hans Mayer diese Worte auch in den achtziger Jahren so
oder ähnlich formuliert hätte, während Zeitzeugen wie Lafontaine auch heutzutage noch zuspitzende
Darstellungen vorziehen würden.
38
Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Metzler. Stuttgart und Weimar
20016, S. 646
39
Ebenda.
17
Grass und Heinrich Böll bei Veranstaltungen der Goethe-Institute in Betracht zogen [,]
schufen […] ein Klima für die Verschärfung der Gegensätze zwischen Politik und Kultur, das
an die 50er Jahre erinnerte.“40 Ohne in einen blinden Determinismus oder „Biographismus“
zu verfallen, kann vor diesem Hintergrund Heinrich Bölls Roman „Frauen vor
Flusslandschaft“ als Ausfluss staatlicher Repression gegenüber seiner eigenen Person
gewertet werden, nachdem die 1970er Jahre vornehmlich vom Konflikt zwischen Böll und der
Springer-Presse geprägt gewesen waren. Die thematischen, kunstästhetischen und diskursiven
Bezüge, welche sich hieraus zu Bölls Schaffen in den achtziger Jahren und vornehmlich zu
seinem letzten, postum veröffentlichten Roman ziehen lassen, sind vielfältig. Vor allem
drängt sich Bölls unverbrüchliches Bekenntnis zum literarischen Engagement als Parallele zu
seinem vorherigen Schaffen auf. Oskar Lafontaine hätte seinen kurzen Beitrag, der mehr
politische Propaganda als wirkliche Beschäftigung mit der Person des Jubilars atmet, wohl in
identischer Fassung für eine Festschrift zu Ehren Heinrich Bölls abdrucken lassen können.
Gegenüber Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“41, von der in einem der
nächsten Abschnitte noch zu reden sein wird, weist „Frauen vor Flusslandschaft“ zwar
weniger explizite Zeichen des kämpferischen, gesellschaftliche Missstände anprangernden
Literaten auf. Trotzdem lassen sich auch in seinem gut zehn Jahre später erschienenen Roman
Spuren der Auflehnung finden. Wenn Walsers Hauptfigur die Außenwelt in ihren eigenen
Schreibprozess einbezieht, so tut sie das, um sie mittels des Schreibens zu „kneten“, d. h. um
eine Antwort auf Geschehenes zu gestalten. So rücksichtslos Martin Walser auch abrechnet
mit der süddeutschen Provinz, mit der zur Schablone verblassten Männerrolle und mit der
Ellenbogengesellschaft, so wäre es doch falsch, hier von einem wie auch immer gearteten
Engagement zu sprechen. Heinrich Böll hingegen schlägt in seinem Roman andere Töne an.
Alleine die Figurenkonstellation gestattet eine Lesart, welche ein für Böll typisches Muster
linksgerichteten Engagements indiziert42. Die Figur Katharina Richter verdankt ihrer
„Vorgängerin“ Katharina Blum mehr als nur ein Charakteristikum. Einschränkend muss
festgehalten werden, dass das literarische Engagement in Bölls Roman zwar nicht weggeredet
werden kann, im Vergleich zum vorherigen Jahrzehnt jedoch einigermaßen „verblasst“ ist.
Dieser Befund trifft insofern zu, als sich Böll auch in seinem letzten Roman zwar klar auf die
40
Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Metzler. Stuttgart und Weimar 20016, S.
645f.
41
Böll, Heinrich: Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen
kann. Dtv. München 200745
42
Die gängige „ Definition“ engagierter Literatur „von Jean-Paul Sartre geprägte Bezeichnung für eine von ihm
geforderte Literatur der Praxis und der Stellungnahme“ trifft auf Bölls Roman in impliziter Form zu, da der
Handlungsverlauf und die Aussagen bestimmter Figuren als Sprachrohr des Autors fungieren. (zitiert nach:
Meid, Volker: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Verlag Reclam, S. 319)
18
Seite der „Schwachen“ stellt, der Optimismus und der Glaube an die Möglichkeit
gesellschaftlicher Veränderung jedoch einem nicht zu negierenden Gefühl der eigenen
Machtlosigkeit gewichen ist.
Eine weitere Desillusionierung linksintellektueller Literaturproduktion ist am Werk
Hans-Magnus Enzensbergers ablesbar. Sein in den 1960er Jahren vornehmlich im Organ
„Kursbuch“ zu Tage tretender Optimismus hinsichtlich einer revolutionären Veränderung
gesellschaftlicher Machtverhältnisse muss in den späten siebziger und hin zu den achtziger
Jahren einer gänzlich veränderten Weltanschauung das Feld räumen. Mit der dezidierten
„Absage an marxistisch begründete Zukunftsgewissheiten der 68er Bewegung“43 machte der
wandlungsfähige, nie monolithisch daherkommende Enzensberger auf sich aufmerksam.
Auch wurde „sein Engagement für die Freiheitsbewegungen in der Dritten Welt nach einem
längeren Aufenthalt auf Kuba nachhaltig irritiert.“44 Literarischer Ausfluss dieses
tiefgreifenden Wandels innerhalb seiner Einstellung zum Marxismus und zur Kunst sind
neben seinem lyrischen Schaffen die „brillanten politischen Essays (Politische Brosamen,
1982)45. Autoren wie Botho Strauß, Ludwig Fels, Rainald Goetz, Wolfgang Hildesheimer,
Alexander Kluge, Herbert Achternbusch, Brigitte Kronauer, Anne Duden, Birgit Rausch und
nicht zuletzt Peter Weiss, der mit seiner dreibändigen „Ästhetik des Widerstands“ neben der
bereits
oben
genannten
Johnson-Tetralogie
„Jahrestage“
wohl
„das
gewichtigste
deutschsprachige Werk der 70er und 80er Jahre“46 vorgelegt hat, werden hier aus den
eingangs dargelegten Gründen keiner näheren Betrachtung unterzogen.
Der größte Publikumserfolg: Ein „Antibildungsroman“
Stattdessen soll neben dem eigentlichen Bereich des literarischen Höhenkamms auf
einen Roman eingegangen werden, der „zum spektakulärsten Buchereignis der 1980er
Jahre“47 avancierte. Gemeint ist Patrick Süskinds Bucherfolg „Das Parfum“48, der
die
Grenzen zwischen Belletristik, historischem Roman, Schauer- und Kriminalroman kollabieren
lässt. Auf der Suche nach Gründen für diesen schlagartigen Aufstieg in die nationalen und
43
Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Metzler. 20016, S. 651
Ebenda.
45
Ebenda.
46
Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, S. 657
47
Metzler Autoren-Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg.
B. Lutz u. B. Jeßing. Stuttgart u. Weimar 20043,, S. 730
48
Süskind, Patrick: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Diogenes. Zürich 1994 (Erstausgabe 1985)
44
19
internationalen Bestsellerlisten muss man „in diese Jahre zurückgehen, […] in eine Zeit, in
der die literarische Kultur von der sogenannten Suhrkamp-Belletristik beherrscht war: Von
modernistischen Formexperimenten und depressiven Selbstbespiegelungen, die von der Kritik
hoch gelobt wurden, für die sich aber immer weniger Leser interessierten.“49
Daneben muss jedoch auf Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“50 hingewiesen
werden, der einige Jahre zuvor, sprich 1980, solchen Romanen, in denen literarischer
Anspruch, historisch-philosophische Reflexion und kriminalistische Kolportage eine
postmoderne Verbindung eingehen, bisher ungeahnte Absatzzahlen bescherte. Dieser auch in
Deutschland begeistert aufgenommene Roman hat neben den oben zitierten Gründen
ebenfalls eine Rolle bei Süskinds Welterfolg gespielt. Diese Behauptung mag ungeachtet aller
thematischen und kompositorischen Unterschiede insofern gelten, als Eco in seiner sehr
komplex angelegten Romantextur breitere Leserschaften auf das Genre des historischen
Romans eingestimmt hat und dabei die Faszination am Bösen, sprich den Unterhaltungswert
von Literatur auch für belesene Rezipienten salonfähig gemacht hat. Süskind fährt somit
nolens volens im Fahrwasser Umberto Ecos. Sein Roman weist eine ähnliche
Grundausrichtung auf: An ihm lassen sich Anspielungen auf Rousseau, auf die Geniezeit des
Sturm- und Drang und eine bitterböse Parodie des deutschen Bildungsromans ablesen. Die
Lust auf Unterhaltung schließlich wird durch die blutrünstigen Mordtaten der Hauptfigur
süffig bedient. Der bewusste Bruch mit dem aufklärerischen Optimismus findet in Süskinds
Romanerfolg ihren bis dato wohl radikalsten Niederschlag: Von Karl Philip Moritz’ „Anton
Reiser“51, Johann Wolfgang Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und „Wilhelm Meisters
Wanderjahre“ über Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“52 bis hin zu Gottfried Kellers „Der
grüne Heinrich“ scheint Süskind den gesamten Kanon des klassischen deutschsprachigen
Bildungsromans53 einer gehörigen Erosion auszusetzen. In diametralem Gegensatz zu
Rousseaus Entwurf vom „Naturguten“ zeichnet Süskind seine Hauptfigur, die, übersetzt, den
Namen „Kröte“ trägt: „So ein Zeck war das Kind Grenouille. Es lebte in sich selbst verkapselt
und wartete auf bessere Zeiten. An die Welt gab es nichts ab als seinen Kot; kein Lächeln,
49
Metzler Autoren-Lexikon, S. 730
Eco, Umberto: Il nome della rosa. Tascabili Bompiani. 46a edizione. Milano 2000
51
Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Fischer. Fr. a. Main 2008
52
Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Fischer. Fr. a. Main 2008
53
Auf diesen mittlerweile problematisch gewordenen Begriff wird hier der Vollständigkeit halber hingewiesen.
Zu einer vertiefenden Diskussion über diese Begriffswahl und deren Berechtigung bzw. deren irreführende
Semantik müsste derart weit ausgeholt werden, dass abermals der Rahmen vorliegender Untersuchung gesprengt
würde.
50
20
keinen Schrei, keinen Glanz des Auges, nicht einmal einen eigenen Duft.“54 Klarer kann eine
Absage an den klassischen Romanhelden nicht sein, das zoon politicon, sprich das soziale
Wesen, welches im Umgang mit der Gesellschaft allmählich seinen eigenen Platz in derselben
zugewiesen bekommt, macht einem schieren Instinktwesen Platz, dessen einzige Beziehung
zur Außenwelt im Ausscheidungsprozess besteht. Das abgrundtief Böse der Hauptfigur
versetzt das ganze vorrevolutionäre Frankreich in Angst und Schrecken. Am Ende huldigen
die eigentlich zu Richtern berufenen politischen Verantwortlichen und die umstehenden
Volksmassen dem zum Tode verurteilten Mädchenmörder in einer grotesk anmutenden
dionysischen Jubelorgie: „Das Volk jenseits der Barrikade gab sich unterdessen immer
schamloser dem unheimlichen Gefühlsrausch hin, den Grenouilles Erscheinen ausgelöst hatte.
[…] Die Folge war, dass die geplante Hinrichtung eines der verabscheuungswürdigsten
Verbrecher seiner Zeit zum größten Bacchanal ausartete, das die Welt seit dem zweiten
vorchristlichen Jahrhundert gesehen hatte“.55
Die folgenden Überlegungen werden sich mit zwei Werken von Heinrich Böll und
Martin Walser beschäftigen, in denen bereits einige Themen und Figurenkonstellationen
angekündigt werden, die dann im weiteren Verlauf vorliegender Arbeit einer näheren Analyse
unterzogen werden.
II.2. Heinrich Böll: Im Zentrum der Macht
Vorbemerkung
Ziel der folgenden beiden Abschnitte ist es nicht, einen simplen „biographistischdeterministischen“ Maßstab für die Ableitung gewisser Lesarten und Erklärungsmuster der
beiden Autoren bzw. ihrer Werke zu entwickeln. Die genannten Ausführungen sollen v. a.
dazu beitragen, jene Räume und Landschaften näher vorzustellen, die Heinrich Böll und
Martin Walser in nahezu allen ihren erzählenden Schriften als Schauplatz gewählt haben.
Dabei wird ersichtlich, inwiefern diese Räume beiden Autoren Modell gestanden und mithin
Eingang in die Fiktion der jeweiligen Texte gefunden haben. Es sei vorausgeschickt, dass für
die folgenden Abschnitte eine Auswahl an Romanen und Novellen getroffen wurde. Das
gesamte Erzählwerk beider Autoren spiegelt jedoch Tendenzen, die anhand der besprochenen
Werke exemplarisch aufgezeigt werden können.
54
55
Süskind, Patrick: Das Parfum, S. 29
Süskind, Patrick: Das Parfum, S. 302f.
21
22
II.2.1. Bonn und Umgebung: Machtzentrum und verschlafenes Rheinland
Im Falle Heinrich Bölls sind die Stationen seines Lebens – Geburt 1917 in Köln,
gestorben 1985 in Langenbroich – und die Hauptschauplätze seines Prosawerks nahezu
deckungsgleich. Das Rheinland nimmt als topographische Größe in Bölls Œuvre eine zentrale
Stellung ein, vergleichbar mit derjenigen des Bodenseeraums in Martin Walsers literarischem
Schaffen. „Die Topographie von B.s (sic) Prosa bleibt an seine rheinländische Herkunft
gebunden, Heimat aber ist für ihn kein geographischer Begriff.“56 Die Figuren seiner Werke
defilieren sehr wohl vor dem Hintergrund dieses Raumes, Bölls Themen und Kernaussagen
jedoch verweigern sich einer Begrenzung des Autors auf das Maß eines klassischen
Heimatdichters. Schauplatz des Romans „Frauen vor Flusslandschaft“ ist ein nicht näher
umrissener Ort zwischen Bad Godesberg und Bonn und nicht, wie mitunter behauptet wird,
Bad Godesberg selbst.57 Die unmittelbare Nähe zum Entscheidungszentrum Bonn schwingt
gleichwohl wegen der in den einzelnen Dialogen immer wieder evozierten politischen
Machtsphäre, sprich des parlamentarischen Alltags, mit. Bad Godesberg erscheint
gewissermaßen als perspektivisches Pendant zu jenem Misenum, von wo aus Plinius der
Jüngere anno 79 den Vesuvausbruch verfolgte. Böll lässt seine Figuren im Niemandsland
zwischen Bad Godesberg und Bonn auf die Machtzentrale blicken, welche in diesem Sinne
als Epizentrum bzw., um Wolfgang Koeppens Romantitel zu bemühen, als „Treibhaus“58
fungiert.
Die Distanz zwischen beiden Orten erlaubt es dem Autor einerseits, die einzelnen
Dialoge und Szenen vom unmittelbaren Geschehen in Bonn abzuheben. Wie bei Walser der
Bodensee, so fungiert bei Böll das beschauliche Rheinufer als Handlungsort. Bad Godesberg
ist jedoch andererseits genau so wenig wie Walsers Bodensee ein Hort der Einkehr und des
Friedens, sondern nachgerade Exerzierplatz für zwischenmenschliche und gesellschaftliche
Abgründe, wie in den folgenden Abschnitten noch aufgezeigt werden soll. Dies gilt in
gleichem Maße für Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“59. Dessen gesamte Handlung
„spielt an zwei Standorten: dem Bonner Bahnhof und Schniers Bonner Wohnung. Ausgangsund Endpunkt des Geschehens ist der Bahnhof.“60 Diese Art des „huis clos“ – des
56
Metzler Autoren-Lexikon, S. 66
Vgl. Sowinski, Bernhard: Heinrich Böll . Metzler. Stuttgart u. Weimar 1993, S. 131
58
Koeppen, Wolfgang: Das Treibhaus. Suhrkamp. Fr. a. Main 1972
59
Böll, Heinrich: Ansichten eines Clowns. dtv. München 199945
60
Lehnick, Ingo: Der Erzähler Heinrich Böll, S. 85
57
23
geschlossenen Orts – verweist auf die Außenseiterposition der Hauptfigur. Hans Schnier gilt
als berufsmäßiger Spaßmacher und Künstler, der hiermit ein zur Kritik Berufener ist. Er lebt
am Rande einer Gesellschaft, die er zwar dauernd und intensiv kritisiert, deren Zustände er
aber nicht im Geringsten zu ändern vermag: „Obwohl Hofnarren und daher auch ihre
Nachfolger, die Clowns, als oft einflussreiche Zeitgenossen gesehen werden, […], kann der
Clown Schnier sich eines solchen Ruhmes nicht loben“61. Die Hauptstadt der BRD wird
mithin nicht in ihrer Eigenschaft als Machtzentrum gezeichnet. Anders als in „Frauen vor
Flusslandschaft“ ist sie in diesem Roman nicht einmal Kulisse und ständig evozierter
Bezugspunkt. Die minimalistische Raumstruktur „Bahnhof–Wohnung“ potenziert die
bewusste Fokussierung auf den in seiner schrankenlosen Subjektivität gezeigten Außenseiter.
Schniers Kritik ist aufgrund seines „selektive[n] Gedächtnis[ses]“62 nur in sehr
eingeschränktem Maße haltbar. Bonn stellt für diesen Roman lediglich einige „Utensilien“
bereit, nämlich den Bahnhof und Schniers Wohnung.
61
Compton, Irene B.: Kritik des Kritikers: Bölls Ansichten eines Clowns und Kleists „Marionettentheater“.
Studies in Modern German Literature. Vol. 89. P. Lang. New York 1998, S. 53
62
Dies., S. 103
24
II.2.2. Parallelen zur Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“
Für die Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ hat Böll einen frei
erfundenen Schauplatz für das erzählte Geschehen gewählt. Auffällig ist dennoch die
Namensgebung der Orte, an denen sich die Handlung abspielt. „Die Ortsnamen
Gemmelsbroich, Oftersbroich, Kuir […] erinnern […] in ihrer Namensgebung durch die
Endung -broich (= Bruch, sumpfiges Gelände) bzw. die Vokalkombination „ui“ an
linksrheinische Ortsnamen in der Nähe von Köln.“63 Das Rheinland mitsamt seinen
Einwohnern spielt mithin auch da eine Rolle in Bölls Werk, wo der Autor seine Erzählung in
fiktive Räume und Orte einbettet. Alleine der Klangraum, welcher mit dem Einsatz eben
genannter, typisch linksrheinischer Namen entsteht, kann eine solche Wahl erklären. Die bei
der
Aussprache
dieser
Ortsnamen
entstehenden
Klangkurven
suggerieren
eine
Verwandtschaft zu Bölls Heimat und damit zu den Schauplätzen seiner übrigen Prosa.
Heinrich Bölls 1974 erschienene Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina
Blum“64 ist die nüchterne und berichtartig sich ausnehmende Darstellung der Geschichte einer
jungen Frau, die binnen weniger Tage in die Fänge eines Medienzyklons gerät, der mittels
Hetz- und Verleumdungskampagnen ihr Leben zerstört. Fokussiert hat Böll dabei
vornehmlich die Mechanismen der Boulevardpresse, welche der Auflagensteigerung ihrer
Produkte oberste Priorität vor dem Schutz des Individuums einräumt. Hinzu kommt die
unilaterale Benutzung des Massenforums „Boulevard“, denn Katharina Blum hat keinerlei
Zugriff auf diese meinungsbildende Plattform, sie erstarrt nolens volens in der Rolle des
entmündigten
Rezipienten.
Hier
sind
die
von
der
Diskursethik
eingeforderten
„Kommunikationsvoraussetzungen eines universell erweiterten Diskurses, an dem alle
möglicherweise Betroffenen teilnehmen“65 können, ad absurdum geführt, denn die
konfliktträchtige Situation in der Erzählung spottet jeder Möglichkeit von Partizipation
seitens der Hauptfigur, da sie nicht als gleichberechtigte Partnerin am „Diskurs“, sprich an der
Erörterung der Frage, ob, und wenn ja, inwiefern sie sich schuldig gemacht hat, teilnehmen
kann.
63
Gruhn-Hülsmann, Annette: Erläuterungen zu Heinrich Böll. Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Bange
Verlag. Hollfeld 20074
64
Böll, Heinrich: Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen
kann. dtv. München 200745
65
Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik, S. 113
25
Das Prinzip des Ausstoßes in einer nur vordergründig humanen Welt wird auch in
Bölls letztem Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ verhandelt. Schon die Namensgebung ist
in beiden Fällen nicht zufällig gewählt, sondern verweist auf eine bestimmte Erzählabsicht.
Der Vorname „Katharina“ geht auf das altgriechische Epitheton „katharos“ zurück und
bedeutet so viel wie „moralisch rein, sauber“. Die Charakteristika beider Figuren (Katharina
Blums und Katharina Richters) sollen aufgrund dieses gemeinsamen Vornamens ergänzt und
die Sympathie der Rezipienten bereits von vornherein für diese aus ärmeren sozialen
Verhältnissen stammenden weiblichen Figuren gewonnen werden. Der Nachname „Blum“
kann als apokopierte Form des Nomens „Blume“ gelten und geht wohl auf die Zartheit und
die damit verbundene Bedrohung eines zarten Gewächses zurück, was mit dem
Handlungsverlauf der Erzählung bekanntlich übereinstimmt. Der Nachname „Richter“
seinerseits ist insofern selbsterklärend, als diese Nebenfigur aufgrund ihrer Stellung als
Repräsentantin der Unterschicht dazu berufen scheint, die in Bonn herrschenden Verhältnisse
zu be- und verurteilen.
Ferner ist Katharina Richter genau wie Katharina Blum eine Hausangestellte und
damit ipso facto ein potentielles Opfer bürgerlichen Machtmissbrauchs. An einer Stelle des
Romans begibt sie sich aus freien Stücken in die Lage eines potentiell suspekten Untertans,
als sie voller Demut folgende Worte an die Politikergattin Erika Wubler richtet: „Ich – […] –
möchte mich bei Ihnen bedanken, daß Sie mich trotzdem genommen haben.“66 Wenig später
erfährt der Leser, welche Bewandtnis es mit der konzessiven Konjunktion „trotzdem“ hat, als
Erika Wubler die „paar Demonstrationen [erwähnt], an denen [Katharina] teilgenommen
[hat].“67 Bei diesen Demonstrationen darf davon ausgegangen werden, dass es sich um
Protestaktionen der linksautonomen Szene gehandelt hat. Hier nun wird ersichtlich, inwieweit
Böll das Politische immer wieder tangiert, um seinen Figuren Konturen zu verleihen. Die
damit verbundene Sympathielenkung ist dabei so ausgerichtet, dass der weiter oben
beschriebene Gegensatz „links – rechts“ bzw. „Mächtige und Ausgebeutete“ beim Leser ein
Mitfühlen für Letztere bewirken soll. Beide Katharina–Figuren bieten dem Leser ein
deutliches Identifikationspotential. Obgleich dies in wesentlich stärkerem Maße für die
Hauptfigur der Erzählung gilt, ist Katharina Richter ungeachtet ihrer untergeordneten Stellung
innerhalb des Romangefüges eine Frauengestalt Blum’schen Zuschnitts.
66
67
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 15
Ebenda.
26
II.3. Martin Walser: Die süddeutsche Provinz
II.3.1. Der Bodensee: Literatur in und aus der Peripherie
Martin Walsers Œuvre ist topologisch gesehen eng mit seiner Herkunft und seinem
Wohnsitz verbunden. Der süddeutsche Raum, genauer gesagt der Bodensee und dessen
unmittelbare Peripherie sind Schauplatz zahlreicher Werke des 1927 in Wasserburg am
Bodensee geborenen Autors. „Seit 1957 wohnt er wieder direkt am Bodensee“68, 1984 verlieh
ihm seine Geburtsstadt die Ehrenbürgerschaft. Diese unbestreitbar „starke Zuneigung zum
Bodenseegebiet [wird] in seinen Schriften und Aussagen häufig bestätigt, wie etwa im
Heimatlob. Ein Bodenseebuch“69. Die in vorliegender Arbeit näher beleuchteten Werke „Ein
fliehendes Pferd“ und „Brief an Lord Liszt“ bestätigen diese geographische Gebundenheit an
den Bodensee. Auch die Handlung des Romans „Das Schwanenhaus“70, dessen Hauptfigur
Gottlieb Zürn in der eben genannten Novelle noch als Ferienhausvermieter fungierte, ist am
Bodensee angesiedelt. Der Titel des Werks geht auf eine Jugendstilvilla am See, um deren
Erwerb Zürn vergeblich kämpft, zurück.
In dem Roman „Brandung“71 (1985) siedelt Walser einen Großteil der Handlung in
den Vereinigten Staaten an. Stuttgart, Wohnsitz der Halms, ist jedoch Ausgangs- und
Schlusspunkt der Handlung. In seinem 2002 als Reaktion auf Marcel Reich-Ranickis herbe
Kritik erschienenen Roman „Tod eines Kritikers“72 verlegt Martin Walser das Geschehen aus
der süddeutschen Provinz nach Bayern. Der Erzähler gibt am Ende des ersten Kapitels eine
klare Richtung vor. Nachdem er, in Amsterdam weilend, in der FAZ vom Mordverdacht
gegen seinen Schriftstellerkollegen Hans Lach erfährt, heißt es: „Hin mußte ich. Sofort. Nach
München. Und hinaus nach Stadelheim.“73 Wenn man jedoch davon ausgeht, dass Bayerns
Hauptstadt als kosmopolitische Kunstmetropole von Weltrang Eingang in Walsers Roman
gefunden habe, dann irrt man. Auch hier sticht der provinzielle Charakter der
Lebensbedingungen hervor, seien sie nun privater oder beruflicher Natur. Dieser Befund
macht auch vor dem Kunst- und Literaturbetrieb nicht halt: „Silbenfuchs habe Hans Lach ihn
genannt, nachdem er, Professor Silberfuchs, den vorletzten Roman von Hans Lach in
68
Fetz, Gerald A.: Martin Walser, S. 1
Ebenda.
70
Walser, M.: Das Schwanenhaus. Suhrkamp. Fr. a. Main 1980
71
Ders.: Brandung. Suhrkamp. Fr. a. Main 1985
72
Ders.: Tod eines Kritikers. Suhrkamp. Fr. a. Main 2002
73
Ders., S. 15
69
27
irgendeiner Konversation ein Werk von grandioser Selbstbehinderung genannt habe. Was
man in München irgendwo sage, sage man immer der ganzen Stadt. Zumindest in der
Kulturszene. Die sei nirgends so tratschelig wie in München.“74 Die Enge und die damit
einhergehende Unmöglichkeit eines Entkommens vor dem Zugriff Dritter ist damit ein
durchaus zentrales Walser-Motiv auch dieses Romans. Das Provinzielle und das
Beklemmende solcher Lebenswelten schimmern auch in einer auf Tonband aufgezeichneten
Aussage des inzwischen als „psychotischer Psychiatriepatient“75 internierten Hans Lach
durch: „Wie eng und klein das Land ist, merkst du erst, wenn die Schläge, die morgens gegen
dich geführt werden, mittags schon bei dir eingetroffen sind. Ein Ausweichen innerhalb des
Landes ist nicht möglich. Also fort.“76
Hans Lach meint hiermit die giftigen Anfeindungen gegen seine Person und sein Werk
seitens
der
von
André
Ehrl-König
orchestrierten,
gedruckten
und
gesprochenen
Literaturkritik. Dass Walser hier auf eigene leidige Erfahrungen mit dem Kritiker Marcel
Reich-Ranicki eingeht, liegt auf der Hand.77 Festzuhalten bleibt, dass der Schauplatz
weiterhin der süddeutsche Raum ist, wobei der Fokus nur geringfügig vom Bodensee in
Bayerns Hauptstadt verlegt wurde. Die eben genannten Werke böten für die übergeordnete
Fragestellung meiner Arbeit ebenfalls zahlreiche Anschlussstellen. Allen voran wäre „Tod
eines Kritikers“ zu nennen. Die gutbürgerliche Fassade hat mithin auch in Walsers Alterswerk
nichts von ihrer Bigotterie eingebüßt. Gleichwohl wäre es – ähnlich wie bei Heinrich Böll –
völlig abwegig, „Walser zu den Heimatdichtern im herkömmlichen Sinne zu zählen. [Trotz
seiner Verbundenheit zum alemannischen Raum] ist Walser nie ein provinzieller Autor
gewesen.“78 Die Provinz, das Heimatliche sind bei ihm nie Schablone für rückwärtsgewandte,
eine ideelle Vergangenheit romantisierende Projektionen. „Mit dem ‚Rückzug auf’s Land’, in
die Provinz, unterliegt Walser nicht einer Idyllisierung. Er kontrastiert mit der Ansiedlung
seiner Romane in der Regionalität keine heile Welt mit einer von den Mechanismen der
74
Walser, Martin: Tod eines Kritikers, S. 14
Ders., S. 145
76
Ders., S. 146
77
Am Rande sei erwähnt, dass hier eine Analogie zu Heinrich Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der
Katharina Blum“ sinnfällig wird. Beide Werke verhandeln die für den Einzelnen zerstörerische Gewalt einer
Presselandschaft, die sich als uneingeschränkte Instanz der Meinungsbildung wähnt, sei es nun die
Boulevardpresse (Böll) oder die vordergründig-seichte Literaturkritik (Walser). Zum Verhältnis zwischen ReichRanicki und Walser und dem Leiden des Autors an der mitunter vernichtenden Kritik meint Volker Weidermann
(Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 9/2010, Feuilleton, S.23): „Walser ist außer sich. Ist in einer Weise
außer sich, dass er […] nicht wieder zurückfindet in die eigene Haut, nicht mehr zurückfindet zu einem halbwegs
gesicherten, selbstsicheren Ich.“
78
Fetz, Gerald A.: Martin Walser, S. 1
75
28
kapitalistischen Wirtschaft geprägten Lebenswelt in den Metropolen.“79 Der Bodensee und
dessen Umgebung liefern dem Autor vielmehr den geeigneten „Rohstoff“ für eine betont
realistische Darstellung der Leiden, Ängste und Hoffnungen seiner Figuren. Der dabei
entstehende Kontrast zur vermeintlichen, nur vordergründig „heilen Welt“ Süddeutschlands
verstärkt den Wirkungsgrad seiner Schriften.
II.3.2. Schnittmengen mit der Novelle „Ein fliehendes Pferd“
Martin Walser zeigt in seiner Novelle aus dem Jahre 1978 „zwei verschiedene
Verhaltensmöglichkeiten [,] ein Duell zwischen den Repräsentanten zweier gegensätzlicher
Fluchtmöglichkeiten
[,]
zwei
Formen
eskapistischer
Lebensbewältigung.“80
Diese
Einschätzung, so zutreffend sie auf den ersten Blick sein mag, muss m. E. bezüglich der
Halm-Figur korrigiert werden. Helmut Halm und Klaus Buch sind die beiden männlichen
Antipoden in Bezug auf ihre Lebensführung. Studienrat Halm wollte sich während seiner
abermals am Bodensee zugebrachten Ferien eigentlich in Kierkegaards Tagebücher
vergraben. Man könnte diese Lektüre als den Versuch werten, vor der eingehenden
Beschäftigung mit der einsetzenden „midlife-crisis“ in die Welt existenzialistischen
Gedankenguts zu flüchten. Eine solche Lesart scheint vor dem Hintergrund der bewusst
kontrastiv angelegten Figurenkonstellation „Halm – Buch“ jedoch unangebracht. Während für
Buchs Jugendwahn und dessen zwanghafte Sexualität die Anerkennung durch seine
Umgebung unabdingbar ist, sucht Halm geradezu die Begegnung mit seinem Wesenskern.
Einer Flucht kommt das keineswegs gleich. Gerade die auf Kierkegaard zurückgehende
Zweiteilung in „ästhetische“ und „ethische Lebensweise“ wirft ein anderes Licht auf Halm.
Obwohl dieser epikureisch daherkommt – „Helmut trank fünf Viertel [des schwersten,
teuersten Spätburgunders]“81 – ist sein Lebenswandel ein im Kierkegaardschen Sinne
ethischer. Klaus Buch hingegen ist die Ausgeburt des Ästhetikers. Während Halm bewusst
darauf abzielt, „sich in seinem persönlichen Sosein zu erkennen und gleichsam zu […]
akzeptieren“, ist Buchs Lebenswandel grundsätzlich „darauf angelegt, die Erfahrungs- und
Genussmöglichkeiten des gesellschaftlichen Lebens auszuschöpfen und das Glück in der
79
Hick, Ulrike: Martin Walsers Prosa. Möglichkeiten des zeitgenössischen Romans unter Berücksichtigung des
Realismusanspruchs. Akademischer Verlag Hans-Dieter Heinz. Stuttgart 1983, S. 197
80
Wagener, Hans: Die Sekunde durchschauten Seins. Martin Walser: Ein fliehendes Pferd (1978) In: Deutsche
Novellen. Hg. W. Freund 19982, S. 279
81
Walser, Martin: Ein fliehendes Pferd, S. 25
29
Gegenwart zu suchen.“82 Mit „Genussmöglichkeiten“ sind hier keinesfalls ausschweifende
Ess- und Trinkgewohnheiten gemeint83, sondern Buchs nahezu pathologische Flucht in das
Hier und Jetzt eines jeden Augenblicks, das er – sichtbar gekünstelt – immerzu in vollen
Zügen genießen will.
Selbstredend soll diese Zuweisung keine „Etikettiermaschine“84 sein, mit welcher eine
Figur vereinfachend mit einem komplexen philosophischen System wie demjenigen
Kierkegaards in Einklang gebracht wird. Dennoch und trotz aller nötigen Differenzierung gilt,
dass Halms ganz bewusst desillusionierende Haltung einer negativen Genügsamkeit – er
verschließt sich der Sexualität“85 – darauf abzielt, die Gebote des Leistungsdenkens und der
Anpassung an Normen abzuschütteln und ein selbstgenügsames Leben zu führen. Dabei
verfällt er jedoch nie der kindischen Illusion, er lebe fortan losgelöst von allen
gesellschaftlichen Zwängen86. Demgegenüber steht Buchs krampfhafter Versuch, sich in den
Augen seiner Umwelt zu sonnen und zu spiegeln, um aus diesen Rückmeldungen die
Bestätigung eigener Persönlichkeit zu beziehen87. Diese nach außen hin demonstrierte und
eingeübte Leichtigkeit wird am Ende der Novelle als Maske eines durch und durch
Verzweifelten enttarnt, als Helene den Leser hinter die Kulissen des aufgesetzten Glanzes
führt.88
In Anlehnung daran erscheint die Figurenkonstellation in Walsers Roman „Brief an
Lord Liszt“ als Neuauflage dieser Gegenüberstellung. Franz Horn kommt der eben
dargelegten ethischen Lebensweise nahe; er sieht das Briefeschreiben als epistemische
Möglichkeit an. Ziel des schier nicht mehr enden wollenden Schreibprozesses ist es, sein
Wesen schonungslos offenzulegen und über diesen Weg den Adressaten Liszt zu einem
Abrücken von dessen sturer Haltung gegenüber Horn, seinem ehemaligen Konkurrenten, zu
bewegen. Letzterer sucht nachgerade die gedankliche Konfrontation mit seinen eigenen
82
Kiesel, Helmuth: Kommentar zu „Ein fliehendes Pferd“. In: Martin Walser: Ein fliehendes Pferd, S. 129
Vgl. die unverkennbare Erzähler-Ironie in den Zeilen: „Klaus Buch und seine Frau aßen nur Steak und Salat,
und den Salat aßen sie vor dem Steak. Und sie tranken nur Mineralwasser.“ (Martin Walser: „Ein fliehendes
Pferd“, S. 24)
84
Kiesel, Helmuth: Kommentar zu „Ein fliehendes Pferd“, S. 131
85
Walser, Martin: Ein fliehendes Pferd, S. 46: „Zum Glück hatte sie keinen Versuch gemacht, ihn zu berühren.
Er hoffte, sie liege so neben ihm wie er neben ihr. Das wäre eine Lebensleistung. Von beiden vollbracht.“
86
Walser, Martin: Ein fliehendes Pferd, S. 49: „In der Schule würde er weiterhin den verlangten Schein
produzieren. Zu Hause aber würde er sich gehen lassen.“
87
Vgl. S. 66, wo Klaus Buch sichtlich nervös bezüglich seiner sexuellen Leistungsfähigkeit bei Hel nachhakt:
„Heißt das, sonst bin ich ganz gut, sagte er unersättlich. […] Du bist achtzehn Jahre jünger als ich. Hast du je zu
klagen gehabt, fragte er unerbittlich.“
88
Walser, Martin: Ein fliehendes Pferd, S. 91ff.
83
30
Schwächen, ohne dabei jene des Adressaten auszublenden. Auch die vorhin erwähnte
„negative Genügsamkeit“ ist mit Horns Passivität gegenüber seiner Ehefrau durchaus
verträglich. Die Lüge89, welche er Hilde zu Beginn auftischt, ist keinesfalls von Heimtücke
geprägt, sondern spiegelt ein inniges Sehnen nach ein paar Stunden Alleinsein. Er flüchtet aus
der Kleinfamilie in die Gedankenwelt, um hier sein „Sosein“ endlich mitteilen zu dürfen.
Die beiden Figuren Halm und Horn, deren Namen nicht zufällig alliterieren, sind
gewiss keine „Brüder im Geiste“. Dennoch verbindet sie ein Verhalten, welches im Vergleich
zu ihren jeweiligen „Gegenspielern“ als ethisches im vorher indizierten Sinne daherkommt.
Bezüglich der beiden anderen Figuren, sprich Buch und Liszt, lässt sich dieser Vergleich
ebenfalls, wenn auch wiederum mit der nötigen Behutsamkeit, bemühen. Gegen Ende des
Romans zeichnet Horn einerseits die an Klaus Buch erinnernde, für Liszt typische Fixierung
auf die eigene Umgebung. Horn spielt auf einen ausufernden Streit zwischen ihm und Liszt
an. Die dritte anwesende Figur ist ein als „Professor“ bezeichneter Mann, der von Liszt verbal
behelligt wird: „Er [der Professor] schien Sie [Liszt] – glaubte ich – anzuflehen, Sie möchten
doch, bitte, aufhören. […] Sein Gesicht zuckte unter Ihren dröhnenden Sätzen wie ein
Leidensoszillograph. Sie bemerkten nur, daß er nicht genügend amüsiert war von Ihrer
Darbietung.“90 Andererseits enttarnt Walser – ähnlich wie in der Novelle bezüglich der Figur
Klaus Buch – den vordergründigen Charakter des Liszt’schen Gebarens als Fassade: „Sie
beherbergen (vielleicht) ein Unglück, das schwerer ist als alles, was mir bis jetzt
vorgekommen ist. […] Oder Sie sind einfach der Einsamste – Reinste. Inkompatibel.“91
89
„Da hörte er sich antworten, es sei etwas passiert […] er, Franz, wolle etwas vorbereiten, was er Thiele am
Dienstag auf den Tisch legen könne.“ M. Walser: Brief an Lord Liszt, S. 25
90
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 121
91
Ders., S. 127 / Vgl. ebenfalls die Untersuchungen zur Thema-Rhema-Abfolge und deren Auswertung
31
32
II.4. Thema-Rhema-Struktur und Isotopiekonzepte
Dieser Ansatz liefert eine auch für didaktische Zwecke sinnvolle Bereitstellung von
Referenzbezügen (Thema-Rhema), welche alsdann eine fruchtbare Verbindung mit dem
Aufzeigen von Isotopieebenen eingehen. Dabei wird sowohl auf der Textoberfläche als auch
auf
Ebene
der
Tiefenstruktur
(v.
a.
beim
Isotopiekonzept)
gearbeitet.
Die
Kohäsionsmechanismen, mittels derer ein Text die einzelnen Sätze verknüpft, sind ebenfalls
ein ergiebiges Mittel, um die „handwerklichen“ und damit grundlegenden Tugenden bzw.
Mängel eines Textes offenzulegen. Vor allem dem oftmals gegenüber unserem Fach
geäußerten Vorwurf, Literaturwissenschaft entferne sich zu sehr vom Text als solchem, um
stattdessen über beliebige Theorieansätze und Mutmaßungen eine Kaffeesatzleserei zu
veranstalten, kann u. a. mit diesem Ansatz begegnet werden.
Einschränkend muss in diesem Zusammenhang jedoch hervorgehoben werden, dass
der Stichprobenumfang mit nur zwei kürzeren Textpassagen in keiner Weise repräsentativ für
die Stillagen eines Autors ist. Allenfalls kann eine gewisse Tendenz aufgezeigt werden. Es
geht mir vornehmlich um die Erprobung einer Methode, die zwar in allen linguistischen
Lehrbüchern zum theoretischen Kanon gehört, welche aber nur selten am konkreten
literarischen Beispiel zur Anwendung gelangt. Die Erkenntnisse für das übergeordnete Thema
dieser Arbeit stehen mithin im Vordergrund, das stilistische Profil „schreibwütiger“ Autoren
wie Heinrich Böll und Martin Walser könnte selbstredend nur mit einem erheblichen
Aufwand an Datensammlung und -auswertung erstellt werden. Ein Querschnitt durch mehrere
Werke verschiedener Schaffensperioden eines Autors müsste zudem die Konstanten und
Differenzen im Stil freilegen. Hinzu kommt, dass diese Methode für sich alleine genommen
nicht als Königsweg fungiert. Nur im Verbund mit anderen Zugriffen kann das vielschichtige
und reizvolle Phänomen „Stil“ zufriedenstellend untersucht werden. Zudem besteht die
Gefahr, im forcierten Umgang mit einer solchen Methode der Illusion zu verfallen, man
könne Texte fortan positivistisch „erklären“, indem man schlichtweg nur das glaubt, was man
sehen bzw. beweisen kann. Diese Rasiermessertheorie wäre eine bedauernswerte Regression
angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, welche die Interpretationskunst je nach Text
bereitstellt. Die Mängel der eben aufgezeigten Vorgehensweise liegen in der Unmöglichkeit
einer genauen Beschreibung des Tonfalls, der einen Text ausmacht. Letzterer kann, falls
überhaupt, mittels Thema-Rhema-Struktur und der Isotopiekonzepte nur unzureichend erklärt
33
werden92. Um die Stimmung eines Textes wiederzugeben, bedarf es anderer Beobachtungen,
die weit über das konkret fassbare, intersubjektive textlinguistische Instrumentarium
hinausgehen. Hierzu gehören etwa die Klangkurven, welche, falls bewusst eingesetzt,
entweder die Beschwingtheit, das Betörende, aber genau so die Härte und Kälte einer
gewissen Situation unterstützen können. Dann wäre der Satzrhythmus zu nennen, denn auch
hier greift die beschriebene Methode zu kurz. Rhythmische Prosa mit hohem ästhetischem
Anspruch könnte mit diesem Ansatz nicht oder nur geringfügig gegenüber dem
Erscheinungsbild eines rein funktionalen Textes gewürdigt werden. Schlussendlich gilt die
auf Aristoteles zurückgehende Erkenntnis, „dass ein Ganzes anderes und mehr ist als die
Summer seiner Teile.“93
Auch erscheint mir eine Vermittlung und Einübung dieser Vorgehensweise nicht nur
für die Rezeption, sondern in gleichem Maße für die Textproduktion durchaus sinnvoll. Ob es
sich nun um einen Gymnasiasten handelt, der einen Oberstufenaufsatz zu einem literarischen
Thema anfertigt oder um einen Studenten der Germanistik, der eine Schreibwerkstatt besucht:
Das Erlernen des „Handwerks“ durch Imitation wesentlicher Kohäsionsvorgänge einerseits
und das Einüben eines geschmeidigen, treffsicheren Umgangs mit Isotopieverbänden
andererseits können den Schreibprozess bereichern. Die Thema-Rhema-Struktur ist ein
textlinguistischer Zugriff, bei welchem die Textkohärenz im Vordergrund steht, denn der
„Kerngedanke“ ist es, der einem Text einen Sinn verleiht. Die Tatsache, dass
„Versuchspersonen einen Text, der wenig bis keine Kohäsionsmerkmale aufweist, besser
verstehen können, sobald ihnen durch Setzen eines entsprechenden Titels am Anfang des
Textes das Thema signalisiert wird“94, weist auf die enge Verbindung zwischen Thema und
Textkohärenz hin. Das Ineinandergreifen sprachlicher und außersprachlicher Wissensbestände
ist diesem Zugriff inhärent, denn sowohl das Weltwissen des Lesers als auch die
syntaktischen Verknüpfungen spielen bei der Beschäftigung mit Thema und Rhema eine
Rolle.
92
Nicht zu verwechseln ist diese Betrachtungsweise mit dem Satzakzent. Vgl. hierzu Duden. Die Grammatik, S.
1131: „Die zentrale neue Information wird im Satz durch Akzent hervorgehoben.“ In den untersuchten
Beispielen wird dieser Befund jedes Mal vorausgesetzt und nicht näher erörtert bzw. differenziert. Zu den
einzelnen Platzierungen und Alternativen des Satzakzents, die bei der vorliegenden Analyse nicht weiter in die
Ergebnisse einfließen, sei wiederum auf S. 1131, Abschn. 1861 im Grammatik-Duden verwiesen.
93
Lehnick, Ingo: Der Erzähler Heinrich Böll. Änderungen seiner narrativen Strategie und ihrer Hintergründe.
1997, S. 20
94
Linke, Nussbaumer, Portmann : Studienbuch Linguistik. Tübingen 20014, S. 237
34
Das Isotopiekonzept gilt gemeinhin als „speziell geeignet für eine Beschäftigung mit
Texten, bei denen eine (bewusste) Zerstörung syntaktischer und wortsemantischer Bezüge“95
vorliegt. Zudem erlaubt dieser Ansatz dem Leser, „das, was wir 'intuitiv' aus einem Text
'herauslesen', in einem zweiten Schritt wieder an das Textmaterial zurückzubinden, um es
damit einer intersubjektiven Überprüfung zugänglich zu machen.“96 Die Mängel dieses
Ansatzes aus streng linguistischer Sicht werden hier nicht angeführt, da sie für die literarische
Deutung keinerlei Bedenken mit sich bringen97. Mithin wird dieses Konzept vornehmlich bei
lyrischen Gebilden der Moderne fruchtbar, da sich hier filigrane, oft suggestive semantische
Komplexe über die Versgrenzen hinweg bilden. Aber auch für die beiden Textbeispiele kann
dieser Zugriff, wie weiter oben gezeigt wurde, greifbare Erkenntnisse für die Interpretation
liefern. Folgende Untersuchungen erfolgen auf Grundlage ausgewählter Textpassagen aus
beiden Romanen. Es soll klargestellt werden, dass diese Auswahl zufällig erfolgt ist. Der
oftmals erhobene Einspruch gegen literarische Analysemodelle fußt bekanntlich auf dem
Argument, dass mitunter nur jene Texte untersucht würden, die dem jeweiligen Modell das
größtmögliche Maß an Erkenntnissen zuspielen, während dieselbe Methode bei anderen
Texten bzw. Textausschnitten gänzlich unfruchtbar bleibe. Dieser textlinguistische Ansatz
soll Aufschlüsse über den Sprachgebrauch beider Autoren geben und zugleich
Verbindungslinien zum übergeordneten Thema vorliegender Arbeit aufzeigen. Näheres hierzu
kann den Ergebnissen weiter unten entnommen werden. Es folgen einige knappe, einführende
Erklärungen zu diesem Ansatz.
Der Übergang von der Satz- zur Textlinguistik in den 1970er Jahren brachte zahlreiche
neue Blickwinkel und Gegenstandsbereiche grammatisch-literarischer Analyse mit sich.
Hierbei liegt das Hauptaugenmerk neben dem Auffinden von allgemeinen Textbildungsregeln
v. a. auf den „systematischen Bezüge[n] […] zwischen benachbarten Sätzen“98. Werden diese
Beziehungen sprachlich, also semantisch-syntaktisch hervorgehoben, so spricht man von
„Kohäsion“99. Diese Verknüpfung einzelner Sätze zu einem Textganzen entspricht der
Oberflächenstruktur eines Textgebildes. Die Tiefenstruktur hingegen entspricht der
„Kohärenz“, sie ist gewissermaßen „die konzeptuelle Basis des Textes“100. Die funktionale
Satzperspektive sieht ihrerseits eine Spaltung des Satzes in zwei Teile vor. „Als Thema wäre
95
Studienbuch Linguistik, S. 230
Ders., S. 231
97
Ebenda.
98
Studienbuch Linguistik, S. 215
99
Ebenda.
100
Studienbuch Linguistik, S. 225
96
35
jeweils das zu betrachten, über das etwas gesagt wird, wogegen das Rhema dasjenige
umfassen würde, was darüber ausgesagt wird.“101 Zudem wird in der Fachliteratur auf den
Zusammenhang zwischen Textthema und Textfunktion102 verwiesen. Auch die Frage nach
den Grenzen des Textes103 spielen in diesem Analysezusammenhang eine gewichtige Rolle.
Diese beiden Punkte werden jedoch aus meiner Untersuchung weitgehend ausgeblendet, da es
sich hierbei nicht um eine rein linguistische Abhandlung handelt und eine Einbeziehung
dieser und anderer Differenzierungen den Rahmen meiner Arbeit sprengen würde.
Bezüglich des Isotopiekonzepts lässt sich festhalten, dass es sich hierbei um „eine Art
Zwischenstufe zwischen einer eher kohäsionsorientierten und einer mehr kohärenzorientierten
Textanalyse“104 handelt. Dieser von Greimas geprägte Zugriff soll eine neue Form
literarischer Interpretation bieten. Mechanismen der Textverknüpfung werden unter
„semantischem Gesichtspunkt“ untersucht; Prinzipien wie Rekurrenz und Substitution kommt
eine gewichtige Rolle zu, allerdings nicht mehr auf der Textoberfläche, sondern „’unterhalb’
der Wortebene, indem es [d. h. das Isotopiekonzept] auf die Semanalyse zurückgreift, also auf
die Annahme der Zerlegbarkeit von Wortbedeutungen in eine Menge einzelner semantischer
Merkmale“105. Grundannahmen der Komponentialsemantik kommen mithin zum Tragen.
Es folgt nun eine Transkription einiger Sätze, die jeweils einen Passus aus einem der
beiden Werke darstellen. Die Größe „Text“ wird hierbei stets als gegeben vorausgesetzt. Ziel
der Analyse ist das Aufzeigen der Bedeutungsstruktur von Texten. Im Anschluss an die in
Schrägschrift kopierten Sätze erfolgt eine Analyse ihrer Thema-Rhema-Struktur sowie der
zugrundeliegenden Isotopien. Auf den Ko-Text der einzelnen Passagen wird nicht näher
eingegangen, weil die Analyse auf rein textimmanente Bezüge fokussiert ist. Der Einfachheit
halber werden die Sätze durchnummeriert.
101
Ders., S. 238
Ders., S. 237
103
Ders., S. 255f.
104
Studienbuch Linguistik, S. 230
105
Ebenda.
102
36
Text 1: Walser, M: Brief an Lord Liszt, S. 28ff.
1. Lieber Lord Liszt!
2. Warum nenn’ ich Sie so? 3. Die Anrede war da, als ich nach dem Schreiber griff. 4.
Wahrscheinlich will ich eine Entfernung ausdrücken zu Ihnen und zugleich mir und Ihnen
empfehlen, diese Entfernung doch nicht zu ernst zu nehmen. 5. Oder sollen wir? 6. Etwas
Lordhaftes haben Sie an sich. 7. Immer tragen Sie diesen petroleumfarbenen Anzug mit den
Lederknöpfen. 8. Wahrscheinlich haben Sie diese Farbe einmal gewählt, weil Sie gut zu Ihrem
ins Rötliche überschnappenden Blond paßt. 9. Nein, Ihre Frau hat Ihnen dieses Petroleum
empfohlen, stimmt’s? 10. Ihr zuliebe haben Sie sich dieser Farbe unterworfen und bleiben ihr
besinnungslos treu. 11. Wie viele solcher Anzüge haben Sie eigentlich? 12. Ich stelle diese
Frage fast im Namen der ganzen Firma. 13. Fräulein Hölzel, meine frühere Sekretärin,
verriet mir einmal, daß jede, die neu in den Betrieb komme, nach spätestens vier Wochen
diese Frage stelle. 14. Manche meinen, Sie demonstrieren etwas. 15. Man wüßte gern, was!
16. Darf ich in Zukunft sagen, es sei ein Bekenntnis zu Ihrer Frau?
Lässt man fürs Erste die streng linguistische Perspektive außen vor, so fällt der etwas
provokative, ins Spöttische gleitende, trotzdem stets einfühlsame Tonfall der Hauptfigur
Franz Horn gegenüber seinem Firmenkollegen Liszt auf. Dieser einleitende Abschnitt aus
dem ersten Brief an Liszt ist „thematisch“ gesehen gekennzeichnet durch ein ständiges, fast
redundantes Kreisen um die Suche nach dem Ursprung des Lord-Titels in der Anrede sowie
um Liszts äußeres Erscheinungsbild106.
106
Anmerkung bezüglich der folgenden Raster: Das Kürzel „Nr.“ steht jeweils für „Nummer“, „Tr.“ für
„Transkription“, sprich für die Entsprechung in Wortform. Das Symbol „ø“ steht für die Abwesenheit einer der
beiden Referenzbezüge. Ausrufe wie „Nein“ werden nicht gesondert als Satz angeführt, sie fungieren als Teil
eines der beiden Referenzbezüge. Zwei unterschiedliche Bezüge innerhalb ein- und desselben Satzes sind
fettgedruckt.
37
1
2
3
Satz
1
1
1
Thema-Nr.
1
2
3
Thema-Tr.
Lord Liszt!
nenn’ ich Sie so?
Die Anrede
4
1
4
zu Ihnen
4
5
6
2
1
5
ø
6
Oder sollen wir?
Sie (Liszt)
7
1
7
Sie (Liszt)
8
1
8
Sie (Liszt)
8
9
3
9
8
Nein, Ihre Frau
10
10
3
3
10
11
Ihr zuliebe
11
1
12
Sie (Liszt)
12
4
12
Ich (Horn)
13
5
13
Fräulein Hölzel
13
Rhema-Nr.
14
14
1
15
Sie (Liszt)
15
1
16
Sie (Liszt)
16
1
17
(Liszt)
Rhema-Tr.
Lieber
Warum
war da, als ich nach
dem Schreiber griff.
Wahrscheinlich
will
ich
eine
Entfernung
ausdrücken;
und zugleich …
ø
Etwas
Lordhaftes
haben … an sich
Immer tragen …
diesen … Anzug ...
Wahrscheinlich …
gewählt,
weil sie gut …
hat
Ihnen
…
Petroleum
Haben Sie …
und bleiben ihr …
treu
Wie viele solcher
Anzüge
…
eigentlich?
stelle diese Frage …
Firma
meine
frühere
Sekretärin
verriet mir einmal,
daß …
Manche
meinen,
,(Sie) demonstrieren
etwas
Man wüßte gern,
was? (Ellipse: Was
Sie demonstrieren))
,es sei ein …
Auswertung und Begründung der Thema-Rhema-Folge zu Text 1
Die ersten vier Sätze beschäftigen sich nahezu zwanghaft mit der Anrede, welche
Franz Horn dem Adressaten seiner Briefe verleiht. Das lässt sich eindeutig an der ThemaRhema-Abfolge ablesen. Satz Nr. 5 stellt gewissermaßen ein Intermezzo zwischen der
vorangegangenen und der ab Satz Nr. 6 wieder einsetzenden Beschäftigung mit dem
„Lordhaften“ dar. Dieser fünfte Satz ist gerade wegen seiner Stellung innerhalb einer
„Themafuge“ interessant, da er ein kurzes Innehalten, ja eine vom Leser erwartete
Progression im thematischen Verlauf liefert, bevor der thematische Fokus wiederum auf den
Titel und dessen Berechtigung gerichtet wird.
38
Der fünfte Satz schreibt sich insofern in eine thematische Linearität (oder Progression)
ein, als hier auf semantischer Ebene von der zuvor evozierten Möglichkeit einer
beziehungstechnischen Entfernung zwischen beiden Figuren die Rede ist. Linguistisch
gesehen wird hier das Rhema 5 aus Satz Nr. 4 zum Thema 2 von Satz Nr. 5. Die Frage dreht
sich um die dem Titel „Lord“ inhärente, ehrerbietige Distanzierung Horns gegenüber Liszt.
Satz Nr. 7 bietet zwar wiederum eine Progression auf Rhemaebene, das starre Festhalten an
der Person und deren Titel jedoch untermauert, wie stark Franz Horn die charakterliche
Konstitution seines Gegenübers und der Eindruck, welcher Liszt auf ihn macht, beschäftigt.
Für Satz Nr. 8 gilt dasselbe. Mit Satz Nr. 9 tritt ein drittes Thema auf den Plan, die Ehefrau
des Adressaten wird erwähnt. Das Augenmerk richtet sich nun auf einen anderen Agens, Liszt
tritt als Rhema auf. Satz Nr. 10 verweilt bei Thema 3, sprich der Autorität einer Ehefrau in
Sachen Kleidung und, darüber hinausgehend, öffentliches Auftreten. Gleich im Anschluss
daran greift der Sprecher wieder das erste Thema auf, der „Lord“ wird auf seine Kleidung hin
befragt. Ab hier kommt die thematische Progression nach einem kurzen linearen „Schub“
wieder ins Stocken, die Sätze 14 bis 16 stellen Lord Liszt wiederum in den Mittelpunkt, die
Rhemata kreisen um dieses Hauptthema.
Kohäsion und Isotopien
Hinsichtlich der Kohäsionsmerkmale wird ersichtlich, dass nur an manchen Stellen
Rekurrenz als Vernetzungsmittel anzutreffen ist. Die Verknüpfungen auf materieller Ebene
werden vornehmlich durch Substitutionen, Pro-Formen und qua Ellipse realisiert. Letzteres ist
in Satz Nr. 15 der Fall, wo Rhema 16 in Form des Interrogativpronomens „was“ auf Rhema
15 aus dem vorausgehenden Satz referiert. Satz Nr. 5 weist ebenfalls eine Ellipse auf. Ein
Beispiel für eine Pro-Form lässt sich an Satz Nr. 10 ablesen. Das Personalpronomen „ihr“
stellt die syntaktische Vernetzung zu Satz Nr. 9 her, Thema 3 verweist auf sich selbst. Satz
Nr. 16 verknüpft mittels des Personalpronomens „es“ diesen mit dem vorherigen Satz. Eine
Substitution liegt in den Sätzen Nr. 3, 7, 8 und 11 vor. Von „Rekurrenz“ kann lediglich in den
Sätzen Nr. 6, 9, 13 die Rede sein. Dieses eher seltene Vorkommen „reiner“ Rekurrenz kann
als Beweis für die Erfüllung der klassischen Stilvorgabe „variatio delectat“ gelten. Hinzu
kommt, dass der neunte Satz eine Rekurrenz gegenüber Satz Nr. 7 liefert; Satz Nr. 8 weist
eine Substitution „petroleumfarben – Farbe“ auf, sodass Redundanz gar nicht erst aufkommt.
39
Für die Sätze Nr. 2 und 12 liegt eine metakommunikative Verknüpfung vor. Das
Wiederaufgreifen und Benennen des vorangegangenen Sprechakts, hier einer Anrede,
markiert für Satz Nr. 2 eine metasprachliche Verknüpfung mit „Satz“ Nr. 1. Gleiches gilt für
den zwölften Satz, wo nicht die Anrede, sondern eine Frage explizit aufgegriffen wird, um
den Sprechakt aus Satz Nr. 11 als Anschlussstelle für den folgenden Satz zu verwerten. In
jenen Sätzen (Nr. 4 und 14), wo keine expliziten Kohäsionsmerkmale auftreten, würde es dem
Leser schwerfallen, dem Text eine wie auch immer geartete Kohärenz zuzuschreiben, wenn er
dabei nicht auf außersprachliche Marker zurückgreifen könnte. Für die Sätze 4 und 14 kann
eine zeichengebundene Präsupposition ausgemacht werden. Für Satz Nr. 4 gilt, dass die
Entfernung, welche mit der Anrede verbunden ist, zwar als thematische Progression
wahrgenommen wird, diese jedoch nicht über eine der gerade genannten Vernetzungsformen
auf der Textoberfläche, sondern „leicht unter“ dem Text in Form einer Voraussetzung („die
Anrede“ aus Satz Nr. 3) rezipiert wird. Genauso verhält es sich mit der in Satz Nr. 13
vorkommenden Präsupposition („diese Frage“). Grob gesehen kann man für diesen Passus
zwei Isotopieebenen ansetzen. Die erste baut sich um die Anrede „Lord Liszt“ auf; die
metakommunikative Vernetzung in Satz 2 („Anrede), ferner die damit einhergehende
„Entfernung“ (Satz 4) bilden den Stamm dieser ersten Ebene. Es folgen die Begriffe
„Lordhaftes“ sowie „Anzug mit Lederknöpfen“. Ab Satz 9 kommt ein zweites Thema zum
Tragen.
Diese thematische Progression deckt sich mit dem Hervortreten der zweiten
Isotopieebene. Hier, also ab Satz Nr. 9, wird die erste Isotopieebene überlagert von einer
zweiten, welche pikanterweise Liszts Ehefrau als Ausgangspunkt hat. Wie eine Ranke klettern
das reflexive Verb „unterwerfen“ und das adverbial gebrauchte Adjektiv „besinnungslos“ an
dieser zweiten Isotopie hinauf. Für das Thema vorliegender Arbeit ist diese Einsicht
dahingehend aufschlussreich, als sich der anfangs als „Lord“ gepriesene Liszt zumindest nach
Horns Dafürhalten seiner Ehefrau regelrecht unterwirft. Die Biedermeierfassade bröckelt, der
Graben zwischen patriarchalischer Außendarstellung und der Innenansicht wird sinnfällig.
Die erste Isotopieebene bildet eine Art Klammer, zwischen der sich die zweite Ebene
entfaltet. Diese Klammer kann in ihrer Bildhaftigkeit auf einer Metaebene wiederum als
Isotopie gewertet werden, da dem Sprechen über die patria potestas bzw. das Herrische der
Liszt-Figur ein abruptes Ende bereitet wird. Es folgen Gedanken über die Fragwürdigkeit
dieser Erscheinung, der Lord steht gewissermaßen „zwischen Klammern“, er wird in seiner
schier allmächtigen Postur grundsätzlich in Frage gestellt. Am Ende des Passus, sprich nach
40
der Isotopieklammer (ab Satz Nr. 14), gehen die beiden Isotopiebenen „Lord“ und „Ehefrau“
eine syntaktische Verbindung ein. Die Rede ist hier sowohl von einer „Demonstration“, sprich
eines (hier nur vordergründigen) Akts der Willensstärke als auch von der „Unterwerfung“
unter die Ehefrau.
Text 2: Böll, H.: Frauen vor Flusslandschaft, S. 115
1. Wenn ich zu diesem Plukanski fahre, muß ich immer an mich halten, damit meine Wut
mich nicht übermannt, ich nicht die Herrschaft über das Lenkrad verliere, gegen einen
Baum, eine Laterne fahre oder ein anderes Auto ramme. 2. Wohl möglich, daß ich ihn
eines Tages erwürge, dieses Nichts, nicht einmal ein Heuchler ist er, sondern er ist
nur, wie er ist: nichts. 3. Sie nennen ihn Apfelwange, und tatsächlich ist seine Haut
auf eine unbezahlbare Weise telegen. 4. Eine Maskenbildnerin hat mir mal
zugeflüstert: 5. Den braucht man gar nicht zu schminken, der ist immer geschminkt. 6.
Er sieht immer aus wie ein gesunder Apfel, der im nächsten Augenblick reif vom Baum
fallen oder gepflückt wird, so richtig marktappetitlich, das blonde Haar inzwischen
silbrig, dicht, und auch heute noch, wo er auf die Fünfundfünfzig zugeht, sieht er aus
wie ein Junge, in dessen Fußballmannschaft man gerne mitgespielt hätte. 7. Er kann
sogar schelmisch lächeln, und Grübchen hat er auch. 8. Es ist nie genau analysiert
worden, wie viel Stimmen er bringt, sicher ist: 9. Er bringt genug, und laut Analyse
einiger Publikumsäußerungen halten ihn die meisten für einen Adeligen, der sein
« von » aus demokratischer Bescheidenheit abgelegt hat.
41
Satz
1
Thema-Nr.
1
Rhema-Nr.
1
1
2
1
1
3
4
2
1
5
2
1
6
2
Thema-Tr.
zu
diesem
Plukanski
Ihn (Plukanski)
7
3
3
1
2
8
9
Ihn (Plukanski)
seine Haut
4
3
10
5
1
11
Eine
Maskenbildnerin
Den; der
(Plukanski)
6
1
12
Er (Plukanski)
6
4
13
6
1
14
das blonde Haar
(pars pro toto)
er (Plukanski)
7
1
15
Er
8
1
16
er
9
1
17
er
9
1
18
ihn
107
Rhema-Tr.
Wenn ich …, muß
ich …,
damit …,
ich nicht die …,
gegen einen Baum,
… fahre oder …
ramme
Wohl möglich, daß
ich ... erwürge
dieses
Nichts;
nichts
nicht einmal ein
Heuchler ist er
Apfelwange
auf
…
Weise
telegen
hat
mir
mal
zugeflüstert
braucht man … zu
schminken, der ist
geschminkt
sieht immer aus
wie ein gesunder
Apfel,…, so richtig
marktappetitlich107
inzwischen silbrig,
dicht
wie ein Junge, in
dessen …
mitgespielt hätte
kann sogar
schelmisch lächeln,
und Grübchen hat er
auch108
Es ist …, wie viele
Stimmen er bringt
(sicher ist): bringt
genug
,und laut Analyse
… abgelegt hat
Hier könnte man noch einmal ein neues Rhema ab dem Epitheton „marktappetitlich“ setzen. Das Adjektiv
bildet jedoch eine Isotopie mit der Vitalitätsmetapher des „gesunden Apfels“, sodass hier eine weitere
Rhemaunterteilung nicht unbedingt von Nöten ist.
108
Genau wie für Satz (6) wird auch hier keine unnötig komplexe Rhema-Abfolge vorgenommen, die Isotopie
„Schelm – Grübchen“ liegt wiederum auf der Hand.
42
Vorbemerkung
Die Anzahl der für Böll transkribierten Sätze entspricht fast genau der Hälfte derer,
welche für Walser als Grundlage der Untersuchung dienen. Um mehr oder weniger die
gleiche Anzahl an Wörtern für beide Autoren zu analysieren, habe ich nach Satz Nr. 9 einen
fiktiven Schlussstrich unter diesen „Text“ gezogen. Jene Sätze, die durch einen Doppelpunkt
voneinander getrennt sind, habe ich im Raster jeweils separat angeführt, um die ThemaRhema-Folge besser durchscheinen zu lassen109. Welche Rückschlüsse die großen
Divergenzen hinsichtlich der Satzlänge für die Thema-Rhema-Folge und damit für die
sprachlichen Besonderheiten Bölls zulassen, soll aus nachfolgenden Überlegungen
hervorgehen.
Auswertung und Begründung der Thema-Rhema-Folge zu Text 2
Der Einleitungssatz dieses Monologausschnitts weist ein erstes Thema auf, an das sich
innerhalb desselben Satzes gleich vier unterschiedliche Rhemata anschließen. Dies deutet auf
ein in hohem Maße affektiv gesteuertes Sprechen hin. Auf Satz Nr. 2 trifft dasselbe zu. Hier
wird die Rhemaprogression durch pejorative Charakterzuweisungen vorangetrieben; die
besprochene Plukanski-Figur erscheint in einem schlechten Licht. Die für Satz Nr. 3
vorgenommene Aufteilung in zwei separate Themata („ihn / Plukanski“ u. „seine Haut“) ist
m. E. insofern angebracht, als sich damit deutlicher auf das pars pro toto „seine Haut“
hinweisen lässt. Das Telegene von Plukanskis Haut steht sinnbildlich für dessen anbiederndes
und populistisches Auftreten. Satz Nr. 4 liefert ein neues Thema in Form der als Komparsin
fungierenden Maskenbildnerin. Der Erzähler hat sie offenbar nur deswegen erwähnt, weil sich
damit auf die noch zu besprechende Isotopieebene der „Maske“ verweisen lässt. Die Sätze Nr.
5 und 6 beziehen sich thematisch gesehen wiederum auf Plukanski, die Konzepte „Maske“
und „Vitalität“ fungieren als Rhemata. Wie in Satz Nr. 3 steht auch hier eine Synekdoche
(„das blonde Haar“) für eine weitere Thema-Unterteilung. Die letzten vier Sätze bringen keine
thematische Linearität, sondern verharren bei der Plukanski-Figur.
109
Zur Leistung des Doppelpunkts vgl. etwa „Duden. Die Grammatik. Duden Bd. 4. 20057, S. 1074. Hier wird
die „enge sinngemäße Verbindung zwischen einzelnen Sätzen oder Satzteilen“ angeführt. Diese Verbindung
entspricht „inhaltlich z. B. einer Schlussfolgerung“. Trotz dieser inhaltlichen Vernetzung liefern die „Sätze“ 4
und 5 verschiedene Themata, sodass die Aufteilung in zwei verschiedene „Sätze“ Sinn macht. Der Doppelpunkt
kündigt hier eine direkte Rede an. Für die Sätze 8 und 9 ist die Aufteilung zwar nicht so ergiebig, trotzdem
wurde sie der Homogenität halber vorgenommen. Ein verfälschendes Ergebnis bleibt gegenüber der alternativen
Vorgehensweise, jeweils nur einen Satz anzuführen, aus.
43
Kohäsion und Isotopien
Bezüglich der Textkohäsion steht der bei Walser dargelegten Vielfalt eine nahezu
ausnahmslose Verknüpfung mittels Pro-Formen gegenüber (Satz 2 = „ihn“, Satz 3 = „ihn“,
Satz 5 „den“, Satz 6 = „er“, Satz 7 = „er“; Satz 8 = „er“, Satz 9 = „er“). Ausschließlich der
Pronominalgebrauch realisiert diese Verbindungen, wobei das Personalpronomen sechsmal,
das Demonstrativpronomen (in Satz 5) einmal anzutreffen ist. Lediglich der vierte Satz stellt
zu diesem materiellen Vernetzungsmuster eine Abweichung dar, insofern hier eine
gebrauchsgebundene Präsupposition110 (in Satz 3) den Anschluss und damit die Kohärenz
ermöglicht. Diese Präsupposition wird durch die Erwähnung von Plukanskis geschminkter
Haut geschaffen. Der Leser zapft intuitiv sein Weltwissen an, um dieses Signal für eine
semantische Verbindung zur in Satz 4 evozierten Maskenbildnerin zu verwerten.
Mit Blick auf die Isotopiekonzepte lässt sich festhalten, dass die „Wut“ einen ersten
semantischen Komplex einleitet. Das Verb „übermannen“, die Wortgruppe „die Herrschaft
über das Lenkrad verlieren“, ferner das Verb „erwürgen“ und schließlich die Bezeichnung
„dieses Nichts“ bilden eine Isotopie. Anhand der Merkmalsemantik könnte man mittels
Klassifikationen diese gemeinsamen und nur leicht voneinander abweichenden Bedeutungen
aufzeigen. Ab Satz Nr. 3 tritt eine zweite Ebene hervor. Es handelt sich um die Vitalität
Plukanskis, die durch den Begriff „Apfelwange“ sowie durch den Gebrauch von Wortgruppen
wie „telegene Haut“, „der ist immer geschminkt“ und „er sieht immer aus wie ein gesunder
Apfel“ sinnfällig wird. Das Epitheton „marktsappetitlich“, die Bezeichnung „dichtes Haar“,
die Wortgruppe „wie ein Junge“, das Adjektivadverb „schelmisch“ und schlussendlich die
„Grübchen“ ergänzen den spitzbübisch-jungenhaft-vitalistischen Eindruck, den Plukanski auf
seine Mitmenschen macht. Die dritte und letzte Isotopie steht zu einem bestimmten Baustein
der vorangegangenen Ebene interessanterweise in enger Beziehung. Bei dieser dritten Ebene
handelt es sich um die vom Wahlvolk fälschlich konstruierte adlige Abstammung Plukanskis,
die er aus Gründen der Demut und des Respekts vor dem demokratischen Neuanfang der
BRD nach 1945 abgelegt haben soll. Übrigens könnte man diese Ebene in den folgenden, hier
nicht transkribierten Sätzen weiter verfolgen. Diese Projektionen verweisen auf das Bild der
„Maske“, welches im Isotopiekonzept 2 in Form der Maskenbildnerin und der telegenen Haut
vorkommt. Die Doppelbödigkeit der Maskenmetapher tritt hier deutlich hervor. Plukanski hat
110
Studienbuch Linguistik, S. 231
44
einerseits die Gabe einer telegenen Erscheinung, andererseits trägt er eine Maske, hinter der
sich die Totalität bigotten Lebenswandels verbirgt. Um das naive Wahlvolk hinters Licht zu
führen, gaukelt Plukanski eine spitzbübische Naivität vor. Zudem wehrt er sich keineswegs
gegen die landläufige Meinung, er habe sein „von“ aus „demokratischer Bescheidenheit
abgelegt“.
Vergleich der Ergebnisse und Rückschlüsse für die übergeordnete Fragestellung
Walsers Schreibweise erscheint im Lichte dieser Betrachtungen wesentlich
vielfältiger. Dazu bedarf es nur eines Vergleichs der Kohäsionsmittel111. Dieser sprachliche
Reichtum ist gepaart mit einer pointierten Beobachtungsgabe. Walser begibt sich auf eine
filigrane Spurensuche, bei der die Psychologisierung im Vordergrund steht. Hinter der
bröckelnden Fassade steht ein „Lord“, der sich unter die Fuchtel seiner Frau begibt, nach
außen hin jedoch die Werte männlicher Ellenbogengesellschaft vertritt. Diese Annahme kann
dank der „Isotopieklammer“112 konkret „nachgewiesen“ werden. Walser hält offenbar die
Fäden der Sprachtextur fest in Händen. Die Referenzbezüge ufern innerhalb eines Satzes nicht
aus, wie dies etwa auf Bölls Eingangssatz zutrifft. Hier stehen einem Thema gleich vier
Rhemata entgegen, allesamt beziehen sie sich auf ein Isotopiekonzept der Wut und der
Übermannung des Sprechenden durch Letztere. Genauso gut könnte man in übertragener
Bedeutung behaupten, dass Böll im Schreibeifer übermannt wird. Tatsächlich legt er seiner
Figur in den ersten beiden Sätzen eine „Rhemafuge“ in den Mund. Letztere unterstützt Bölls
Intention und kann somit als gelungener Kunstgriff gewertet werden.
Bezüglich der inhaltlichen Schnittmengen kann vornehmlich auf die Isotopien
verwiesen werden. Auffallend ist die Betonung des äußeren Erscheinungsbildes in beiden
Textpassagen. Bei Walser wird dem Leser eine als „Lord“ bezeichnete männliche Figur vor
Augen geführt, deren Widersprüchlichkeit u. a. am Motiv des petroleumfarbenen Anzuges
festgemacht wird. Einerseits „stellt [der Anzug] den männlichen Körper nicht als erotisches
Objekt in den Vordergrund, sondern betont seine Funktionalität.“113 Diese klassische
Signalwirkung von Männerkleidung im Kontext politischer und „marktappetitlicher“114
Koordinaten wird jedoch aufgrund der darauffolgenden Isotopieebene in Frage gestellt. Denn
111
Vgl. vorliegende Arbeit, Kohäsion zu Text 1, M. Walser
Vgl. vorliegende Arbeit, Isotopien zu Text 1, M. Walser
113
Vinken, Barbara: Marie Antoinettes Ibiza-Hip. In : Cicero. 8/2010, S. 119
114
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 115
112
45
es ist gerade die Ehefrau, welche die rigide Funktionalität des Männerkostüms zur bloßen
Schablone austrocknen lässt. Der Widerspruch sowie die damit verbundene Verunklarung
sind zudem weitere Vorzüge des Walser-Textes. Dieser nuancierten Figurenzeichnung steht
die einfache thematische Linearität in Bölls Textpassage gegenüber. Die oben evozierte
simple Kohäsion mit Pro-Formen könnte auf literarischen Formwillen hinweisen; die
Redundanz als poetische Lizenz hat bekanntlich eine große Wirkungskraft. Diesen Effekt hier
nachweisen oder widerlegen zu wollen, würde abermals die Grenzen dieses Abschnitts
überschreiten. Gleichwohl erhärtet sich der Eindruck, dass eine simplere Gestaltung auf
Kohäsionsebene mit ebenso einfach-naiven Isotopiekonzepten Hand in Hand geht. Die erste
Isotopieebene („Wut“) mündet in diejenige des vitalen Plukanski. Aufschlussreich für das
Thema des „abgründigen Biedermeier“ ist diese Metapher der Vitalität jedoch allemal. Sie
rückt die körperliche Gesundheit des im politischen Bonn erfolgreichen Mannes in den
Vordergrund. Somatismen wie „Haut“ und „Haar“ stehen sinnbildlich für die Assoziation von
Erfolg und Vitalität im Zeitalter der Massenmedien und des Jugendwahns. Die
Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit der Liszt-Figur, welche bei Walser subtil zu Tage
tritt, weicht hier aber dem schier monolithischen Plukanski. Nur seine adlige Abstammung,
die als Gerücht kursiert und die er so im Raum stehen lässt, wirft einen leicht relativierenden
Blick hinter die Fassade eines Politprofis. Ansonsten wirkt diese Figur etwas trivial, dem
Muster „Gut vs. Böse“115 gehorchend.116
115
Zur differenzierenden Diskussion vgl. Lehnick, S. 142, wo der Autor auf eine diesbezügliche Kritik seitens
Marcel-Reich Ranickis referiert und Letztere mittels eines Interviews Heinrich Bölls entkräften will. Die
„trinitarische Möglichkeit des Menschen“ ist Böll zufolge sein eigener Glaube, die oftmals geübte Kritik, sein
Werk sei zu dualistisch angelegt, weist er hiermit zurück.
116
Hier sei wiederum auf Lehnicks Studie hingewiesen. Sie analysiert und würdigt die narrativen Strukturen des
Erzählwerks am Beispiel von vier Romanen, also aufgrund eines erheblichen „Datenumfangs“. Lehnick kommt
zur Schlussfolgerung, „dass die Erzähltexte Heinrich Bölls nur unter Beachtung des engen
Funktionszusammenhangs von formalen und inhaltlichen Aspekten adäquat beurteilt werden können. Für die
untersuchten Texte wurde [Lehnick zufolge] gezeigt, dass der jeweilige Sinngehalt eine konsequente und
funktionale narrative Umsetzung erfährt. Neben der durchweg effektiven Gestaltung des Narratorprofils tragen
dazu beispielsweise die entsprechende Handhabung von Motivketten, die unterschiedliche ZeitRaumbehandlung und der differenzierende Einsatz ironischer Möglichkeiten bei.“
46
III. Analysekategorien
III.1. Theoretische Fluchtlinien
Vorbemerkung
Die folgenden Abschnitte III.1. bis III.9. bilden den Hauptteil vorliegender Arbeit.
Beginnen wird die Einzelanalyse mit einer Übersicht zu den theoretischen Fluchtlinien. Dabei
werden die Schriften Horkheimers, Adornos und Canettis nicht einzeln vorgestellt und
besprochen, sondern sofort auf die beiden Romane appliziert. Die drei nun folgenden
Abschnitte stellen mithin die übergreifende Fragestellung dieser Arbeit auf eine theoretische
Grundlage, von der aus Bölls und Walsers Romane aus soziologisch-philosophischer Sicht
ausgeleuchtet werden sollen. Befragt und aufgezeigt werden vornehmlich die neuralgischen
Punkte einer Gesellschaft, deren Ansprüche auf Freiheit des Einzelnen und auf eine offene
Gesellschaft im Lichte der Analyse als irreführend erscheinen (Adorno). Ferner wird der
Grundgedanke von der „Dialektik der Aufklärung“ als Lesart für die beiden zur Debatte
stehenden Romane erprobt. Dabei tritt eine oftmals nur vordergründig zivilisierte Gesellschaft
zutage, deren Schattenseiten die wirkungsmächtigeren sind (Horkheimer / Adorno).
Schließlich sollen Canettis Überlegungen über die Masse und deren Verhältnis zur Macht
einige sinnstiftende Beiträge zur Beantwortung der Frage liefern, inwiefern Böll und Walser
in ihren Romanen den Einzelnen in seinem Verhältnis zur Masse und deren Fängen zeigen.
Selbstredend stehen diese Überlegungen in einem vielschichtigen Verhältnis zu allen anderen
Schwerpunkten vorliegender Arbeit, sodass sich diese und jene gegenseitig erhellen sollen.
III.1.1. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung117
Horkheimer und Adorno gehen in ihrer Schrift „Dialektik der Aufklärung“ der
Leitfrage nach, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand
einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.“118 Die beiden Autoren begeben sich bei
dieser Spurensuche auf einen Pfad dialektischer Entwicklungen. Die seit dem 18. Jahrhundert
von den Verfechtern der europäischen Aufklärung und des Wissenschaftszeitalters vertretene
Überzeugung, technische Erfindungen und andere, primär aufklärende Errungenschaften
brächten die Menschheit in Bezirke, die gegen Barbarei bzw. atavistische Symptome gefeit
117
Horkheimer, Max / Theodor W. Adorno : Dialektik der Aufklärung. Fischer. Fr. a. Main 200817. Im
Folgenden wird dieses Werk zitiert als: „Horkheimer, Adorno“
118
Horkheimer, Adorno, S. 1
47
sind, wird als Illusion enttarnt und widerlegt. In ihrer Vorrede kommen die Autoren auf die
Nivellierung der Menschen im Namen des Äquivalents zu sprechen. „Die bürgerliche
Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem
sie es auf abstrakte Größen reduziert. Der Aufklärung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt
in der Eins, nicht aufgeht“119. In Heinrich Bölls Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ wird
diese Behauptung anhand des Ausschaltens unbequemer Politikergattinnen sinnfällig. Wie
noch im Kapitel zum „Hotel Irrenanstalt“120 näher gezeigt werden soll, erleidet u. a. Elisabeth
Blaukrämer ein solches Schicksal. Sie wird als unabwägbare Unbekannte in der auf reine
Quantifizierung angelegten politischen Gleichung angesehen. Blaukrämer wird kurzerhand
weggesperrt. Das Bonner Biedermeier hat eine eigens für solche Fälle vorgesehene Anstalt,
das „Kuhlbollen“121, die zynischerweise als „Hotel“ bezeichnet wird. Das von Horkheimer
und Adorno erwähnte „Äquivalent“ bringt das an mathematisches Kalkül grenzende Gebaren
der Bonner Machtmenschen auf den Punkt. Elisabeth Blaukrämer ist nicht mehr mit
irgendeiner Zahl in Einklang zu bringen. Mit dem Begriff „Zahl“ ist hier keine mathematische
Größe
gemeint,
sondern
ein
bestimmter
Wert
innerhalb
eines
machtpolitischen
Koordinatensystems, in dem gefährliche „Elemente“ erfasst und ausgeschaltet werden.
Blaukrämers „Ehe mit Dr. Blaukrämer beruhte also auf einer Lüge?“122 Diese nahezu
rhetorische Frage der Ärztin Dr. Dumpler beantwortet die Befragte mit: „Ja, natürlich. Kalt.
Auch seinerseits, […] er wußte auch, daß ich nicht vergewaltigt worden war. Vergewaltigt hat
er (sic) mich dann. Und er hat alles, alles benutzt, um auch eine kirchliche Scheidung zu
bekommen.“123 Hieran lässt sich ablesen, inwieweit sowohl die Eheschließung als auch das
Ende dieser Verbindung vom Kalkül des Machtbesessenen gesteuert wird. Bei Martin Walser
ist es das Berufsverhältnis zwischen Franz Horn und dem Bayer-Gesandten Dr. Preissker,
welches die von Horkheimer und Adorno angeführte These veranschaulicht. Dieser Preissker
habe in einem Gespräch mit Horn – so Letzterer in einem seiner Briefe – behauptet,
„Arbeitsvoraussetzung sei die tägliche Abtötung.“124 Dr. Preissker fühlt sich in Thieles Firma
sichtlich wohl. Um bei diesem gut angesehenen Firmenmitarbeiter nicht in Ungnade zu fallen,
„benehme [Horn sich] jedes Mal so, daß genau dieses Ergebnis erzielt werden muß.“125 Die
mathematische Gleichung regiert auch hier die zwischenmenschlichen Beziehungen. Obgleich
119
Dies., S. 13
Vgl. hierzu den Abschnitt III.9.1. vorliegender Arbeit
121
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 137ff.
122
Ders., S. 141
123
Ders., S. 141f.
124
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 112
125
Ders., S. 113
120
48
Franz Horn, im Gegensatz zu Elisabeth Blaukrämer, keine Gewalt zugefügt wird und er
freiwillig in diese Rolle schlüpft, indiziert sein unbedingtes Gefallenwollen die verabsolutierte
Ergebnisorientiertheit innerhalb der Firma. Bereits Walsers Wortwahl, welche die gewünschte
Folge des Handelns als „Ergebnis“ bezeichnet, erinnert an das „Äquivalent“ bei Horkheimer
und Adorno. Dass Walser auch hier ein kritisches Licht auf und hinter die BiedermeierFassade der süddeutschen Provinz wirft, liegt auf der Hand.
Ähnlich wie Böll schildert Walser den Ausschluss solcher Figuren, die für ihr Umfeld,
in diesem Fall für die Firma und deren Inhaber Thiele, gefährlich werden. Franz Horn weist
Liszt darauf hin, dass dieser „so wenig für Markdorf [also für eine Beförderung] in Frage
komme wie [Horn]“126. Thiele hatte sich sieben Jahre zuvor ein Haarteil zugelegt, um seinen
vermehrten Haarausfall auszugleichen. Horn zufolge ist „das eigentliche Motiv für den
Halbverkauf an Bayer [Thieles] Bedürfnis, auch noch die letzten Zeugen loszuwerden.“127
Horns Argumentation mag albern klingen, doch die Stichhaltigkeit seiner Ausführungen
scheint gewährleistet, weil er die Funktionsweise und Leistung der Vernunft hinterfragt: „Der
helle Wahn, werden Sie [d. h. Liszt] sagen. Vielleicht werde ich das, wenn es wieder Tag ist,
selber sagen. Aber das ist es doch, daß Tageslicht, Vernunft usw. im Dienst sind. Gekauft,
bestochen. Allein der Wahn ist unbestechlich.“128 Interessanterweise hat Walser die
festgefahrene Formel „heller Wahn“ hier gebraucht, um auf die aus Horns Sicht epistemische
Leistung desselben hinzuweisen. Der Wahn hellt mithin auf, die Vernunftkräfte jedoch sind
gekauft. Um bei der Personifikation zu bleiben: Sie will, ähnlich wie Liszt, nicht wahrhaben,
dass ein Firmenchef den teilweisen Verkauf seiner Firma aufgrund der Ausschaltung von
„Mitwissern“ um sein Haarteil beschließt. Es handelt sich hier um eine „Entdeckung des
Kapitalisten [d. i. Thieles] als eines Gegentyps, der das Verhalten des von ihm Abhängigen
gerade dadurch beeinflusst, daß er Erfolg als Charaktereigenschaft überzeugend vorzuführen
versteht. Der Arbeitnehmer wird auf eine von Walser anfänglich kaum geahnte Weise vom
Glauben an das atavistische Selektionsprinzip der Wettbewerbsgesellschaft beherrscht.“129
126
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 115
Ders., S. 117
128
Walser, Martin: Ein fliehendes Pferd, S. 117
129
Scholz, Joachim J.: Der Kapitalist als Gegentyp. Stadien der Wirtschaftswunderkritik in Walsers Romanen.
In: Martin Walser. International Perspectives. edited by. J. E. Schlunk u. A. E. Singer. American University
Studies. Series I: Germanic Languages and Literature Vol. 64. Peter Lang Publishing. New York, Bern u.a.
1987, S. 79
127
49
Am Schluss dieses Briefes steht die Verunklarung; der Leser muss selbst entscheiden,
ob er Horn als paranoiden, profilneurotischen Misanthropen oder als kritischen und
scharfsinnigen Deuter sieht. Die Ausgangsthese vom Äquivalent jedoch wird untermauert.
Die Dialektik der Vernunft ereignet sich bei Walser an einer unscheinbaren Stelle. Der
Begriff „im Dienst stehen“ kann nicht zufällig gewählt worden sein. Die Vernunft wird
funktionalisiert. Sie lässt sich offenbar vom Blendwerk des Firmenchefs in die Irre führen.
Gerade das als unlogisch und frei erfunden geltende Erklärungsmuster für Thieles Handlung
ist im Lichte der Dialektik der Vernunft das zutreffende. Hier offenbart sich die „in Furcht vor
der Wahrheit erstarrende Aufklärung“130. Ergebnis dieser Faktenlage ist die bei Böll und
Walser aufgezeigte „Zerstörung von […] Qualitäten“131 im Namen bzw. „im Dienste“ der
Quantifizierung. Der Einzelne wird mitsamt den ihn als Menschen konstituierenden
unverwechselbaren Merkmalen von einem Sturm erfasst, der alles nivelliert, was sich nicht in
die Vorhersehbarkeit machtpolitischer (Böll) bzw. ökonomischer (Walser) Prognosen und
Tabellen einordnen lässt.
130
131
Horkheimer, Adorno, S. 4
Dies., S. 14
50
III.1.2. Theodor W. Adorno: Minima Moralia132
In dem Essayband „Minima Moralia“, der wie die „Dialektik der Aufklärung“ eine
Sammlung von Schriften zu mancherlei gesellschaftlichen Themenbereichen darstellt, sieht
Adorno in dem auf ständigen Konsum und endloses Wirtschaftswachstum ausgerichteten
System das Gegenteil einer emanzipierten Gemeinschaft. Zuvörderst liefert Adorno die
Standardantwort „[a]uf die Frage nach dem Ziel einer emanzipierten Gesellschaft [, auf die
man] Antworten wie die Erfüllung der menschlichen Möglichkeiten oder den Reichtum des
Lebens“133 erhalte. In dieser Antwort liege etwas „Abstoßende[s]“, da diese Haltung ein
Kollektiv als Bedingung habe, welches die „Produktion als Selbstzweck“134 verstehe. Dabei
werde ferner das Konzept der „Dynamik“ zu einem unantastbaren Gesetz verabsolutiert.
Dieses Szenario „vom fessellosen Tun, dem ununterbrochenen Zeugen, der pausbäckigen
Unersättlichkeit, der Freiheit als Hochbetrieb“ reflektiere eine die gesellschaftliche Gewalt
zementierende Welt.
Vor dem Hintergrund dieser Betrachtungen gerät Martin Walsers Roman „Brief an
Lord Liszt“ gewissermaßen zu einem Exerzierplatz für den von Adorno monierten
entfesselten Wachstums- und Expansionsdrang. Thiele, Oberchef der Firmen Chemnitzer
Zähne und Fin Star, ist selbst nur Marionette dieses Systems der Gewaltausübung qua
Produktionswut. Von Horn und Liszt unterscheidet ihn jedoch die Tatsache, dass er als
hierarchisch Höhergestellter die „Gewalt“ – verstanden im psychologischen Sinne als
Erniedrigung und Ausgrenzung – unwillkürlich an seine Untergebenen weiterleitet. Diese
Gewalt entspringt der entfesselten Produktion insofern, als Letztere das oberste Gebot, das
„Naturgesetz“ darstellt, nach dem sich alle zwischenmenschlichen Beziehungen ausrichten
und abspielen. Horn und Liszt haben diese Entfesselung als junge aufsteigende Mitarbeiter
selbst gutgeheißen, nun werden sie von dieser Gerölllawine an den Rand des Geschehens
gedrängt. Wie Findlinge fristen sie ihr Dasein im Schatten der Entfesselung, seitdem sie in
Thieles Gunst an Kredit eingebüßt haben. Horns Nachfolger war Liszt, nun muss Letzterer
einem jüngeren Finnen namens Rudolf Ryynänen seinen Platz räumen. Dabei tritt die
Maximierung als oberster Gebieter hervor, Thiele ist lediglich deren personifizierte
Exekutive.
132
Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp. Fr. a. Main
2003
133
Ders., S. 177f.
134
Ders., S. 178
51
Franz Horns Sätze seiner Gesellschaftsphysik werden durch die Aussage „[d]ie
Maximierung ist das Sittengesetz der Wirtschaft. Und der wirkliche Diktator“135 untermauert.
Gewiss kommt diese Feststellung keiner originellen Theoriebildung gleich. Dieser
landläufigen Art der Kapitalismuskritik begegnet man seit Jahrzehnten in nahezu allen
halbwegs seriösen Fernsehsendungen und journalistischen Beiträgen. Es wäre jedoch ein
grober Fehlgriff, würde man die Belletristik, in diesem Fall Walsers Prosa, als Übungsplatz
für das Aufspüren stichhaltiger ökonomischer Theoriebildung betrachten. Nicht erst am
zitierten Passus wird die von Adorno offengelegte Schattenseite des Systems sinnfällig,
sondern ebenfalls an dem, was ihm vorausgeht und an dem, was auf ihn folgt. Walsers
Hauptfigur zeigt durch ihren einfühlsamen, stets am Menschen interessierten Duktus, dass
Liszt und Horn in einer Spirale der gegenseitigen Vernichtung begriffen sind. Franz Horn
geht es um nicht mehr und nicht weniger als um den gemeinsamen Austritt aus dieser
entfesselten Koordinatenwelt. Die Produktion als Selbstzweck ist in Walsers Roman zwar
nicht das eigentliche Hauptthema. Anders als etwa Urs Widmers tragikomisches Lehrstück
„Top Dogs“136 verlegt Walser die Handlung keineswegs in die Büroräume, Konferenzzimmer
bzw. in die Therapiepraxen der Top-Manager. Im Vordergrund steht vielmehr das Ausloten
von Fluchtmöglichkeiten aus den Fängen der Marktwirtschaft und des Leistungsgedankens.
Adornos Thesen bilden mithin den Urgrund, welcher Franz Horn und Lord Liszt als
„Verstoßene“, als nunmehr unbrauchbare Teilnehmer des Systems näherbringt. Genau um das
Schaffen einer solchen Nähe, um den Aufbau eines Refugiums ist Franz Horn in all seinen
Briefen bemüht. Diesem Prozess muss jedoch unweigerlich die Offenlegung der Lisztschen
Fehltritte, Schwächen und blinden Flecken durch den Briefschreiber und Autotherapeuten
Franz Horn vorausgehen. An anderer Stelle bringt Horn seine Bedenken angesichts
entfesselter Produktionsschübe noch einmal auf den Punkt: „Ich beschwor ihn [d. i. Thiele],
langsamer zu produzieren. Ich malte ihm abendelang aus, was passiere, wenn jeder immer
noch mehr produzieren wolle als alle anderen! Thiele sagt: Man muß einen Tag länger
produzieren können als die Konkurrenz, dann hat man es geschafft. Weniger als die
Weltherrschaft darf da also keiner anstreben. Ich sah nur Katastrophen voraus. Die
Ressourcen vergeudet, die Erde wieder wüst, aber voll, statt leer! Produktion als Vernichtung
der Schöpfung!“137 Diese Zeilen könnten nachgerade aus einer Besprechung des hier zitierten
135
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 92
Widmer, Urs: Top Dogs. Verlag der Autoren. Fr. a. Main 200713
137
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 105
136
52
Adorno-Essais stammen, so nahe bewegen sie sich an den Thesen des Sozialphilosophen. Die
Intertextualität wird hier sinnfällig.
In demselben Essay kommt Adorno auf die Menschen zu sprechen, die Ausfluss des
eben beschriebenen, entfesselten Produzierens sind: „Wenn hemmungslose Leute keineswegs
die angenehmsten und nicht einmal die freiesten sind, so könnte wohl die Gesellschaft, deren
Fessel gefallen ist, darauf sich besinnen, daß auch die Produktivkräfte nicht das letzte Substrat
des Menschen, sondern dessen auf die Warenproduktion historisch zugeschnittene Gestalt
abgeben.138 Unverkennbar ist in diesen Zeilen der marxistisch geprägte Theorieunterbau. Die
Frankfurter Schule mit ihrer kritischen Theorie untersuchte gesellschaftliche Missstände mit
der Intention, diese Gesellschaft zu verändern. Adornos Schlusssätze sind einer Utopie
verpflichtet: „[A]uf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen […] könnte an
Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten“139. An dieser Stelle ist Adorno gewiss keiner
arkadisch verbrämten Idylle verfallen. Auch die Abschaffung jeglicher ökonomischer
Tätigkeit schwebte dem Mitbegründer der Frankfurter Schule sicherlich nicht vor. Vielmehr
hat er diese zugespitzte, zum Nachdenken herausfordernde Formulierung m. E. als Aufruf zur
Mäßigung verstanden, zur Bewusstwerdung des Menschen, wohin Entfesselung führen und
wie sie eingedämmt werden kann. Das symbolische „Auf-dem-Wasser-Liegen“ suggeriert
einen Abschied vom immerwährenden Produzieren. Adorno reklamiert demnach Ähnliches
wie Franz Horn, nämlich die durch Bewusstmachung gesellschaftlicher Missstände
ermöglichte Emanzipierung vom Schreckgespenst der „blinden Wut des Machens.“140 Es
wäre jedoch unangebracht, diese Forderung mit einer spätromantischen Taugenichts-Utopie141
Eichendorff’scher Prägung gleichzusetzen, da man Adorno in keiner Hinsicht den Vorwurf
des Eskapismus machen kann.
Für Bölls Roman legt dieser Ansatz ebenfalls einige Sinnebenen frei. Die Welt der
freien Marktwirtschaft, wo sich Bayer et alii um den größten Marktanteil streiten, wird bei
Böll durch eine Szenerie der politischen Machtrangeleien ersetzt. Das soeben aufgezeigte
Wirkungsprinzip ist dabei prinzipiell das gleiche. „Expansion“ und „entfesseltes Tun“ sind
auch hier Schlagwörter, die eine Lesart für die Handlungsweisen der meisten Figuren
bereitstellen. Paul Chundt, dessen Name unweigerlich den umgangssprachlichen Begriff
138
Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, S. 178f.
Ders., S. 179
140
Ders., S. 178
141
Eichendorff, Joseph von: Aus dem Leben eines Taugenichts. Fischer. Fr. a. Main 2008
139
53
„Schund“ abruft, gibt gegen Ende des Romans zu: „Ja, ich wollte beides, Geld und Macht“142.
Der zuvor von Hermann Wubler als Mann mit „animalische[r] Energie“143 beschriebene
Chundt bewegt sich in genau jenem Fahrwasser, das Adorno als „blinde Wut des Tuns“
beschrieben hat. Sogar „nach Elisabeth Blaukrämers Tod, nach Plukanskis elendem
Verrecken“144, als zumindest nach außen die Fassade gewahrt werden musste, hat Chundt es
sich nicht nehmen lassen, die Nachricht über die dreißigprozentige Wertsteigerung seiner
„Heaven-Hint-Aktien […] mit Grinsen [zu] quittier[en]“145.
Ferner wird in der Figur Chundts ein weiterer Ableger des Adornoschen Prinzips
sichtbar. Paul Chundt wird von Hermann Wubler darauf hingewiesen, Blaukrämer, „der alte
Nazi“146, sei Minister von Chundts Gnaden: „Immerhin hast du [d. i. Chundt] dafür gesorgt,
dass Blaukrämer Minister wird. Er regiert, du beherrschst ihn – dein altes Prinzip.“147 Mit
Blick auf die Bedeutungsnuance zwischen den Verben „herrschen“ und „regieren“ ist Bölls
Wortwahl sehr trennscharf. Das Verb „herrschen“ beinhaltet in seinem semantischen Kern „i.
Ggs. sic zu […] regieren [keine] Angabe von Mittel und Zweck“148. Mithin indiziert diese
Bedeutungsunterscheidung genau jene Konstellation, die zwischen Chundt und Blaukrämer
anzutreffen ist. Während Blaukrämers Mittel und Zwecke in Form seiner Ministerwürde nach
außen sichtbar werden, ist Chundts Handeln weitaus rätselhafter und damit mächtiger, weil
hier keinerlei vordergründige Titel und Etiketten die Zielrichtung seines Tuns verraten.
Während also Blaukrämer „lediglich“ regiert, ist Chundt der Herrschende. Scheinbar losgelöst
von jedweder Rückbindung und Kontrolle, geht er seinen Verrichtungen nach: „Those who
govern are, like Blaukrämer, elevated to their positions as ministers by those like Chundt who,
according to Böll, hold the real power in the land.“149 Adornos These vom entfesselten Tun
wird hier auf den machtpolitischen Bereich übertragen. Das schier zum Prinzip gewordene
„seinen Willen haben [und] Unterjochen“150 gerät bei Böll zu einem probaten Deutungsmuster
im Bonner Machtgerangel.
142
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 195
Ders., S. 193
144
Ders., S. 196
145
Ders., S. 195f.
146
Ders., S. 195
147
Ders., S. 196
148
Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. Niemeyer.
Tübingen 200210, S. 469
149
Finlay, Frank: On the Rationality of Poetry. Heinrich Böll’s Aesthetic Thinking. Amsterdamer Publikationen
zur Sprache und Literatur. Hg. C. Minis u. A. Quak. Vol. 122. Editions Rodopi. Amsterdam - Atlanta, GA 1996,
S. 100
150
Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, S. 179
143
54
III.1.3. Elias Canetti: Masse und Macht151
In den vorangegangenen Abschnitten wurde u. a. beschrieben, inwieweit Bölls und
Walsers Figuren Opfer eines Systems werden, welches dem Primat des Äquivalents und des
entfesselten Schaffensprozesses verfallen ist. Hier nun erhalten diese Überlegungen eine
Erweiterung bzw. Ergänzung um die Bezüge zwischen der Masse, dem Einzelnen und der
Macht.
Canettis
Ausgangspunkt
sind
anthropologische
Grundkonstanten,
deren
Funktionsweise sowohl in primitiven als auch in modernen Gesellschaften über die
Jahrtausende stabil geblieben ist. Im Kapitel „Hetzmassen“ beschreibt Elias Canetti jene
menschlichen Gruppierungen, die er unter diesem Schlagwort subsumiert. Die anonym
bleibende Masse wächst stetig an, denn „[e]in wichtiger Grund für das rapide Anwachsen der
Hetzmasse ist die Gefahrlosigkeit des Unternehmens. Es ist gefahrlos, denn die Überlegenheit
auf seiten (sic) der Masse ist enorm. Das Opfer kann ihnen nichts anhaben. Es flieht oder es
ist gefesselt.“152 Zwar kommen in keinem der beiden Romane Massen im reinsten Sinne des
Wortes vor. Gleichwohl stehen das Wegsperren Elisabeth Blaukrämers (Böll) und Liszts
bevorstehende Ausklammerung seitens des Firmenchefs (Walser) für eine jener „Todesarten,
die von einer Horde oder von einem Volk gegen den einzelnen verhängt werden [, nämlich]
die des Ausstoßens.“153 Bei Walser ist die Horde gleichzusetzen mit der Belegschaft innerhalb
der Firma. Franz Horn ist die einzige Figur, welche es vorzieht, aus der Horde auszutreten
und Liszt über den unabwendbaren Ausstoß aufzuklären. Dass er dabei scheitern wird, ändert
überhaupt nichts an den Mechanismen der Horde und des Ausstoßes. Die Horde bzw. die
Masse sind bei Böll die Politiker, welche eisern zusammenhalten und Elisabeth Blaukrämer
aus machtpolitischem Kalkül ausschalten wollen: „Böll, dessen Hauptinteresse auf den Abbau
jeglicher Herrschaftssysteme ausgerichtet ist“154, verhandelt in seinem Roman „Frauen vor
Flusslandschaft“ die Auswüchse eines machtpolitischen Systems, das den Einzelnen
ausschließlich aufgrund seiner Verwertbarkeit für die Festigung und den Ausbau von
Machtstrukturen taxiert. Die konspirativen Machenschaften einer Politikerkaste, deren Bühne
die
Bonner
Republik
mitsamt
ihren
parlamentarischen
Ausschüssen
und
Interessenvertretungen ist, werden als Sündenfall der Herrschenden und der Mächtigen
gebrandmarkt.
151
Canetti, Elias: Masse und Macht. Fischer. Fr. a. Main 201031
Ders., S. 54
153
Ders., S. 55
154
Compton, Irene B.: Kritik des Kritikers: Bölls Ansichten eines Clowns und Kleists „Marionettentheater“.
Studies in Modern German Literature. Vol. 89. P. Lang. New York 1998, S. 51
152
55
Diese konspirativen Kreise, welche bei Böll in der Politik, bei Walser innerhalb der
Firma anzutreffen sind, werden von Canetti als „Massenkristalle“ bezeichnet. Darunter
versteht Canetti „kleine, rigide Gruppen von Menschen, fest abgegrenzt und von großer
Beständigkeit“155. Gleich zu Beginn von Walsers Roman tritt eine solche rigide kleine Gruppe
in Erscheinung. Nach der Ankündigung des Todes eines Hauptkonkurrenten, Benedikt Stierle,
zieht sich Thiele mit einigen Kollegen zurück. Zuvor wird die zur reinen Performanz erstarrte
Gedenkminute vom Firmenchef wie folgt protokolliert: „Ich stelle fest, daß Sie, die
Abteilungsleiter der Firmen Chemnitzer Zähne und Fin Star, sich zu Ehren Benedikt Stierles
erhoben haben, ich danke Ihnen.“156 Dann verrät der auktoriale Erzähler, dass „[d]ie Zeiten,
als Arthur Thiele nach einem solchen Ereignis unbedingt noch ein paar Sätze mit Franz Horn
wechseln mußte, […] vorbei [seien].“157 Der Massenkristall schöpft seine Beständigkeit nicht
aus einer einzelnen, unverwechselbaren Person. Vielmehr ist es der symbolische Wert für die
Firma, welcher darüber entscheidet, wer dazu gehört und wer nicht. Früher war Horn ein
vielversprechendes Element in Thieles Koordinatensystem. Er gehörte zum Kristall. Nun ist
er davon ausgeschlossen. Es sind nunmehr der bereits evozierte Dr. Preissker, der
emporstrebende Ryynänen und Liszt, die sich um den Firmenchef scharen. Zusammen bilden
sie eine Abschottung, sowohl räumlich als auch mit Blick auf die Entscheidungsbefugnisse.
Die „Angehörigen [des Massenkristalls] sind auf ihre Verrichtung oder Gesinnung
eingeübt.“158 Franz Horn hat diese Übung und damit seine Verrichtung offenbar eingebüßt.
Des Weiteren kommt Canetti auf den „Machthaber als Überlebende[n]“159 zu
sprechen. Um bei den angeführten Beispielen aus beiden Prosawerken zu verharren, muss
einschränkend gesagt werden, dass Canetti in diesem Kapitel primär von barbarischen,
orientalischen und römischen Herrschern spricht. Der Mächtige als ein Überlebender tritt
jedoch, wenn auch in abgeschwächter Form, ebenfalls bei Böll und Walser hervor. Die Patina
der Zivilisation hat die Umgangsformen verändert, die sie leitenden Prinzipien und Zwecke
aber bleiben nahezu unverändert. Elisabeth Blaukrämer und Liszt erscheinen gleichermaßen
als im übertragenen Sinne „Getötete“. Der Umkehrschluss dieser Tötung ist die privilegierte
Stellung des Machthabers. Bei Böll sind dies die Politiker um Chundt und Blaukrämer, bei
Walser der Firmeninhaber Thiele. Ihnen ist gemein, dass sie „freien Raum um sich schaffen,
155
Canetti, Elias: Masse und Macht, S. 84
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 9
157
Ebenda.
158
Canetti, Elias: Masse und Macht, S. 84
159
Ders., S. 273ff.
156
56
den [sie] übersehen [können]“160. Wenn vorhin die Rede vom Ausstoß war, so ist es nicht
mehr weit bis zur Hinrichtung, hier wiederum symbolice verstanden. Beide, Ausstoß und
Hinrichtung, die der Machthaber veranlasst, „verleih[en] ihm etwas an Kraft. Es ist die Kraft
des Überlebens (sic), die er sich so verschafft.“161
Schließlich sei auf die Macht erhaltende Leistung des Geheimnisses hingewiesen,
denn es „ist im innersten Kern der Macht.“162 In der Tat gehört „[z]ur Macht […] eine
ungleiche Verteilung des Durchschauens. Der Mächtige durchschaut, aber er läßt sich nicht
durchschauen. Am verschwiegensten muß (sic) er selber sein. Seine Gesinnung wie seine
Absichten darf keiner kennen.“163 Canetti untermauert diese die Machtverhältnisse
zementierende Funktion kryptischen Verhaltens anhand historisch markanter Beispiele. Er
nennt z. B. Filippo Maria, den letzten Visconti. Für die vorliegende Untersuchung aber lassen
sich ebenfalls relevante Belege für diese Verhaltensform des Mächtigen anführen. Bezüglich
Walsers Romans ist hierfür das Hierarchiegefüge innerhalb der Firma aussagekräftig. „Ab
Januar […]“, so Horn in einem seiner Schreiben an Liszt, „werden wir in einer Firma sein, in
der es vom Sachbearbeiter bis zum Vorstand 11 Stufen gibt.“164 Gemeint ist die
bevorstehende teilweise Übernahme durch Bayer. Interessant an diesem Zitat ist die
Einteilung des Konzerns in hermetisch voneinander abgetrennte Funktionsbereiche. Der
Rückschluss, dass die Machtverhältnisse sowohl innerhalb einer jeden Leiter als auch an der
Konzernspitze auf der „ungleichen Verteilung des Durchschauens“ gründen, ist durchaus
zulässig.
Das Geheimnis und seine enge Bindung an die Macht wird auch in Bölls Roman
sinnfällig: „Hauptsorgen der zwölf Männer sind die Verschwiegenheit und Loyalität der
Ehefrauen oder Freundinnen“165. Gegen Ende hält Paul Chundt seinem langjährigen
Weggefährten Hermann Wubler in Form einiger klarer Sentenzen über dessen Verstrickungen
einen Spiegel vor. U. a. heißt es dort: „Steckst eine Nadel an jeden eroberten Ort und weißt
nicht, ob irgendwo […] einer mit einem Messer im Bauch oder einer Kugel im Rücken
gefunden wird, weil du (sic) die Nadel auf die Karte gesteckt hast, Prozesse, Eifersucht,
Machtkämpfe, Gier in Bewegung gesetzt hast, die du nie gewollt hast, […] und die doch du
160
Canetti, Elias: Masse und Macht, S. 273f.
Ders., S. 274
162
Ders., S. 343
163
Ders., S. 346
164
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 92
165
Sowinski, Bernhard: Heinrich Böll. Metzler. Stuttgart u. Weimar 1993, S. 90
161
57
veranlaßt hast, durch Eröffnung eines Büros, durch Geld, von dem wir nie wissen, was damit
gemacht wird, ob Waffen dafür gekauft werden, ob’s in Bordellen verschwindet […] oder
ob’s zu dem Zweck verwendet wird, zu dem du es vorgesehen hattest, ad majorem Dei
gloriam oder auch nur Germaniae gloriam, oder ganz simpel versoffen wird?“166 Bei diesem
moralisch gefärbten Rundumschlag ist Chundt unverkennbar zum Sprachrohr des Autors
geworden. Seine geheimnisumwitterten Geschäftemachereien und nebulösen Verstrickungen
in das organisierte Verbrechen haben Wubler über die Jahrzehnte nichts anhaben können.
Grund hierfür ist das Geheimnis, welches seine Handlungen und deren Motive umgibt. Die
ungleiche Verteilung des Durchschauens, von der bei Canetti die Rede war und die bei Walser
zu Tage tritt, spielt hier zwar keine Rolle, da Wubler nicht einmal selbst jedes Mal weiß, in
welche Konflikte die von ihm veranlassten Geldflüsse münden. Gleichwohl stehen und fallen
seine Macht und sein Einfluss mit dem Geheimnis. Hier verhält sich der Mächtige „so, als
suche er seine Geheimnisse sogar vor sich selbst zu haben.“167 Daneben verweisen die
Verstrickungen der „representatives of big business”, die von Chundt und „Schwamm“
vertreten werden, auf das Verhältnis zwischen Macht und Geheimnis: „They derive their
power, not least, by being able to topple their servants in high office almost at will because
they are in possession of information concerning the latter’s shady dealings and activities
during the Theird Reich.“168
Nachdem nun die theoretischen Fluchtlinien geklärt und auf exemplarische Passagen
beider Romane appliziert worden sind, folgen Abschnitte, in denen die Werke jeweils mit
einer bestimmten Analysekategorie ausgeleuchtet werden.
166
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 197
Canetti, Elias: Masse und Macht, S. 347
168
Finlay, Frank: On the Rationality of Poetry. Heinrich Böll’s Aesthetic Thinking, S. 100
167
58
III.2. Komposition
III.2.1. Martin Walser: Rahmenmodell
Walsers Roman setzt medias in res ein. Die wenigen Worte „[a]m Freitag vor
Pfingsten, um drei Uhr nachmittags, rief Rosi Mutter die Abteilungsleiter noch einmal
zusammen. Das war noch nie passiert“169 liefern die hauptsächlichen Merkmale des
Handlungsschemas. Mit der Angabe von Jahres- und Uhrzeit, mit dem im süddeutschen Raum
beheimateten Frauennamen, ferner mit der Erwähnung der Abteilungsleiter und schließlich
mittels der Hervorhebung des Außergewöhnlichen gelingt es Walser, den Rahmen für den
Handlungsverlauf abzustecken. Auch die Neugierde des Lesers wird geweckt, ohne dass man
den Eindruck gewinnt, hier handele es sich um reißerische Kolportagemittel. Bis zum
Verfassen des ersten Briefs an Horst Liszt hat Walser die Schilderung von äußerer und innerer
Handlung
einer
auktorialen
Erzählinstanz
anvertraut.
Kurz
vor
Einsetzen
des
Schreibprozesses „s[teht Horn] auf und [öffnet] das Fenster vor seinem Schreibtisch.“170
Nachdem Franz Horn seine letzten Zeilen verfasst hat, „w[irft er] seinen Schreiber zum
Fenster hinaus.“171 Das Fenstermotiv kann mithin als Materialisierung jenes Rahmens
angesehen werden, den die Erzählpassagen der allwissenden Instanz vor und nach dem
Verfassen der Briefe darstellen. Dieser Rahmen bildet jedoch keine hermetische Trennung
beider Erzählperspektiven. Bereits nach dem ersten Brief nimmt der allwissende Erzähler den
epischen Faden wieder auf172. Ein zweites und letztes Mal geschieht dies nach dem ersten
Zusatz173. Alle weiteren post scripta stehen unmittelbar nacheinander, ohne dass eine wie
auch immer geartete Erzählinstanz eingreift. Im Mittelteil kann mithin von „einem
einstimmigen Briefroman – einer Folge von fiktiven Briefen einer einzelnen Person“174 die
Rede sein. Nach Abschluss des letzten post scriptum schließt sich dann, wie bereits angeführt,
der Rahmen. Bis zum Romanschluss ist es dann wieder der auktoriale Erzähler, welcher den
Leser durch die Handlung führt. Die erzählte Zeit erstreckt sich vom Freitagnachmittag vor
Pfingsten bis zum andern Morgen, als Franz Horn sein Haus verlässt, um nach Bodnegg zu
fahren und dort im Kreise der Kleinfamilie den „Namenstag seiner Mutter [,] das höchste
Familienfest des Jahres“175, zu begehen.
169
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 7
Ders., S. 27
171
Ders., S. 146
172
Vgl. hierzu v. a. den Abschnitt zur Rolle des Erzählers
173
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 60
174
Meid, Volker: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur, S. 81f.
175
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 12
170
59
Daneben verweist die Gesamtkomposition mit der schier überbordenden Anhäufung
von Anhängen – 19 an der Zahl – auf den unwillkürlichen Ablauf des Schreibprozesses und
die aus dem Schreiber nahezu hervorsprudelnde Schreibwut. Das Bild eines Eisbergs, dessen
Spitze der erste Brief bildet, dessen größerer Teil jedoch unter dem Meer verborgen bleibt,
böte sich als metaphorisches Erklärungsmuster an. Ferner soll hervorgehoben werden, wie
sehr die Auswirkungen des Schreibvorgangs auf die Hauptfigur an den mittelalterlichen
Schreiber176
und
dessen
körperliche
Arbeit
erinnern.
Dies
belegen
die
beiden
kommentierenden Passagen nach dem ersten Brief sowie nach dem ersten, mit „PS“
gekennzeichneten Zusatz.177 Alleine der Umfang des ersten Zusatzes übertrifft den
eigentlichen
Brief
um
ein
Vielfaches178.
Daran
wird
erkennbar,
inwiefern
die
Eisbergmetapher im eben dargelegten Sinn eine Analogie liefert. Das Unbewusste hat sich
über einige Zeit beim Schreiber angestaut und quillt nun, kaum dass der Schreibprozess
begonnen hat, unaufhaltsam aus Horns Feder. Dass er das Schreibinstrument nach dem letzten
Brief aus dem Fenster wirft, legt ebenfalls Zeugnis davon ab, wie sehr das Schreiben für Horn
eine körperliche und seelische Energieleistung war. Diese gewaltsame Trennung vom
Schreibstift indiziert Horns schmerzreiches Verhältnis zu den eben verfassten Inhalten. Das
Hinauswerfen des Schreibinstruments ist zudem ein autoreferentieller Fingerzeig des Autors,
der damit andeutet, dass auch „sein“ Brief jetzt endgültig abgerundet ist. Die Tatsache, dass
Horn den Brief nicht einmal abschickt, wird unter dem Abschnitt zur therapeutischen
Funktion des Schreibens näher besprochen, sie liefert mit Blick auf die Komposition keine
erhellenden Aufschlüsse.
176
Vgl. hierzu Jakobi-Mirwald, Christine: Das mittelalterliche Buch. Funktion und Ausstattung. Reclam.
Stuttgart 2004, S. 126: Hier wird der „mittelalterliche Schreibervers: tres digiti scribunt totumque corpus
laborat“ referiert, wobei auf die doppelbödige Bedeutung von „laborare“ – also „arbeiten“ und „leiden“ –
verwiesen wird.
177
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 34ff. u. S. 60f.
178
Der erste Zusatz setzt auf S. 36 ein und endet auf S. 60 der zitierten Ausgabe. Der eigentliche Brief hingegen
erstreckt sich lediglich über die S. 28 bis 34.
60
III.2.2. Heinrich Böll: Dramenähnlicher Aufbau
Bereits am Untertitel „Roman in Dialogen und Selbstgesprächen“ ist die
kompositorische Grundausrichtung des Werks ablesbar. Angesichts dieses an das Drama
erinnernden Aufbaus sowie der noch zu erörternden Dialog- bzw. Monologform stellt sich die
Frage, was Heinrich Böll hiermit bezwecken wollte. Marcel Reich-Ranicki spricht in seiner
Rezension gar von einem „in Wahrheit nicht mehr abgeschlossenen“179 Werk. Fest steht
jedoch, dass Böll den Roman „bereits 1984 abgeschlossen hatte, als er noch geistig voll
leistungsfähig war.“180 Dass Bölls letzter Roman nicht ausreichend gewürdigt wurde, scheint
kein Einzelschicksal von Alterswerken zu sein. Wo sich das Ende des Lebens abzeichnet und,
wie in Bölls Roman, in einer bewusst unorthodoxen Form und in gezielt desillusioniertem
Grundton artikuliert, „wenden die Blicke sich lieber ab, oft unter dem Vorwand, es zeige sich
nur noch künstlerische Unzulänglichkeit und Schwäche. Man hat es lieber prall, saftig und
lebensfroh“181. Mithin muss die Komposition dieses Romans als Ergebnis bewussten
Formwillens angesehen und diskutiert werden. In der erzählten Zeit von zwei Tagen zeichnen
die zehn Dialoge und zwei Monologe ein düsteres Bild des Politzentrums und seiner
Entscheidungsträger. Der Vorbemerkung kommt die schlichte Funktion zu, alle im Roman
vorkommenden Figuren vornehmlich aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes einzuführen.
Daneben soll die Figurenkonstellation dem Leser klar vor Augen geführt werden.
Gleich eingangs legt Böll Wert darauf, dass sich „[d]ie innere (sic) Beschaffenheit der
auftretenden Personen, ihre Gedanken, Lebensläufe [und] Aktionen […] aus den Gesprächen
und Selbstgesprächen, die sie führen, [ergeben].“182 Diese wie auch die weiter unten
dargelegten Charakteristika der „Erzählweise“ sprechen für eine Mischform aus Roman und
Drama.
Die
Gattungsbezeichnung
„Roman“
erscheint
angesichts
der
zahlreichen
dramenähnlichen Grundelemente als nicht vollends nachvollziehbare Wahl. Die Übergänge
zwischen den einzelnen Kapiteln gestalten sich ebenfalls ähnlich wie im Drama. Dabei
geraten die einzelnen Kapitel zu szenenähnlichen Gebilden. Einzig und allein die
Rubrizierung in einzelne „Kapitel“ erinnert an die Romanform, den meisten dieser Kapitel
werden dabei kurze, wiederum auf das Drama verweisende „Spielanweisungen“ vorangestellt.
179
Reich-Ranicki, Marcel: Ein letzter Abschied von Heinrich Böll. In: FAZ / 8.10.1985
Sowinski, Bernhard: Heinrich Böll, S. 90
181
Vormweg, Heinrich: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie. Kiepenheuer und Witsch. Köln
20002, S. 389
182
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 11
180
61
Dass es sich hierbei um regelrechte „Auftritte“ handelt, kann z. T. bis in den genauen
Wortlaut hinein nachgewiesen werden. Im letzten Kapitel etwa werden zwei Figuren mit der
in Schrägschrift gehaltenen, also schon rein typographisch vom Rest abgegrenzten Anweisung
„KARL (sic) und HEINRICH V. KREYL treten gemeinsam auf“183 eingeführt.
183
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 224
62
III.3. Erzählsituationen
III.3.1. Martin Walser: Wechsel von auktorialer Erzählsituation, IchErzählsituation und freier indirekter Rede
Auf den ersten gut 20 Seiten hält die auktoriale Erzählinstanz den epischen Faden in
Händen: „Der auktoriale Erzähler […] hat ein übergeordnetes Verhältnis zu der Geschichte,
die [er] erzählen soll. […] Die Kenntnis des auktorialen Erzählers erstreckt sich aber nicht nur
auf die äußeren Fakten der Geschichte, vielmehr ist er dazu befähigt, ins Innere seiner Figuren
zu sehen“184. Die personale sowie die Ich-Erzählsituation sind in diesen Passagen nicht
anzutreffen. Die Briefpassagen hingegen sind selbstredend aus der Ich-Perspektive verfasst.
Hierbei sind Horns Gedanken und Gefühle mit den sie realisierenden Wörtern
deckungsgleich. Zumindest greift, außer an den beiden bereits erwähnten Stellen, keine
allwissende Erzählinstanz ein, um weitere Angaben über innere oder äußere Handlung zu
machen. Nach dem ersten Brief übernimmt wiederum der allwissende Erzähler die
Schilderung äußerer und innerer Handlungsvorgänge. Mit den Worten „Franz Horn schnaufte
heftig auf und schnaufte noch eine Zeit lang heftiger, als es nötig gewesen wäre“185 wird das
narrative Intermezzo bis zum Einsetzen des zweiten Briefs eingeläutet. Der kommentierende
Einschub „heftiger, als es nötig gewesen wäre“ ist ein Hinweis auf den auktorialen Erzähler.
Dies gilt auch für den zweiten Kommentar nach dem ersten „post scriptum“. Hier macht der
auktoriale Erzähler weitaus stärkeren Gebrauch von seinem Wissen um die inneren Vorgänge
der Figur, wenn es heißt: „Franz Horn schnaufte wieder so, als sei er gerade bergauf gerannt;
aber diesmal nicht, weil er sich so und so vorkommen wollte, sondern weil er wirklich außer
Atem war. Er hatte zu schnell geschrieben.“186
An einigen Stellen hat Walser den auktorialen Erzählfluss durch den Einsatz des
Stilmittels freier indirekter Gedankenwiedergabe unterbrochen. Diese auch als „erlebte Rede“
bezeichnete Erzähltechnik, „die die Gedanken und Gefühle einer Person nicht in direkter oder
konjunktivischer indirekter Rede, sondern indirekt ohne vermittelnden Erzähler […] in der 3.
Person des Präteritums (Indikativ) wiedergibt“187, ist zwischen dem ersten Brief und dem
184
Jeßing, Benedikt / Ralph Köhnen: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Verlag Metzler.
Stuttgart u. Weimar 2003, S. 121
185
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 34
186
Ders., S. 60
187
Meid, Volker: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur, S. 151f.
63
ersten Zusatz anzutreffen. „Was tat Dr. Liszt gerade jetzt?“188 ist einer jener Gedankengänge,
die dem Leser einen unmittelbaren Zugang in die innere Handlungswelt Franz Horns
gewähren.
Vor
allem
das
Zwanghafte,
welches
dem
Schreibprozess
und
dem
Mitteilungsbedürfnis anhaftet, kommt hierbei sehr plastisch zum Vorschein: „Er mußte dem
Brief an Lord Liszt noch etwas hinzufügen. Etwas, dem nicht zu widersprechen war.“189
Alsdann setzt die auktoriale Erzählsituation wieder ein, um den ersten Zusatz anzukündigen.
188
189
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 35
Ebenda.
64
III.3.2. Heinrich Böll: Dialog- und Monologform mit Vorspann
Mit Blick auf Bölls Roman stellt sich die Frage, inwieweit überhaupt von einer
Erzählsituation die Rede sein kann. Eine Rahmenhandlung wie bei Walser ist hier nicht
anzutreffen. Gäbe es eine solche, dann wäre das weiter oben angeführte Zitat aus der
Vorbemerkung zum Roman ad absurdum geführt. Böll hätte einer erzählenden Instanz genau
das überlassen müssen, was im Vorspann angekündigt wird, nämlich die Schilderung innerer
Vorgänge der einzelnen Figuren. Ganz bewusst hat Böll jedoch auf den Einsatz einer wie
auch immer gearteten Erzählinstanz verzichtet. Die Gründe hierfür können nicht mit letzter
Sicherheit aufgezeigt werden. Fest steht, der Autor „hat das zu Erzählende in diesem Roman
von sich weggeschoben, vielleicht um zu objektivieren, vielleicht um zu zeigen, daß er selbst
dabei war, aus dem Spiel herauszutreten.“190
Gleichwohl
geraten
dabei
manche
Beschreibungen
nolens
volens
zur
Sympathielenkung, etwa, wenn es heißt: „Sie [Trude Blaukrämer] ist 42, kleidet sich aber wie
eine Frau von knapp 30, die jedem, aber auch jedem Trend erliegt, und wirkt so auf eine
unechte Weise vulgär. Sie hat den Unterschied zwischen Dekolleté und ‚oben ohne’ nicht
begriffen, und so tritt sie, vollbusig, wie sie ist, auf eine Weise auf, die mit deplaziert richtig
bezeichnet ist.“191 Mithin hält hier in eine ansonsten dramenähnliche Handlungsführung ein
Kommentar Einzug. Letzterer lässt sich vielleicht noch am ehesten einem auktorialen
Erzähler zuordnen, obgleich diese Zeilen keineswegs im Erzählfluss, also in der
Romanhandlung selbst, vorkommen, sondern in der Vorbemerkung. Da die explizit als solche
fungierende Vorbemerkung jedoch keinerlei Handlungsstränge in Gang bringt und die
Figuren sich nach Bölls eigener Aussage in den Dialogen und Monologen profilieren sollen,
kann dieser Kommentar ebenfalls als vom Autor hinzugefügtes Füllsel betrachtet werden.
Eine klar erkennbare und Position beziehende Erzählinstanz ist nicht erkennbar, die übrigen
Teile des Romans könnten rein gattungsspezifisch gesehen auch als Drama firmieren.
190
Vormweg, Heinrich: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie. Kiepenheuer und Witsch. Köln
20002, S. 386
191
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 13
65
66
III.4. Zur Bedeutung des Raumes
III.4.1. Die Privatwohnung bei Böll: Exil im goldenen Käfig und Paria im
Wohnwagen
Als Vorspann zum ersten Kapitel seines Romans hat Heinrich Böll eine
„Szenenanweisung“ gestellt, welche die nicht näher verortete „großbürgerliche Villa aus der
Zeit der Jahrhundertwende zwischen Bonn und Bad Godesberg“192 skizzenhaft umreißt. Auch
die „[g]eräumige, überdachte Terrasse“193 der Villa indiziert das gutbürgerliche Milieu eines
Großteils des Figurenarsenals. Der „goldene Käfig“ seinerseits verweist vornehmlich auf die
weiblichen Figuren des Romans, etwa auf Erika Wubler, die gleich zu Beginn in Erscheinung
tritt. Jenen Frauen, die ihren Ehemännern blinden Gehorsam leisten, steht ein Leben in
prominenter, mondäner Stellung zu. Den weniger „gefügigen“ Politikergattinnen jedoch, die
ihren Ehemännern aufgrund ihrer mangelhaften Verschwiegenheit zu gefährlich werden, wie
etwa Elisabeth Blaukrämer, wird ein anderer „Käfig“ bereitgestellt. Der Wirkungsbereich
erstgenannter Frauen endet mit dem Verlassen des eigenen Hauses. Das politisch nicht näher
umrissene Patriarchat Bonner Prägung, wie es Böll zeichnet, stellt der Frau einzig und allein
die großräumigen Villen historischen Zuschnitts für deren Wirken bereit. Von ihrer Terrasse
aus bietet sich Erika Wubler der „Blick aufs gegenüberliegende Rheinufer, wo man hinter
Anwäldchen und Gebüsch größere Villen sieht.“194 Die den Privatbereich des Hauses
verlängernde, gleichsam überdachte Terrasse fügt sich nahtlos in die biedere Szenerie
gutbürgerlichen Lebens ein. Erika Wublers „Herrschaftsbereich“ ist deckungsgleich mit der
Ausdehnung ihres Privatwohnsitzes. Die Szenenanweisung zum elften Kapitel bezeichnet die
Inneneinrichtung „des Wublerschen Hauses“ als „behaglich […], nicht protzig.“195 Zu einer
solch idyllischen Momentaufnahme gehören das obligate Sofa und der Flügel. Die biedere, d.
h. brave Atmosphäre im Privatbereich und der goldene Käfig sind mit dem Adjektiv
„behaglich“ klar konturiert.
Symptomatisch für die Ausgrenzung jener Figuren, die sich dem status quo der
Herrschaftsverhältnisse nicht unmittelbar verschreiben, ist der Wohnwagen, in dem Karl von
Kreyl seine Tage verbringt. Die Szenenanweisung lässt in ihrem Wortlaut keine Zweifel
hinsichtlich des spartanischen Wohnraums aufkommen. Zwar ist die Rede von einem „sehr
192
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 14
Ebenda.
194
Ebenda.
195
Ders., S. 204
193
67
geräumigen“, doch „leicht verkommenen Wohnwagen.“196 Überhaupt hat Böll den Kontrast
bewusst eingesetzt, der zwischen den eben erwähnten Villen der vorletzten Jahrhundertwende
und Kreyls Unterschlupf besteht. Assoziationen mit dem fahrenden Volk der Sinti und Roma
bzw. mit anderen in westlichen Gesellschaften stigmatisierten Außenseitergruppen liegen auf
der Hand. Der junge, nach eigener Aussage „leidenschaftliche Jurist“197 hat diese Art des
Wohnens augenscheinlich aus freien Stücken gewählt. Gleichwohl ist es unstrittig, dass
ausgerechnet derjenige, der sieben Jahre zuvor seinen eigenen „Flügel zerhackt“198 hat,
räumlich in der Peripherie zu verorten ist. Karl v. Kreyl erscheint als linksintellektueller,
kunstsinniger Virtuose, der zwar als Jurist den nötigen Durch- und Weitblick in puncto
Machtverflechtung und Politikbetrieb hat, von seinem Lebenswandel her jedoch in keiner
Weise verändernd einwirken kann bzw. will. Das Fehlen einer Hoffnungsfigur, die vom Autor
bewusst in Szene gesetzt und mit den nötigen Attributen zu gesellschaftlicher Veränderung
ausgestattet worden wäre, spiegelt sich v. a. im jungen Kreyl. Schlussendlich tanzt er mit im
„künstlichen, von Resignation gezeichneten Spektakel“199. Kreyl wird ebenfalls verdächtigt,
kürzlich Kapspeters Flügel zerschmettert zu haben. Die Tatsache, dass er seinen eigenen
Flügel vor den Augen dreier Zeugen200 in seine Bestandteile zerlegt hat, lenkt den Verdacht
auf ihn. In dieser Postur gerät Kreyl zu einem tragikomischen Vertreter jener „schlicht
asoziale[n] Exklusivität des subjektivistisch-selbstverfallenen Künstlertums“201, welche an
das selbsternannte „Genie“ aus Eichendorffs „Taugenichts“ erinnert. Dieser Musiker „drehte
und riss zuletzt an dem Instrument, dass plötzlich eine Saite sprang. Da warf er die Gitarre hin
und sprang auf.“202 Im Gegensatz zur persiflierten Geniefigur bei Eichendorff, die in einer
Affekthandlung ihr Instrument zerstört, „zerhackt [von Kreyl sein Klavier zwar] ruhig, fast
höflich, kalt nannten sie es“203. Die Parallele zwischen beiden Akten der Zerstörung von
Musikinstrumenten
ist
jedoch
unverkennbar.
Beide
Male
kommt
es
zu
einem
happeningartigen, beim Spätromantiker deutlich ironisierten, bei Böll als vergebliche
Rebellion gezeigten Gewaltakt. In beiden Fällen geht die Zerstörung von einem Musiker aus,
der weder vom künstlerischen Standpunkt noch von der gesellschaftlichen Wirkungskraft
seiner „Kunst“ her Ernsthaftes zu bieten hat. Es handelt sich um zwei Außenseiter. Der eine
196
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 58
Ders., S. 61
198
Ders., S. 63
199
Vormweg, Heinrich: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie, S. 387
200
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 63
201
Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik
1750-1945. Bd. 2. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt 1985, S. 46
202
Eichendorff, Joseph von: Aus dem Leben eines Taugenichts, S. 80f.
203
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 63
197
68
wird vom Autor im beginnenden Biedermeier augenzwinkernd skizziert. Der andere erscheint
als ebenso hilf- wie orientierungslose Figur in der vollends desillusionierten und
unmenschlichen Koordinatenwelt des „Bonner Biedermeier“.
III.4.2. Die Privatwohnung bei Walser: Archiv von Alltagsgegenständen
Das novellistische Züge tragende Dingsymbol des Kugelfußes findet jeweils ganz zu
Beginn und gegen Ende des Romans kurze Erwähnung. Es verweist, ähnlich wie das oben
erwähnte Fenstermotiv, auf ein Rahmenmodell. Zugleich spiegelt es indirekt eine der
Funktionen, welche der Privatwohnung von Walsers Hauptfigur zukommen. Auf dem
Firmenparkplatz erblickt Franz Horn „das blinkende, kugelartige Ding, das ihm seit ein paar
Tagen auffiel“204. Sogleich hebt er Letzteres mit dem kleinbürgerlichen Sammelreflex „man
kann nie wissen“205auf, um es mit nach Hause zu nehmen und es dort zu horten. Am Schluss
des Romans, nach Beendigung des letzten Briefzusatzes, sucht Horn sichtlich nervös nach
eben diesem Kugelfuß. In erlebter Redewiedergabe liefert Walser folgende Innenansicht: „Wo
war jetzt dieser Kugelfuß? Wo hatte er den hingetan? Wo hätte er den hintun müssen? Im
Schopf war er noch nicht gewesen. Wo also hätte er den vorläufig hingelegt haben müssen,
nachdem er ihn unter dem Heizkörper hervorgeholt hatte?“206 Das Interrogativadverb „wo“
kehrt hier gleich viermal wieder, um einen Satz einzuleiten. Das Stilmittel der Anapher
indiziert Horns Nervosität, die deshalb entsteht, weil er den Kugelfuß in seinem sonst so
minutiös aufgeräumten Haus nicht auf Anhieb verorten kann. Schließlich findet der den
gesuchten Gegenstand und bringt ihn in den „Schopf“. Fungiert bei Böll die überdachte
Terrasse als Verlängerung des gutbürgerlichen Villenkomplexes, so ist der als Hort jeglichen
Plunders dienende Anbau die Verlängerung des Privathauses in Walsers süddeutschalemannischer Heimatkulisse.
Dieser Vorratsschuppen wird denn auch vom auktorialen Erzähler ironisch
angekündigt. Bewusst die kleinbürgerliche Ordnungswut und den Freizeithandwerker
parodierend, heißt es: „Er ging zu seinem Schopf. Zu seinem Werk. Jedes Brett, jeden Balken
hatte er gesägt, gefügt, geschraubt und genagelt. Er öffnete die Tür, begegnete seinem
Sortiment und Sammelsurium, das ihm entgegensah. […] er wußte genau, wie und wann und
woher jedes Stück stammte. Wann immer er dem Kugelfuß hier begegnen würde, konnte er
204
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 11f.
Ders., S. 12
206
Ders., S. 150
205
69
den Tag, an dem er ihn hierherbrachte, ablaufen lassen.“207 Der Pronominalgebrauch der
ersten beiden Sätze ist besitzanzeigend, Horns Schöpfung ist der Schopf. Diese oberdeutsche
Bezeichnung für „Schuppen“ ist sinnverwandt mit dem landläufigen „Haar auf dem Kopf
[und geht] wohl [auf] das gleiche Wort [zurück], unter der Annahme, daß damit ursprünglich
zusammengetragene Heu- oder Strohhaufen gemeint waren.“208 Schon die Grundbedeutung,
sprich das Ordnen von Heu und Stroh an einem bestimmten Platz, verweist auf einen
Sammelreflex. Das kleine und mittlere Bürgertum wird hier in seinem ureigensten
Privatbereich gezeigt, in einer eng begrenzten Umgebung, die sinnstiftend ist. Den im Schopf
über die Jahre angesammelten Gegenständen – „[j]edes Schutzblech, jeder Lampenschirm,
jedes Stück Wellblech, jedes Scharnier …“ wird sorgsam aufbewahrt – kommt eine
memoriale Funktion zu. Erst wenn er die Gegenstände erblickt, die ihm schier personifiziert
ebenfalls „entgegensehen“, ist Horn in der Lage, sein rezentes Leben qua Periodisierung
zurückzudatieren. Die an und für sich nichtigen Gegenstände fungieren mithin als Archiv. Für
den bis dato neuesten Gegenstand des Archivs, den Kugelfuß, gilt dies ebenfalls, es ist eine
Reminiszenz an Erlebtes: „Von der Ehrung des toten Stierle bis zum Ende seines Briefs an
Lord Liszt, inclusive Beule am Kopf. Das waren seine Daten.“209
Das Innere des Hauses findet im Roman keine genaue Erwähnung, einzig und allein
der Schreibtisch ist ein Fixpunkt innerhalb der Privatwohnung. Er ist die Scharnierstelle der
Handlung, hier vollzieht sich der Schreibprozess. In der Schublade werden sowohl Liszts
Fotoporträt als auch der Brief aufbewahrt. Der Schreibtisch wird daneben auch seiner
Archivfunktion wegen erwähnt. Die Historizität des Archivierens lässt sich anhand eines der
zentralen Romane des beginnenden bürgerlichen Zeitalters aufzeigen. In Goethes Roman
„Wilhelm Meisters Lehrjahre“ fungiert das schriftliche Archivieren als bürgerlicher
Grundreflex. Gegenüber dem mündlichen Vortrag des Marchese weist die schriftliche, lineare
Reproduktion von Mignons tragischer Lebensgeschichte den Vorzug auf, dass „ein Dritter die
Begebenheiten mit mehr Zusammenhang vortragen“210 kann. Diese Art des Tradierens wird
gegenüber der mündlichen Überlieferung einerseits und der genialischen, oralen
Ausdrucksform Mignons andererseits als die verlässlichere und prominentere angesehen.
207
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 150
Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Walter de Gruyter. Berlin u. New York 200224, S.
823
209
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 150
210
Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Hamburger Ausgabe. Bd. 7. München 199413, S. 579
208
70
„Naturpoesie als defiziente Schwundform“211 tritt im bürgerlichen Zeitalter zugunsten der
Turmgesellschaft, einer archivierenden Institution, in den Hintergrund. Ironischerweise ist bei
Walser dieser archivierende Reflex erodiert, er gerät selbst zu einer „Schwundform“, da nicht
mehr die Schrift, sondern primär die Alltagsgegenstände im Schuppen die zeitliche
Richtschnur und damit die Sinnstiftung herstellen212. Sehr wohl hat auch die Schrift noch
einen hohen Stellenwert, aber der Brief, der nicht einmal abgeschickt wird und somit keine
Tradierung einläutet, erfüllt v. a. eine therapeutische Funktion, wie noch weiter unten gezeigt
werden soll.
III.5. Zur Funktion der Naturbeschreibung
III.5.1. „Frauen vor Flusslandschaft“: Das Rheinufer als stumme Kulisse
Bereits am Titel lässt sich unschwer ablesen, dass die Flusslandschaft bloße Folie ist,
vor der die handelnden Figuren ihre Selbst- oder Zwiegespräche führen. Die Monolog- und
Dialogform bringt zudem unweigerlich mit sich, dass keine Erzählinstanz eine wie auch
immer geartete Naturschilderung liefert. Einzig in den knapp gehaltenen Szenenanweisungen
tauchen Verweise auf die Rheinlandschaft und den sagenhaften Fluss auf. Mit dem
beschaulichen Diminutiv „Anwäldchen“213 suggeriert Böll ganz bewusst eine Idylle, die es in
dieser Form gar nicht gibt. Der Rhein wird samt seiner Umgebung zur stummen Kulisse. Der
„Ort des Geschehens ist zweifellos Bonn, doch es ist nicht das reale Bonn, […] das in diesem
Theater die Kulissen stellt, glänzende Kulissen von fataler Unwirklichkeit.“214 Die
landschaftsspezifischen Szenenanweisungen belegen diese Aussage. Das vierte Kapitel spielt
an einer nicht näher umrissenen „Rheinpromenade zwischen Bonn und Bad Godesberg in
dichtem Nebel. Im Hintergrund eine hohe massive Mauer, ein eisernes Pförtchen. Etwa drei
Meter vor der Mauer eine Bank am Rheinufer.“215 In der Tat wäre dieses vierte Kapitel für die
Umsetzung in eine Theaterfassung weder bezüglich der Requisiten noch vom Bühnenbild her
eine Herausforderung. Auch die Figuren machen in ihren Aussagen kaum explizite Verweise
auf die sie umgebende Natur. Genauso gut hätte Böll diese Reden und Gegenreden vor einer
blank gestrichenen Mauer liefern können, am Gehalt hätte sich kaum etwas geändert. Die
211
Schößler, Franziska: Goethes Lehr- und Wanderjahre. Eine Kulturgeschichte der Moderne, S. 70
Vgl. hierzu etwa die Art und Weise, wie bereits Theodor Fontane den Reflex des Archivierens in seinem
Roman „Der Stechlin“ ironisiert.
213
Vgl. die bereits in Auszügen zitierte Szenenanweisung zum ersten Kapitel auf S. 14 in Bölls Roman
214
Vormweg, Heinrich: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie, S. 387
215
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 84
212
71
Gespräche tangieren nahezu ausschließlich politische, geschäftliche und anderweitige
Konflikte, Komplotte, Bündnisse sowie Lasten der Vergangenheit.
Von der Tierwelt wird lediglich in der Irrenanstalt von Rehen gesprochen; inwieweit
diese künstlich angelegte Wildnis die Perversion einer zynischen Männergesellschaft
reflektiert, wird weiter unten näher beleuchtet. Einzig der Rhein findet vereinzelt
ausdrückliche Erwähnung und trägt zum Stimmungsbild bei. Der Rhein wird primär aufgrund
seiner mythologisch aufgeladenen Bedeutung explizit genannt216. Andere Erwähnungen des
Flusses sind simple deiktische Verweise, etwa in Form der Szenenanweisung „Sie [Eva Plint]
deutet vor sich auf den Rhein.“217 Daneben wird der Rhein als Versatzstück gebraucht, z. B. in
Erika Wublers sinnentleerter Aussage „an den Rhein, ja, an den Rhein. Der fließt ja wirklich,
da unten. Deutet nach unten.“218 Abermals muss eine Szenenanweisung den Bezug zum Fluss
herstellen. Wie sehr er außer in den vom Mythos ausgehenden Passagen zur Kulisse gerät,
zeigt Erika Wublers eben zitierte Aussage, in der sie am Ende des Romans mit Erstaunen
feststellt, dass er wirklich fließt und keine statische, leblose Bühnenlandschaft darstellt.
„Natur kommt bei [Böll] ohnehin kaum vor, es sei denn als Depositum historischer
Ereignisse, noch nicht verarbeiteter politischer Erfahrungen oder auch von Sagen und
Legenden.“219 Mit Blick auf Bölls Roman sind es v. a. die unbewältigte politische
Vergangenheit sowie die noch zu beleuchtende Nibelungensaga, welche in der
Rheinlandschaft „deponiert“ werden.
Nur ganz vereinzelt trägt eine Naturbeschreibung zur Erzeugung eines bestimmten
Stimmungsbildes bei. Dies ist der Fall, als Eva Plint, die zu Beginn des vierten Kapitels vor
sich auf die in dichte Nebelbänke gehüllte Rheinkulisse schaut und den Nebel „willkommen“
heißt. Letzterer „mildert [ihre] Angst [und] er dämpft den Lärm“220. Hier atmet der Text
vorübergehend Ruhe, sie entsteht über Eva Plints Beschreibungen der gedämpften visuellen
und akustischen Atmosphäre. Diese weibliche Figur ist eine der wenigen, denen die
umgebende Natur offenbar etwas zu sagen hat. Hier ist die Natur einen Moment lang keine
leblose Pappkulisse, sondern integrativer Bestandteil der Handlung, vornehmlich der inneren.
216
Vgl. hierzu den Abschnitt III.6.1. vorliegender Arbeit
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 84
218
Ders., S. 188
219
Wirth, Günter: Heinrich Böll. Religiöse und gesellschaftliche Motive im Prosawerk. Pahl-Rugenstein. Köln
1987, S. 319
220
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 84
217
72
Die Geborgenheit ist hier nicht gekünstelt oder persifliert, sondern authentischer Ausdruck
und Bedürfnis der Figur.
III.5.2. Die Natur bei Walser: Persiflage, Retardierung und Projektionsfläche
Zu Beginn des Romans wirft die Erzählinstanz nur ganz vereinzelt ein Streiflicht auf
die Natur. Eine erste Erwähnung der süddeutschen Handlungsszenerie dient ausschließlich der
Vorantreibung des Erzählflusses. Der deiktische Verweis „als Franz Horn, aus dem
Industriegelände kommend, nach links, Richtung Allgäu, abbiegen sollte, bog er nach rechts
aus dem Schussental hinaus. Richtung Spellmannstraße, also heim“221 erlaubt es, einen
Schattenriss der Umgebung zu liefern, ohne zu sehr die Aufmerksamkeit auf an dieser Stelle
unnötige Schilderungen zu lenken. Kurz vor Einsetzen der Schreibwut blicken Horn und mit
ihm der Leser durch das Fenster an seinem Schreibtisch. Wieder findet das Schussental kurze
Erwähnung, dieses Mal, um die Abendzeit mittels einer Naturmetapher anzudeuten: „Franz
Horn stand auf und öffnete das Fenster vor seinem Schreibtisch. Das Schussental lag schon in
violetten Polstern.“222 In diese mit wenigen Pinselstrichen erzeugte, wohlige Atmosphäre
bettet Walser die nun einsetzende Auseinandersetzung der Hauptfigur, sprich deren Kampf
um das Auffinden der Genese ihres Streites mit Liszt ein. Wie es bereits weiter oben
angeklungen ist, schreibt sich auch an dieser Stelle die Heimat keineswegs als kitschige Idylle
in Walsers Werk ein, sondern vielmehr als Kontrastfolie zu zwischenmenschlichen und
seelischen Abgründen, die es zu ergründen gilt. Dies bestätigt der letzte Satz in Walsers
Roman. Hier wird die naive, verlogen-idyllische Heimatverbundenheit persifliert und ironisch
gebrochen: „Er fuhr zu einem Fest. Er hatte keine Probleme. Die Leere rauschte interessant.
Und drüben das Allgäu trug die Sonne wie einen Kopfschmuck.“223 Nachdem sich Franz
Horn seinen Frust von der leidenden Seele geschrieben und im Schreibprozess die nötige
Sinnstiftung erfahren hat, deutet Walser hier die Genese abermaligen Selbstbetrugs an. In
erlebter Rede das staccatoartige Übertünchen eigener Probleme imitierend – „er hatte keine
Probleme“ – setzt Walser dieser aufgesetzten, „fast schon übermütig[en] Gefaßtheit“224 im
Schlusssatz gewissermaßen die Krone auf. Der strahlende Goldregen, welcher von der
Königin, d. h. vom Allgäu ausgeht, ist das kitschige Pendant zu Horns krampfhafter
Selbstsicherheit und dessen gekünsteltem Glücksempfinden.
221
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 12
Ders., S. 27
223
Ders., S. 153
224
Ebenda.
222
73
Im Gegensatz hierzu kommt der Naturbeschreibung in den Briefen, also im Mittelteil
des Romans eine andere Rolle zu. Einerseits hält die Natur, vornehmlich die beiden Flüsse
Bodensee und Rhein, Einzug in den Roman, um die Legende um Sigisbert und Placidus, die
ihrerseits wiederum eng mit den Briefinhalten verzahnt ist, einzuführen. Bei Walser werden
der Bodensee und der Rhein als Gewässer des Verschlingens und des Verbergens von
Straftaten gehandelt, bei Böll ist es der Rhein, wie noch zu zeigen sein wird. Andererseits
dient die Naturschilderung dazu, die Romanhandlung zu retardieren und die beiden
Kontrahenten Horn und Liszt in eine konfliktträchtige Situation geraten zu lassen. Die
anhaltende Windflaute in der Haltnau verzögert den Fortgang der angedachten Segelpartie
erheblich. Am späten Nachmittag sind Horn und Liszt gezwungen, sich in Sachen
Kommunikation zu üben. Hierin liegt der Ursprung ihres Streits und damit der Briefflut, die
darauf abzielt, die Konfliktgenese bis in das letzte Glied nachzuzeichnen. Obwohl Thieles
Boot, die Chemnitz III, mit einem Motor ausgestattet ist, wird die Flaute für das Ausbleiben
Thieles verantwortlich gemacht. „Er sei nach Romanshorn abgedreht, von da aus rufe er an,
die Flaute sei total, an Segeln nicht zu denken, er hoffe, von einem Abend- oder
Nachtgewitter eine Mütze voll Wind zur Heimfahrt zu kriegen. […] Die Flaute verfluchte er.
Von Romanshorn herübermotoren, um dann von hier nach Kreßbronn hinaufzumotoren –, das
wäre die Trostlosigkeit selbst. Sagte er.“225 Horn macht zwar den Firmenchef Thiele für den
Streit mitverantwortlich, die Flaute aber ist die eigentliche Ursache: „Ich muß Ihnen […]
sagen, wie sehr Thiele zu den Ursachen unseres Haltnau-Streites gehört! Er ist nicht schuld.
Aber wenn um drei herum die Chemnitz III erschienen wäre, [hätten wir] unser Geplänkel
noch leicht in eine durch Thiele abgesicherte Unterhaltung überführen können“226 Die
Ursachen von Thieles Ausbleiben sind in dessen selbstverliebtem und eitlem Wesen zu
suchen. Er könnte es nicht über sich bringen, den Motor seines Segelbootes zu bedienen, weil
dies einem Segelpuristen wie ihm, der ebenfalls ein Ästhet im Sinne Kierkegaards ist, als
Sündenfall erscheinen würde. Stattdessen zieht er es vor, seine beiden verdienstvollen
Angestellten in der Haltnau sitzen zu lassen. Hierin ist Walsers subtile psychologische
Darbietung der Handlungsmotive durchaus stimmig.
Der einsetzenden Flaute kommt die narrative Funktion zu, Horn und Liszt wie zwei im
Ring isolierte Kämpfer aufeinanderprallen zu lassen. Primäre narrative Funktion dieses
Naturschauspiels ist es, den Streit beginnen zu lassen. Beide müssen eine gefühlte Ewigkeit
225
226
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 85
Ebenda.
74
miteinander reden. Es kommt unweigerlich zur Auseinandersetzung. Die Flaute steht somit
auch für die Ruhe vor dem Sturm, der sich immer deutlicher anbahnt. Die Gründe für den
Streit sind jedoch vielschichtiger. Horn bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: „Thiele
ließ uns sitzen! Ja, es war die Flaute. Bitteschön. Aber das Fehlen Thieles war das Fehlen
Thieles, und die Flaute war die Flaute, und das eine reichte einfach nicht aus, das andere zu
erklären. Es gibt Wirkungen, für die reichen ihre Ursachen nicht aus.“227 Hier nun wird
deutlich, dass die Natur eigentlich nur Mittel zum Zweck war, um eine Konfliktsituation
heraufzubeschwören. Die beiden Figuren sind von der Außenwelt abgeschlossen, in diesem
„huis clos“ und unter dem Einfluss von Alkohol nimmt das Verhängnis nun seinen Lauf.
Es folgen noch zwei weitere Beschreibungen des Bodensees. Alle beide verweisen auf
den Konflikt, welcher über die Arbeitskollegen hereinbricht und an dem Horn derart leidet.
Hier avanciert die Naturbeschreibung vollends zur Projektionsfläche für Horns seelische
Leiden. Die erste Erwähnung legt eine Endzeitstimmung nahe: „Hätten Sie doch auf den See
gesehen! Der lag, als sei schon alles zu Ende. Wie nach einer Weltkatastrophe lag er. Kein
Wasser mehr. Geschmolzenes Blei.“228 Die pathetische, dabei jedoch keineswegs kitschigpeinliche Beschreibung der Wasseroberfläche zeigt Horns ganze Verzweiflung über den Streit
und die aufkeimende Hoffnung auf eine Schlichtungsmöglichkeit. Das Streitgespräch jedoch
nimmt weiter an Fahrt auf und am Ende des Haltnau-Aufenthalts, als „zwei völlig gleiche
Wagen“229 sie abholten, ist Horns anfängliche Enttäuschung in blinde Wut übergegangen.
Letztere äußert sich nicht in einem verbalen oder anderweitigen Angriff auf Liszt, sondern in
der folgenden Naturschilderung. Explizit hebt Liszt im Brief hervor, inwieweit die
aufgebrachte Natur seine Gefühlslage spiegelte: „Hintereinander fuhren wir am stürmenden
See entlang bis nach Meersburg. Ich schaute nicht zurück. In mir ging es mindestens so zu
wie draußen auf dem See. Der wilde Wetterglanz auf den hohen runden Wellen entsprach mir.
Lauter kraß gleißende Kürasse trieben in schwerer Eile von Westen her. Als sei irgendwo eine
Ritterschlacht gewesen. Am Ufer zerbrach die ritterliche Wogenpracht, löste sich auf in nichts
als Schaum und Gischt.“230 Der letzte Satz verweist bildhaft auf Horns souveränen Umgang
mit dem aufbrausenden Liszt. Obwohl er zugibt, aufgebracht zu sein, gerät Horn letzten
Endes doch zum Wellenbrecher. Sämtliche von Liszt gefahrenen Attacken zerplatzen wie
227
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 85f.
Ders., S. 118
229
Ders., S. 125
230
Ebenda.
228
75
Seifenblasen am nach innen zwar ebenso schäumenden, nach außen jedoch stoische Ruhe
bewahrenden Franz Horn.
76
III.6. Die Rolle von Mythos und Legende
III.6.1. Heinrich Böll: Mythentravestie und eine lebensmüde Walküre
Im Bonn der machtpolitischen Rangeleien, Intrigen und Verstrickungen kommt der
Geheimhaltung, wie bereits weiter oben gezeigt wurde, eine zentrale Bedeutung zu. Die
Metamorphose des Schatzes wird in Ansätzen angedeutet, als Eva Plint, alleine und
nachdenklich auf der Bank an der nebelbedeckten Rheinpromenade sitzend, zu einer
Mythentravestie ausholt. Böll lässt die einst sagenumwobene Rheinkulisse durch Plints Worte
zu einer melancholischen Karnevalsnummer verkümmern: „Vielleicht wäre hier irgendwo der
Nibelungenschatz zu finden – rheinabwärts gespült, verkrüppelte Kronen, das bißchen Gold
vom Rheinwasser und Geröll längst abgewaschen, von rollenden Kieseln zerbeult, zu etwas
wie
Karnevalsorden
herabgeschunden,
nicht
einmal
mehr
aufputzbar
zu
Schützenkönigslametta.“231 Die hier angedeutete Erosion des einst an Reichtum
überbordenden Nibelungenschatzes verweist zum einen auf den Vergänglichkeitstopos, über
den hier indirekt geklagt wird. Andererseits aber ist der Mythos Ausgangspunkt für einen
Seitenhieb auf die Nazivergangenheit. Die innige Verbindung, welche das Dritte Reich mit
dem Nibelungenlied und seinen Recken, allen voran Siegfried, unterhielt, wird in den
nächsten Zeilen klar ersichtlich. Eva Plint lässt es hierbei nicht an Deutlichkeit mangeln: „Oh,
Kriemhild und Brunhild, eure Armreife, […] vielleicht einem Naziemblem benachbart, das
ein erschrockener Bürger hastig abwarf, als die amerikanischen Panzer einfuhren. Was mag
sich da alles vermischen im grünen Schleim: Totenköpfe und schwarz-weiß-rot betroddelte
(sic) Degen“232. In demselben Redeschwall verweist Eva Plint auf ihren Lebensgefährten
Ernst Grobsch. Ihr zufolge ist er „der gute, fleißige […] Nazi-Spezialist. Im Augenblick ist er
hinter einem gewissen Plietsch her, der sich jetzt Plonius nennt – den sie einst den Bluthund
nannten.“233 Die Erwähnung des Nibelungenschatzes und der zahlreichen, seit Kriegsende
noch immer nicht gefassten Nazi-Verbrecher ist symptomatisch für Bölls Bemühen, mittels
seiner Figuren auf dieses schwerwiegende Versäumnis hinzuweisen. Angeprangert wird die
unabgeschlossene und halbherzige Vergangenheitsbewältigung während der Bonner
Republik. Bis in die achtziger Jahre hinein haben es ehemalige Nazischergen leicht, sich im
Dickicht der Günstlingswirtschaft in hohen Positionen zu halten.
231
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 87
Ebenda.
233
Ebenda.
232
77
Ferner bettet der Autor an einer anderen Stelle das Motiv der Tarnkappe in Hermann
Wublers Aussagen ein. Dieser gesteht seiner Angebeteten Eva Plint, dass er sich öfters „eine
Tarnkappe gewünscht [habe, um Eva Plint] unerkannt anschauen zu können“234. In dieser
Liebesbekundung wird ein berühmtes Motiv des Nibelungenstoffes aufgegriffen. Im
mittelhochdeutschen Wortlaut heißt es nach dem gewonnenen Kampf um Brunhild: „Sîfrit der
snelle wîse was er genuoc. / sîne tarnkappen er aber behalten truoc.“235 Diese Tarnkappe dient
einer doppelten List. Zum einen beim Wettkampf in Island, von der die zitierte Passage
berichtet, zum andern während Gunthers zweiter, nur durch Siegfrieds Eingreifen geglückter
Brautnacht. Die List, mit der sich Hermann Wubler in seiner erotisch aufgeladenen Phantasie
die voyeuristische Nähe zu Eva Plint verschaffen möchte, ist zum reinen Gedankenspiel
geworden. Der Mythos liefert in diesem Fall lediglich eine ausgehöhlte Staffage, die Böll an
unscheinbarer Stelle einbaut. Daneben ist die Rede von Geheimakten, welche als Neuprägung
des Nibelungenhortes auf dem Flussgrund liegen. Sie fügen sich ihrerseits nahtlos in die
unscharfe Figurenkonstellation und in die nebulösen Handlungsstränge ein: „Böll hat gar
nicht erst den Versuch gemacht, alle [seine] Figuren unter einen Hut zu bringen. Dies und
jenes passiert, doch einen eindeutig faßlichen Zusammenhang, eine Story gibt es nicht. […]
Und dies alles angesichts des Rheins, dessen Sagenvergangenheit immer noch seltsam
lebendig ist, fortlebt, sich ins Kaleidoskop einfügt bis hin zu einem Schatz im Strom
versenkter Akten und zum In-den-Rhein-Gehen.“236 Hier erwähnt Vormweg die Vernichtung
heikler Aktenbestände. Hermann Wubler, der Strippenzieher im Hintergrund, erzählt gegen
Ende des Romans, wie er die Klossow- und die Plottger-Akten vernichtet hat. Letztere
wurden verbrannt, Erstgenannte aber in einem nicht näher genannten Gewässer „versenkt“237
und „liegen 280 Meter tief.“238 Unmissverständlich wird auf den Nibelungenhort angespielt.
Aus den reichen Schätzen des Helden Siegfried ist in diesem Anspielungshorizont kein
Karnevalslametta geworden, sondern ein Aktenhaufen, der wohl die Spuren eines
Verbrechens enthält und die Politikersippschaft in arge Bedrängnis hätte bringen können.
234
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 94
Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de
Boor. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. Reclam. Stuttgart 2002, S. 146.
(Die neuhochdeutsche Übersetzung auf S. 147 derselben Ausgabe lautet: „Der geschickte Siegfried war klug
genug, seine Tarnkappe wieder fortzubringen, um sie aufzubewahren.“)
236
Vormweg, Heinrich: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie, S. 387 (Mit der Prägung „In-denRhein-Gehen“ ist Heinrichs von Kreyl geplanter, am Ende jedoch nicht durchgeführter Selbstmordversuch
gemeint; vgl. hierzu Böll, S. 224: Daneben wird damit auf den Selbstmord seiner Ehefrau verwiesen, die „in den
Rhein ging, ungefähr bei Kleve, da, wo Lohengrin den Schwan bestieg.“ Böll, S. 69. Auffallend ist auch, dass
von Kreyls Initialen identisch sind mit denen des Dichters H. v. Kleist, der nahe des Kleinen Wannsees den
Freitod wählte.)
237
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 199
238
Ders., S. 161
235
78
Näheres ist aufgrund der oftmals unklaren Handlungsführung zu diesem „Schatz“ nicht in
Erfahrung zu bringen. Böll hat auch hier die Verunklarung bevorzugt.
Des Weiteren wird das Drachenblut als Spender der Unbesiegbarkeit in ein Motiv der
politischen Immunität umgedeutet. Im Gegensatz jedoch zur Siegfried-Saga wird das
entscheidende dramaturgische Element, sprich das Lindenblatt, welches später die
hinterlistige Ermordung des Helden erst ermöglicht, von Böll ausgeblendet. Im Bonn des
abgründigen Biedermeier ist kein Platz für verwundbare Helden, die Bankiers und Politiker
sind negativ gezeichnete Allmachtsgötter: „Kapspeter [, ein mächtiger Bankier,] badete
täglich in Drachenblut, und kein Lindenblättchen fiel auf seinen zarten, weißhäutigen
Greisenkörper.“239 Auch die germanische Götterwelt, namentlich die Walküren, kommen im
Zusammenhang mit der Schreckensszenerie des Rheins vor. Eva Plint sinniert über ihre
Schwiegermutter, die sie nie gekannt hat. Es handelt sich um Karl von Kreyls Mutter, die sich
im Rhein ertränkte, „[k]eine schöne Frau, […] aber stattlich, üppig, blond – eine echte
Walküre, Rheintochter, und tauchte nie mehr auf. Der Rhein lockte sie mehr als Erftler-Blums
Nachkriegsdeutschland.“240
Die
Motive
unbewältigter,
schuldbeladener
deutscher
Vergangenheit und des Nibelungenhortes gehen hier eine suggestive Verbindung ein. Dabei
tritt die Walküre nicht als jene Frau auf, welche die gefallenen Krieger nach Walhall geleitet,
sondern sie wird selbst zur Todgeweihten. Der Vergleich zwischen Kreyls Ehefrau und der
Walküre ist eine Umdeutung des Sagenstoffs: Aus der vitalen germanischen Frauengestalt ist
die Lebensmüde, vom Nachkriegsdeutschland Angewiderte und Verzweifelte geworden,
deren Vorfahren Militärs, also selbst schuldbeladen waren.
III.6.2. Martin Walser: Liszts Pseudobildung und Horns Sehnsucht nach
Vereinigung
Die Wendelgardsage handelt von der schweinsrüsseligen, buckligen Besitzerin des
Rebguts von Meersburg, Wendelgard von Halten. Der Schauplatz ist „Meersburg, ein sehr
artiges Örtchen, das dem Bischof von Konstanz untergeordnet ist, der hier in dem auf einem
beträchtlichen Felsen erbauten Schlosse residiert.“241 In dieser anonym tradierten Schilderung
wird indirekt auf die Wendelgardsage angespielt, denn die äußerlich Entstellte hat ihren
Erbbesitz, die Haltnau, Konstanz vermacht. Walser führt diesen Sagenstoff ein, um Liszts
239
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 128
Ders., S. 89
241
Anonymus, 1799. In: Der Bodensee in alten Reisebildern. Reiseberichte und Reisebilder aus vergangenen
Zeiten. Hg. Maria Schlandt. Prisma Verlag. Gütersloh 1977, S. 45
240
79
wichtigtuerisches Gehabe auch in Sachen „Regionalkenntnisse“ in den Vordergrund zu
rücken. Horn schreibt bezüglich ihrer Wanderung durch die Haltnau: „Erst als ich an Ihrer
Gier sehe, daß Sie mich, den Hiesigen, dabei ertappen wollen, wie er nicht wisse, was ein
Seelgerät sei, erst da verliere ich das bißchen Freiheit, das man braucht, um das zuzugeben,
und schaue Sie bemüht harmlos, seelgerätkundig an“242. Im szenischen Präsens schildert Horn
nicht nur die Entstehung des Konflikts, der sich später entladen wird, sondern hält Liszt einen
Spiegel vor. Letzterer stammt aus Norddeutschland und hat sein Leben, ähnlich wie Horn bis
zu seinem Selbstmordversuch, voll und ganz auf die Koordinatenwelt des Konkurrenzkampes
ausgerichtet. Aus solcher Perspektive gerät sogar ein an sich harmloser Spaziergang durch die
Heimat des Gegners, d. h. durch die Haltnau des „Hiesigen“, zu einer willkommenen
Gelegenheit, einen Vorsprung gegenüber dem firmeninternen Gegenspieler zu demonstrieren.
Diese Pseudobildung des Norddeutschen setzt sich aus einigen wenigen Happen Lektüre aus
Reiseführern zusammen und parodiert das sterile und eigentlich völlig desinteressierte
Abhaken von Kulturgütern. Die Wendelgardsage benutzt Liszt dann zu der aus seiner Sicht
spitzfindigen, territorialspezifischen Anmerkung, dass sie „jetzt konstanzischen Boden“243
und keinen Meersburger beträten. Diesen bramarbasierenden Gestus kontert Horn mit der an
sich neutralen Frage: „Haben wir einen Schweinskopf, sagte ich.“ Hierauf antwortet Liszt
sichtlich getroffen: „Wer weiß, sagten Sie schon zu ernst.“244 Horns Frage, die seine
Gelassenheit bezüglich des äußeren Erscheinungsbildes reflektiert, ist für den im
Kierkegaardschen Sinne „ästhetisch“ veranlagten Liszt eine schmerzhafte Erinnerung an sein
für ihn unerträgliches Aussehen. Darauf verweist Horn sogleich, indem er anführt, dass Liszts
„Frau vor langer Zeit gesagt hatte, Sie [d. i. Liszt] litten unter Ihrer Häßlichkeit.“245 Die
Wendelgardsage erfüllt demnach primär den Zweck, Liszts innere Unsicherheit mit einem
nach außen demonstrativ zur Schau gestellten „Sagenservice“246 zu übertünchen. Die Risse
der bröckelnden Biedermeierfassade reichen bis in die kleinsten Nischen der Liszt-Figur.
Noch im Darbringen einer völlig belanglosen regionalen Anekdote zeigt sich die
Doppelbödigkeit des unglücklichen Liszt. Ferner bildet das Sagenmotiv des Schweinskopfs
bzw. des Rüssels den Übergang zu einer erneuten Kränkung des Ästheten, einer Kränkung,
die jedoch keineswegs Horns Intention entsprach und die somit auf die Unmöglichkeit einer
dauerhaften Freundschaft zwischen beiden schließen lässt.
242
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 53
Ebenda.
244
Ebenda.
245
Ebenda.
246
Ders., S. 131
243
80
Eine freundschaftliche Vereinigung mit seinem Arbeitskollegen strebt Franz Horn in
der Tat vergebens an. Diese den Konkurrenzkampf überbrückende Freundschaft soll durch
eine authentische und bedingungslose Aufklärung der Konfliktursachen ermöglicht werden,
dabei eine solide Vertrauensbasis geschaffen werden. Walser hat die mittelalterliche Legende
um Placidus und Sigisbert in seinen Roman eingebettet, um Horns ureigenen Wunsch nach
reiner, zweckfreier Männerliebe zu veranschaulichen und ihn zudem mit der Natur- und
Kulturlandschaft des Bodensees zu einem Stimmungsbild verschmelzen zu lassen. Nun ist es
nicht mehr Liszt, welcher zum Legendenstoff des Bodenseeraums referiert und doziert,
sondern Horn selbst, der eine längere Passage aus einer Regionalzeitung anführt. Übrigens
wird auch hier noch am Rande auf Liszts überhebliche Art angespielt, da dieser sich nicht
herablassen will, den Lokalteil zu lesen, „da er nicht englisch erscheint“247. Der sodann
integral abgedruckte Artikel handelt vom Fund zweier Holzfiguren, die „in der Nähe der Insel
Mainau [im Wasser trieben und nach Einschätzung von Experten] die beiden Patrone des
Bündner Oberlandes, Sigisbert und Placidus“248 darstellen. In seinem Kommentar zu diesen
Zeilen gesteht Horn, wie sehr er „Sigisbert und Placidus beneidete [und er stellt sich vor, wie]
harmonisch [die beiden Figuren] durch alles Unwetter geschwommen sein“249 müssen. Hieran
wird ersichtlich, inwieweit Franz Horn seine Sehnsüchte nach einem unverbrüchlichen
Bündnis mit „Lord Liszt“ in die beiden Figuren projiziert. Letztere fungieren als Stellvertreter
einer nur im Sagenstoff denkbaren Vereinigung zweier Männer, die jedoch im abgründigen
Biedermeier illusorisch bleibt.
Die Beziehung zwischen dem Laien Placidus, dessen „christlicher [Name] auf einen
einheimischen Räter hin[weist]“250, und dem Abt Sigisbert, der „indes […] ein[en]
nationalfränkische[n] Name[n]“251 trägt, spiegelt das Verhältnis zwischen Franz Horn und
dem „Lord“. Horn ist der Einheimische, Liszt der Fremde. In der Sage gehen beide Figuren
eine fruchtbringende Beziehung ein. Im Roman bleibt dies aus. Horn steht mithin für den
aufopferungsvollen und in Freundschaft treu ergebenen Placidus, während Lord Liszt den
Klostergründer und mutigen, energischen Geistlichen Sigisbert symbolisiert. Dass noch eine
dritte Figur aus dem Legendenstoff namentlich erwähnt wird, dient der Brechung des Pathos,
welches in dieser Passage die Oberhand zu gewinnen droht. Der Landesherr „Präses Victor,
247
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 129f.
Ders., S. 130
249
Ders., S. 130f.
250
Müller, Iso: Geschichte der Abtei Disentis. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Benziger. Zürich 1971,
S. 10
251
Ebenda.
248
81
der letzte große Vertreter des altrömischen Gedankens und der churrätischen Souveränität“252,
ließ Placidus beseitigen. Dieser „primitive politische Mord“253 gehört ebenfalls zum
Sagenstoff. Die Mordtat verweist indirekt auf den Professor. Letzterer trägt (wie der
Landesherr) den Siegernamen „Viktor“ und wird von Franz Horn mit einem Bootsunglück
und dem tödlichen Unfall seiner Geliebten in Verbindung gebracht. Gerhild und Viktor bilden
denn auch „das wirkliche Paar dieses Tages“254, wie Horn in seiner Enttäuschung über die
missglückte Annäherung mit Liszt zu verstehen gibt. Ab hier hat der Legendenstoff
ausgedient und Walser nimmt sogleich den Faden der Haupthandlung, sprich die
Ursachenforschung im Zusammenhang ihres Streits wieder auf.
252
Müller, Iso: Geschichte der Abtei Disentis, S. 11
Ebenda.
254
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 131
253
82
III.7. Intertextualität
III.7.1. Heinrich Bölls Kanon – linksgerichtetes Engagement und l’art pour l’art
Im folgenden Abschnitt wird sich die Untersuchung auf drei im Roman erwähnte
Autoren konzentrieren. Im Blickpunkt stehen die Werke Bertolt Brechts, Jean-Paul Sartres
und Marcel Prousts. Im Namen des linksintellektuellen, literarischen Engagements halten
Brecht und Sartre Einzug in Bölls letzten Roman. Sie fungieren gewissermaßen als
Gewährsleute für einen Schriftstellertypus, der sein Schaffen in den Dienst gesellschaftlichen
Fortschritts stellt. Demgegenüber steht das sprachgewaltige Oeuvre Marcel Prousts als Chiffre
des aristokratischen, raffinierten Stils255. Zudem muss vorab betont werden, dass sowohl bei
Böll als auch bei Walser nicht die jeweiligen Werke an sich, sondern lediglich die Namen von
Literaten erwähnt werden. Von den Namen wird mithin metonymisch auf das jeweilige
Gesamtwerk und dessen Grundtendenzen zu schließen sein.
Der Name „Jean-Paul Sartre“ wird anlässlich des Empfangs in Blaukrämers Villa
genannt. In diesem neunten Kapitel spricht Katharina Richter von einem ebenfalls geladenen
Literaturpsychologen namens Tuchler, der lediglich als akademisches Dekorum dem
Empfang beiwohnt. Dieser „hockt […] nun allein […] da in seinem zerknitterten Anzug, mit
seiner Spießerkrawatte, hat vergebens seinen Geist versprüht. Wie kommt er aber auch dazu,
Grete Chundt Sartre ausreden zu wollen, den ihr nie jemand einzureden versucht hat. Sie weiß
von Sartre nur, daß er schmutzige Fingernägel hatte.“256 Offensichtlich wird Sartre in seinem
linksgerichteten Engagement von der Bonner Politikerkaste als Schmuddelkind angesehen,
welches die Belange jener Arbeiterschichten vertritt, die in den Augen der Chundts,
Blaukrämers und Wublers lediglich eine regierbare Zahlenmasse als Startrampe ihrer
Machtausübung darstellen. Darauf deutet die Aussage über die schmutzigen Fingernägel hin.
Unübersehbar ist jedoch Bölls Sympathielenkung an dieser Stelle, zumal der Leser hier längst
darüber unterrichtet ist, in welchem Maße die Sippschaft der Mächtigen in das organisierte
255
Für diesen Dichtertypus im weitesten Sinne stehen ebenfalls die nur am Rande erwähnten Thomas Mann und
Hugo von Hofmannsthal. Vgl. hierzu Böll, S. 178. Die folgende Untersuchung wird diese Autoren ausklammern,
obwohl sie auf den ersten Blick als deutschsprachige Dichter von Weltrang in einer germanistischen Arbeit den
Vorzug vor Marcel Proust erhalten müssten. Begründet wird diese Wahl damit, dass Prousts Werk gleich an
zwei verschiedenen Romanstellen Einzug hält und demnach für die Analyse ergiebiger ist. Schließlich wird von
einer Einbeziehung erstgenannter Autoren abgesehen, weil eine vertiefende Beschäftigung den Rahmen des
vorliegenden Abschnitts bei weitem überdehnen würde. Dies gilt ebenfalls für Friedrich Hölderlin, der auf S.
144 am Rande erwähnt wird und für Franz Kafka, dessen Name in einer Art Small Talk auf S. 154 Erwähnung
findet. Ferner werden die Dichter Faulkner, Gorki (beide auf S. 179) und Beckett (auf S. 180) aus den eben
angeführten Gründen in diesem Abschnitt ausgeblendet.
256
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 179
83
Verbrechen und nicht minder in die Nazivergangenheit impliziert ist. Dass der literarische
Begründer des Existenzialismus in einer solchen Gesellschaft lediglich als ungepflegter
Schreiberling erscheint, gerät in Bölls Verständnis indirekt zum literarischen, mehr noch zum
moralischen Ritterschlag. Die Ächtung Sartres innerhalb der machtpolitischen Bonner Kaste
nimmt kaum wunder, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Sartre seinen Figuren folgende
marxistische und den Klassenkampf beschwörende Diskurse in den Mund legt: „Le
mensonge, ce n’est pas moi qui l’ai inventé: il est né dans une société divisée en classes et
chacun de nous l’a hérité en naissant. Ce n’est pas en refusant de mentir que nous abolirons le
mensonge: c’est en usant de tous les moyens pour supprimer les classes.“257
Eine ergiebige Aussage über den Stellenwert und die Funktion zweier im Kanon
diametral entgegengesetzter Autoren verortet man in Eva Plints Worten: „Der Tod von Frau
Blaukrämer hat ihm [d. i. Grobsch] auch – na, sagen wir, zugesetzt. Ich habe ihn wieder ins
Bett gepackt, mit Tee, Suppe und Proust versorgt, den soll er jetzt mal lesen, nicht immer nur
diesen Brecht.“258 Hier gerät das Werk Marcel Prousts nachgerade zum ärztlich indizierten
Heilmittel. Neben der althergebrachten Versorgung mittels Bettruhe und gutverdaulicher Kost
soll die geistige Nahrungszufuhr den Genesungsprozess nicht minder unterstützen259. Brechts
Werk, ebenfalls metonymisch erwähnt, erscheint gegenüber dem sichtbar positiv besetzten
Proust als agitatorische Literatur, welche offensichtlich eine Gefahr für den Erkrankten
darstellt. Proust hingegen gilt in diesem Zusammenhang als der eskapistische Dichter, er steht
„dans la lignée de Nerval, de Baudelaire, dans la tradition symboliste qui cherche l’essence
des choses dans le rêve et dans le souvenir.“260 Folglich soll Ernst Grobsch in seinem
„metaphysischen Schüttelfrost“261 jenen Autor lesen, der die Flucht vor dem politischen
Tagesgeschehen zugunsten einer im Traum und der Reminiszenz auffindbaren Sinnstiftung
wählt. Bertolt Brecht ist mithin in einem Literaturverständnis, wie es Eva Plint indirekt
vorgibt, der Aufwiegler, welcher dem Leser keinerlei Sicherheit gibt, sondern herausfordert
257
Sartre, Jean-Paul: Les mains sales. Pièce en sept tableaux. Collection Folio. Editions Gallimard 1948.
Impression Société Nouvelle Firmin-Didot. 1996, S. 197 / Ich schlage folgende Übersetzung (ohne jeglichen
literarischen Anspruch) vor: „Die Lüge habe nicht ich erfunden: Sie wurde geboren in einer Klassengesellschaft
und ein jeder von uns hat sie bei seiner Geburt geerbt. Die Lüge werden wir nicht dadurch abschaffen, dass wir
es ablehnen, zu lügen: Dies geschieht nur, indem wir mit allen Mitteln die Klassen abschaffen.“
258
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 164
259
Für diesen Ableger der Heilkunst hat sich der Begriff „Bibliotherapie“ eingebürgert. Vgl. hierzu etwa den
Beitrag von Elisabeth Lukas: Zur Heilkraft des Lesens. In: Heilung durch Lesen? Ein Arbeitsbericht zur
Bibliotherapie. Herderbücherei. Fr. i. Breisgau 1980, S. 6ff.
260
Littérature. Textes et documents. XXe siècle. Edition revue et mise à jour. Collection dirigée par Henri
Mitterand. Nathan 1996, S. 124
261
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 164
84
und der deshalb abgelehnt wird. Galileis Worte „Ja, ich glaube an die sanfte Gewalt der
Vernunft über die Menschen. […] Das Denken gehört zu den größten Vergnügungen der
menschlichen Rasse“262 setzen sich deutlich ab vom ästhetisierenden Proust und verweisen
daneben auf den im Bonner Biedermeier ebenfalls „durchgefallenen“ Jean-Paul Sartre.
III.7.2. Martin Walsers spärlicher Kanon: Ein Böll-Roman als Zankapfel
Eigentlich liefert Walsers Roman lediglich eine einzige Passage, die eine wertende,
sprich einen „Minikanon“ bildende Aussage über einen Autor und dessen Stellenwert
darstellt. Es ist dies Liszts Antwort auf Horns Bemerkung, er habe gerade einen – nicht mit
Titel genannten – Roman Heinrich Bölls gelesen. Eine Funktion dieser Erwähnung kann
gleich vorweggenommen werden, denn sie schreibt sich in die Genese des Streits zwischen
Horn und Liszt ein. Sowohl Horn als auch sein Gegenüber beziehen sich auf einen Roman
Bölls, um den jeweiligen Konkurrenten in Gegenwart Thieles auszustechen. Franz Horn legt
seine Motive schonungslos offen. Bei ihrem allerersten Treffen „– Thiele lud ein ins
Waldhorn zu Loup de mer und Sauterne – wollte ich [d. i. Franz Horn] angeben mit einem
Buch, das meine Frau mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Es war von Heinrich Böll.“263
Hierauf nun antwortet der solcherart Herausgeforderte mit einer spöttischen, den in der Firma
bereits etablierten Horn indirekt als ahnungs- und anspruchslosen Leser abstempelnden
Bemerkung: „Ja nun, sagten Sie, eben dieses Buch sei Ihnen auch gerade geschenkt worden;
aber nicht von Ihrer Frau, sondern von deren Schwester, die einen Kosmetiksalon in CastropRauxel betreibe; Sie hätten hineingeschaut und es sofort an Ihre Putzfrau weitergeschenkt.“264
Dass sich der gerade zur Firma gestoßene Liszt in Anwesenheit Thieles mit solchen Aussagen
v. a. selbst disqualifiziert, liegt auf der Hand. Dieser herablassende Habitus schreibt sich in
den bereits beleuchteten, wichtigtuerischen Umgang mit Horn anlässlich ihres Ausflugs in die
Haltnau ein.
Ferner tangiert seine Hybris nicht nur Bölls Roman, sondern auch zwei Berufsstände,
die in seinem vollends unüberlegten Rundumschlag in Sippenhaft genommen werden. Zum
einen lässt er sich herablassend über seine Schwägerin aus, die, von Beruf Kosmetikerin, in
seinen Augen keinerlei literarisches Gespür hat, weil sie ihm einen derart misslungenen
Roman geschenkt hat. Zum anderen hält er es nach einem flüchtigen Blick auf einige Seiten
262
Brecht, Bertolt: Leben des Galilei. Schauspiel. Suhrkamp. Fr. a. Main 1963, S. 34f.
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 83
264
Ebenda.
263
85
desselben Romans für das Beste, diese scheinbar nutzlosen und dilettantischen Seiten seiner
Putzfrau zu schenken, die in seinen Augen für Bölls Werk die geeignete, weil ungebildete
Rezipientin ist. Auch Horns Ehefrau gerät somit implizit in die Schusslinie des entfesselt vor
sich hin kritisierenden Liszt, da sie es war, die ihrem Mann das soeben belächelte Buch
geschenkt hat. Anders als bei Böll verweist diese persönliche, von einer Figur vorgenommene
Kanonbildung nicht auf das Leseverhalten einer ganzen Gruppe. Hier dient die Lisztsche
Einschätzung eines Romans und dessen Autors dazu, die schier lächerlich anmutende
Konkurrenzsituation innerhalb eines süddeutschen Konzerns sichtbar zu machen. Hatte Liszt
in der Haltnau noch versucht, über seinen Vorsprung an Datenwissen seinem Gegenüber zu
imponieren, so ist es nun die Positionierung und Profilierung gegenüber einem literarischen
Werk und dessen Urheber, mittels derer ein Vorsprung ergattert werden soll. Anstatt ein
halbwegs sachliches und auf Austausch angelegtes Gespräch über Leseerfahrungen
anzukurbeln, nutzt Liszt Horns Einwurf, um sich bei seinem Arbeitgeber als anspruchsvollen
Literaturkenner mit treffsicherem Geschmack anzupreisen und gleichzeitig den Konkurrenten
als dementsprechend unwissend bloßzustellen. Wie eingangs gesagt, fungiert diese
Kanonbildung v. a. als weiteres Element in der Entstehung des Jahre später in der Haltnau
ausbrechenden Streits, der bekanntlich der Grund für Horns losgetretenen Schreibprozess ist.
86
III.8. Geschlechterrollen und Beziehungsstrukturen265
III.8.1. Heinrich Böll: Eheleben im Zeichen der Zementierung von Macht
Fritz Blaukrämer, der im Verlauf der Romanhandlung einen Ministerposten
übernimmt, hat eine verbrecherische Vergangenheit als Soldat im Zweiten Weltkrieg.
Anlässlich eines Empfangs zu Ehren des neuen Staatsdieners gibt ihm sein langjähriger
Weggefährte Paul Chundt zu verstehen, er sei im Besitz geheimer „Fotos, du [d. i.
Blaukrämer] warst nicht einmal in der SS und nur ein kleiner Fähnrich, aber Führer einer
Maschinengewehreinheit und schlimmer als mancher SS-Typ, und die Fotos zeigen dich, wie
du auf die armen Schweine schießen läßt, die aus einem KZ ausbrechen – zerlumpte, elende
Menschenwracks, die den Amis entgegenlaufen wollten – und du …“266 Seine erste Frau,
Elisabeth, hatte er wegen ihrer immer wiederkehrenden und sie aufzehrenden Erinnerungen
an ihren gehängten Bruder und aufgrund der „Prälatenstory“267 in eine als Hotel getarnte
Irrenanstalt verlegen lassen. Blaukrämers Funktionalisierung seiner Ex-Frau spiegelt ein
Frauenbild, welches ausschließlich die Verwertbarkeit der Frau für die Außendarstellung des
angehenden Bonner Spitzenpolitikers fokussiert. Die Maxime seines Handelns und seiner
Heirat mit der adligen Elisabeth Blaukrämer wird ebenfalls von Chundt offengelegt: „Du hast
Elisabeth nie begehrt, du wolltest nur diese exotisch wirkende protestantische Baronin, ein
verstörtes Kind mit einer habgierigen Mutter.“268 Gemeint ist Elisabeth Blaukrämer, geborene
Elisabeth von Bleibnitz, „ein hübsches, adeliges preußisches Protestantenkind“269, wie sie
ihren Ex-Mann zitiert. Sie wurde in ihrer Eigenschaft als Politikergattin lediglich als Objekt
der Symbolkraft und der Popularitätssteigerung ihres Mannes bei öffentlichen Anlässen wie
eine Trophäe umhergereicht: „Kaffeeklatsch, Partys, Schützenfest – sogar zum Feuerwehrball
ging ich, wie eine begehrte Tänzerin“270, meint Elisabeth Blaukrämer über ihre Rolle an der
Seite des Mächtigen.
265
Die Konstituierung von Geschlechtlichkeit über bestimmte Diskurse, wie es die Genderstudies vornehmen,
wird in dieser Arbeit nicht explizit erörtert. Gleichwohl treten v. a. bei Heinrich Böll verschiedene Rollen zu
Tage, aufgrund derer den Figuren eine besondere Geschlechtlichkeit zugewiesen wird. Bei Martin Walser
weichen diese Rollenschemata auf. Die Begrifflichkeiten „Mann“ und „Frau“ werden mithin ebenfalls keiner
näheren Analyse unterzogen und konventionell gebraucht, ohne dass jeweils eine kritische Untersuchung des
Sprachgebrauchs vollzogen wird.
266
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 159f.
267
Ders., S. 145
268
Ders., S. 158
269
Ders., S. 145
270
Ebenda.
87
Die Ehefrau als bloßes Dekorum hat jedoch ausgedient, sobald sie dem bzw. den
Mächtigen auf eine wie auch immer geartete Weise gefährlich wird. Die Prälatenstory, bei der
es sich um eine versuchte Vergewaltigung oder zumindest um eine unsittliche, von Elisabeth
Blaukrämer keineswegs gewollte Annäherung eines Geistlichen handeln muss, bildet
offensichtlich einen solchen Anstoß. Der Skandal wird kurzerhand qua Pathologisierung der
Ehefrau abgewendet. Elisabeth Blaukrämer hat im Prälaten den in Kriegszeiten als
„Bluthund“ gefürchteten „Plietsch, der sich jetzt Plonius nennt“271, erkannt. Ihre Weigerung,
Kinder zu bekommen, macht aus ihr schließlich eine für den Mächtigen nutzlose, ihm zur
Last fallende Gestalt: „Elisabeth accomodated herself with her new role, although the
marriage floundered on the issue of children because of her inability to forget the trauma of
her past“272. Aufklärung kennt das Bonner Machtgefüge nicht, selbst vor dem weiblichen
Ehepartner macht die Vernichtungsmaschinerie aus Vertuschung und Komplott keinen Halt.
Der Einzelne hat sich der Zementierung von Macht widerspruchs- und ausnahmslos zu
verschreiben, das geringste Verfehlen wird schonungslos mit Wegsperren und völligem
Ausschluss sanktioniert. Die Ehefrau ist entweder reizendes Dekorum, ein Epitheton ornans,
denn „Stimmung [bringt] Stimmen“273, oder mundtot. Zwischen diesen beiden Extremen
muss die Politikergattin, beide Male zur Unmündigkeit verurteilt, wählen.
Das Idealbild der Bonner Politikergattin zeichnet Paul Chundt von seiner eigenen
Ehefrau: „Und meine Grete, ruhig, bieder, macht die Geschäfte, ich die Politik“274. In dieser
Aussage spiegelt sich im Epitheton „bieder“ der Titel vorliegender Arbeit, das abgründige
Biedermeier weist der Frau allenfalls die Rolle einer Geschäftsfrau im Hintergrund zu, wobei
Böll offen lässt, was Chundt mit „Geschäften“ genau meint. Chundts pronominaler Gebrauch
ist zudem stark besitzanzeigend, die geachtete, die Norm erfüllende Frau wird sprachlich als
Possessivpronomen realisiert. Schließlich sei auf den Romantitel selbst verwiesen, welcher
die Frauenfiguren als Staffage auftreten lässt, ähnlich wie dies für die Rheinlandschaft gilt.
Dass Erika Wubler, v. a. aber Elisabeth Blaukrämer und Katharina Richter aus dieser
festgefahrenen Kulisse nicht als Komparsen, sondern als scharf konturierte Persönlichkeiten
heraustreten, ändert nichts am hier aufgezeigten und von der Männerwelt generierten
Frauenbild. Die Pathologisierung seitens der Mächtigen als Erklärungsmodell für weibliches
Verhalten wird auch dort ersichtlich, wo die Gefahr eines Skandals weniger akut ist, die
271
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 146
Finlay, Frank: On the Rationality of Poetry. Heinrich Böll’s Aesthetic Thinking, S. 105
273
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 145
274
Ders., S. 159
272
88
Öffentlichkeit jedoch gleichwohl auf eine nicht-intakte Biedermeier-Welt schließen könnte.
So wird die Abwesenheit Erika Wublers bei einem Hochamt von ihrem Mann wie folgt
quittiert: „Natürlich bist du vermißt worden, aber ein Skandal war es nicht. Sie haben dich für
krank erklärt, obwohl du es nicht wolltest.“275 Die führenden Politiker und ihre Helfershelfer
aus Wirtschaft und Kirche sehen im Protest Erika Wublers, die eigentlich wegen der
zynischen Vertuschung des Selbstmords ihrer Freundin Elisabeth Blaukrämer nicht erscheint,
einen Fall für den Mediziner. Welche Pathologie sie dieses Mal diagnostizieren, ist
unwesentlich. Vielsagend ist die Art und Weise, wie auch hier mit einer Abweichlerin, die
ihrer holzschnittartigen Rollenzuweisung entwachsen ist, verkehrt wird. Mit Blick auf die
Figur Katharina Richter sei auf den Abschnitt II.2.2. dieser Arbeit hingewiesen. Dort wurde
ein Vergleich zwischen Katharina Richter und Katharina Blum angestellt.
III.8.2. Martin Walser: Inszenierung(en) einer Ehe
Martin Walser zeichnet kein derart düsteres Bild der Beziehungen zwischen den
Ehepartnern. Die Ehe als konstitutiver Bestandteil der Außendarstellung des Politikers, wie
sie bei Heinrich Böll vorliegt, weicht bei Walser zu einem oftmals losen Beisammensein auf,
dessen Rollenverteilung gleichwohl nicht minder starr ist. Die Ehe zwischen Franz Horn und
seiner Ehefrau Hilde ist reine Inszenierung. Nach einer dreijährigen Trennung sind die beiden
unmittelbar nach Horns missglücktem Selbstmordversuch wieder ein Paar. Das Einzige, was
die beiden mehr schlecht als recht zusammenhält, sind neben den gemeinsamen Töchtern
Ruth und Amanda die konfliktträchtigen Situationen, in denen eine Profilierung der eigenen
Person möglich erscheint. Hierbei wirft Hilde ihrem Gegenüber einen krankhaften
„Aufbewahrungstick oder auch Konservierungsmanie“276 vor. Gemeint ist die oben
beschriebene Lust am Archivieren, welche als Sinnstiftung und Rückdatierung fungiert. Das
Zusammenleben und die Gespräche sind nur noch über rein häusliche Konflikte vorstellbar,
die Beziehung ist einer starken Erosion ausgesetzt, die Walser einfühlsam-ironisch beschreibt:
„Aufbewahren oder Wegwerfen, an dieser Unvereinbarkeit konnte jeder von ihnen, wenn ihm
danach war, den täglichen Kampf entzünden. Wenn sie keinen Kampf brauchten, konnten sie
heiter plaudern über die Frage, was zuerst gewesen sei, seine Aufbewahrungsmanie oder ihre
Wegwerfsucht.“277 Diese Intermezzi der Eintracht können nicht darüber hinwegtäuschen, dass
Horns eine Scheinehe führen.
275
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 190
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 17
277
Ebenda.
276
89
Einzig und allein der Selbstmordversuch hat die beiden wieder ein wenig zueinander
geführt, ohne dass das bröckelnde und von Rissen zersetzte Biedermeier in eine veritable
Nähe und Liebesbezeugung umschwingt. Dass die Familie überhaupt keinen Halt in
Krisenzeiten bietet, zeigen Horns gewohnt ungeschminkte Worte im ersten „Postscriptum“:
„Ich trennte mich, als Sie kamen, von meiner Familie, Ihre Familie trennt sich, hat man den
Eindruck, jetzt von Ihnen.“278 Die Kreuzstellung der Wortfolge macht aus dieser Aussage
einen Chiasmus. Horn möchte seinem früheren Konkurrenten Liszt dessen gescheiterte Ehe
vor Augen halten: „Herr Thiele schüttelte seit Monaten den Kopf über Sie, wie er ihn einmal
über mich geschüttelt hatte. Er erfährt ja immer mehr als man für möglich hält. Er weiß,
wieviel wir trinken. […] Er wußte natürlich als erster, daß Ihre Frau und die Polin in Paris mit
Schwarzen über die Boulevards flanierten“279. Liszts Ehefrau ist seit „Olga Steinmetz’
Auftauchen“280 augenscheinlich mit dieser geheimnisumwitterten Polin, zu der offenbar mehr
als ein freundschaftliches Verhältnis besteht, auf ehelichen Abwegen. Frau Liszt gibt sich
gegenüber ihrem Gatten sehr dominierend, man „spürte die gewissermaßen feine Herrschaft,
die sie über ihren Mann ausübte, die er sich gefallen ließ wie eine andauernde
Auszeichnung.“281 Anders als Horn, der seine Schwächen schonungslos offenlegt, kann sich
Liszt jedoch nicht von der Rolle, die er nach außen abgibt, verabschieden. Deshalb deutet er
die schroffen Befehle seiner Frau als Zärtlichkeiten. Die biedere Fassade soll gewahrt werden,
Selbstbetrug ist eines von mehreren Mitteln, dies zu bewerkstelligen. „[W]ährend Horn und
Liszt sich mit ihrem Abstieg abfinden müssen, scheinen ihre Frauen von der Schwäche ihrer
Männer zu profitieren: […] Es gibt offenbar keine Beziehungen, die nicht von der Macht
geprägt worden sind.“282 Mithin reihen sich die in Walsers Roman beschriebenen
Eheabgründe in Canettis Ausführungen über die Macht ein. Anders als bei Böll wird das
Ausreißen aus den im Vorfeld vereinbarten Rollen und der Ehe keinesfalls mit dem
Ausschluss der Frau geahndet. Mann und Frau begegnen sich mithin auf gleicher Augenhöhe;
die Inszenierung können sie trotzdem nicht abwenden. Der Firmenchef Thiele hat ohnehin
ständigen Einblick in das Eheleben seiner Angestellten; nach außen wird die Fassade jedoch
aufrechterhalten. Gerade dagegen kämpft Franz Horn in seinen Briefen an, wie noch im
Abschnitt zur Konfliktlösung zu sehen sein wird.
278
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 42
Ders., S. 39f.
280
Ders., S. 74
281
Ders., S. 20
282
Doane, H. A.: Die Anwesenheit der Macht. Horns Strategie im Brief an Lord Liszt. In: Martin Walser.
International Perspectives, S. 85
279
90
Schließlich werden die Inszenierung nach außen und der Abgrund nach innen am
Ehebruch sichtbar, den Franz Horn nach eigener Aussage seit geraumer Zeit begeht. Ganz
nüchtern relativiert er die Fehler anderer dadurch, dass er auf sein eigenes Fehlverhalten
hinweist, ohne dabei Besserung zu geloben. Er hat ein Verhältnis zu einer Frau, „mit der [er],
als [er] von [s]einer Familie getrennt lebte, die Erledigung des Geschlechtlichen zu besorgen
pflegte. [Sie] hatten einander nichts werden wollen […], aber als [sie], weil [er] zur Familie
zurückging, auseinander sollten, stellten [sie] schaudernd fest, daß sich eine Beziehung
entwickelt hatte. Jeder von [ihnen] beiden hatte mit dem anderen ein Mitleid, das er, dem
anderen zuliebe, als Liebe ausgab. [Hilde] hält es für ganz ausgeschlossen, daß [er] sie
betrüge. Das Ausmaß ihres Vertrauens bestimmt die Größe [s]eines Betrugs.“283 Der
Sprachgebrauch dieser Beichte ist symptomatisch für eine Beziehungsstruktur, die
ausschließlich auf die Erledigung primärer Bedürfnisse ausgelegt ist. Der an die Verrichtung
einer Notdurft erinnernde Stil mit einer de facto unpersönlichen Infinitivkonstruktion („zu
pflegen“) reflektiert die Funktionalisierung von Partnerschaften. Ferner zeugt das Schaudern
vor dem über die Monate entstandenen Beziehungsgeflecht und der daraus resultierenden
Annäherung von einem Abtötungs- und Erosionsprozess jeglicher Bindung an einen
Lebenspartner. Schließlich wird das Mitleid als Zuneigung vermittelt, um die Abgründe der
eigenen Seelenlandschaft vor dem jeweils anderen zu verbergen.
III.9. Strategien zur Konfliktlösung
III.9.1. Heinrich Böll: Wegsperren ins Hotel „Irrenanstalt“ und zynische
Zweckentfremdung des Therapeuten
Adornos und Horkheimers These vom „Äquivalent“ wird in einem Gespräch zwischen
Eva Plint und Ernst Grobsch sinnfällig. Erstere spricht von einer Warnung seitens Hermann
Wublers, mit dem sie ein platonisches Verhältnis hat. Plint solle „generell […] nicht zu viel
[…] plaudern“284. Darauf entgegnet ihr Grobsch in mahnendem Tonfall, diese Warnung ernst
zu nehmen. Sogleich verweist er auf das Schicksal Elisabeth Blaukrämers. „Da, wo sie ist,
hocken die abgelegten, weggeworfenen Frauen – in einem Edelkittchen. Da soll’s sogar nette
junge Männer geben, die man ihnen aufs Zimmer schickt, wenn man den Eindruck hat, sie
hätten’s gern.“285 Das Trauma Elisabeth Blaukrämers hat seinen Ursprung in den Wirren des
Zweiten Weltkriegs, als ihr Vater und ihr Bruder gehängt wurden. Oft schweben diese
283
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 100f.
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 108
285
Ders., S. 109
284
91
Erinnerungen vor ihrem geistigen Auge, dann „fing sie an, von diesen Aufgehängten zu
sprechen, von ihrem Vater, ihrem Bruder – von den Zungen aus deren Hals“286, wie Erika
Wubler nach dem Suizid dieser immer „ein wenig verstörten“287 Frau zu berichten weiß.
Dieses Trauma bildet jedoch eine gefährliche Reminiszenz an die Verstrickungen ihres
Mannes und dessen engsten Freundeskreises, allen voran des „Bluthundes“, den Elisabeth
Blaukrämer im Prälaten erkannt hat, als dieser sie, sichtlich unter Alkoholeinfluss, in ihrem
Schlafzimmer aufsuchen wollte. Nach ihrem Tod meint Fritz Blaukrämer am Rande der Feier,
die er trotz des Todesfalls nicht absagt: „Sie war nicht zu retten, ging von Haus zu Haus, von
Café zu Café und erzählte ihre Schauergeschichten über dich [Paul Chundt] und mich. Wo sie
auftauchte, nur Skandale – sie mußte weg.“288 Der pronominale Gebrauch verweist auf die
bewusste Abschiebung der Wahrheit in das Reich psychischer Pathologie, um die eigene
Vergangenheit
ruhen
zu
lassen289.
„Ihre“
Version
ist
damit
diejenige
einer
unzurechnungsfähigen Person. Das Possessivpronomen „ihre“ im Verbund mit den als infantil
und großmütterlich geltenden „Schauergeschichten“ ist ein klares Indiz der Verdrängung
eigener Schuld. Das Trauma der Politikergattin wird auch als Grund für die kinderlose Ehe
angeführt; Elisabeth fragt sich, „wieso so einer noch Kinder wollte. Ich wollte keine – ich sah
immer meinen Bruder und die Plotzekkinder oben am Deckenbalken hängen. Immer.“290 Das
Wegsperren in das als Hotel firmierende Sanatorium Kuhlbollen wird von Elisabeth
Blaukrämer mit der zynisch-knappen Sentenz „Gäste sind wir, nicht Patienten“291
durchschaut. Neben der voreingenommenen Therapeutin Dr. Dumpler wird die zynische
Zweckentfremdung der behandelnden Personen an der Figur Eberhard Koldes ersichtlich.
Letzterer fungiert offiziell als Therapeut, ist jedoch einer jener jungen Männer, von denen
eingangs die Rede war. Sexueller Tauschhandel ist mithin eine weitere Dienstleistung im
Hotel „Irrenanstalt“. Elisabeth Blaukrämer durchschaut in ihrer Hellsichtigkeit auch dieses
Manöver, wenn sie meint: „Therapeut für eine gewisse Art von Frauenleiden, nehme ich an.
Ich leide nicht an diesem Leiden.“292
286
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 183
Ebenda.
288
Ders., S. 161
289
Dass Elisabeth Blaukrämers Aussagen allesamt der Wahrheit entsprachen, wird von keinem Geringeren als
Paul Chundt bezeugt: „Vergiß nicht: alles, was Elisabeth verkündete, war wahr, deshalb war sie so
unglaubwürdig.“ (Böll, S. 163)
290
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 145
291
Ders., S. 151
292
Ders., S. 153
287
92
Wegen ihrer „Erinnerungen, die [sie] nicht löschen und nicht interpolieren kann“293,
wird sie mit einer voreingenommenen Therapeutin konfrontiert, welche krampfhaft versucht,
bei Elisabeth Blaukrämer einen persönlichen Geschichtsrevisionismus in Gang zu bringen.
Als die „Patientin“ zum wiederholten Mal standhaft bleibt und nicht auf den Versuch der
staatlich abgesegneten Gehirnwäsche eingeht, tritt Dr. Dumpler, deren Mann selbst
eingeweihter „Bundesbruder“ ist, schweigend und „entsetzt ab“294, wie die Szenenanweisung
verrät. Elisabeth Blaukrämer ihrerseits „tut alles andere, denn an diese Korrektur zu gehen,
und sie bringt sich an dem Tag um, an dem der, der sie ins Sanatorium hat bringen lassen,
seine Ernennung zum Minister feiert.“295
Überhaupt ist in Bölls letztem Roman oftmals die Rede von Selbstmord als letztem
Ausweg aus dem biederen Jammertal. Neben Elisabeth Blaukrämer und der weiter oben
erwähnten Frau Heinrich von Kreyls sind es auch Elisabeth Blaukrämers Schwester und
Plottkers Frau Angelika, die den Freitod wählen. Die Ehefrau des Bankiers Krengel starb
unter ungeklärten Umständen, ein Suizid wird hier ebenfalls nahegelegt: Auch ihm wurde von
Kapspeter geraten, seine Frau „nach Kuhlbollen zu schicken, da würden ihr das Zahngold und
ihre Angst vor dem Duschen ausgetrieben. Aber [er] wollte ihr nichts austreiben lassen.“296
Die Anspielung auf Traumata, die auf Gaskammern in Konzentrationslagern und den Handel
mit Zahngold getöteter Juden zurückgehen, ist evident. Im Sanatorium Kuhlbollen, einem
Gefängnis für widerspenstige Politikergattinnen, wird eine gespenstische Kulisse aufgebaut.
Nicht nur die Therapeuten, sogar die „Rehlein – süß, scheu und doch zutraulich“297, sind auf
die täglichen Bedürfnisse der Gäste regelrecht zugeschnitten. Wie Roboter oder ausgestopfte
Exemplare stehen die Rehe stets in Sichtweite. Mit Heroinspritzen oder anderen Substanzen
macht man aus den Tieren gefügige Komparsen, um die nach außen biedere Idylle zu
vervollständigen. Auch in Bezug auf diese Scheinwelt bringt Elisabeth Blaukrämer die
Strategien der Konfliktlösung Bonner Spitzenpolitiker auf den Punkt: „[D]a brauch’ ich nicht
einmal, was ich wirklich nicht habe: Phantasie, um zu wissen, daß die lieben Tiere
manipuliert sind. Ich brauche nur auf einen Knopf zu drücken und bekomme Chopin oder
Vivaldi in bester Qualität.“298
293
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 150
Ebenda.
295
Wirth, Günter: Heinrich Böll. Religiöse und gesellschaftliche Motive im Prosawerk, S. 322
296
Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 223
297
Ders., S. 150
298
Ders., S. 150f.
294
93
94
III.9.2. Martin Walser: Das Briefeschreiben als Therapie
Demgegenüber
bietet
Walsers
Roman
einen
ganz
anderen
Ausweg
aus
konfliktträchtigen Situationen, nämlich die eingehende Beschäftigung mit dem Problem in
Form eines bzw. mehrerer Briefe. Dass diese am Ende nicht einmal abgeschickt werden,
ändert nichts an der therapeutischen Wirkung des Festhaltens und der damit einhergehenden
Selbstvergewisserung. Der eigentliche Grund des einsetzenden Schreibprozesses wird in
erlebter Rede angeführt: „An Himmelfahrt hatten sie den Krach gehabt, also gestern vor einer
Woche. Heute vor einer Woche hatte er den Brief geschrieben. Liszt hatte nicht reagiert.
Überhaupt nicht reagiert! Unglaublich!“299 Nicht zuletzt die beiden Ausrufezeichen deuten
auf Horns äußerst erregten Zustand hin, der unbedingt einer Klärung bedarf. Das Medium,
welches den Konflikt bereinigen soll, ist der Brief. Gewissermaßen ist Horns Muse der
Mangel, wie Martin Walser in einer gleichnamigen Rede seine eigenen Schreibanlässe einmal
beschrieben hat: „Wenn alles so wäre, wie man es gerne hätte, würde man nicht schreiben.
[…] Von heute auf morgen mußte ich mich gegen diese kraße Erfahrung wehren, […] gegen
diese deformierende […] Erfahrung, ein unselbständiger Mensch zu sein“300. Horn kommt
ebenso wenig gegen diesen schieren Schreibtrieb an wie der Autor selbst. Das Schreiben ist
beiden ein inniges Bedürfnis, keine Inspiration ex nihilo. Bereits mehrmals wurde auf Horns
ungeschminkten Umgang mit seiner selbst und mit dem Adressaten seiner Briefe gesprochen.
Seine eigene Gefühlswelt stellt Horn im Brief ausgiebig dar und scheut dabei auch nicht vor
kitschigen bzw. homoerotischen Schilderungen zurück: „Ach, es war doch angenehm, mit
Ihnen durch die Löwenzahnwiesen in Richtung Bodensee zu fahren! […] Ich, mich Ihrer
Führung anschmiegend, weil ich weiß, wie gern Sie organisieren.“301 Horn zeichnet in seinen
Briefen die komplexe Genese des in der Haltnau ausgebrochenen Streits nach. Zu diesem
Behelf macht er Rückblenden, um zu zeigen, dass der Vorfall an Himmelfahrt kein
bedauernswerter Aussetzer, sondern ein schier unausweichliches Schicksal war. Schon
mehrmals wurde gezeigt, dass Horn längst erkannt hat, inwieweit Liszt eine ähnlich tragische
Figur ist wie er selbst, bevor es zu seinem Suizidversuch gekommen war. Im Abschnitt zu
Adorno und Horkheimer bzw. zu Canetti wurde deutlich, dass Walsers Roman u. a. eine herbe
Kritik an den verheerenden Folgen der Leistungsgesellschaft kapitalistischen Zuschnitts
299
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 21
Ders.: Meine Muse ist der Mangel. In: Ders.: Zauber und Gegenzauber. Aufsätze und Gedichte. Suhrkamp.
Fr. a. Main 2002, S. 116f.
301
Ders.: Brief an Lord Liszt, S. 30
300
95
beinhaltet. Horn sieht nun endgültig den Moment gekommen, seinem Arbeitskollegen in weit
ausholenden Worten einen Spiegel vorzuhalten.
In der Haltnau war es ihm misslungen, Liszt „das herrschende Verhältnis [innerhalb
der Firma] als Hierarchie vorzustellen. Immer [ist] es nur [Horn], der das so sieht.“302 Es kam
zum Streit. Alkoholeinfluss kann nicht als Hauptursache gedeutet werden, vielmehr Liszts
krampfhafte Versuche, seinen Gegenüber zu demontieren. Daneben gilt Horns gemischte
Gefühlslage gegenüber Liszt als Grund für einen zum Scheitern verurteilten Klärungsversuch:
„Als Zwilling von Horns ‚leidvoller Erfahrung’ ist Liszt von der Erkundung des Eigenen nicht
ausgeschlossen. Da er jedoch auch als Miturheber des Unglücks gilt, sind Horns Gefühle ihm
gegenüber ambivalent. Immer wieder schwankt er zwischen Ablehnung und Mitgefühl.“303
Liszt hat seit dem Auftreten des emporstrebenden Ryynänen in Thieles Firma ausgedient.
Diese Situation ist Horn bestens bekannt, hat er doch Jahre zuvor selbst diese Erfahrung
gemacht, als Liszt ihn aus Thieles Gunst verdrängt hatte. Die Ursachenforschung, auf die sich
Horn in seinen Briefen begibt, hat einen Kernpunkt. Er will Liszt klarmachen, dass „die
freche neue Blüte“304, sprich Ryynänen, ihn längst zum Statisten degradiert hat.
An Himmelfahrt hat Franz Horn Liszt „zum ersten Mal verraten, wie wenig [er ihm
seine] Mitwirkung an [s]einem beruflichen Schicksal vergessen kann.“305 Unmittelbar im
Anschluss an diese Behauptung liefert Horn jedoch den eigentlichen Grund für den späteren
Streit: „Beleidigt hat [Liszt] offenbar, daß [Horn] den Mut hatte, zu [ihm] zu sprechen, wie
man zu einem spricht, der einem nichts mehr anhaben kann, weil er übler dran ist als man
selbst.“306 Gemeint ist hiermit die Sozialebene des kommunikativen Akts, sprich der Tonfall
und die mimisch-gestische Einbettung desselben. An der Art und Weise, wie Horn das Wort
an Liszt richtet, merkt dieser, dass er längst in einem unaufhaltsamen beruflichen und privaten
Abstieg begriffen ist. Dies bedeutet einen empfindlichen Angriff auf seine weiterhin
krampfhaft zur Schau gestellte, bröckelnde Autorität. Anstatt wie Horn die eigenen
Schwächen einzugestehen, übt er sich weiterhin im Rollenspiel. Horn zeichnet die einzelnen
Etappen der Entstehung ihres Streits minutiös nach, er lässt nicht davon ab, Liszt auf dessen
neuralgischen Punkt hinzuweisen: „Und Sie wollten jetzt einfach das Paradies beginnen
302
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 69
Doane, H. A. : Die Anwesenheit der Macht. Horns Strategie im Brief an Lord Liszt. In: Martin Walser.
International Perspectives, S. 98
304
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 45
305
Ders., S. 132
306
Ebenda.
303
96
lassen. Ich wußte nur zu genau, warum. Sie hatten gerade Gelegenheit gehabt, Herrn Thiele
von der Seite kennenzulernen, von der ihn die kennenlernen, deren Nutzen für ihn im
Nachlassen begriffen ist.“307 Angesichts des eigenen beruflichen Abstiegs sucht Liszt einen
neuen
Verbündeten.
Konkurrenzsituation
Er
war
sichtbar
kurzerhand
einen
darauf
bedacht,
Friedensschluss
nach
der
herbeizuführen,
jahrelangen
ohne
die
zurückliegenden Konflikte aufzuarbeiten. Horn jedoch wollte eine tiefschürfende Aussprache,
bei der auch vergangene Streitsituationen, allen voran der „vorletzte Streit […] in Hamburg,
im März des vergangenen Jahres“308, besprochen werden sollten.
Ferner wird im Brief berichtet, wie in der Haltnau Liszts angeblicher enger Kontakt zu
Thieles malender Ehefrau als Lüge entlarvt wurde: „Aber ich weiß todsicher, daß Frau Thiele
seit Anfang Mai auf einer griechischen Insel ist. Auf Korfu. […] Sie, mein Lord, können mit
Frau Thiele also in diesen vierzehn Tagen nur auf sehr metaphysische Art gefrühstückt und
diskutiert haben. Das habe ich Ihnen in der Haltnau gerade so vorgehalten.“309 Auch hierauf
reagiert Liszt keineswegs im Sinne eines Eingeständnisses seines Rollenzwangs, sondern
verschanzt sich hinter unglaubwürdigen Bekräftigungen. Auch Drohgebärden – Zeichen
zunehmender Aggressivität und eines bevorstehenden Kontrollverlusts – hat Horn in diesem
Moment an Liszt beobachtet: „Sie sahen mich an … ich kann nur sagen: drohend! Ihre
Unterlippe tief in Ihren Mund hineingebissen.“310 Der rechthaberische Liszt wird im Brief als
„moralischer Narziß“311 persifliert.
Für Horn ist diese Petrifizierung seiner schmerzenden Erinnerungen eine Art der
Sinnstiftung. Im Schreibakt kann er gewisse Gründe und Tatbestände fest-halten und begreifen, sie somit einordnen. Anders als der Ästhetiker Liszt setzt Horn auf schonungslose
Aufarbeitung statt auf Verdrängung. Nur im Medium des Briefes ist Horn ehrlich zu sich
selbst, kaum verlässt er verrichteter Dinge seine Privatwohnung, beginnt von Neuem der
Selbstbetrug. Der Romanschluss parodiert dies in verdichteter Form: „[E]r ging mit frischen
Socken in Sandalen auf sein Auto zu und bog, fast schon übermütig vor Gefaßtheit, in die
307
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 39
Ders., S. 36
309
Ders., S. 74
310
Ders., S. 75
311
Ders., S. 47
308
97
Straße ein. Er fuhr zu einem Fest. Er hatte keine Probleme. Die Leere rauschte interessant.
Und drüben das Allgäu trug die Sonne wie einen Kopfschmuck.“312
312
Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 153
98
IV. Zusammenschau
Die verschiedenen Sichtachsen auf die beiden Romane lassen eine differenzierte und
ergiebige Bestandsaufnahme unter den Prämissen der übergeordneten Thematik zu.
Vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass die einzelnen textimmanenten Schwerpunkte
zwar jeweils unterschiedliche literarische Realisierungen in beiden Werken ergeben, dass
jedoch
in
jedem
Abschnitt
Anschlussstellen
zwischen
den
Romanen
als
auch
Verbindungslinien zur Themenstellung ersichtlich werden. Das abgründige Biedermeier,
welches in dieser Arbeit zur Diskussion stand, erfasst sämtliche Lebensbereiche der Figuren
in ihren wechselseitigen Beziehungen und die Psyche der einzelnen literarischen Gestalten.
Begonnen hat die Analyse mit zwei Vergleichen zu jeweils themen- und motivverwandten
Werken beider Autoren. Wie in der Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ hat
Heinrich Böll im Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ die verheerenden Auswirkungen der
Machtanhäufung aufgezeigt. Obgleich die Boulevardpresse in seiner Erzählung am Pranger
steht und nicht die Bonner Politikerkaste, wurden Parallelen in der Namensgebung und der
Sympathielenkung einzelner Figuren aufgezeigt. Für Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“
und seinen hier diskutierten Roman „Brief an Lord Liszt“ wurde gezeigt, inwieweit
insbesondere die Figurenkonstellation deutliche Ähnlichkeiten aufweist. Die alsdann
besprochenen Werke Adornos, Horkheimers und Canettis stellten die daran anschließenden
Detailuntersuchungen
auf
einen
gemeinsamen
theoretischen
Sockel.
Die
Vernichtungsmaschinerie und die Grundbedingungen der Macht sind zentrale Gedanken in
Canettis Schrift. Aus beiden Romanen wurden jeweils mehrere Textpassagen auf ihre
Auseinandersetzung mit diesen Themen befragt. Dabei hat sich herausgestellt, dass Canettis
Ausführungen sowohl bei Böll als auch bei Walser eine literarische Umsetzung erfahren. Dies
gilt ebenfalls für die scharfen Sentenzen Adornos und Horkheimers. Die von Letzteren
beschriebene Dialektik der Aufklärung tritt in beiden Romanen zu Tage.
Ferner haben die einzelnen Abschnitte zur Detailanalyse zahlreiche, in den Texten
verortete Spuren des bröckelnden Biedermeier zu Tage gefördert. Mit der Thema-RhemaStruktur zweier kürzerer Passagen wurde versucht, bis in die kleinsten Nischen der
thematischen
Entwicklung
und
des
Isotopiegewebes
die
seelischen
und
zwischenmenschlichen Schreckensbilder, welche hinter der gutbürgerlichen Fassade
hervortreten, offenzulegen. Die beiden Abschnitte „Komposition“ und „Erzählsituationen“
haben diesbezüglich weniger Einsichten geliefert; dennoch gewährten die darin gezeitigten
99
Ergebnisse erhellende Einblicke in die narrative und kompositorische Architektur beider
Romane. Es wurde auch hier stets versucht, Verweise auf die übergeordnete Thematik anhand
aussagekräftiger Textbelege zu liefern. Vor dem Hintergrund dieser beiden Abschnitte
zeichneten sich bei der Beschäftigung mit der Raumsemantik zweierlei Abgründe ab. Böll
verlegt den Großteil seiner Monolog- und Dialogszenen in biedere Villen. Diese sind für die
Ehefrauen der Bonner Machthaber und Strippenzieher nichts Anderes als Vorstufen zum
Sanatorium Kuhlbollen, in das jene Frauen verlegt werden, welche das Machtgefüge
gefährden. Überhaupt zeichnet Böll in seinem letzten Roman, dies wurde mehrmals
aufgezeigt, ein äußerst düsteres Bild, an dessen Rändern weder der katholische Glaube noch
irgendeine politische oder gesellschaftliche Utopie hoffnungsvoll aufleuchtet.
Walsers Hauptfigur, der arg gebeutelte Franz Horn, welcher sich nach einem
Selbstmordversuch von den Koordinaten des unbedingten Leistungsdrucks und der
unbändigen Aufstiegssucht befreit hat, legt sich ein Archiv an. Letzteres ist keine
herkömmliche Urkundensammlung bzw. ein Ort, um eine solche aufzubewahren. Horns
Archiv setzt sich aus unzähligen Alltagsgegenständen, aus „Nippes“ unterschiedlichster
Provenienz, zusammen. Sein „Schopf“ – noch die süddeutsche Bezeichnung für den
Sammeltempel trägt Spuren des Provinziellen – beherbergt jene Gegenstände, an denen Horn
eine Periodisierung seiner Existenz ablesen kann. Das Sammeln gibt ihm Halt, ist
Sinnstiftung, steht aber auch am Ursprung der unzähligen Streitereien innerhalb seiner
Scheinehe. Stets wird jedoch peinlichst darauf geachtet, dass der biedere Schein nach außen
gewahrt wird. Am Ende des Romans fährt er zur gemeinsamen Familienfeier. Der entlarvende
Tonfall in Walsers Naturbeschreibung des Schlusssatzes spricht Bände.
In Bölls erst postum erschienenem Roman dient die Natur als bloßes Dekorum, sie
trägt nur ganz vereinzelt zur Form-Inhalt-Kongruenz bei. Wie in einem Theaterstück Samuel
Becketts wandeln die Figuren vor der papiernen Rheinkulisse auf und ab. Bölls
Figurenarsenal ist genauso sinnentleert wie die stumme Szenerie, vor welcher der Roman
spielt. Die biedere Fassade wird von den Machthabern aufrechterhalten; um jeden Preis
begeben sich die teilweise an Kriegsverbrechen beteiligten, im Bonner Biedermeier
rekonvertierten Bundesbrüder auf Stimmenfang. Ein unverbrüchliches Triumvirat aus Politik,
Kapital und Klerus – der Bluthund wurde zum Prälaten – herrscht am Rheinufer. Das
Kompositum „Triumvirat“ ist dabei für den zweiten Bestandteil wortwörtlich zu nehmen. Die
einzige Frau, welche in Bölls wirrem Handlungsgeflecht als autonome Figur herausragt, ist
100
die an Katharina Blum erinnernde, am Ende von der Verfolgung durch Schwamm bedrohte
Katharina Richter. Sie bleibt jedoch eine Randfigur. Der Frau hat Böll somit nolens volens
drei Alternativen des Lebenswandels bereitgestellt. Entweder sie unterwirft sich, wie die
biedere Frau Paul Chundts, unter die patria potestas und gilt als Vorzeigedame, gleich einer
Trophäe, die man bei Hof herumreicht. Tut sie das nicht, dann landet sie, insofern sie dem
Machtbereich des Politikers untersteht, im Kuhlbollen. Dort steht ihr dann, wie am Beispiel
Elisabeth Blaukrämers sinnfällig wurde, ein nimmer enden wollender Spießrutenlauf bevor.
Der dritte Weg ist gleichsam mehr Aporie als Ausweg. Katharina Richter betritt ihn, der Leser
weiß jedoch um die ständige Bedrohtheit solcher Figuren.
Der Zynismus des Mächtigen wird auch bei Walser verhandelt, doch weicht die
durchgehend desillusionierte Darstellung hier an manchen Stellen einem ironischen Unterton.
Dieser verharmlost nicht, sondern ist konstituierender Bestandteil von Walsers Schreiben. Die
Naturbeschreibungen bilden eine mitunter pathetisch aufgeladene Projektionsfläche für den
Streit, der sich wie ein furchtbares Gewitter entlädt. Das Reinigende, welches Gewittern
allgemein nachgesagt wird, bleibt nach dem Haltnaustreit jedoch aus. Dieser Mangel ist der
Grund für das Einsetzen des sintflutartigen und immer wieder von neuem hervordringenden,
vom Mangel genährten Schreibergusses. Die Briefe und Zusätze werden am Ende nicht
abgeschickt, sondern im zweiten wichtigen Archiv, dem Schreibtisch, sorgsam verstaut. Der
Streit wird mithin nicht beigelegt. Eine Schlichtung ist utopisch. Die brave bürgerliche
Provinz hat Risse. Walser ist darum bemüht, sie wie in einem Brennglas sichtbar zu machen.
Sogar eine nicht zufällig an Christi Himmelfahrt stattfindende Wanderung durch die in allen
Farben strahlende Haltnau ist Schauplatz der Zwietracht. Liszt, ein Norddeutscher, ist nicht
nur aufgrund seiner Herkunft ein Fremdkörper im Bodenseeraum. Anders als Horn hält er
krampfhaft an den Prinzipien der Ellbogengesellschaft fest. Auch ein der Lächerlichkeit
preisgegebener Wissensvorsprung gegenüber seinem Konkurrenten, der ein solcher gar nicht
sein will, ist für ihn Mittel zum Zweck. Die Untersuchungen zur Funktion des Mythos haben
das gezeigt.
Bei Böll hält die Nibelungensage Einzug in den Roman, um an die Verbrechen der
Politiker und an deren Vertuschung zu erinnern. Leitmotivisch durchziehen die versenkten
Akten die Romanhandlung. Daneben ist die Rede vom Selbstmord einer Figur. Hier wird die
Nibelungensage zugunsten einer germanischen Mythengestalt ausgeblendet. Die Wellen des
Rheins sind für die lebensmüde Walküre das letzte Refugium. Mit Blick auf die
101
Kanonbildung beider Romane haben Böll und Walser ungeachtet der unterschiedlichen Fülle
an evozierten Autoren eine Funktionalisierung im Sinne der Romanhandlung vorgenommen.
Böll zeigt, wie Brecht und Sartre vor den Pforten des Machtzentrums stehen, ohne dass ihnen
Einlass gewährt wird. Es sind dies Zeichen einer unilateralen Beschäftigung mit Literatur. Die
Scheineliten verabreichen Proust als Laxativum, da Brecht die Gemüter zu sehr in Wallung
bringt. Sartres dreckige Fingernägel sind die einzigen Spuren, die dieser Autor im Bonner
Komplottdickicht hinterlässt. Einzig und allein die Randfiguren, wie der zum Dekorum
geschrumpfte Literaturprofessor, lesen neben Thomas Mann und dem eskapistischen Proust
linksengagierte Werke. Walser hat seinen spärlichen Kanon – ähnlich wie dies beim Mythos
der Fall ist – für die Entlarvung Lisztscher Pseudobildung herangezogen. Der norddeutsche
Wichtigtuer liest keinen Böll, er hält diesen Autor offensichtlich für eine Lektüre, die eher für
Putzfrauen adressatenspezifisch ist als für einen führenden Angestellten in der
Privatwirtschaft.
Hinsichtlich des Umgangs mit Konflikten schließlich hat Walsers Figur den
produktiveren Weg eingeschlagen. Das im Schreibakt gelingende Festhalten von
Wirklichkeitserfahrung bricht jedoch mit der letzten Silbe des Briefes ab. Nichtsdestoweniger
ist dieser Ansatz ein aufflackernder Lichtschimmer im ansonsten düster gefärbten
süddeutschen Biedermeier. Dass Bölls Flusslandschaft ein Höllenschlund hinter biederer
Villenfassade ist, haben nicht zuletzt die Strategien zur Konfliktlösung gezeigt. Aufgrund von
Kriegserlebnissen entstandene Traumata werden als überbordende Phantasiegebilde und
Märchen hysterischer Politikergattinnen gewertet, um den Machtapparat nicht ins Stocken zu
bringen. Das Wegsperren macht Schule. Heinrich Böll zeigt, wie die Frauen vor seiner
Flusslandschaft daran zerbrechen. Der Reigen der Mächtigen indes reproduziert sich
ungeachtet aller Abgründe stets von neuem.
102
V. Bibliographie
A. Primärliteratur
1. Belletristik. (N. B.: Alle unter „A.1.“ aufgeführten Titel der Primärliteratur wurden
integral gelesen. Andere, in der Arbeit zitierte Werke, bei denen dies nicht der Fall ist, stehen
nicht in folgender Aufzählung.)
-
BERNHARD, Thomas: Verstörung. Suhrkamp. Fr. a. Main 1970
-
BÖLL, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft. Kiepenheuer und Witsch. Köln 1985
-
Ders.: Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin
sie führen kann. (1. Aufl. 1974 bei Kiepenheuer und Witsch, Köln)). dtv. München
200745
-
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LINKE, NUSSBAUMER,
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dirigée par Henri MITTERAND. Nathan 1996
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bis zur Gegenwart. Hg. B. LUTZ u. B. JESSING. Stuttgart und Weimar 20043
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PAUL, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres
Wortschatzes. Niemeyer. Tübingen 200210
PORTMANN:
107
Studienbuch
Linguistik.
Niemeyer.