Travail de candidature Abgründiges Biedermeier der
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Travail de candidature Abgründiges Biedermeier der
Travail de candidature Abgründiges Biedermeier der Bonner Republik Bundesdeutsche Literatur der 1980er Jahre am Beispiel zweier Romane von Martin Walser und Heinrich Böll 1 Erklärung bezüglich der persönlichen Urheberschaft vorliegender Arbeit Hiermit versichere ich, dass meine dem Ministerium für Hochschulbildung und Forschung vorgelegte Arbeit „Travail de candidature“ zum oben angeführten Thema von mir selbst und ohne jegliche Zuhilfenahme Dritter geplant und verfasst wurde. Ferner habe ich keine weiteren Hilfsmittel als die im beigefügten Literaturverzeichnis angegebenen benutzt. Jedes Mal, wenn ich eine wie auch immer geartete Information zu meinem Gegenstand aus einem anderen Werk entlehnt habe, so ist diese explizit als Zitat gekennzeichnet und Letzteres mit einer am jeweiligen Seitenende angeführten Fußnote unter Angabe sämtlicher bibliographischer Daten versehen. Hochachtungsvoll, gez. Eric Bruch 2 Bruch Eric Candidat-professeur au Lycée de Garçons d’Esch-sur-Alzette Abgründiges Biedermeier der Bonner Republik Bundesdeutsche Literatur der 1980er Jahre am Beispiel zweier Romane von Martin Walser und Heinrich Böll Date et lieu d’affectation: Septembre 2010, LGE 3 Resümee Vorliegende Arbeit befragt zwei Romane der 1980er Jahre unter dem Gesichtspunkt einer übergreifenden Thematik. Gesucht wird nach einer textnahen und stichhaltigen Antwort auf die Ausgangsfrage, inwiefern Martin Walser mit „Brief an Lord Liszt“ bzw. Heinrich Böll mit „Frauen vor Flusslandschaft“ zwei Prosawerke vorgelegt haben, in denen das Abgründige, sprich das zwischenmenschlich und gesellschaftlich Verheerende hinter einer nach außen hin gutbürgerlichen Kulisse hervortritt. Die beiden Romane werden ausschließlich aus literarischer Perspektive untersucht. Sie bilden wie alle belletristischen Werke keine bloßen Abdrücke der Wirklichkeit, sondern fungieren als Kunstgebilde, denen eine eigene, autonome Gesetzmäßigkeit zukommt. Dabei wird sich der Einzelanalyse insofern genähert, als zum einen die allgemeinen Entstehungsbedingungen beider Romane im Jahrzehnt der bipolaren Aufrüstung dargelegt werden. Zum andern werden Schnittmengen mit jeweils einer anderen Prosaschrift desselben Autors und derselben Schaffensperiode aufgezeigt. Alsdann folgt der Versuch, das aus der Linguistik stammende Verfahren der Thema-RhemaStruktur auf zwei repräsentative Textauszüge aus beiden Romanen zu applizieren. Es wird ersichtlich, dass ungeachtet der stilistischen Differenzen die übergeordnete Thematik in beiden Passagen allgegenwärtig zum Vorschein kommt. Den Hauptteil dieser Arbeit bilden Abschnitte zur Einzelanalyse. Diesen vorangestellt werden theoretische Fluchtlinien, welche von den Schriften Adornos, Horkheimers und Canettis ausgehen. Hier wird kein Exkurs in das jeweils besprochene Werk geliefert, sondern die einzelnen Essays werden auf ihre Aussagekraft mit Blick auf die beiden Romane hin befragt. Die zu Tage tretenden Parallelen sind überzeugend. Daran anschließen werden Abschnitte, welche die Romane jeweils unter besonderen Analysepunkten ausleuchten: Zur Sprache kommen u. a. kompositorische und narrative Fragestellungen. Ferner wird sich in thematischer Hinsicht verstärkt mit der Funktion des Mythos, mit der Intertextualität sowie mit den Geschlechterbeziehungen beschäftigt. Abschnitte zur Raumsemantik und zur Rolle der Naturbeschreibung gehören ebenso zum Hauptteil wie der abschließende Abschnitt mit Blick auf die Strategien zur Konfliktlösung. In all diesen Einzeluntersuchungen wird klar ersichtlich, dass Walser und Böll, um zur eingangs gestellten Frage zurückzukommen, die bundesrepublikanische Wirklichkeit der 1980er Jahre kritisch hinterfragen. Gemeinsam ist beiden Werken ungeachtet ihrer unterschiedlichen regionalen Einbettung das Aufzeigen von Beziehungsgeflechten, die das Bonner bzw. das alemannische Biedermeier gründlich abschminken. Hinter der bröckelnden Fassade werden dabei ein Netzwerk von Machtmissbrauch und Verbrechertum (Böll) bzw. die Inszenierung einer Ehe und die Schattenseite der Ellenbogengesellschaft sichtbar. 4 Inhaltsverzeichnis I. Einleitung............................................................................................................................... 7 II. Die beiden Romane in ihrem Entstehungskontext......................................................... 11 II.1. Entwicklungstendenzen erzählender Prosa der 1980er Jahre in der BRD ................... 11 II.2. Heinrich Böll: Im Zentrum der Macht.......................................................................... 21 II.2.1. Bonn und Umgebung: Machtzentrum und verschlafenes Rheinland .................... 22 II.2.2. Parallelen zur Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ .................... 25 II.3. Martin Walser: Die süddeutsche Provinz ..................................................................... 27 II.3.1. Der Bodensee: Literatur in und aus der Peripherie................................................ 27 II.3.2. Schnittmengen mit der Novelle „Ein fliehendes Pferd“ ........................................ 29 II.4. Thema-Rhema-Struktur und Isotopiekonzepte............................................................. 33 III. Analysekategorien ........................................................................................................... 47 III.1. Theoretische Fluchtlinien ............................................................................................ 47 III.1.1. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung .................... 47 III.1.2. Theodor W. Adorno: Minima Moralia................................................................. 51 III.1.3. Elias Canetti: Masse und Macht........................................................................... 55 III.2. Komposition ................................................................................................................ 59 III.2.1. Martin Walser: Rahmenmodell ............................................................................ 59 III.2.2. Heinrich Böll: Dramenähnlicher Aufbau ............................................................. 60 III.3. Erzählsituationen ......................................................................................................... 63 III.3.1. Martin Walser: Wechsel von auktorialer Erzählsituation, Ich-Erzählsituation und freier indirekter Rede ....................................................................................................... 63 III.3.2. Heinrich Böll: Dialog- und Monologform mit Vorspann .................................... 65 III.4. Zur Bedeutung des Raumes......................................................................................... 67 III.4.1. Die Privatwohnung bei Böll: Exil im goldenen Käfig und Paria im Wohnwagen .......................................................................................................................................... 67 III.4.2. Die Privatwohnung bei Walser: Archiv von Alltagsgegenständen ...................... 69 III.5. Zur Funktion der Naturbeschreibung .......................................................................... 71 III.5.1. „Frauen vor Flusslandschaft“: Das Rheinufer als stumme Kulisse...................... 71 III.5.2. Die Natur bei Walser: Persiflage, Retardierung und Projektionsfläche............... 73 III.6. Die Rolle von Mythos und Legende ........................................................................... 77 III.6.1. Heinrich Böll: Mythentravestie und eine lebensmüde Walküre .......................... 77 III.6.2. Martin Walser: Liszts Pseudobildung und Horns Sehnsucht nach Vereinigung . 79 III.7. Intertextualität ............................................................................................................. 83 III.7.1. Heinrich Bölls Kanon – linksgerichtetes Engagement und l’art pour l’art .......... 83 III.7.2. Martin Walsers spärlicher Kanon: Ein Böll-Roman als Zankapfel...................... 85 III.8. Geschlechterrollen und Beziehungsstrukturen............................................................ 87 III.8.1. Heinrich Böll: Eheleben im Zeichen der Zementierung von Macht .................... 87 III.8.2. Martin Walser: Inszenierung(en) einer Ehe ......................................................... 89 III.9. Strategien zur Konfliktlösung ..................................................................................... 91 III.9.1. Heinrich Böll: Wegsperren ins Hotel „Irrenanstalt“ und zynische Zweckentfremdung des Therapeuten ............................................................................... 91 III.9.2. Martin Walser: Das Briefeschreiben als Therapie ............................................... 95 IV. Zusammenschau............................................................................................................... 99 V. Bibliographie.................................................................................................................... 103 5 6 „Wenn das Bewußtsein zurückkehrt, das Brennen des Fleisches, das Zittern aufhört, werden wir ein neues Leben beginnen. Alles richten wir schon darauf hin aus. In alten Zeitungen suchen wir Ansatzpunkte – ohne viel zu finden“. (Wolfgang Held, 79 – ein Brief des jüngeren Plinius, S. 24) „Wohin denn ich? Es leben die Sterblichen Von Lohn und Arbeit; wechselnd in Müh und Ruh Ist alles freudig; warum schläft denn Nimmer nur mir in der Brust der Stachel?“ (Friedrich Hölderlin, Abendphantasie) I. Einleitung Bei der Lektüre zweier mir bis dato unbekannter Romane von Autoren, die seit Jahrzehnten ihren festen Platz im Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur haben, bin ich sukzessive auf zahlreiche Berührungspunkte gestoßen. Nach einer erneuten vergleichenden Betrachtung beider Werke fiel mir das antithetische Begriffspaar „abgründiges Biedermeier“ ein. Ich hatte es erstmals beim Querlesen einer maßgeblichen Grillparzer-Biographie angetroffen1. Nachdem ich die Sekundärliteratur zu meinem geplanten Themenbereich gesichtet hatte, wurde mir klar, dass es hier noch teilweise brachliegendes Terrain zu bestellen gab. Die Grobstruktur meiner Arbeit nahm endgültig deutliche Konturen an, als ich Horkheimers, Adornos und Canettis Schriften zu einigen in den Romanen verhandelten Themenkomplexen befragte. Die Überlappungen waren klar ersichtlich. Im Folgenden sollen nun Aufbau und Zielsetzung dieser Arbeit kurz umrissen werden. Der eigentlichen Detailanalyse und der damit verbundenen Vernetzung beider Romane wird ein kurzer Abstecher in die Literatur der 1980er Jahre vorangestellt. Dabei wird neben den Themen „Konsumwut“ und „Sprachproblematik“ auch auf eine erneut anzutreffende Fabulierlust sowie auf den Widerstand der Ästhetik eingegangen. Ferner werden Streiflichter auf andere wichtige Autoren und Werke dieses Jahrzehnts geworfen. Unter diesem Abschnitt erfolgt keine vollständige Darstellung eines Jahrzehnts deutscher Literaturgeschichte. Vielmehr sollen einige gezielte Schlaglichter den literarischen Raum dieser Dekade ausleuchten. Diese Überlegungen stellen mithin keinen Anspruch auf Vollständigkeit, weder, was die Breite der betrachteten Autoren und Werke, noch was die Vertiefung einzelner Strömungen und Schwerpunkte anbelangt. Die Gattungen „Lyrik“ und „Drama“ werden bei diesem Abriss 1 Politzer, Heinz: Franz Grillparzer oder das abgründige Biedermeier. Mit einem Vorwort von Reinhard Urbach. Paul Zsolnay Verlag. Wien u. Darmstadt 1990 7 ausgeblendet. Diese Wahl ergibt sich aus zwei klar ersichtlichen Gründen. Zum einen würde eine engmaschigere und alle Gattungen einbeziehende Darstellung den Rahmen vorliegender Arbeit sprengen. Zum anderen befassen sich die nachfolgenden Abschnitte ausschließlich mit Prosawerken, sodass der Fokus unter diesem Punkt auf die erzählende Literatur gerichtet wird. Alsdann folgen Abschnitte, in denen jeweils Parallelen zu einem anderen Werk beider Autoren aufgezeigt werden. Sinn und Zweck dieser Passagen ist es, Konstanten in thematischer, motivtechnischer und wirkungsästhetischer Hinsicht offenzulegen. Der Abschnitt zur Thema-Rhema-Struktur stellt den Versuch dar, eine linguistische Verfahrensweise anhand zweier Textpassagen zu applizieren. Mit Blick auf die Fragestellung meiner Arbeit bietet folgender Ansatz die Möglichkeit, sowohl die Textoberfläche als auch die Tiefenstruktur eines Textes bei der Aufstellung einer im Voraus nicht klar umrissenen Lesart zu beleuchten. Diese Sachlage ist für die Belange vorliegender Arbeit insofern reizvoll, als die thematischen Schnittmengen beider Romane bzw. zweier Textpassagen mittels eines genauen Begriffsinventars und einer klar definierten Vorgehensweise entweder untermauert oder relativiert werden können. Die Ergebnisse sind demnach völlig offen. Während die anderen Abschnitte bestimmten Motiven, der Raumsemantik, den Geschlechterrollen, der Kanonbildung sowie anderen Schwerpunkten nachspüren, bietet die hier zu erprobende Methode eine andere Sichtachse auf die beiden Werke. Ziel ist es, einen mikroskopischen Ausschnitt als Textganzes vorauszusetzen. Diese Analyse soll ihren Teil zur Behandlung der übergeordneten Fragestellung beitragen, d. h. auf die Frage antworten, ob, und wenn ja, inwiefern Böll und Walser eine Biedermeier-Szenerie entwerfen, hinter der sich menschliche und seelische Abgründe auftun. Den dritten Teil vorliegender Arbeit („Analysekategorien“) leiten Abschnitte ein, die einen theoretischen Überbau darstellen. Hierbei kommen repräsentative Passagen aus den Werken „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer / Adorno), „Minima Moralia“ (Adorno) sowie „Masse und Macht“ (Canetti) zur Sprache. Diese Fluchtpunkte werden selbstredend nicht um ihrer selbst willen besprochen, sondern mit dem Ziel, die beiden Romane aus textimmanenter Sicht zu untersuchen und ein theoretisches Fundament zu erstellen, auf welchem die nachfolgenden Überlegungen und Analysepunkte aufbauen. Die tragende Idee dieser theoretischen Vorüberlegungen ist es, die Phänomene der „Interdependenz zwischen Masse und Macht“ einerseits und „Regressionen innerhalb aufgeklärter Gesellschaften“ 8 andererseits aufzuzeigen. In Martin Walsers Roman „Brief an Lord Liszt“ – um nur diesen Roman heranzuziehen – kann man unschwer eine „Beute“ verorten, welche von der „Meute“, um Canettis Begrifflichkeiten zu bemühen, gewissermaßen einer Wildjagd ausgesetzt ist. Die Hauptfigur, ein alternder Angestellter eines expandierenden Pharmaunternehmens, möchte seine Erfahrung des „Gejagtwerdens“ seinem ehemaligen Konkurrenten Liszt in Briefform vor Augen halten. Der in den Briefpassagen als Ich-Erzähler fungierende Franz Horn entwirft nach eigener Aussage eine Gesellschaftsphysik, bestehend aus gut einer Handvoll aufgestellter Lehrsätze. Von Letzteren lässt sich wiederum deduktiv auf die Funktionsweise des zwischenmenschlichen Lebens innerhalb jenes knallharten Geschäfts schließen, welches Horn und Liszt zuerst zu Gewinnern, dann zu Verlierern im Sinne der brancheninternen Koordinatenwelt macht. Selbstredend gibt es auch in Heinrich Bölls Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ genügend Textbelege für Phänomene von „Masse und Macht“ und ihrer destruktiven Rückwirkungen auf den Einzelnen. Der Ansatz ist mithin der einer vergleichenden Gegenüberstellung zweier Romantexte der 1980er Jahre. Gesucht werden Schnittpunkte und Abweichungen zwischen beiden Texten vor dem Hintergrund einer thematischen Gemeinsamkeit, nämlich einer bröckelnden Biedermeierfassade, hinter der sich, sei es nun im provinziellen Polit-Zentrum Bonn oder in der süddeutschen Provinz, zwischenmenschliche Abgründe verschiedenster Art auftun. Damit ist auch die Verfahrensweise der Arbeit angedeutet: Analysekategorien textimmanenter Art wie etwa Syntax, Komposition, Thema-Rhema-Struktur und Erzählerhaltung, ferner diejenige des Raumes, der Geschlechterrollen und des Mythos sollen jeweils begreifbar machen, inwieweit das Biedermeier im Zerfall begriffen ist. Ein weiterer Schwerpunkt ist die literarische Kanonbildung innerhalb der beiden Werke, da man hierbei Aufschlüsse bezüglich des Umgangs mit und des Stellenwerts von Literatur innerhalb unserer Epoche erhält. Schließlich werden die Strategien zur Konfliktlösung, die in beiden Romanen eine unterschiedliche Ausprägung haben, verhandelt. Bei Heinrich Böll werden einige Politikergattinnen kurzerhand in eine nach außen hin als Hotel fungierende Irrenanstalt eingewiesen, da sie ihren Gatten aus diversen Gründen gefährlich werden. Sie stellen ein Hindernis im Alltag des Machtgerangels und der Vertuschung von Vergangenheit dar. Bei Martin Walser hingegen wird die Therapie nicht in Form des Wegsperrens bewerkstelligt, sondern über den Weg des Schreibprozesses, wie es der Titel des Romans bereits erkennen lässt. Erst in der Zusammenschau, wo sämtliche Fäden der einzelnen Analysepunkte zusammenkommen, ergibt sich das Gesamtbild, welches den Titel der Arbeit widerspiegelt 9 und auf die übergeordnete Fragestellung antwortet. Der Aufbau meiner Arbeit verweist demnach auf eine Rahmenkonstruktion. Diese wird von den hinführenden Abschnitten (II.1. bis II.4.) zu Beginn und von der eben erwähnten Zusammenschau gebildet. Dazwischen wird der Einzelanalyse unter bestimmten thematischen Gesichtspunkten Raum geboten. Textimmanenz steht als Verfahren stets im Vordergrund. Nur im Abschnitt II.1. werde ich auf außertextliche Gegebenheiten wie Intertextualität, gesellschaftliche Entwicklungen und vita einzelner Autoren eingehen. Hinsichtlich des Diskussionsstandes bezüglich meiner Fragestellung sowie mit Blick auf die beiden Romane und ihre Autoren liegen einige grundlegende Arbeiten vor. Der hier unternommene Vergleich jedoch ist meines Wissens bisher der erste seiner Art. Für Walsers Roman haben Doane2 und Scholz3 breit angelegte Analysen zur Funktion des Briefs, zur Konfliktgenese und zur Gesellschaftskritik am Kapitalismus vorgelegt. Unter den zahlreichen Werkmonographien zu Walser sind Hick4 und Fetz5 zu nennen. Selbstredend hat die Sekundärliteratur zu Böll ebenfalls längst unüberschaubare Ausmaße angenommen. Die in vorliegender Arbeit herangezogenen Untersuchungen stellen Bölls Schaffen als ständige Beschäftigung mit den Schrecken der Nachkriegszeit und deren Gesellschaftsform dar. Compton6 unternimmt für Bölls wohl bekanntesten Roman den Versuch, den Clown zu demaskieren, indem der Kritiker als ein unzurechnungsfähiger, bornierter Eigenbrötler gezeigt wird. Somit bekommt Bölls Roman eine ganz neue Tiefe und Vielschichtigkeit, da der Autor nicht mehr nur als Anwalt des „kleinen Mannes“, sondern gleichzeitig als dessen Kritiker hervortritt. Eine Untersuchung zum Sprachgebrauch und dessen Funktion hat Finlay7 vorgelegt. Ebenfalls aus rein werkimmanenter Sicht liefert Lehnick8 eine Analyse der erzähltechnischen Verfahren sowie deren Entwicklungskurven. Eine Werkmonographie 2 Doane, H. A.: Die Anwesenheit der Macht. Horns Strategie im Brief an Lord Liszt. In: Martin Walser. International Perspectives. Edited by. J. E. Schlunk u. A. E. Singer. American University Studies. Series I: Germanic Languages and Literature Vol. 64. Peter Lang Publishing. New York, Bern u.a. 1987, S. 81ff. 3 Scholz, Joachim J.: Der Kapitalist als Gegentyp. Stadien der Wirtschaftswunderkritik in Walsers Romanen. In: Martin Walser. International Perspectives. Edited by. J. E. Schlunk u. A. E. Singer. American University Studies. Series I: Germanic Languages and Literature Vol. 64. Peter Lang Publishing. New York, Bern u.a. 1987, S. 71ff. 4 Hick, Ulrike: Martin Walsers Prosa. Möglichkeiten des zeitgenössischen Romans unter Berücksichtigung des Realismusanspruchs. Reihe: Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik. Akademischer Verlag Hans-Dieter Heinz. Stuttgart 1983 5 Fetz, Gerald A.: Martin Walser. Metzler. Stuttgart u. Weimar 1997 6 Compton, Irene B.: Kritik des Kritikers: Bölls Ansichten eines Clowns und Kleists „Marionettentheater“. Studies in Modern German Literature. Vol. 89. P. Lang. New York 1998 7 Finlay, Frank: On the Rationality of Poetry. Heinrich Böll’s Aesthetic Thinking. Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. Hg. C. Minis u. A. Quak. Vol. 122. Editions Rodopi. Amsterdam - Atlanta, GA 1996 8 Lehnick, Ingo: Der Erzähler Heinrich Böll. Änderungen seiner narrativen Strategie und ihre Hintergründe. Beiträge zur neuen Epochenforschung. Peter Lang. Europäischer Verlag der Wissenschaften. Fr. a. Main 1997 10 einschließlich des neuesten bibliographischen Standes zu Bölls Schaffen hat Sowinski9 vorgelegt. Schließlich wird an einigen Passagen dieser Arbeit Vormwegs Schrift „Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie“10 bemüht, um erhellende Aussagen auch für Bölls letzten Roman beizusteuern. II. Die beiden Romane in ihrem Entstehungskontext II.1. Entwicklungstendenzen erzählender Prosa der 1980er Jahre in der BRD Der Gegenstand und dessen Periodisierung Nimmt man als Ausgangspunkt für eine Darstellung bundesdeutscher Literatur die Angabe eines bloßen Datums, welches man seiner Arbeit voranstellt, so lässt sich mit Blick auf die hier kurz zu beleuchtende Dekade etwa der 10. Dezember des Jahres 1981 anführen. An diesem Tag wurde Elias Canetti der Nobelpreis für Literatur verliehen. An der Figur Canettis wird vor allem eines klar sichtbar. Aufgrund seiner Abstammung und bewegten vita als Schriftsteller „gerieten viele Kritiker in Verlegenheit, als sie Elias Canetti beschreiben mussten. […] Canetti ist einer unserer besten Schriftsteller, sagten die Deutschen; er fühlt sich als Wiener, sagten die Österreicher; er ist aufgrund seiner Geburt einer von uns, sagten die Bulgaren; er hat die glücklichsten Jahre seines Lebens in Zürich verbracht, sagten die Schweizer; seine Abstammung ist spanisch, sagten die Madrilenen; er hat vierzig Jahre lang unter uns gelebt, sagten die Engländer.“11 Der sperrige und damit reizvolle Charakter des Gegenstandes „Literatur der Bundesrepublik Deutschland“ wird am Beispiel Canettis sinnfällig. Es fiel der literarischen Welt offenbar schwer, sich ein für allemal auf die nationale Zugehörigkeit dieses Schriftstellers festzulegen und einen dauerhaften Konsens in dieser Frage herbeizuführen. Hieraus wird ersichtlich, dass es bei folgenden einleitenden Ausführungen zur bundesdeutschen Literatur nicht wie beim Grenzschutz zugehen wird, wo räumliche Demarkationslinien strikt und pedantisch eingehalten werden. In Anlehnung daran deckt der Exkurs auch mit Blick auf die chronologische Abfolge keinen haargenau quantifizierbaren Zeitabschnitt vom 1. Januar 1980 bis zum 31. Dezember 1989 ab. 9 Sowinski, Bernhard: Heinrich Böll. Metzler. Stuttgart u. Weimar 1993 Vormweg, Heinrich: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie. Kiepenheuer und Witsch. Köln 20002 11 Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur. Hg. D. E. Wellbery, J. Ryan u. a. Deutsche Ausgabe. Berlin University Press 2007, S. 1129 10 11 Nichtsdestoweniger wird natürlich primär der auf bundesdeutschem Territorium und von dort ansässigen und schaffenden Schriftstellern belebte Literaturbetrieb fokussiert. Geringfügige chronologische Unter- bzw. Überschreitungen sind inhärenter Bestandteil einer solchen Darstellung. Die Sprachproblematik bei Elias Canetti, Martin Walser und Heinrich Böll Die Rezeption von Canettis dichterischem Werk wirft einige interessante Schlaglichter auf das Feld vorliegender Untersuchung, insofern es u. a. „auf den ‚monströsen Charakter’ eines Geschöpfes [verweist], das nur darauf aus ist, zu konsumieren und sich alles einzuverleiben“.12 Auch die beiden hier zur Diskussion stehenden Romane atmen in fast jeder Zeile die Konsumwut13 des postmodernen Menschen. Mit dem Schlagwort „Konsumwut“ ist keinesfalls die heute geläufige Vorstellung von Kaufrausch oder anderweitigen, mehr oder minder pathologisch anmutenden Ablegern des Kaufverhaltens gemeint. Gemein ist Bölls14 und Walsers15 Romanen, dass die handelnden Figuren bewusst oder unbewusst danach trachten, sich ihre Um- und Mitwelt „einzuverleiben“, um die Vokabel noch einmal zu bemühen. Die Einverleibung, das Fressen der Umwelt, geschieht bei Martin Walser etwa im Bereich der Pharmaindustrie, wo der Marktanteil die alles leitende Kompassnadel darstellt. Bei Heinrich Böll vollzieht sich dieses „karnivore“ nimmersatte Gehabe im Bezirk der politischen Machtkonzentration.16 Auch die Sprachproblematik taucht in der Besprechung von Canettis Werk auf. „In [seiner Biographie] Die gerettete Zunge begegnet Elias dem Deutschen zunächst als einem Mittel des Ausschlusses: Während seiner Kindheit in Rustschuk ist Deutsch die Privatsprache seiner Eltern, die Sprache ihrer jungen Liebe […], die Sprache, die sie sprechen, wenn Elias sie nicht verstehen soll. Er lernt daraus die Lektion, dass es ein Fehler ist anzunehmen, dass Sprache immer ein Kommunikationsmittel ist, sie kann genauso oft eine Barriere des Verstehens sein.“17 Damit ist ein weiteres Arbeitsfeld dieser Arbeit angedeutet, nämlich jenes 12 Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur, S. 1134 Der Begriff „Konsumwut“ deckt sich übrigens auch mit Adornos Thesen über die verheerende Entwicklung eines Systems, welches seine Handlungsmaxime ausschließlich auf ein schier krebsartig wucherndes Wachstum auslegt. Vgl. hierzu die diesbezüglichen Ausführungen zu „Minima Moralia“ 14 Böll, Heinrich : Frauen vor Flusslandschaft. Kiepenheuer und Witsch. Köln 1985 15 Walser, Martin : Brief an Lord Liszt. Suhrkamp. Fr. a. Main 1982 16 Die Detailanalyse wird diese und andere Behauptungen mit konkreten und repräsentativen Textpassagen zu untermauern versuchen. 17 Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur, S. 1132 13 12 der Unmöglichkeit gelungenen Kommunizierens. Es besteht zwar ein deutlicher Unterschied zwischen jener sprachlichen Barriere, die der junge Canetti anlässlich der auf Deutsch vorgetragenen Kosewörter seiner Eltern feststellt und der sprachlichen Gefangenschaft Elisabeth Blaukrämers in Bölls Roman. In beiden Fällen aber ist das Ergebnis dieser Sprachlosigkeit der gesellschaftliche Ausschluss. Im ersten Fall kann im weitesten Sinne von „Soziolekt“ die Rede sein, also von der „Sprache […] einer Gruppe“18, die aus Gründen der Identitätsstiftung und Abgrenzung gegenüber anderen, hier gegenüber dem eigenen Sohn, eine diesem nicht zugängliche Sprache wählt. Bei Böll hingegen erinnert diese Sprachbarriere einerseits an Goethes „Werther“19, viel stärker drängt sich in Bezug auf Elisabeth Blaukrämer jedoch Thomas Bernhards Roman „Verstörung“20 als Parallele auf. Hier kommt der in ewigen kreisförmigen Bewegungen redende Graf nicht aus seinem Solipsismus heraus. Auch Bölls Figur Elisabeth Blaukrämer weist solche Störungen auf. Franz Horn, Walsers Hauptfigur, wird ebenfalls mit der Sprachproblematik konfrontiert. Er begibt sich aufgrund der erschreckend fragilen Beschaffenheit zwischenmenschlicher Kommunikation und des allgegenwärtigen Risikos eines Versagens derselben in eine selbst auferlegte Therapie. Mit den Worten „nur daß alles endlich einmal richtig ausgesprochen wäre. Daß man wieder atmen könnte“21 beschreibt der Erzähler kurz vor Einsetzen des Schreib- und Sinngebungsprozesses Horns seelisch prekäre Lage. Erneuerte Fabulierlust am Beispiel Uwe Johnsons und Martin Walsers Das soeben angerissene Thema der Sprachbarriere verhindert nicht, dass sich in den 1980er Jahren manche Autoren einer seit Rilkes Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ einsetzenden Skepsis gegenüber linearem Erzählen widersetzen. An einer gewissen Stelle behauptet Malte: „Es ist gut, es laut zu sagen: ‚Es ist nichts geschehen.’ Noch einmal: ‚Es ist nichts geschehen.’ […] Daß ich den ganzen Tag in den Gassen umhergelaufen bin, ist meine eigene Schuld. Ich hätte ebensogut im Louvre sitzen können. Oder nein, das hätte ich nicht.“22 Die Worte des Ich-Erzählers mäandern hier wie ein im Dunkeln Tappender ohne wirkliches „Ziel“ vor sich hin. Dem Leser der vorletzten Jahrhundertwende wird kein klar geordnetes Erzählgerüst Fontane’scher oder Keller’scher Prägung mehr angeboten. Diese 18 Dtv-Atlas Deutsche Sprache, S. 11 Goethe, Johann Wolfgang : Die Leiden des jungen Werther. Hamburger Ausgabe. Bd. 6. München 199614 20 Bernhard, Thomas : Verstörung. Suhrkamp. Fr. a. Main 1970 21 Walser, Martin : Brief an Lord Liszt, S. 28 22 Rilke, Rainer Maria : Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Kommentierte Ausgabe. Reclam. Stuttgart 1997, S. 40 19 13 Absage an die Lust am Erzählen zieht sich leitmotivisch durch die kommenden Jahrzehnte.23 Das Jahrzehnt zwischen 1980 und 1990 aber sieht das Alterswerk Uwe Johnsons und eine Wiederaufnahme des vormodernen Fabulierens zu Tage treten: „Johnsons opus magnum bricht mit der avantgardistischen Puzzle-Technik der beiden frühen Romane [gemeint sind „Mutmaßungen über Jakob“ und „Das dritte Buch über Achim“] und erzählt, erzählt wirklich in jedem Sinn. Die vierbändigen Jahrestage […] haben keine Angst vor dem geschichtsphilosophischen Anachronismus der epischen Erzähllust. [Die „Jahrestage“] bekämpfen ebenso geduldig wie freundlich den Erfahrungsverlust, indem sie, unbeirrt erzählend, sich in das seltsame Paradox verstricken, den Verlust von Erfahrung ex positivo erfahrbar zu machen.“24 Mit Blick auf die beiden Romane von Heinrich Böll und Martin Walser ist es vor allem Walsers Text, der die soeben angedeutete Wiederentdeckung des Erzählens untermauert. Beispielsweise kann an der bereits erwähnten therapeutischen Funktion des Schreibens für Franz Horn Walsers optimistische Grundeinstellung gegenüber dem Schreiben abgelesen werden. Walser erblickt eine nahezu interferenzfreie Verbindung zwischen dem geschriebenen Wort und dem Leser, aufgrund derer Kommunikation und damit Sinnstiftung ermöglicht wird. Ähnlich wie das Briefeschreiben seiner Romanfigur dazu verhilft, ihren gequälten Geist zu disziplinieren und der ihn umgebenden Wirklichkeit Sinn zu verleihen, schreibt Walser dem Akt des Lesens wirkungsmächtiges, ja schier klassisch anmutendes Potential zu: „Warum richte ich mich nicht auf Dauer vor dem Fernsehapparat ein? Weil es mir auf Dauer zu anstrengend ist, so passiv zu sein. […] Wenn das Bewußtsein oder die Seele oder der Geist – egal, wie wir unsere innere Unruhe nennen –, wenn diese imaginäre Wesensmilch längere Zeit nicht selber brodeln darf, wird sie sauer.“25 An einer anderen Stelle desselben Versuchs über die anthropologischen Urgründe allen Lesens findet sich eine Aussage über das Schreiben, die auch auf das Leistungsvermögen des Schreibprozesses im Roman „Brief an Lord Liszt“ zutrifft: „In der Fiktion bestreiten wir der Wirklichkeit ihr Recht, in unsere Erwartungen hineinzupfuschen. Man muß es hundertmal sagen, daß das Schreiben nicht 23 Eine weitere Station in dieser Entwicklung nimmt etwa die Montage-Technik Alfred Döblins in seinem Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“ ein. Ein viel späteres Beispiel für das Abbrechen linearer Erzählstränge ist Wolfgang Helds postmoderne Kollage „79 – ein Brief des jüngeren Plinius“. 24 Eine Neue Geschichte der Literatur, S. 1141f. 25 Walser, Martin: Warum liest man überhaupt? Aus: Über den Leser – soviel man in einem Festzelt sagen soll. In: literatur (sic) konkret. Jg. 2, H. 3, S. 59 14 Darstellen ist, nicht Wiedergeben ist, sondern Fiktion, also eo ipso Antwort auf Vorhandenes, Passiertes, Wirkliches, aber nicht Wiedergabe von etwas Passiertem.“26 Widerstand der Ästhetik bei Martin Walser Diese nachdrückliche Absage an die Mimesisfunktion der Kunst redet einer Literatur das Wort, in der die Bezüge zur Wirklichkeit frei nach Magrittes provokativem Motto „Ceci n’est pas une pipe“ stets einen eigenen Wirklichkeitsanspruch haben. Primäres Ziel des Briefeschreibens in Walsers Roman ist es in der Tat, angesichts der Unmöglichkeit einer Klarstellung und Bereinigung des Streits zwischen Horn und Liszt mittels eines Schreibprozesses einen zweiten, von der Außenwelt losgelösten Bezirk zu schaffen, in dem der Außenwelt „ihr Recht [bestritten]“ wird, um mit Walser zu reden. Gleichwohl möchte Martin Walser auf die Wirklichkeit Einfluss ausüben, ohne dabei auf ästhetischen Anspruch zu verzichten27: „Die Beobachtung, dass sich im Übergang zu den 80er Jahren eine Rück- und Neubesinnung auf die ‚Eigenart des Ästhetischen’ (Lukács) vollzieht, dass verstärkt sogar auf die Widerstandskraft der Poesie gesetzt wird, lässt sich im Blick auf Kontinuitäten im Werk schon bekannter Autoren erhärten. [Heinrich Böll u. Martin Walser] haben konsequent auf der Fähigkeit der Literatur bestanden, Wirklichkeit fassen, verarbeiten und formen zu können. [Sie intendieren] schreibend auf die Leser und deren Wirklichkeitswahrnehmung, also auf vermittelte Weise auch verändernd auf die Wirklichkeit einzuwirken.“28 Diese Feststellung bekräftigt vornehmlich mit Blick auf Walsers Romane „Brief an Lord Liszt“ und „Das Schwanenhaus“29 sowie auf die Novelle „Ein fliehendes Pferd“30 obige Feststellung, dass Walser der Kunst einen eigenen Raum zubilligt, dabei jedoch keineswegs in den Elfenbeinturm des „lart pour l’art“ flüchtet, sondern gerade über die Ästhetik die Wirklichkeit, an welcher der Einzelne leidet, mittelbar verändern will. Gleichwohl trifft die Bezeichnung „engagierter Schriftsteller“ kaum auf Martin Walser, sondern eher auf Heinrich Böll zu. Inwiefern dem so ist, zeigen die folgenden Abschnitte. 26 Walser, Martin: Warum liest man überhaupt, S. 59 Diese Feststellung erinnert insofern an Heines literarische Fehde mit dem Tendenzdichter Georg Herwegh, als Heine dabei stets gefordert hat, nicht nur „gereimte Zeitungsartikel“ zu schreiben, sondern literarisches Engagement stets mit ästhetischen Ansprüchen in Einklang zu bringen, um die Kunst nicht auf dem Altar der Tendenz zu opfern. Walser ist wie Heine ein Literat, der klassische Autonomieästhetik und subtile Einwirkung auf die den Leser umgebende Wirklichkeit miteinander verzahnt. 28 Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Metzler. Stuttgart und Weimar 20016, S. 653 29 Walser, Martin: Das Schwanenhaus. Suhrkamp. Fr. a. Main 1980 30 Ders.: Ein fliehendes Pferd. Suhrkamp. Fr. a. Main 1978 27 15 Sei Kanone, sei Kartaune31. Literarisches Engagement im Jahrzehnt der bipolaren Aufrüstung In diametralem Gegensatz zu Walsers Autonomieästhetik steht, obgleich diese ebenfalls einen Zugriff auf die Wirklichkeit intendiert, das literarische Engagement, welches in den achtziger Jahren auf den ersten Blick etwas abzuebben scheint. Bei genauerem Hinschauen jedoch offenbart sich auch im Jahrzehnt der scheinbaren Entpolitisierung breiterer Volksschichten ein Aufflackern engagierter Literatur. Ein eher unkonventionelles Beispiel – weil es nicht aus der Feder eines Schriftstellers stammt – ist ein Aufsatz des damaligen Saarbrücker Bürgermeisters Oskar Lafontaine innerhalb einer Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Walter Jens32. Die plakative, an regionalpolitische Feiertagsreden erinnernde Eingangszeile „Demokratie braucht Literatur – engagierte Literatur gerade jetzt“33 ist nur ein Präludium zu einem für das Jahrzehnt der Proteste gegen atomare und bipolare Aufrüstung typischen Diskurs über Technisierung, Arbeitsteilung und die davon ausgehende Entfremdung des Einzelnen34. Oskar Lafontaine kommt alsdann auf Walter Jens zu sprechen, eine Figur des bundesdeutschen und europäischen Literaturbetriebs, die besonders in den späten siebziger und während der achtziger Jahre durch eine verstärkte öffentliche Präsenz als engagierter Intellektueller hervorragte. Jens’ Ehefrau Inge, selbst Publizistin, widmet diesem Engagement in ihrer jüngst erschienenen Veröffentlichung ein eigenes Kapitel.35 Mit Blick auf die zeitgenössischen Äußerungen Lafontaines fällt ein ziemlich unbefangener, schier unreflektierter Umgang mit literarischen Gewährsleuten auf: „Als die Konservativen die Sozialreformen diffamierten und den Sozialstaat in Frage stellten, da wies er [d. i. Walter Jens] darauf hin, dass Thomas Mann der Demokratie nur noch in der Gestalt des Sozialismus eine moralische Existenz zubilligte.“36 Diese selbstbewusste Behauptung liefert weder eine Quellenangabe der Mann’schen Aussage37 noch präzisiert sie, wer mit „den Konservativen“ denn nun gemeint ist. Genauso 31 Heine, Heinrich: Die Tendenz. In: Sämtliche Gedichte. Insel. Fr. a. Main u. Leipzig 2005, S. 348 Lafontaine, Oskar: Dem engagierten Literaten. In: Literatur in der Demokratie. FS Walter Jens. Hg. W. Barner, M. Gregor-Dellin, P. Härtling und E. Schmalzriedt, S. 216ff. 33 Ders., S. 216 34 Aus rein thematischen Erwägungen werden diese Passagen nicht ausführlicher zitiert und diskutiert, da eine Vertiefung den Rahmen vorliegender Arbeit sprengen würde. 35 Jens, Inge: Unvollständige Erinnerungen. Rowohlt. Reinbek 20094, S. 165ff. 36 Literatur in der Demokratie, S. 217 37 Zu einer differenzierteren Beschäftigung mit diesem Punkt vgl. etwa Hans Mayers Rede „Deutsche Geschichte und Deutsche Aufklärung“, wo es auf S. 27/28 des Suhrkamp-Sonderdrucks heißt: „Und der andere vom 6. Juni, Thomas Mann, […] der […] 1918 die Betrachtungen eines Unpolitischen geschrieben hat, die durchaus ein 32 16 gut hätte hier ein Vertreter der „konservativen“ Werteskala anstatt Lafontaine zitiert werden können, am Prinzip der vereinfachenden Konstruktion von Gegnerschaften im Kontext des Kalten Krieges, der nachhallenden 68er Bewegung und der konsumkritischen Atmosphäre einerseits und ihrer frenetischen Bejahung andererseits ändert das nichts. Dieses Abdriften in eine undifferenzierte Gegenüberstellung von Bösen und Guten, sprich von Linken und Konservativen, scheint ein konstitutives Merkmal vieler Diskurse aus diesem Jahrzehnt zu sein. Dabei handelt es sich zwar um ein Erbe der sechziger und siebziger Jahre, doch die Dichotomie „Links – Rechts“ scheint in den achtziger Jahren nichts an Strahlkraft eingebüßt zu haben. In diesem Zusammenhang sei auch auf die 1981 erstmals einberufene Diskussionsrunde in Ost-Berlin hingewiesen, welche auf Initiative des DDR-Schriftstellers Stephan Hermlin ein Zeichen des Protestes gegen atomare Aufrüstung setzte. Dieser Einladung folgten „namhafte Autoren aus der Bundesrepublik und der DDR […], unter ihnen auch DDR-Emigranten wie Jurek Becker und Thomas Brasch.“38 Doch bereits beim dritten Treffen dieser Art Ende 1983 in Heilbronn „fehlten schließlich die eingeladenen DDRSchriftsteller vollends.“39 Das anfangs gemeinsame Auftreten von Literaten aus beiden Teilen Deutschlands und der davon ausgehende Friedensappell zur Auflösung der bipolaren Aufrüstung wurden jedoch stark mediatisiert. Somit konnte über die dann einsetzenden Zwistigkeiten hinaus ein bleibendes Zeichen intellektuellen Engagements in Deutschland gesetzt werden. Das literarische Engagement der 1980er Jahre muss in den damaligen gesellschaftspolitischen Kontext gestellt werden. Die Bildung der Regierung Kohl im Jahre 1983 führte „zu einem Erstarken des politischen Konservatismus […] Die Restriktionen auf politisch-kulturellem Gebiet […], die Sparmaßnahmen, die im Kulturbereich insbesondere die öffentlichen Bibliotheken und damit einen wesentlichen Bereich der Lesekultur trafen [sowie Diskussionen,] die beispielsweise ein Auftrittsverbot für unliebsame Autoren wie Günter Bekenntnis zu einem Deutschtum der Repression und der Gegenaufklärung sind [.] 1922, zum Geburtstag Gerhart Hauptmanns, […] hielt Thomas Mann eine Rede zu Ehren dessen mit dem Titel Von deutscher Republik und bekannte sich damit zur Republik und zu dem Dichter der Republik, Gerhart Hauptmann.“ Hieraus wird ersichtlich, inwieweit die ideologisch gefärbte Inanspruchnahme Thomas Manns durch Lafontaine von einer akademischen Auseinandersetzung mit demselben Thema abweicht. Ferner bestätigt sich hiermit, dass die achtziger Jahre alles in allem mehr oder minder stark von der Dichotomie „Links – Rechts“ geprägt waren. Relativierend muss natürlich angeführt werden, dass Hans Mayer diese Worte auch in den achtziger Jahren so oder ähnlich formuliert hätte, während Zeitzeugen wie Lafontaine auch heutzutage noch zuspitzende Darstellungen vorziehen würden. 38 Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Metzler. Stuttgart und Weimar 20016, S. 646 39 Ebenda. 17 Grass und Heinrich Böll bei Veranstaltungen der Goethe-Institute in Betracht zogen [,] schufen […] ein Klima für die Verschärfung der Gegensätze zwischen Politik und Kultur, das an die 50er Jahre erinnerte.“40 Ohne in einen blinden Determinismus oder „Biographismus“ zu verfallen, kann vor diesem Hintergrund Heinrich Bölls Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ als Ausfluss staatlicher Repression gegenüber seiner eigenen Person gewertet werden, nachdem die 1970er Jahre vornehmlich vom Konflikt zwischen Böll und der Springer-Presse geprägt gewesen waren. Die thematischen, kunstästhetischen und diskursiven Bezüge, welche sich hieraus zu Bölls Schaffen in den achtziger Jahren und vornehmlich zu seinem letzten, postum veröffentlichten Roman ziehen lassen, sind vielfältig. Vor allem drängt sich Bölls unverbrüchliches Bekenntnis zum literarischen Engagement als Parallele zu seinem vorherigen Schaffen auf. Oskar Lafontaine hätte seinen kurzen Beitrag, der mehr politische Propaganda als wirkliche Beschäftigung mit der Person des Jubilars atmet, wohl in identischer Fassung für eine Festschrift zu Ehren Heinrich Bölls abdrucken lassen können. Gegenüber Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“41, von der in einem der nächsten Abschnitte noch zu reden sein wird, weist „Frauen vor Flusslandschaft“ zwar weniger explizite Zeichen des kämpferischen, gesellschaftliche Missstände anprangernden Literaten auf. Trotzdem lassen sich auch in seinem gut zehn Jahre später erschienenen Roman Spuren der Auflehnung finden. Wenn Walsers Hauptfigur die Außenwelt in ihren eigenen Schreibprozess einbezieht, so tut sie das, um sie mittels des Schreibens zu „kneten“, d. h. um eine Antwort auf Geschehenes zu gestalten. So rücksichtslos Martin Walser auch abrechnet mit der süddeutschen Provinz, mit der zur Schablone verblassten Männerrolle und mit der Ellenbogengesellschaft, so wäre es doch falsch, hier von einem wie auch immer gearteten Engagement zu sprechen. Heinrich Böll hingegen schlägt in seinem Roman andere Töne an. Alleine die Figurenkonstellation gestattet eine Lesart, welche ein für Böll typisches Muster linksgerichteten Engagements indiziert42. Die Figur Katharina Richter verdankt ihrer „Vorgängerin“ Katharina Blum mehr als nur ein Charakteristikum. Einschränkend muss festgehalten werden, dass das literarische Engagement in Bölls Roman zwar nicht weggeredet werden kann, im Vergleich zum vorherigen Jahrzehnt jedoch einigermaßen „verblasst“ ist. Dieser Befund trifft insofern zu, als sich Böll auch in seinem letzten Roman zwar klar auf die 40 Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Metzler. Stuttgart und Weimar 20016, S. 645f. 41 Böll, Heinrich: Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. Dtv. München 200745 42 Die gängige „ Definition“ engagierter Literatur „von Jean-Paul Sartre geprägte Bezeichnung für eine von ihm geforderte Literatur der Praxis und der Stellungnahme“ trifft auf Bölls Roman in impliziter Form zu, da der Handlungsverlauf und die Aussagen bestimmter Figuren als Sprachrohr des Autors fungieren. (zitiert nach: Meid, Volker: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Verlag Reclam, S. 319) 18 Seite der „Schwachen“ stellt, der Optimismus und der Glaube an die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung jedoch einem nicht zu negierenden Gefühl der eigenen Machtlosigkeit gewichen ist. Eine weitere Desillusionierung linksintellektueller Literaturproduktion ist am Werk Hans-Magnus Enzensbergers ablesbar. Sein in den 1960er Jahren vornehmlich im Organ „Kursbuch“ zu Tage tretender Optimismus hinsichtlich einer revolutionären Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse muss in den späten siebziger und hin zu den achtziger Jahren einer gänzlich veränderten Weltanschauung das Feld räumen. Mit der dezidierten „Absage an marxistisch begründete Zukunftsgewissheiten der 68er Bewegung“43 machte der wandlungsfähige, nie monolithisch daherkommende Enzensberger auf sich aufmerksam. Auch wurde „sein Engagement für die Freiheitsbewegungen in der Dritten Welt nach einem längeren Aufenthalt auf Kuba nachhaltig irritiert.“44 Literarischer Ausfluss dieses tiefgreifenden Wandels innerhalb seiner Einstellung zum Marxismus und zur Kunst sind neben seinem lyrischen Schaffen die „brillanten politischen Essays (Politische Brosamen, 1982)45. Autoren wie Botho Strauß, Ludwig Fels, Rainald Goetz, Wolfgang Hildesheimer, Alexander Kluge, Herbert Achternbusch, Brigitte Kronauer, Anne Duden, Birgit Rausch und nicht zuletzt Peter Weiss, der mit seiner dreibändigen „Ästhetik des Widerstands“ neben der bereits oben genannten Johnson-Tetralogie „Jahrestage“ wohl „das gewichtigste deutschsprachige Werk der 70er und 80er Jahre“46 vorgelegt hat, werden hier aus den eingangs dargelegten Gründen keiner näheren Betrachtung unterzogen. Der größte Publikumserfolg: Ein „Antibildungsroman“ Stattdessen soll neben dem eigentlichen Bereich des literarischen Höhenkamms auf einen Roman eingegangen werden, der „zum spektakulärsten Buchereignis der 1980er Jahre“47 avancierte. Gemeint ist Patrick Süskinds Bucherfolg „Das Parfum“48, der die Grenzen zwischen Belletristik, historischem Roman, Schauer- und Kriminalroman kollabieren lässt. Auf der Suche nach Gründen für diesen schlagartigen Aufstieg in die nationalen und 43 Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Metzler. 20016, S. 651 Ebenda. 45 Ebenda. 46 Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, S. 657 47 Metzler Autoren-Lexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. B. Lutz u. B. Jeßing. Stuttgart u. Weimar 20043,, S. 730 48 Süskind, Patrick: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Diogenes. Zürich 1994 (Erstausgabe 1985) 44 19 internationalen Bestsellerlisten muss man „in diese Jahre zurückgehen, […] in eine Zeit, in der die literarische Kultur von der sogenannten Suhrkamp-Belletristik beherrscht war: Von modernistischen Formexperimenten und depressiven Selbstbespiegelungen, die von der Kritik hoch gelobt wurden, für die sich aber immer weniger Leser interessierten.“49 Daneben muss jedoch auf Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“50 hingewiesen werden, der einige Jahre zuvor, sprich 1980, solchen Romanen, in denen literarischer Anspruch, historisch-philosophische Reflexion und kriminalistische Kolportage eine postmoderne Verbindung eingehen, bisher ungeahnte Absatzzahlen bescherte. Dieser auch in Deutschland begeistert aufgenommene Roman hat neben den oben zitierten Gründen ebenfalls eine Rolle bei Süskinds Welterfolg gespielt. Diese Behauptung mag ungeachtet aller thematischen und kompositorischen Unterschiede insofern gelten, als Eco in seiner sehr komplex angelegten Romantextur breitere Leserschaften auf das Genre des historischen Romans eingestimmt hat und dabei die Faszination am Bösen, sprich den Unterhaltungswert von Literatur auch für belesene Rezipienten salonfähig gemacht hat. Süskind fährt somit nolens volens im Fahrwasser Umberto Ecos. Sein Roman weist eine ähnliche Grundausrichtung auf: An ihm lassen sich Anspielungen auf Rousseau, auf die Geniezeit des Sturm- und Drang und eine bitterböse Parodie des deutschen Bildungsromans ablesen. Die Lust auf Unterhaltung schließlich wird durch die blutrünstigen Mordtaten der Hauptfigur süffig bedient. Der bewusste Bruch mit dem aufklärerischen Optimismus findet in Süskinds Romanerfolg ihren bis dato wohl radikalsten Niederschlag: Von Karl Philip Moritz’ „Anton Reiser“51, Johann Wolfgang Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ über Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“52 bis hin zu Gottfried Kellers „Der grüne Heinrich“ scheint Süskind den gesamten Kanon des klassischen deutschsprachigen Bildungsromans53 einer gehörigen Erosion auszusetzen. In diametralem Gegensatz zu Rousseaus Entwurf vom „Naturguten“ zeichnet Süskind seine Hauptfigur, die, übersetzt, den Namen „Kröte“ trägt: „So ein Zeck war das Kind Grenouille. Es lebte in sich selbst verkapselt und wartete auf bessere Zeiten. An die Welt gab es nichts ab als seinen Kot; kein Lächeln, 49 Metzler Autoren-Lexikon, S. 730 Eco, Umberto: Il nome della rosa. Tascabili Bompiani. 46a edizione. Milano 2000 51 Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Fischer. Fr. a. Main 2008 52 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Fischer. Fr. a. Main 2008 53 Auf diesen mittlerweile problematisch gewordenen Begriff wird hier der Vollständigkeit halber hingewiesen. Zu einer vertiefenden Diskussion über diese Begriffswahl und deren Berechtigung bzw. deren irreführende Semantik müsste derart weit ausgeholt werden, dass abermals der Rahmen vorliegender Untersuchung gesprengt würde. 50 20 keinen Schrei, keinen Glanz des Auges, nicht einmal einen eigenen Duft.“54 Klarer kann eine Absage an den klassischen Romanhelden nicht sein, das zoon politicon, sprich das soziale Wesen, welches im Umgang mit der Gesellschaft allmählich seinen eigenen Platz in derselben zugewiesen bekommt, macht einem schieren Instinktwesen Platz, dessen einzige Beziehung zur Außenwelt im Ausscheidungsprozess besteht. Das abgrundtief Böse der Hauptfigur versetzt das ganze vorrevolutionäre Frankreich in Angst und Schrecken. Am Ende huldigen die eigentlich zu Richtern berufenen politischen Verantwortlichen und die umstehenden Volksmassen dem zum Tode verurteilten Mädchenmörder in einer grotesk anmutenden dionysischen Jubelorgie: „Das Volk jenseits der Barrikade gab sich unterdessen immer schamloser dem unheimlichen Gefühlsrausch hin, den Grenouilles Erscheinen ausgelöst hatte. […] Die Folge war, dass die geplante Hinrichtung eines der verabscheuungswürdigsten Verbrecher seiner Zeit zum größten Bacchanal ausartete, das die Welt seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert gesehen hatte“.55 Die folgenden Überlegungen werden sich mit zwei Werken von Heinrich Böll und Martin Walser beschäftigen, in denen bereits einige Themen und Figurenkonstellationen angekündigt werden, die dann im weiteren Verlauf vorliegender Arbeit einer näheren Analyse unterzogen werden. II.2. Heinrich Böll: Im Zentrum der Macht Vorbemerkung Ziel der folgenden beiden Abschnitte ist es nicht, einen simplen „biographistischdeterministischen“ Maßstab für die Ableitung gewisser Lesarten und Erklärungsmuster der beiden Autoren bzw. ihrer Werke zu entwickeln. Die genannten Ausführungen sollen v. a. dazu beitragen, jene Räume und Landschaften näher vorzustellen, die Heinrich Böll und Martin Walser in nahezu allen ihren erzählenden Schriften als Schauplatz gewählt haben. Dabei wird ersichtlich, inwiefern diese Räume beiden Autoren Modell gestanden und mithin Eingang in die Fiktion der jeweiligen Texte gefunden haben. Es sei vorausgeschickt, dass für die folgenden Abschnitte eine Auswahl an Romanen und Novellen getroffen wurde. Das gesamte Erzählwerk beider Autoren spiegelt jedoch Tendenzen, die anhand der besprochenen Werke exemplarisch aufgezeigt werden können. 54 55 Süskind, Patrick: Das Parfum, S. 29 Süskind, Patrick: Das Parfum, S. 302f. 21 22 II.2.1. Bonn und Umgebung: Machtzentrum und verschlafenes Rheinland Im Falle Heinrich Bölls sind die Stationen seines Lebens – Geburt 1917 in Köln, gestorben 1985 in Langenbroich – und die Hauptschauplätze seines Prosawerks nahezu deckungsgleich. Das Rheinland nimmt als topographische Größe in Bölls Œuvre eine zentrale Stellung ein, vergleichbar mit derjenigen des Bodenseeraums in Martin Walsers literarischem Schaffen. „Die Topographie von B.s (sic) Prosa bleibt an seine rheinländische Herkunft gebunden, Heimat aber ist für ihn kein geographischer Begriff.“56 Die Figuren seiner Werke defilieren sehr wohl vor dem Hintergrund dieses Raumes, Bölls Themen und Kernaussagen jedoch verweigern sich einer Begrenzung des Autors auf das Maß eines klassischen Heimatdichters. Schauplatz des Romans „Frauen vor Flusslandschaft“ ist ein nicht näher umrissener Ort zwischen Bad Godesberg und Bonn und nicht, wie mitunter behauptet wird, Bad Godesberg selbst.57 Die unmittelbare Nähe zum Entscheidungszentrum Bonn schwingt gleichwohl wegen der in den einzelnen Dialogen immer wieder evozierten politischen Machtsphäre, sprich des parlamentarischen Alltags, mit. Bad Godesberg erscheint gewissermaßen als perspektivisches Pendant zu jenem Misenum, von wo aus Plinius der Jüngere anno 79 den Vesuvausbruch verfolgte. Böll lässt seine Figuren im Niemandsland zwischen Bad Godesberg und Bonn auf die Machtzentrale blicken, welche in diesem Sinne als Epizentrum bzw., um Wolfgang Koeppens Romantitel zu bemühen, als „Treibhaus“58 fungiert. Die Distanz zwischen beiden Orten erlaubt es dem Autor einerseits, die einzelnen Dialoge und Szenen vom unmittelbaren Geschehen in Bonn abzuheben. Wie bei Walser der Bodensee, so fungiert bei Böll das beschauliche Rheinufer als Handlungsort. Bad Godesberg ist jedoch andererseits genau so wenig wie Walsers Bodensee ein Hort der Einkehr und des Friedens, sondern nachgerade Exerzierplatz für zwischenmenschliche und gesellschaftliche Abgründe, wie in den folgenden Abschnitten noch aufgezeigt werden soll. Dies gilt in gleichem Maße für Bölls Roman „Ansichten eines Clowns“59. Dessen gesamte Handlung „spielt an zwei Standorten: dem Bonner Bahnhof und Schniers Bonner Wohnung. Ausgangsund Endpunkt des Geschehens ist der Bahnhof.“60 Diese Art des „huis clos“ – des 56 Metzler Autoren-Lexikon, S. 66 Vgl. Sowinski, Bernhard: Heinrich Böll . Metzler. Stuttgart u. Weimar 1993, S. 131 58 Koeppen, Wolfgang: Das Treibhaus. Suhrkamp. Fr. a. Main 1972 59 Böll, Heinrich: Ansichten eines Clowns. dtv. München 199945 60 Lehnick, Ingo: Der Erzähler Heinrich Böll, S. 85 57 23 geschlossenen Orts – verweist auf die Außenseiterposition der Hauptfigur. Hans Schnier gilt als berufsmäßiger Spaßmacher und Künstler, der hiermit ein zur Kritik Berufener ist. Er lebt am Rande einer Gesellschaft, die er zwar dauernd und intensiv kritisiert, deren Zustände er aber nicht im Geringsten zu ändern vermag: „Obwohl Hofnarren und daher auch ihre Nachfolger, die Clowns, als oft einflussreiche Zeitgenossen gesehen werden, […], kann der Clown Schnier sich eines solchen Ruhmes nicht loben“61. Die Hauptstadt der BRD wird mithin nicht in ihrer Eigenschaft als Machtzentrum gezeichnet. Anders als in „Frauen vor Flusslandschaft“ ist sie in diesem Roman nicht einmal Kulisse und ständig evozierter Bezugspunkt. Die minimalistische Raumstruktur „Bahnhof–Wohnung“ potenziert die bewusste Fokussierung auf den in seiner schrankenlosen Subjektivität gezeigten Außenseiter. Schniers Kritik ist aufgrund seines „selektive[n] Gedächtnis[ses]“62 nur in sehr eingeschränktem Maße haltbar. Bonn stellt für diesen Roman lediglich einige „Utensilien“ bereit, nämlich den Bahnhof und Schniers Wohnung. 61 Compton, Irene B.: Kritik des Kritikers: Bölls Ansichten eines Clowns und Kleists „Marionettentheater“. Studies in Modern German Literature. Vol. 89. P. Lang. New York 1998, S. 53 62 Dies., S. 103 24 II.2.2. Parallelen zur Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ Für die Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ hat Böll einen frei erfundenen Schauplatz für das erzählte Geschehen gewählt. Auffällig ist dennoch die Namensgebung der Orte, an denen sich die Handlung abspielt. „Die Ortsnamen Gemmelsbroich, Oftersbroich, Kuir […] erinnern […] in ihrer Namensgebung durch die Endung -broich (= Bruch, sumpfiges Gelände) bzw. die Vokalkombination „ui“ an linksrheinische Ortsnamen in der Nähe von Köln.“63 Das Rheinland mitsamt seinen Einwohnern spielt mithin auch da eine Rolle in Bölls Werk, wo der Autor seine Erzählung in fiktive Räume und Orte einbettet. Alleine der Klangraum, welcher mit dem Einsatz eben genannter, typisch linksrheinischer Namen entsteht, kann eine solche Wahl erklären. Die bei der Aussprache dieser Ortsnamen entstehenden Klangkurven suggerieren eine Verwandtschaft zu Bölls Heimat und damit zu den Schauplätzen seiner übrigen Prosa. Heinrich Bölls 1974 erschienene Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“64 ist die nüchterne und berichtartig sich ausnehmende Darstellung der Geschichte einer jungen Frau, die binnen weniger Tage in die Fänge eines Medienzyklons gerät, der mittels Hetz- und Verleumdungskampagnen ihr Leben zerstört. Fokussiert hat Böll dabei vornehmlich die Mechanismen der Boulevardpresse, welche der Auflagensteigerung ihrer Produkte oberste Priorität vor dem Schutz des Individuums einräumt. Hinzu kommt die unilaterale Benutzung des Massenforums „Boulevard“, denn Katharina Blum hat keinerlei Zugriff auf diese meinungsbildende Plattform, sie erstarrt nolens volens in der Rolle des entmündigten Rezipienten. Hier sind die von der Diskursethik eingeforderten „Kommunikationsvoraussetzungen eines universell erweiterten Diskurses, an dem alle möglicherweise Betroffenen teilnehmen“65 können, ad absurdum geführt, denn die konfliktträchtige Situation in der Erzählung spottet jeder Möglichkeit von Partizipation seitens der Hauptfigur, da sie nicht als gleichberechtigte Partnerin am „Diskurs“, sprich an der Erörterung der Frage, ob, und wenn ja, inwiefern sie sich schuldig gemacht hat, teilnehmen kann. 63 Gruhn-Hülsmann, Annette: Erläuterungen zu Heinrich Böll. Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Bange Verlag. Hollfeld 20074 64 Böll, Heinrich: Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. dtv. München 200745 65 Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik, S. 113 25 Das Prinzip des Ausstoßes in einer nur vordergründig humanen Welt wird auch in Bölls letztem Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ verhandelt. Schon die Namensgebung ist in beiden Fällen nicht zufällig gewählt, sondern verweist auf eine bestimmte Erzählabsicht. Der Vorname „Katharina“ geht auf das altgriechische Epitheton „katharos“ zurück und bedeutet so viel wie „moralisch rein, sauber“. Die Charakteristika beider Figuren (Katharina Blums und Katharina Richters) sollen aufgrund dieses gemeinsamen Vornamens ergänzt und die Sympathie der Rezipienten bereits von vornherein für diese aus ärmeren sozialen Verhältnissen stammenden weiblichen Figuren gewonnen werden. Der Nachname „Blum“ kann als apokopierte Form des Nomens „Blume“ gelten und geht wohl auf die Zartheit und die damit verbundene Bedrohung eines zarten Gewächses zurück, was mit dem Handlungsverlauf der Erzählung bekanntlich übereinstimmt. Der Nachname „Richter“ seinerseits ist insofern selbsterklärend, als diese Nebenfigur aufgrund ihrer Stellung als Repräsentantin der Unterschicht dazu berufen scheint, die in Bonn herrschenden Verhältnisse zu be- und verurteilen. Ferner ist Katharina Richter genau wie Katharina Blum eine Hausangestellte und damit ipso facto ein potentielles Opfer bürgerlichen Machtmissbrauchs. An einer Stelle des Romans begibt sie sich aus freien Stücken in die Lage eines potentiell suspekten Untertans, als sie voller Demut folgende Worte an die Politikergattin Erika Wubler richtet: „Ich – […] – möchte mich bei Ihnen bedanken, daß Sie mich trotzdem genommen haben.“66 Wenig später erfährt der Leser, welche Bewandtnis es mit der konzessiven Konjunktion „trotzdem“ hat, als Erika Wubler die „paar Demonstrationen [erwähnt], an denen [Katharina] teilgenommen [hat].“67 Bei diesen Demonstrationen darf davon ausgegangen werden, dass es sich um Protestaktionen der linksautonomen Szene gehandelt hat. Hier nun wird ersichtlich, inwieweit Böll das Politische immer wieder tangiert, um seinen Figuren Konturen zu verleihen. Die damit verbundene Sympathielenkung ist dabei so ausgerichtet, dass der weiter oben beschriebene Gegensatz „links – rechts“ bzw. „Mächtige und Ausgebeutete“ beim Leser ein Mitfühlen für Letztere bewirken soll. Beide Katharina–Figuren bieten dem Leser ein deutliches Identifikationspotential. Obgleich dies in wesentlich stärkerem Maße für die Hauptfigur der Erzählung gilt, ist Katharina Richter ungeachtet ihrer untergeordneten Stellung innerhalb des Romangefüges eine Frauengestalt Blum’schen Zuschnitts. 66 67 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 15 Ebenda. 26 II.3. Martin Walser: Die süddeutsche Provinz II.3.1. Der Bodensee: Literatur in und aus der Peripherie Martin Walsers Œuvre ist topologisch gesehen eng mit seiner Herkunft und seinem Wohnsitz verbunden. Der süddeutsche Raum, genauer gesagt der Bodensee und dessen unmittelbare Peripherie sind Schauplatz zahlreicher Werke des 1927 in Wasserburg am Bodensee geborenen Autors. „Seit 1957 wohnt er wieder direkt am Bodensee“68, 1984 verlieh ihm seine Geburtsstadt die Ehrenbürgerschaft. Diese unbestreitbar „starke Zuneigung zum Bodenseegebiet [wird] in seinen Schriften und Aussagen häufig bestätigt, wie etwa im Heimatlob. Ein Bodenseebuch“69. Die in vorliegender Arbeit näher beleuchteten Werke „Ein fliehendes Pferd“ und „Brief an Lord Liszt“ bestätigen diese geographische Gebundenheit an den Bodensee. Auch die Handlung des Romans „Das Schwanenhaus“70, dessen Hauptfigur Gottlieb Zürn in der eben genannten Novelle noch als Ferienhausvermieter fungierte, ist am Bodensee angesiedelt. Der Titel des Werks geht auf eine Jugendstilvilla am See, um deren Erwerb Zürn vergeblich kämpft, zurück. In dem Roman „Brandung“71 (1985) siedelt Walser einen Großteil der Handlung in den Vereinigten Staaten an. Stuttgart, Wohnsitz der Halms, ist jedoch Ausgangs- und Schlusspunkt der Handlung. In seinem 2002 als Reaktion auf Marcel Reich-Ranickis herbe Kritik erschienenen Roman „Tod eines Kritikers“72 verlegt Martin Walser das Geschehen aus der süddeutschen Provinz nach Bayern. Der Erzähler gibt am Ende des ersten Kapitels eine klare Richtung vor. Nachdem er, in Amsterdam weilend, in der FAZ vom Mordverdacht gegen seinen Schriftstellerkollegen Hans Lach erfährt, heißt es: „Hin mußte ich. Sofort. Nach München. Und hinaus nach Stadelheim.“73 Wenn man jedoch davon ausgeht, dass Bayerns Hauptstadt als kosmopolitische Kunstmetropole von Weltrang Eingang in Walsers Roman gefunden habe, dann irrt man. Auch hier sticht der provinzielle Charakter der Lebensbedingungen hervor, seien sie nun privater oder beruflicher Natur. Dieser Befund macht auch vor dem Kunst- und Literaturbetrieb nicht halt: „Silbenfuchs habe Hans Lach ihn genannt, nachdem er, Professor Silberfuchs, den vorletzten Roman von Hans Lach in 68 Fetz, Gerald A.: Martin Walser, S. 1 Ebenda. 70 Walser, M.: Das Schwanenhaus. Suhrkamp. Fr. a. Main 1980 71 Ders.: Brandung. Suhrkamp. Fr. a. Main 1985 72 Ders.: Tod eines Kritikers. Suhrkamp. Fr. a. Main 2002 73 Ders., S. 15 69 27 irgendeiner Konversation ein Werk von grandioser Selbstbehinderung genannt habe. Was man in München irgendwo sage, sage man immer der ganzen Stadt. Zumindest in der Kulturszene. Die sei nirgends so tratschelig wie in München.“74 Die Enge und die damit einhergehende Unmöglichkeit eines Entkommens vor dem Zugriff Dritter ist damit ein durchaus zentrales Walser-Motiv auch dieses Romans. Das Provinzielle und das Beklemmende solcher Lebenswelten schimmern auch in einer auf Tonband aufgezeichneten Aussage des inzwischen als „psychotischer Psychiatriepatient“75 internierten Hans Lach durch: „Wie eng und klein das Land ist, merkst du erst, wenn die Schläge, die morgens gegen dich geführt werden, mittags schon bei dir eingetroffen sind. Ein Ausweichen innerhalb des Landes ist nicht möglich. Also fort.“76 Hans Lach meint hiermit die giftigen Anfeindungen gegen seine Person und sein Werk seitens der von André Ehrl-König orchestrierten, gedruckten und gesprochenen Literaturkritik. Dass Walser hier auf eigene leidige Erfahrungen mit dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki eingeht, liegt auf der Hand.77 Festzuhalten bleibt, dass der Schauplatz weiterhin der süddeutsche Raum ist, wobei der Fokus nur geringfügig vom Bodensee in Bayerns Hauptstadt verlegt wurde. Die eben genannten Werke böten für die übergeordnete Fragestellung meiner Arbeit ebenfalls zahlreiche Anschlussstellen. Allen voran wäre „Tod eines Kritikers“ zu nennen. Die gutbürgerliche Fassade hat mithin auch in Walsers Alterswerk nichts von ihrer Bigotterie eingebüßt. Gleichwohl wäre es – ähnlich wie bei Heinrich Böll – völlig abwegig, „Walser zu den Heimatdichtern im herkömmlichen Sinne zu zählen. [Trotz seiner Verbundenheit zum alemannischen Raum] ist Walser nie ein provinzieller Autor gewesen.“78 Die Provinz, das Heimatliche sind bei ihm nie Schablone für rückwärtsgewandte, eine ideelle Vergangenheit romantisierende Projektionen. „Mit dem ‚Rückzug auf’s Land’, in die Provinz, unterliegt Walser nicht einer Idyllisierung. Er kontrastiert mit der Ansiedlung seiner Romane in der Regionalität keine heile Welt mit einer von den Mechanismen der 74 Walser, Martin: Tod eines Kritikers, S. 14 Ders., S. 145 76 Ders., S. 146 77 Am Rande sei erwähnt, dass hier eine Analogie zu Heinrich Bölls Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ sinnfällig wird. Beide Werke verhandeln die für den Einzelnen zerstörerische Gewalt einer Presselandschaft, die sich als uneingeschränkte Instanz der Meinungsbildung wähnt, sei es nun die Boulevardpresse (Böll) oder die vordergründig-seichte Literaturkritik (Walser). Zum Verhältnis zwischen ReichRanicki und Walser und dem Leiden des Autors an der mitunter vernichtenden Kritik meint Volker Weidermann (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 9/2010, Feuilleton, S.23): „Walser ist außer sich. Ist in einer Weise außer sich, dass er […] nicht wieder zurückfindet in die eigene Haut, nicht mehr zurückfindet zu einem halbwegs gesicherten, selbstsicheren Ich.“ 78 Fetz, Gerald A.: Martin Walser, S. 1 75 28 kapitalistischen Wirtschaft geprägten Lebenswelt in den Metropolen.“79 Der Bodensee und dessen Umgebung liefern dem Autor vielmehr den geeigneten „Rohstoff“ für eine betont realistische Darstellung der Leiden, Ängste und Hoffnungen seiner Figuren. Der dabei entstehende Kontrast zur vermeintlichen, nur vordergründig „heilen Welt“ Süddeutschlands verstärkt den Wirkungsgrad seiner Schriften. II.3.2. Schnittmengen mit der Novelle „Ein fliehendes Pferd“ Martin Walser zeigt in seiner Novelle aus dem Jahre 1978 „zwei verschiedene Verhaltensmöglichkeiten [,] ein Duell zwischen den Repräsentanten zweier gegensätzlicher Fluchtmöglichkeiten [,] zwei Formen eskapistischer Lebensbewältigung.“80 Diese Einschätzung, so zutreffend sie auf den ersten Blick sein mag, muss m. E. bezüglich der Halm-Figur korrigiert werden. Helmut Halm und Klaus Buch sind die beiden männlichen Antipoden in Bezug auf ihre Lebensführung. Studienrat Halm wollte sich während seiner abermals am Bodensee zugebrachten Ferien eigentlich in Kierkegaards Tagebücher vergraben. Man könnte diese Lektüre als den Versuch werten, vor der eingehenden Beschäftigung mit der einsetzenden „midlife-crisis“ in die Welt existenzialistischen Gedankenguts zu flüchten. Eine solche Lesart scheint vor dem Hintergrund der bewusst kontrastiv angelegten Figurenkonstellation „Halm – Buch“ jedoch unangebracht. Während für Buchs Jugendwahn und dessen zwanghafte Sexualität die Anerkennung durch seine Umgebung unabdingbar ist, sucht Halm geradezu die Begegnung mit seinem Wesenskern. Einer Flucht kommt das keineswegs gleich. Gerade die auf Kierkegaard zurückgehende Zweiteilung in „ästhetische“ und „ethische Lebensweise“ wirft ein anderes Licht auf Halm. Obwohl dieser epikureisch daherkommt – „Helmut trank fünf Viertel [des schwersten, teuersten Spätburgunders]“81 – ist sein Lebenswandel ein im Kierkegaardschen Sinne ethischer. Klaus Buch hingegen ist die Ausgeburt des Ästhetikers. Während Halm bewusst darauf abzielt, „sich in seinem persönlichen Sosein zu erkennen und gleichsam zu […] akzeptieren“, ist Buchs Lebenswandel grundsätzlich „darauf angelegt, die Erfahrungs- und Genussmöglichkeiten des gesellschaftlichen Lebens auszuschöpfen und das Glück in der 79 Hick, Ulrike: Martin Walsers Prosa. Möglichkeiten des zeitgenössischen Romans unter Berücksichtigung des Realismusanspruchs. Akademischer Verlag Hans-Dieter Heinz. Stuttgart 1983, S. 197 80 Wagener, Hans: Die Sekunde durchschauten Seins. Martin Walser: Ein fliehendes Pferd (1978) In: Deutsche Novellen. Hg. W. Freund 19982, S. 279 81 Walser, Martin: Ein fliehendes Pferd, S. 25 29 Gegenwart zu suchen.“82 Mit „Genussmöglichkeiten“ sind hier keinesfalls ausschweifende Ess- und Trinkgewohnheiten gemeint83, sondern Buchs nahezu pathologische Flucht in das Hier und Jetzt eines jeden Augenblicks, das er – sichtbar gekünstelt – immerzu in vollen Zügen genießen will. Selbstredend soll diese Zuweisung keine „Etikettiermaschine“84 sein, mit welcher eine Figur vereinfachend mit einem komplexen philosophischen System wie demjenigen Kierkegaards in Einklang gebracht wird. Dennoch und trotz aller nötigen Differenzierung gilt, dass Halms ganz bewusst desillusionierende Haltung einer negativen Genügsamkeit – er verschließt sich der Sexualität“85 – darauf abzielt, die Gebote des Leistungsdenkens und der Anpassung an Normen abzuschütteln und ein selbstgenügsames Leben zu führen. Dabei verfällt er jedoch nie der kindischen Illusion, er lebe fortan losgelöst von allen gesellschaftlichen Zwängen86. Demgegenüber steht Buchs krampfhafter Versuch, sich in den Augen seiner Umwelt zu sonnen und zu spiegeln, um aus diesen Rückmeldungen die Bestätigung eigener Persönlichkeit zu beziehen87. Diese nach außen hin demonstrierte und eingeübte Leichtigkeit wird am Ende der Novelle als Maske eines durch und durch Verzweifelten enttarnt, als Helene den Leser hinter die Kulissen des aufgesetzten Glanzes führt.88 In Anlehnung daran erscheint die Figurenkonstellation in Walsers Roman „Brief an Lord Liszt“ als Neuauflage dieser Gegenüberstellung. Franz Horn kommt der eben dargelegten ethischen Lebensweise nahe; er sieht das Briefeschreiben als epistemische Möglichkeit an. Ziel des schier nicht mehr enden wollenden Schreibprozesses ist es, sein Wesen schonungslos offenzulegen und über diesen Weg den Adressaten Liszt zu einem Abrücken von dessen sturer Haltung gegenüber Horn, seinem ehemaligen Konkurrenten, zu bewegen. Letzterer sucht nachgerade die gedankliche Konfrontation mit seinen eigenen 82 Kiesel, Helmuth: Kommentar zu „Ein fliehendes Pferd“. In: Martin Walser: Ein fliehendes Pferd, S. 129 Vgl. die unverkennbare Erzähler-Ironie in den Zeilen: „Klaus Buch und seine Frau aßen nur Steak und Salat, und den Salat aßen sie vor dem Steak. Und sie tranken nur Mineralwasser.“ (Martin Walser: „Ein fliehendes Pferd“, S. 24) 84 Kiesel, Helmuth: Kommentar zu „Ein fliehendes Pferd“, S. 131 85 Walser, Martin: Ein fliehendes Pferd, S. 46: „Zum Glück hatte sie keinen Versuch gemacht, ihn zu berühren. Er hoffte, sie liege so neben ihm wie er neben ihr. Das wäre eine Lebensleistung. Von beiden vollbracht.“ 86 Walser, Martin: Ein fliehendes Pferd, S. 49: „In der Schule würde er weiterhin den verlangten Schein produzieren. Zu Hause aber würde er sich gehen lassen.“ 87 Vgl. S. 66, wo Klaus Buch sichtlich nervös bezüglich seiner sexuellen Leistungsfähigkeit bei Hel nachhakt: „Heißt das, sonst bin ich ganz gut, sagte er unersättlich. […] Du bist achtzehn Jahre jünger als ich. Hast du je zu klagen gehabt, fragte er unerbittlich.“ 88 Walser, Martin: Ein fliehendes Pferd, S. 91ff. 83 30 Schwächen, ohne dabei jene des Adressaten auszublenden. Auch die vorhin erwähnte „negative Genügsamkeit“ ist mit Horns Passivität gegenüber seiner Ehefrau durchaus verträglich. Die Lüge89, welche er Hilde zu Beginn auftischt, ist keinesfalls von Heimtücke geprägt, sondern spiegelt ein inniges Sehnen nach ein paar Stunden Alleinsein. Er flüchtet aus der Kleinfamilie in die Gedankenwelt, um hier sein „Sosein“ endlich mitteilen zu dürfen. Die beiden Figuren Halm und Horn, deren Namen nicht zufällig alliterieren, sind gewiss keine „Brüder im Geiste“. Dennoch verbindet sie ein Verhalten, welches im Vergleich zu ihren jeweiligen „Gegenspielern“ als ethisches im vorher indizierten Sinne daherkommt. Bezüglich der beiden anderen Figuren, sprich Buch und Liszt, lässt sich dieser Vergleich ebenfalls, wenn auch wiederum mit der nötigen Behutsamkeit, bemühen. Gegen Ende des Romans zeichnet Horn einerseits die an Klaus Buch erinnernde, für Liszt typische Fixierung auf die eigene Umgebung. Horn spielt auf einen ausufernden Streit zwischen ihm und Liszt an. Die dritte anwesende Figur ist ein als „Professor“ bezeichneter Mann, der von Liszt verbal behelligt wird: „Er [der Professor] schien Sie [Liszt] – glaubte ich – anzuflehen, Sie möchten doch, bitte, aufhören. […] Sein Gesicht zuckte unter Ihren dröhnenden Sätzen wie ein Leidensoszillograph. Sie bemerkten nur, daß er nicht genügend amüsiert war von Ihrer Darbietung.“90 Andererseits enttarnt Walser – ähnlich wie in der Novelle bezüglich der Figur Klaus Buch – den vordergründigen Charakter des Liszt’schen Gebarens als Fassade: „Sie beherbergen (vielleicht) ein Unglück, das schwerer ist als alles, was mir bis jetzt vorgekommen ist. […] Oder Sie sind einfach der Einsamste – Reinste. Inkompatibel.“91 89 „Da hörte er sich antworten, es sei etwas passiert […] er, Franz, wolle etwas vorbereiten, was er Thiele am Dienstag auf den Tisch legen könne.“ M. Walser: Brief an Lord Liszt, S. 25 90 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 121 91 Ders., S. 127 / Vgl. ebenfalls die Untersuchungen zur Thema-Rhema-Abfolge und deren Auswertung 31 32 II.4. Thema-Rhema-Struktur und Isotopiekonzepte Dieser Ansatz liefert eine auch für didaktische Zwecke sinnvolle Bereitstellung von Referenzbezügen (Thema-Rhema), welche alsdann eine fruchtbare Verbindung mit dem Aufzeigen von Isotopieebenen eingehen. Dabei wird sowohl auf der Textoberfläche als auch auf Ebene der Tiefenstruktur (v. a. beim Isotopiekonzept) gearbeitet. Die Kohäsionsmechanismen, mittels derer ein Text die einzelnen Sätze verknüpft, sind ebenfalls ein ergiebiges Mittel, um die „handwerklichen“ und damit grundlegenden Tugenden bzw. Mängel eines Textes offenzulegen. Vor allem dem oftmals gegenüber unserem Fach geäußerten Vorwurf, Literaturwissenschaft entferne sich zu sehr vom Text als solchem, um stattdessen über beliebige Theorieansätze und Mutmaßungen eine Kaffeesatzleserei zu veranstalten, kann u. a. mit diesem Ansatz begegnet werden. Einschränkend muss in diesem Zusammenhang jedoch hervorgehoben werden, dass der Stichprobenumfang mit nur zwei kürzeren Textpassagen in keiner Weise repräsentativ für die Stillagen eines Autors ist. Allenfalls kann eine gewisse Tendenz aufgezeigt werden. Es geht mir vornehmlich um die Erprobung einer Methode, die zwar in allen linguistischen Lehrbüchern zum theoretischen Kanon gehört, welche aber nur selten am konkreten literarischen Beispiel zur Anwendung gelangt. Die Erkenntnisse für das übergeordnete Thema dieser Arbeit stehen mithin im Vordergrund, das stilistische Profil „schreibwütiger“ Autoren wie Heinrich Böll und Martin Walser könnte selbstredend nur mit einem erheblichen Aufwand an Datensammlung und -auswertung erstellt werden. Ein Querschnitt durch mehrere Werke verschiedener Schaffensperioden eines Autors müsste zudem die Konstanten und Differenzen im Stil freilegen. Hinzu kommt, dass diese Methode für sich alleine genommen nicht als Königsweg fungiert. Nur im Verbund mit anderen Zugriffen kann das vielschichtige und reizvolle Phänomen „Stil“ zufriedenstellend untersucht werden. Zudem besteht die Gefahr, im forcierten Umgang mit einer solchen Methode der Illusion zu verfallen, man könne Texte fortan positivistisch „erklären“, indem man schlichtweg nur das glaubt, was man sehen bzw. beweisen kann. Diese Rasiermessertheorie wäre eine bedauernswerte Regression angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, welche die Interpretationskunst je nach Text bereitstellt. Die Mängel der eben aufgezeigten Vorgehensweise liegen in der Unmöglichkeit einer genauen Beschreibung des Tonfalls, der einen Text ausmacht. Letzterer kann, falls überhaupt, mittels Thema-Rhema-Struktur und der Isotopiekonzepte nur unzureichend erklärt 33 werden92. Um die Stimmung eines Textes wiederzugeben, bedarf es anderer Beobachtungen, die weit über das konkret fassbare, intersubjektive textlinguistische Instrumentarium hinausgehen. Hierzu gehören etwa die Klangkurven, welche, falls bewusst eingesetzt, entweder die Beschwingtheit, das Betörende, aber genau so die Härte und Kälte einer gewissen Situation unterstützen können. Dann wäre der Satzrhythmus zu nennen, denn auch hier greift die beschriebene Methode zu kurz. Rhythmische Prosa mit hohem ästhetischem Anspruch könnte mit diesem Ansatz nicht oder nur geringfügig gegenüber dem Erscheinungsbild eines rein funktionalen Textes gewürdigt werden. Schlussendlich gilt die auf Aristoteles zurückgehende Erkenntnis, „dass ein Ganzes anderes und mehr ist als die Summer seiner Teile.“93 Auch erscheint mir eine Vermittlung und Einübung dieser Vorgehensweise nicht nur für die Rezeption, sondern in gleichem Maße für die Textproduktion durchaus sinnvoll. Ob es sich nun um einen Gymnasiasten handelt, der einen Oberstufenaufsatz zu einem literarischen Thema anfertigt oder um einen Studenten der Germanistik, der eine Schreibwerkstatt besucht: Das Erlernen des „Handwerks“ durch Imitation wesentlicher Kohäsionsvorgänge einerseits und das Einüben eines geschmeidigen, treffsicheren Umgangs mit Isotopieverbänden andererseits können den Schreibprozess bereichern. Die Thema-Rhema-Struktur ist ein textlinguistischer Zugriff, bei welchem die Textkohärenz im Vordergrund steht, denn der „Kerngedanke“ ist es, der einem Text einen Sinn verleiht. Die Tatsache, dass „Versuchspersonen einen Text, der wenig bis keine Kohäsionsmerkmale aufweist, besser verstehen können, sobald ihnen durch Setzen eines entsprechenden Titels am Anfang des Textes das Thema signalisiert wird“94, weist auf die enge Verbindung zwischen Thema und Textkohärenz hin. Das Ineinandergreifen sprachlicher und außersprachlicher Wissensbestände ist diesem Zugriff inhärent, denn sowohl das Weltwissen des Lesers als auch die syntaktischen Verknüpfungen spielen bei der Beschäftigung mit Thema und Rhema eine Rolle. 92 Nicht zu verwechseln ist diese Betrachtungsweise mit dem Satzakzent. Vgl. hierzu Duden. Die Grammatik, S. 1131: „Die zentrale neue Information wird im Satz durch Akzent hervorgehoben.“ In den untersuchten Beispielen wird dieser Befund jedes Mal vorausgesetzt und nicht näher erörtert bzw. differenziert. Zu den einzelnen Platzierungen und Alternativen des Satzakzents, die bei der vorliegenden Analyse nicht weiter in die Ergebnisse einfließen, sei wiederum auf S. 1131, Abschn. 1861 im Grammatik-Duden verwiesen. 93 Lehnick, Ingo: Der Erzähler Heinrich Böll. Änderungen seiner narrativen Strategie und ihrer Hintergründe. 1997, S. 20 94 Linke, Nussbaumer, Portmann : Studienbuch Linguistik. Tübingen 20014, S. 237 34 Das Isotopiekonzept gilt gemeinhin als „speziell geeignet für eine Beschäftigung mit Texten, bei denen eine (bewusste) Zerstörung syntaktischer und wortsemantischer Bezüge“95 vorliegt. Zudem erlaubt dieser Ansatz dem Leser, „das, was wir 'intuitiv' aus einem Text 'herauslesen', in einem zweiten Schritt wieder an das Textmaterial zurückzubinden, um es damit einer intersubjektiven Überprüfung zugänglich zu machen.“96 Die Mängel dieses Ansatzes aus streng linguistischer Sicht werden hier nicht angeführt, da sie für die literarische Deutung keinerlei Bedenken mit sich bringen97. Mithin wird dieses Konzept vornehmlich bei lyrischen Gebilden der Moderne fruchtbar, da sich hier filigrane, oft suggestive semantische Komplexe über die Versgrenzen hinweg bilden. Aber auch für die beiden Textbeispiele kann dieser Zugriff, wie weiter oben gezeigt wurde, greifbare Erkenntnisse für die Interpretation liefern. Folgende Untersuchungen erfolgen auf Grundlage ausgewählter Textpassagen aus beiden Romanen. Es soll klargestellt werden, dass diese Auswahl zufällig erfolgt ist. Der oftmals erhobene Einspruch gegen literarische Analysemodelle fußt bekanntlich auf dem Argument, dass mitunter nur jene Texte untersucht würden, die dem jeweiligen Modell das größtmögliche Maß an Erkenntnissen zuspielen, während dieselbe Methode bei anderen Texten bzw. Textausschnitten gänzlich unfruchtbar bleibe. Dieser textlinguistische Ansatz soll Aufschlüsse über den Sprachgebrauch beider Autoren geben und zugleich Verbindungslinien zum übergeordneten Thema vorliegender Arbeit aufzeigen. Näheres hierzu kann den Ergebnissen weiter unten entnommen werden. Es folgen einige knappe, einführende Erklärungen zu diesem Ansatz. Der Übergang von der Satz- zur Textlinguistik in den 1970er Jahren brachte zahlreiche neue Blickwinkel und Gegenstandsbereiche grammatisch-literarischer Analyse mit sich. Hierbei liegt das Hauptaugenmerk neben dem Auffinden von allgemeinen Textbildungsregeln v. a. auf den „systematischen Bezüge[n] […] zwischen benachbarten Sätzen“98. Werden diese Beziehungen sprachlich, also semantisch-syntaktisch hervorgehoben, so spricht man von „Kohäsion“99. Diese Verknüpfung einzelner Sätze zu einem Textganzen entspricht der Oberflächenstruktur eines Textgebildes. Die Tiefenstruktur hingegen entspricht der „Kohärenz“, sie ist gewissermaßen „die konzeptuelle Basis des Textes“100. Die funktionale Satzperspektive sieht ihrerseits eine Spaltung des Satzes in zwei Teile vor. „Als Thema wäre 95 Studienbuch Linguistik, S. 230 Ders., S. 231 97 Ebenda. 98 Studienbuch Linguistik, S. 215 99 Ebenda. 100 Studienbuch Linguistik, S. 225 96 35 jeweils das zu betrachten, über das etwas gesagt wird, wogegen das Rhema dasjenige umfassen würde, was darüber ausgesagt wird.“101 Zudem wird in der Fachliteratur auf den Zusammenhang zwischen Textthema und Textfunktion102 verwiesen. Auch die Frage nach den Grenzen des Textes103 spielen in diesem Analysezusammenhang eine gewichtige Rolle. Diese beiden Punkte werden jedoch aus meiner Untersuchung weitgehend ausgeblendet, da es sich hierbei nicht um eine rein linguistische Abhandlung handelt und eine Einbeziehung dieser und anderer Differenzierungen den Rahmen meiner Arbeit sprengen würde. Bezüglich des Isotopiekonzepts lässt sich festhalten, dass es sich hierbei um „eine Art Zwischenstufe zwischen einer eher kohäsionsorientierten und einer mehr kohärenzorientierten Textanalyse“104 handelt. Dieser von Greimas geprägte Zugriff soll eine neue Form literarischer Interpretation bieten. Mechanismen der Textverknüpfung werden unter „semantischem Gesichtspunkt“ untersucht; Prinzipien wie Rekurrenz und Substitution kommt eine gewichtige Rolle zu, allerdings nicht mehr auf der Textoberfläche, sondern „’unterhalb’ der Wortebene, indem es [d. h. das Isotopiekonzept] auf die Semanalyse zurückgreift, also auf die Annahme der Zerlegbarkeit von Wortbedeutungen in eine Menge einzelner semantischer Merkmale“105. Grundannahmen der Komponentialsemantik kommen mithin zum Tragen. Es folgt nun eine Transkription einiger Sätze, die jeweils einen Passus aus einem der beiden Werke darstellen. Die Größe „Text“ wird hierbei stets als gegeben vorausgesetzt. Ziel der Analyse ist das Aufzeigen der Bedeutungsstruktur von Texten. Im Anschluss an die in Schrägschrift kopierten Sätze erfolgt eine Analyse ihrer Thema-Rhema-Struktur sowie der zugrundeliegenden Isotopien. Auf den Ko-Text der einzelnen Passagen wird nicht näher eingegangen, weil die Analyse auf rein textimmanente Bezüge fokussiert ist. Der Einfachheit halber werden die Sätze durchnummeriert. 101 Ders., S. 238 Ders., S. 237 103 Ders., S. 255f. 104 Studienbuch Linguistik, S. 230 105 Ebenda. 102 36 Text 1: Walser, M: Brief an Lord Liszt, S. 28ff. 1. Lieber Lord Liszt! 2. Warum nenn’ ich Sie so? 3. Die Anrede war da, als ich nach dem Schreiber griff. 4. Wahrscheinlich will ich eine Entfernung ausdrücken zu Ihnen und zugleich mir und Ihnen empfehlen, diese Entfernung doch nicht zu ernst zu nehmen. 5. Oder sollen wir? 6. Etwas Lordhaftes haben Sie an sich. 7. Immer tragen Sie diesen petroleumfarbenen Anzug mit den Lederknöpfen. 8. Wahrscheinlich haben Sie diese Farbe einmal gewählt, weil Sie gut zu Ihrem ins Rötliche überschnappenden Blond paßt. 9. Nein, Ihre Frau hat Ihnen dieses Petroleum empfohlen, stimmt’s? 10. Ihr zuliebe haben Sie sich dieser Farbe unterworfen und bleiben ihr besinnungslos treu. 11. Wie viele solcher Anzüge haben Sie eigentlich? 12. Ich stelle diese Frage fast im Namen der ganzen Firma. 13. Fräulein Hölzel, meine frühere Sekretärin, verriet mir einmal, daß jede, die neu in den Betrieb komme, nach spätestens vier Wochen diese Frage stelle. 14. Manche meinen, Sie demonstrieren etwas. 15. Man wüßte gern, was! 16. Darf ich in Zukunft sagen, es sei ein Bekenntnis zu Ihrer Frau? Lässt man fürs Erste die streng linguistische Perspektive außen vor, so fällt der etwas provokative, ins Spöttische gleitende, trotzdem stets einfühlsame Tonfall der Hauptfigur Franz Horn gegenüber seinem Firmenkollegen Liszt auf. Dieser einleitende Abschnitt aus dem ersten Brief an Liszt ist „thematisch“ gesehen gekennzeichnet durch ein ständiges, fast redundantes Kreisen um die Suche nach dem Ursprung des Lord-Titels in der Anrede sowie um Liszts äußeres Erscheinungsbild106. 106 Anmerkung bezüglich der folgenden Raster: Das Kürzel „Nr.“ steht jeweils für „Nummer“, „Tr.“ für „Transkription“, sprich für die Entsprechung in Wortform. Das Symbol „ø“ steht für die Abwesenheit einer der beiden Referenzbezüge. Ausrufe wie „Nein“ werden nicht gesondert als Satz angeführt, sie fungieren als Teil eines der beiden Referenzbezüge. Zwei unterschiedliche Bezüge innerhalb ein- und desselben Satzes sind fettgedruckt. 37 1 2 3 Satz 1 1 1 Thema-Nr. 1 2 3 Thema-Tr. Lord Liszt! nenn’ ich Sie so? Die Anrede 4 1 4 zu Ihnen 4 5 6 2 1 5 ø 6 Oder sollen wir? Sie (Liszt) 7 1 7 Sie (Liszt) 8 1 8 Sie (Liszt) 8 9 3 9 8 Nein, Ihre Frau 10 10 3 3 10 11 Ihr zuliebe 11 1 12 Sie (Liszt) 12 4 12 Ich (Horn) 13 5 13 Fräulein Hölzel 13 Rhema-Nr. 14 14 1 15 Sie (Liszt) 15 1 16 Sie (Liszt) 16 1 17 (Liszt) Rhema-Tr. Lieber Warum war da, als ich nach dem Schreiber griff. Wahrscheinlich will ich eine Entfernung ausdrücken; und zugleich … ø Etwas Lordhaftes haben … an sich Immer tragen … diesen … Anzug ... Wahrscheinlich … gewählt, weil sie gut … hat Ihnen … Petroleum Haben Sie … und bleiben ihr … treu Wie viele solcher Anzüge … eigentlich? stelle diese Frage … Firma meine frühere Sekretärin verriet mir einmal, daß … Manche meinen, ,(Sie) demonstrieren etwas Man wüßte gern, was? (Ellipse: Was Sie demonstrieren)) ,es sei ein … Auswertung und Begründung der Thema-Rhema-Folge zu Text 1 Die ersten vier Sätze beschäftigen sich nahezu zwanghaft mit der Anrede, welche Franz Horn dem Adressaten seiner Briefe verleiht. Das lässt sich eindeutig an der ThemaRhema-Abfolge ablesen. Satz Nr. 5 stellt gewissermaßen ein Intermezzo zwischen der vorangegangenen und der ab Satz Nr. 6 wieder einsetzenden Beschäftigung mit dem „Lordhaften“ dar. Dieser fünfte Satz ist gerade wegen seiner Stellung innerhalb einer „Themafuge“ interessant, da er ein kurzes Innehalten, ja eine vom Leser erwartete Progression im thematischen Verlauf liefert, bevor der thematische Fokus wiederum auf den Titel und dessen Berechtigung gerichtet wird. 38 Der fünfte Satz schreibt sich insofern in eine thematische Linearität (oder Progression) ein, als hier auf semantischer Ebene von der zuvor evozierten Möglichkeit einer beziehungstechnischen Entfernung zwischen beiden Figuren die Rede ist. Linguistisch gesehen wird hier das Rhema 5 aus Satz Nr. 4 zum Thema 2 von Satz Nr. 5. Die Frage dreht sich um die dem Titel „Lord“ inhärente, ehrerbietige Distanzierung Horns gegenüber Liszt. Satz Nr. 7 bietet zwar wiederum eine Progression auf Rhemaebene, das starre Festhalten an der Person und deren Titel jedoch untermauert, wie stark Franz Horn die charakterliche Konstitution seines Gegenübers und der Eindruck, welcher Liszt auf ihn macht, beschäftigt. Für Satz Nr. 8 gilt dasselbe. Mit Satz Nr. 9 tritt ein drittes Thema auf den Plan, die Ehefrau des Adressaten wird erwähnt. Das Augenmerk richtet sich nun auf einen anderen Agens, Liszt tritt als Rhema auf. Satz Nr. 10 verweilt bei Thema 3, sprich der Autorität einer Ehefrau in Sachen Kleidung und, darüber hinausgehend, öffentliches Auftreten. Gleich im Anschluss daran greift der Sprecher wieder das erste Thema auf, der „Lord“ wird auf seine Kleidung hin befragt. Ab hier kommt die thematische Progression nach einem kurzen linearen „Schub“ wieder ins Stocken, die Sätze 14 bis 16 stellen Lord Liszt wiederum in den Mittelpunkt, die Rhemata kreisen um dieses Hauptthema. Kohäsion und Isotopien Hinsichtlich der Kohäsionsmerkmale wird ersichtlich, dass nur an manchen Stellen Rekurrenz als Vernetzungsmittel anzutreffen ist. Die Verknüpfungen auf materieller Ebene werden vornehmlich durch Substitutionen, Pro-Formen und qua Ellipse realisiert. Letzteres ist in Satz Nr. 15 der Fall, wo Rhema 16 in Form des Interrogativpronomens „was“ auf Rhema 15 aus dem vorausgehenden Satz referiert. Satz Nr. 5 weist ebenfalls eine Ellipse auf. Ein Beispiel für eine Pro-Form lässt sich an Satz Nr. 10 ablesen. Das Personalpronomen „ihr“ stellt die syntaktische Vernetzung zu Satz Nr. 9 her, Thema 3 verweist auf sich selbst. Satz Nr. 16 verknüpft mittels des Personalpronomens „es“ diesen mit dem vorherigen Satz. Eine Substitution liegt in den Sätzen Nr. 3, 7, 8 und 11 vor. Von „Rekurrenz“ kann lediglich in den Sätzen Nr. 6, 9, 13 die Rede sein. Dieses eher seltene Vorkommen „reiner“ Rekurrenz kann als Beweis für die Erfüllung der klassischen Stilvorgabe „variatio delectat“ gelten. Hinzu kommt, dass der neunte Satz eine Rekurrenz gegenüber Satz Nr. 7 liefert; Satz Nr. 8 weist eine Substitution „petroleumfarben – Farbe“ auf, sodass Redundanz gar nicht erst aufkommt. 39 Für die Sätze Nr. 2 und 12 liegt eine metakommunikative Verknüpfung vor. Das Wiederaufgreifen und Benennen des vorangegangenen Sprechakts, hier einer Anrede, markiert für Satz Nr. 2 eine metasprachliche Verknüpfung mit „Satz“ Nr. 1. Gleiches gilt für den zwölften Satz, wo nicht die Anrede, sondern eine Frage explizit aufgegriffen wird, um den Sprechakt aus Satz Nr. 11 als Anschlussstelle für den folgenden Satz zu verwerten. In jenen Sätzen (Nr. 4 und 14), wo keine expliziten Kohäsionsmerkmale auftreten, würde es dem Leser schwerfallen, dem Text eine wie auch immer geartete Kohärenz zuzuschreiben, wenn er dabei nicht auf außersprachliche Marker zurückgreifen könnte. Für die Sätze 4 und 14 kann eine zeichengebundene Präsupposition ausgemacht werden. Für Satz Nr. 4 gilt, dass die Entfernung, welche mit der Anrede verbunden ist, zwar als thematische Progression wahrgenommen wird, diese jedoch nicht über eine der gerade genannten Vernetzungsformen auf der Textoberfläche, sondern „leicht unter“ dem Text in Form einer Voraussetzung („die Anrede“ aus Satz Nr. 3) rezipiert wird. Genauso verhält es sich mit der in Satz Nr. 13 vorkommenden Präsupposition („diese Frage“). Grob gesehen kann man für diesen Passus zwei Isotopieebenen ansetzen. Die erste baut sich um die Anrede „Lord Liszt“ auf; die metakommunikative Vernetzung in Satz 2 („Anrede), ferner die damit einhergehende „Entfernung“ (Satz 4) bilden den Stamm dieser ersten Ebene. Es folgen die Begriffe „Lordhaftes“ sowie „Anzug mit Lederknöpfen“. Ab Satz 9 kommt ein zweites Thema zum Tragen. Diese thematische Progression deckt sich mit dem Hervortreten der zweiten Isotopieebene. Hier, also ab Satz Nr. 9, wird die erste Isotopieebene überlagert von einer zweiten, welche pikanterweise Liszts Ehefrau als Ausgangspunkt hat. Wie eine Ranke klettern das reflexive Verb „unterwerfen“ und das adverbial gebrauchte Adjektiv „besinnungslos“ an dieser zweiten Isotopie hinauf. Für das Thema vorliegender Arbeit ist diese Einsicht dahingehend aufschlussreich, als sich der anfangs als „Lord“ gepriesene Liszt zumindest nach Horns Dafürhalten seiner Ehefrau regelrecht unterwirft. Die Biedermeierfassade bröckelt, der Graben zwischen patriarchalischer Außendarstellung und der Innenansicht wird sinnfällig. Die erste Isotopieebene bildet eine Art Klammer, zwischen der sich die zweite Ebene entfaltet. Diese Klammer kann in ihrer Bildhaftigkeit auf einer Metaebene wiederum als Isotopie gewertet werden, da dem Sprechen über die patria potestas bzw. das Herrische der Liszt-Figur ein abruptes Ende bereitet wird. Es folgen Gedanken über die Fragwürdigkeit dieser Erscheinung, der Lord steht gewissermaßen „zwischen Klammern“, er wird in seiner schier allmächtigen Postur grundsätzlich in Frage gestellt. Am Ende des Passus, sprich nach 40 der Isotopieklammer (ab Satz Nr. 14), gehen die beiden Isotopiebenen „Lord“ und „Ehefrau“ eine syntaktische Verbindung ein. Die Rede ist hier sowohl von einer „Demonstration“, sprich eines (hier nur vordergründigen) Akts der Willensstärke als auch von der „Unterwerfung“ unter die Ehefrau. Text 2: Böll, H.: Frauen vor Flusslandschaft, S. 115 1. Wenn ich zu diesem Plukanski fahre, muß ich immer an mich halten, damit meine Wut mich nicht übermannt, ich nicht die Herrschaft über das Lenkrad verliere, gegen einen Baum, eine Laterne fahre oder ein anderes Auto ramme. 2. Wohl möglich, daß ich ihn eines Tages erwürge, dieses Nichts, nicht einmal ein Heuchler ist er, sondern er ist nur, wie er ist: nichts. 3. Sie nennen ihn Apfelwange, und tatsächlich ist seine Haut auf eine unbezahlbare Weise telegen. 4. Eine Maskenbildnerin hat mir mal zugeflüstert: 5. Den braucht man gar nicht zu schminken, der ist immer geschminkt. 6. Er sieht immer aus wie ein gesunder Apfel, der im nächsten Augenblick reif vom Baum fallen oder gepflückt wird, so richtig marktappetitlich, das blonde Haar inzwischen silbrig, dicht, und auch heute noch, wo er auf die Fünfundfünfzig zugeht, sieht er aus wie ein Junge, in dessen Fußballmannschaft man gerne mitgespielt hätte. 7. Er kann sogar schelmisch lächeln, und Grübchen hat er auch. 8. Es ist nie genau analysiert worden, wie viel Stimmen er bringt, sicher ist: 9. Er bringt genug, und laut Analyse einiger Publikumsäußerungen halten ihn die meisten für einen Adeligen, der sein « von » aus demokratischer Bescheidenheit abgelegt hat. 41 Satz 1 Thema-Nr. 1 Rhema-Nr. 1 1 2 1 1 3 4 2 1 5 2 1 6 2 Thema-Tr. zu diesem Plukanski Ihn (Plukanski) 7 3 3 1 2 8 9 Ihn (Plukanski) seine Haut 4 3 10 5 1 11 Eine Maskenbildnerin Den; der (Plukanski) 6 1 12 Er (Plukanski) 6 4 13 6 1 14 das blonde Haar (pars pro toto) er (Plukanski) 7 1 15 Er 8 1 16 er 9 1 17 er 9 1 18 ihn 107 Rhema-Tr. Wenn ich …, muß ich …, damit …, ich nicht die …, gegen einen Baum, … fahre oder … ramme Wohl möglich, daß ich ... erwürge dieses Nichts; nichts nicht einmal ein Heuchler ist er Apfelwange auf … Weise telegen hat mir mal zugeflüstert braucht man … zu schminken, der ist geschminkt sieht immer aus wie ein gesunder Apfel,…, so richtig marktappetitlich107 inzwischen silbrig, dicht wie ein Junge, in dessen … mitgespielt hätte kann sogar schelmisch lächeln, und Grübchen hat er auch108 Es ist …, wie viele Stimmen er bringt (sicher ist): bringt genug ,und laut Analyse … abgelegt hat Hier könnte man noch einmal ein neues Rhema ab dem Epitheton „marktappetitlich“ setzen. Das Adjektiv bildet jedoch eine Isotopie mit der Vitalitätsmetapher des „gesunden Apfels“, sodass hier eine weitere Rhemaunterteilung nicht unbedingt von Nöten ist. 108 Genau wie für Satz (6) wird auch hier keine unnötig komplexe Rhema-Abfolge vorgenommen, die Isotopie „Schelm – Grübchen“ liegt wiederum auf der Hand. 42 Vorbemerkung Die Anzahl der für Böll transkribierten Sätze entspricht fast genau der Hälfte derer, welche für Walser als Grundlage der Untersuchung dienen. Um mehr oder weniger die gleiche Anzahl an Wörtern für beide Autoren zu analysieren, habe ich nach Satz Nr. 9 einen fiktiven Schlussstrich unter diesen „Text“ gezogen. Jene Sätze, die durch einen Doppelpunkt voneinander getrennt sind, habe ich im Raster jeweils separat angeführt, um die ThemaRhema-Folge besser durchscheinen zu lassen109. Welche Rückschlüsse die großen Divergenzen hinsichtlich der Satzlänge für die Thema-Rhema-Folge und damit für die sprachlichen Besonderheiten Bölls zulassen, soll aus nachfolgenden Überlegungen hervorgehen. Auswertung und Begründung der Thema-Rhema-Folge zu Text 2 Der Einleitungssatz dieses Monologausschnitts weist ein erstes Thema auf, an das sich innerhalb desselben Satzes gleich vier unterschiedliche Rhemata anschließen. Dies deutet auf ein in hohem Maße affektiv gesteuertes Sprechen hin. Auf Satz Nr. 2 trifft dasselbe zu. Hier wird die Rhemaprogression durch pejorative Charakterzuweisungen vorangetrieben; die besprochene Plukanski-Figur erscheint in einem schlechten Licht. Die für Satz Nr. 3 vorgenommene Aufteilung in zwei separate Themata („ihn / Plukanski“ u. „seine Haut“) ist m. E. insofern angebracht, als sich damit deutlicher auf das pars pro toto „seine Haut“ hinweisen lässt. Das Telegene von Plukanskis Haut steht sinnbildlich für dessen anbiederndes und populistisches Auftreten. Satz Nr. 4 liefert ein neues Thema in Form der als Komparsin fungierenden Maskenbildnerin. Der Erzähler hat sie offenbar nur deswegen erwähnt, weil sich damit auf die noch zu besprechende Isotopieebene der „Maske“ verweisen lässt. Die Sätze Nr. 5 und 6 beziehen sich thematisch gesehen wiederum auf Plukanski, die Konzepte „Maske“ und „Vitalität“ fungieren als Rhemata. Wie in Satz Nr. 3 steht auch hier eine Synekdoche („das blonde Haar“) für eine weitere Thema-Unterteilung. Die letzten vier Sätze bringen keine thematische Linearität, sondern verharren bei der Plukanski-Figur. 109 Zur Leistung des Doppelpunkts vgl. etwa „Duden. Die Grammatik. Duden Bd. 4. 20057, S. 1074. Hier wird die „enge sinngemäße Verbindung zwischen einzelnen Sätzen oder Satzteilen“ angeführt. Diese Verbindung entspricht „inhaltlich z. B. einer Schlussfolgerung“. Trotz dieser inhaltlichen Vernetzung liefern die „Sätze“ 4 und 5 verschiedene Themata, sodass die Aufteilung in zwei verschiedene „Sätze“ Sinn macht. Der Doppelpunkt kündigt hier eine direkte Rede an. Für die Sätze 8 und 9 ist die Aufteilung zwar nicht so ergiebig, trotzdem wurde sie der Homogenität halber vorgenommen. Ein verfälschendes Ergebnis bleibt gegenüber der alternativen Vorgehensweise, jeweils nur einen Satz anzuführen, aus. 43 Kohäsion und Isotopien Bezüglich der Textkohäsion steht der bei Walser dargelegten Vielfalt eine nahezu ausnahmslose Verknüpfung mittels Pro-Formen gegenüber (Satz 2 = „ihn“, Satz 3 = „ihn“, Satz 5 „den“, Satz 6 = „er“, Satz 7 = „er“; Satz 8 = „er“, Satz 9 = „er“). Ausschließlich der Pronominalgebrauch realisiert diese Verbindungen, wobei das Personalpronomen sechsmal, das Demonstrativpronomen (in Satz 5) einmal anzutreffen ist. Lediglich der vierte Satz stellt zu diesem materiellen Vernetzungsmuster eine Abweichung dar, insofern hier eine gebrauchsgebundene Präsupposition110 (in Satz 3) den Anschluss und damit die Kohärenz ermöglicht. Diese Präsupposition wird durch die Erwähnung von Plukanskis geschminkter Haut geschaffen. Der Leser zapft intuitiv sein Weltwissen an, um dieses Signal für eine semantische Verbindung zur in Satz 4 evozierten Maskenbildnerin zu verwerten. Mit Blick auf die Isotopiekonzepte lässt sich festhalten, dass die „Wut“ einen ersten semantischen Komplex einleitet. Das Verb „übermannen“, die Wortgruppe „die Herrschaft über das Lenkrad verlieren“, ferner das Verb „erwürgen“ und schließlich die Bezeichnung „dieses Nichts“ bilden eine Isotopie. Anhand der Merkmalsemantik könnte man mittels Klassifikationen diese gemeinsamen und nur leicht voneinander abweichenden Bedeutungen aufzeigen. Ab Satz Nr. 3 tritt eine zweite Ebene hervor. Es handelt sich um die Vitalität Plukanskis, die durch den Begriff „Apfelwange“ sowie durch den Gebrauch von Wortgruppen wie „telegene Haut“, „der ist immer geschminkt“ und „er sieht immer aus wie ein gesunder Apfel“ sinnfällig wird. Das Epitheton „marktsappetitlich“, die Bezeichnung „dichtes Haar“, die Wortgruppe „wie ein Junge“, das Adjektivadverb „schelmisch“ und schlussendlich die „Grübchen“ ergänzen den spitzbübisch-jungenhaft-vitalistischen Eindruck, den Plukanski auf seine Mitmenschen macht. Die dritte und letzte Isotopie steht zu einem bestimmten Baustein der vorangegangenen Ebene interessanterweise in enger Beziehung. Bei dieser dritten Ebene handelt es sich um die vom Wahlvolk fälschlich konstruierte adlige Abstammung Plukanskis, die er aus Gründen der Demut und des Respekts vor dem demokratischen Neuanfang der BRD nach 1945 abgelegt haben soll. Übrigens könnte man diese Ebene in den folgenden, hier nicht transkribierten Sätzen weiter verfolgen. Diese Projektionen verweisen auf das Bild der „Maske“, welches im Isotopiekonzept 2 in Form der Maskenbildnerin und der telegenen Haut vorkommt. Die Doppelbödigkeit der Maskenmetapher tritt hier deutlich hervor. Plukanski hat 110 Studienbuch Linguistik, S. 231 44 einerseits die Gabe einer telegenen Erscheinung, andererseits trägt er eine Maske, hinter der sich die Totalität bigotten Lebenswandels verbirgt. Um das naive Wahlvolk hinters Licht zu führen, gaukelt Plukanski eine spitzbübische Naivität vor. Zudem wehrt er sich keineswegs gegen die landläufige Meinung, er habe sein „von“ aus „demokratischer Bescheidenheit abgelegt“. Vergleich der Ergebnisse und Rückschlüsse für die übergeordnete Fragestellung Walsers Schreibweise erscheint im Lichte dieser Betrachtungen wesentlich vielfältiger. Dazu bedarf es nur eines Vergleichs der Kohäsionsmittel111. Dieser sprachliche Reichtum ist gepaart mit einer pointierten Beobachtungsgabe. Walser begibt sich auf eine filigrane Spurensuche, bei der die Psychologisierung im Vordergrund steht. Hinter der bröckelnden Fassade steht ein „Lord“, der sich unter die Fuchtel seiner Frau begibt, nach außen hin jedoch die Werte männlicher Ellenbogengesellschaft vertritt. Diese Annahme kann dank der „Isotopieklammer“112 konkret „nachgewiesen“ werden. Walser hält offenbar die Fäden der Sprachtextur fest in Händen. Die Referenzbezüge ufern innerhalb eines Satzes nicht aus, wie dies etwa auf Bölls Eingangssatz zutrifft. Hier stehen einem Thema gleich vier Rhemata entgegen, allesamt beziehen sie sich auf ein Isotopiekonzept der Wut und der Übermannung des Sprechenden durch Letztere. Genauso gut könnte man in übertragener Bedeutung behaupten, dass Böll im Schreibeifer übermannt wird. Tatsächlich legt er seiner Figur in den ersten beiden Sätzen eine „Rhemafuge“ in den Mund. Letztere unterstützt Bölls Intention und kann somit als gelungener Kunstgriff gewertet werden. Bezüglich der inhaltlichen Schnittmengen kann vornehmlich auf die Isotopien verwiesen werden. Auffallend ist die Betonung des äußeren Erscheinungsbildes in beiden Textpassagen. Bei Walser wird dem Leser eine als „Lord“ bezeichnete männliche Figur vor Augen geführt, deren Widersprüchlichkeit u. a. am Motiv des petroleumfarbenen Anzuges festgemacht wird. Einerseits „stellt [der Anzug] den männlichen Körper nicht als erotisches Objekt in den Vordergrund, sondern betont seine Funktionalität.“113 Diese klassische Signalwirkung von Männerkleidung im Kontext politischer und „marktappetitlicher“114 Koordinaten wird jedoch aufgrund der darauffolgenden Isotopieebene in Frage gestellt. Denn 111 Vgl. vorliegende Arbeit, Kohäsion zu Text 1, M. Walser Vgl. vorliegende Arbeit, Isotopien zu Text 1, M. Walser 113 Vinken, Barbara: Marie Antoinettes Ibiza-Hip. In : Cicero. 8/2010, S. 119 114 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 115 112 45 es ist gerade die Ehefrau, welche die rigide Funktionalität des Männerkostüms zur bloßen Schablone austrocknen lässt. Der Widerspruch sowie die damit verbundene Verunklarung sind zudem weitere Vorzüge des Walser-Textes. Dieser nuancierten Figurenzeichnung steht die einfache thematische Linearität in Bölls Textpassage gegenüber. Die oben evozierte simple Kohäsion mit Pro-Formen könnte auf literarischen Formwillen hinweisen; die Redundanz als poetische Lizenz hat bekanntlich eine große Wirkungskraft. Diesen Effekt hier nachweisen oder widerlegen zu wollen, würde abermals die Grenzen dieses Abschnitts überschreiten. Gleichwohl erhärtet sich der Eindruck, dass eine simplere Gestaltung auf Kohäsionsebene mit ebenso einfach-naiven Isotopiekonzepten Hand in Hand geht. Die erste Isotopieebene („Wut“) mündet in diejenige des vitalen Plukanski. Aufschlussreich für das Thema des „abgründigen Biedermeier“ ist diese Metapher der Vitalität jedoch allemal. Sie rückt die körperliche Gesundheit des im politischen Bonn erfolgreichen Mannes in den Vordergrund. Somatismen wie „Haut“ und „Haar“ stehen sinnbildlich für die Assoziation von Erfolg und Vitalität im Zeitalter der Massenmedien und des Jugendwahns. Die Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit der Liszt-Figur, welche bei Walser subtil zu Tage tritt, weicht hier aber dem schier monolithischen Plukanski. Nur seine adlige Abstammung, die als Gerücht kursiert und die er so im Raum stehen lässt, wirft einen leicht relativierenden Blick hinter die Fassade eines Politprofis. Ansonsten wirkt diese Figur etwas trivial, dem Muster „Gut vs. Böse“115 gehorchend.116 115 Zur differenzierenden Diskussion vgl. Lehnick, S. 142, wo der Autor auf eine diesbezügliche Kritik seitens Marcel-Reich Ranickis referiert und Letztere mittels eines Interviews Heinrich Bölls entkräften will. Die „trinitarische Möglichkeit des Menschen“ ist Böll zufolge sein eigener Glaube, die oftmals geübte Kritik, sein Werk sei zu dualistisch angelegt, weist er hiermit zurück. 116 Hier sei wiederum auf Lehnicks Studie hingewiesen. Sie analysiert und würdigt die narrativen Strukturen des Erzählwerks am Beispiel von vier Romanen, also aufgrund eines erheblichen „Datenumfangs“. Lehnick kommt zur Schlussfolgerung, „dass die Erzähltexte Heinrich Bölls nur unter Beachtung des engen Funktionszusammenhangs von formalen und inhaltlichen Aspekten adäquat beurteilt werden können. Für die untersuchten Texte wurde [Lehnick zufolge] gezeigt, dass der jeweilige Sinngehalt eine konsequente und funktionale narrative Umsetzung erfährt. Neben der durchweg effektiven Gestaltung des Narratorprofils tragen dazu beispielsweise die entsprechende Handhabung von Motivketten, die unterschiedliche ZeitRaumbehandlung und der differenzierende Einsatz ironischer Möglichkeiten bei.“ 46 III. Analysekategorien III.1. Theoretische Fluchtlinien Vorbemerkung Die folgenden Abschnitte III.1. bis III.9. bilden den Hauptteil vorliegender Arbeit. Beginnen wird die Einzelanalyse mit einer Übersicht zu den theoretischen Fluchtlinien. Dabei werden die Schriften Horkheimers, Adornos und Canettis nicht einzeln vorgestellt und besprochen, sondern sofort auf die beiden Romane appliziert. Die drei nun folgenden Abschnitte stellen mithin die übergreifende Fragestellung dieser Arbeit auf eine theoretische Grundlage, von der aus Bölls und Walsers Romane aus soziologisch-philosophischer Sicht ausgeleuchtet werden sollen. Befragt und aufgezeigt werden vornehmlich die neuralgischen Punkte einer Gesellschaft, deren Ansprüche auf Freiheit des Einzelnen und auf eine offene Gesellschaft im Lichte der Analyse als irreführend erscheinen (Adorno). Ferner wird der Grundgedanke von der „Dialektik der Aufklärung“ als Lesart für die beiden zur Debatte stehenden Romane erprobt. Dabei tritt eine oftmals nur vordergründig zivilisierte Gesellschaft zutage, deren Schattenseiten die wirkungsmächtigeren sind (Horkheimer / Adorno). Schließlich sollen Canettis Überlegungen über die Masse und deren Verhältnis zur Macht einige sinnstiftende Beiträge zur Beantwortung der Frage liefern, inwiefern Böll und Walser in ihren Romanen den Einzelnen in seinem Verhältnis zur Masse und deren Fängen zeigen. Selbstredend stehen diese Überlegungen in einem vielschichtigen Verhältnis zu allen anderen Schwerpunkten vorliegender Arbeit, sodass sich diese und jene gegenseitig erhellen sollen. III.1.1. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung117 Horkheimer und Adorno gehen in ihrer Schrift „Dialektik der Aufklärung“ der Leitfrage nach, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.“118 Die beiden Autoren begeben sich bei dieser Spurensuche auf einen Pfad dialektischer Entwicklungen. Die seit dem 18. Jahrhundert von den Verfechtern der europäischen Aufklärung und des Wissenschaftszeitalters vertretene Überzeugung, technische Erfindungen und andere, primär aufklärende Errungenschaften brächten die Menschheit in Bezirke, die gegen Barbarei bzw. atavistische Symptome gefeit 117 Horkheimer, Max / Theodor W. Adorno : Dialektik der Aufklärung. Fischer. Fr. a. Main 200817. Im Folgenden wird dieses Werk zitiert als: „Horkheimer, Adorno“ 118 Horkheimer, Adorno, S. 1 47 sind, wird als Illusion enttarnt und widerlegt. In ihrer Vorrede kommen die Autoren auf die Nivellierung der Menschen im Namen des Äquivalents zu sprechen. „Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert. Der Aufklärung wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der Eins, nicht aufgeht“119. In Heinrich Bölls Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ wird diese Behauptung anhand des Ausschaltens unbequemer Politikergattinnen sinnfällig. Wie noch im Kapitel zum „Hotel Irrenanstalt“120 näher gezeigt werden soll, erleidet u. a. Elisabeth Blaukrämer ein solches Schicksal. Sie wird als unabwägbare Unbekannte in der auf reine Quantifizierung angelegten politischen Gleichung angesehen. Blaukrämer wird kurzerhand weggesperrt. Das Bonner Biedermeier hat eine eigens für solche Fälle vorgesehene Anstalt, das „Kuhlbollen“121, die zynischerweise als „Hotel“ bezeichnet wird. Das von Horkheimer und Adorno erwähnte „Äquivalent“ bringt das an mathematisches Kalkül grenzende Gebaren der Bonner Machtmenschen auf den Punkt. Elisabeth Blaukrämer ist nicht mehr mit irgendeiner Zahl in Einklang zu bringen. Mit dem Begriff „Zahl“ ist hier keine mathematische Größe gemeint, sondern ein bestimmter Wert innerhalb eines machtpolitischen Koordinatensystems, in dem gefährliche „Elemente“ erfasst und ausgeschaltet werden. Blaukrämers „Ehe mit Dr. Blaukrämer beruhte also auf einer Lüge?“122 Diese nahezu rhetorische Frage der Ärztin Dr. Dumpler beantwortet die Befragte mit: „Ja, natürlich. Kalt. Auch seinerseits, […] er wußte auch, daß ich nicht vergewaltigt worden war. Vergewaltigt hat er (sic) mich dann. Und er hat alles, alles benutzt, um auch eine kirchliche Scheidung zu bekommen.“123 Hieran lässt sich ablesen, inwieweit sowohl die Eheschließung als auch das Ende dieser Verbindung vom Kalkül des Machtbesessenen gesteuert wird. Bei Martin Walser ist es das Berufsverhältnis zwischen Franz Horn und dem Bayer-Gesandten Dr. Preissker, welches die von Horkheimer und Adorno angeführte These veranschaulicht. Dieser Preissker habe in einem Gespräch mit Horn – so Letzterer in einem seiner Briefe – behauptet, „Arbeitsvoraussetzung sei die tägliche Abtötung.“124 Dr. Preissker fühlt sich in Thieles Firma sichtlich wohl. Um bei diesem gut angesehenen Firmenmitarbeiter nicht in Ungnade zu fallen, „benehme [Horn sich] jedes Mal so, daß genau dieses Ergebnis erzielt werden muß.“125 Die mathematische Gleichung regiert auch hier die zwischenmenschlichen Beziehungen. Obgleich 119 Dies., S. 13 Vgl. hierzu den Abschnitt III.9.1. vorliegender Arbeit 121 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 137ff. 122 Ders., S. 141 123 Ders., S. 141f. 124 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 112 125 Ders., S. 113 120 48 Franz Horn, im Gegensatz zu Elisabeth Blaukrämer, keine Gewalt zugefügt wird und er freiwillig in diese Rolle schlüpft, indiziert sein unbedingtes Gefallenwollen die verabsolutierte Ergebnisorientiertheit innerhalb der Firma. Bereits Walsers Wortwahl, welche die gewünschte Folge des Handelns als „Ergebnis“ bezeichnet, erinnert an das „Äquivalent“ bei Horkheimer und Adorno. Dass Walser auch hier ein kritisches Licht auf und hinter die BiedermeierFassade der süddeutschen Provinz wirft, liegt auf der Hand. Ähnlich wie Böll schildert Walser den Ausschluss solcher Figuren, die für ihr Umfeld, in diesem Fall für die Firma und deren Inhaber Thiele, gefährlich werden. Franz Horn weist Liszt darauf hin, dass dieser „so wenig für Markdorf [also für eine Beförderung] in Frage komme wie [Horn]“126. Thiele hatte sich sieben Jahre zuvor ein Haarteil zugelegt, um seinen vermehrten Haarausfall auszugleichen. Horn zufolge ist „das eigentliche Motiv für den Halbverkauf an Bayer [Thieles] Bedürfnis, auch noch die letzten Zeugen loszuwerden.“127 Horns Argumentation mag albern klingen, doch die Stichhaltigkeit seiner Ausführungen scheint gewährleistet, weil er die Funktionsweise und Leistung der Vernunft hinterfragt: „Der helle Wahn, werden Sie [d. h. Liszt] sagen. Vielleicht werde ich das, wenn es wieder Tag ist, selber sagen. Aber das ist es doch, daß Tageslicht, Vernunft usw. im Dienst sind. Gekauft, bestochen. Allein der Wahn ist unbestechlich.“128 Interessanterweise hat Walser die festgefahrene Formel „heller Wahn“ hier gebraucht, um auf die aus Horns Sicht epistemische Leistung desselben hinzuweisen. Der Wahn hellt mithin auf, die Vernunftkräfte jedoch sind gekauft. Um bei der Personifikation zu bleiben: Sie will, ähnlich wie Liszt, nicht wahrhaben, dass ein Firmenchef den teilweisen Verkauf seiner Firma aufgrund der Ausschaltung von „Mitwissern“ um sein Haarteil beschließt. Es handelt sich hier um eine „Entdeckung des Kapitalisten [d. i. Thieles] als eines Gegentyps, der das Verhalten des von ihm Abhängigen gerade dadurch beeinflusst, daß er Erfolg als Charaktereigenschaft überzeugend vorzuführen versteht. Der Arbeitnehmer wird auf eine von Walser anfänglich kaum geahnte Weise vom Glauben an das atavistische Selektionsprinzip der Wettbewerbsgesellschaft beherrscht.“129 126 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 115 Ders., S. 117 128 Walser, Martin: Ein fliehendes Pferd, S. 117 129 Scholz, Joachim J.: Der Kapitalist als Gegentyp. Stadien der Wirtschaftswunderkritik in Walsers Romanen. In: Martin Walser. International Perspectives. edited by. J. E. Schlunk u. A. E. Singer. American University Studies. Series I: Germanic Languages and Literature Vol. 64. Peter Lang Publishing. New York, Bern u.a. 1987, S. 79 127 49 Am Schluss dieses Briefes steht die Verunklarung; der Leser muss selbst entscheiden, ob er Horn als paranoiden, profilneurotischen Misanthropen oder als kritischen und scharfsinnigen Deuter sieht. Die Ausgangsthese vom Äquivalent jedoch wird untermauert. Die Dialektik der Vernunft ereignet sich bei Walser an einer unscheinbaren Stelle. Der Begriff „im Dienst stehen“ kann nicht zufällig gewählt worden sein. Die Vernunft wird funktionalisiert. Sie lässt sich offenbar vom Blendwerk des Firmenchefs in die Irre führen. Gerade das als unlogisch und frei erfunden geltende Erklärungsmuster für Thieles Handlung ist im Lichte der Dialektik der Vernunft das zutreffende. Hier offenbart sich die „in Furcht vor der Wahrheit erstarrende Aufklärung“130. Ergebnis dieser Faktenlage ist die bei Böll und Walser aufgezeigte „Zerstörung von […] Qualitäten“131 im Namen bzw. „im Dienste“ der Quantifizierung. Der Einzelne wird mitsamt den ihn als Menschen konstituierenden unverwechselbaren Merkmalen von einem Sturm erfasst, der alles nivelliert, was sich nicht in die Vorhersehbarkeit machtpolitischer (Böll) bzw. ökonomischer (Walser) Prognosen und Tabellen einordnen lässt. 130 131 Horkheimer, Adorno, S. 4 Dies., S. 14 50 III.1.2. Theodor W. Adorno: Minima Moralia132 In dem Essayband „Minima Moralia“, der wie die „Dialektik der Aufklärung“ eine Sammlung von Schriften zu mancherlei gesellschaftlichen Themenbereichen darstellt, sieht Adorno in dem auf ständigen Konsum und endloses Wirtschaftswachstum ausgerichteten System das Gegenteil einer emanzipierten Gemeinschaft. Zuvörderst liefert Adorno die Standardantwort „[a]uf die Frage nach dem Ziel einer emanzipierten Gesellschaft [, auf die man] Antworten wie die Erfüllung der menschlichen Möglichkeiten oder den Reichtum des Lebens“133 erhalte. In dieser Antwort liege etwas „Abstoßende[s]“, da diese Haltung ein Kollektiv als Bedingung habe, welches die „Produktion als Selbstzweck“134 verstehe. Dabei werde ferner das Konzept der „Dynamik“ zu einem unantastbaren Gesetz verabsolutiert. Dieses Szenario „vom fessellosen Tun, dem ununterbrochenen Zeugen, der pausbäckigen Unersättlichkeit, der Freiheit als Hochbetrieb“ reflektiere eine die gesellschaftliche Gewalt zementierende Welt. Vor dem Hintergrund dieser Betrachtungen gerät Martin Walsers Roman „Brief an Lord Liszt“ gewissermaßen zu einem Exerzierplatz für den von Adorno monierten entfesselten Wachstums- und Expansionsdrang. Thiele, Oberchef der Firmen Chemnitzer Zähne und Fin Star, ist selbst nur Marionette dieses Systems der Gewaltausübung qua Produktionswut. Von Horn und Liszt unterscheidet ihn jedoch die Tatsache, dass er als hierarchisch Höhergestellter die „Gewalt“ – verstanden im psychologischen Sinne als Erniedrigung und Ausgrenzung – unwillkürlich an seine Untergebenen weiterleitet. Diese Gewalt entspringt der entfesselten Produktion insofern, als Letztere das oberste Gebot, das „Naturgesetz“ darstellt, nach dem sich alle zwischenmenschlichen Beziehungen ausrichten und abspielen. Horn und Liszt haben diese Entfesselung als junge aufsteigende Mitarbeiter selbst gutgeheißen, nun werden sie von dieser Gerölllawine an den Rand des Geschehens gedrängt. Wie Findlinge fristen sie ihr Dasein im Schatten der Entfesselung, seitdem sie in Thieles Gunst an Kredit eingebüßt haben. Horns Nachfolger war Liszt, nun muss Letzterer einem jüngeren Finnen namens Rudolf Ryynänen seinen Platz räumen. Dabei tritt die Maximierung als oberster Gebieter hervor, Thiele ist lediglich deren personifizierte Exekutive. 132 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp. Fr. a. Main 2003 133 Ders., S. 177f. 134 Ders., S. 178 51 Franz Horns Sätze seiner Gesellschaftsphysik werden durch die Aussage „[d]ie Maximierung ist das Sittengesetz der Wirtschaft. Und der wirkliche Diktator“135 untermauert. Gewiss kommt diese Feststellung keiner originellen Theoriebildung gleich. Dieser landläufigen Art der Kapitalismuskritik begegnet man seit Jahrzehnten in nahezu allen halbwegs seriösen Fernsehsendungen und journalistischen Beiträgen. Es wäre jedoch ein grober Fehlgriff, würde man die Belletristik, in diesem Fall Walsers Prosa, als Übungsplatz für das Aufspüren stichhaltiger ökonomischer Theoriebildung betrachten. Nicht erst am zitierten Passus wird die von Adorno offengelegte Schattenseite des Systems sinnfällig, sondern ebenfalls an dem, was ihm vorausgeht und an dem, was auf ihn folgt. Walsers Hauptfigur zeigt durch ihren einfühlsamen, stets am Menschen interessierten Duktus, dass Liszt und Horn in einer Spirale der gegenseitigen Vernichtung begriffen sind. Franz Horn geht es um nicht mehr und nicht weniger als um den gemeinsamen Austritt aus dieser entfesselten Koordinatenwelt. Die Produktion als Selbstzweck ist in Walsers Roman zwar nicht das eigentliche Hauptthema. Anders als etwa Urs Widmers tragikomisches Lehrstück „Top Dogs“136 verlegt Walser die Handlung keineswegs in die Büroräume, Konferenzzimmer bzw. in die Therapiepraxen der Top-Manager. Im Vordergrund steht vielmehr das Ausloten von Fluchtmöglichkeiten aus den Fängen der Marktwirtschaft und des Leistungsgedankens. Adornos Thesen bilden mithin den Urgrund, welcher Franz Horn und Lord Liszt als „Verstoßene“, als nunmehr unbrauchbare Teilnehmer des Systems näherbringt. Genau um das Schaffen einer solchen Nähe, um den Aufbau eines Refugiums ist Franz Horn in all seinen Briefen bemüht. Diesem Prozess muss jedoch unweigerlich die Offenlegung der Lisztschen Fehltritte, Schwächen und blinden Flecken durch den Briefschreiber und Autotherapeuten Franz Horn vorausgehen. An anderer Stelle bringt Horn seine Bedenken angesichts entfesselter Produktionsschübe noch einmal auf den Punkt: „Ich beschwor ihn [d. i. Thiele], langsamer zu produzieren. Ich malte ihm abendelang aus, was passiere, wenn jeder immer noch mehr produzieren wolle als alle anderen! Thiele sagt: Man muß einen Tag länger produzieren können als die Konkurrenz, dann hat man es geschafft. Weniger als die Weltherrschaft darf da also keiner anstreben. Ich sah nur Katastrophen voraus. Die Ressourcen vergeudet, die Erde wieder wüst, aber voll, statt leer! Produktion als Vernichtung der Schöpfung!“137 Diese Zeilen könnten nachgerade aus einer Besprechung des hier zitierten 135 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 92 Widmer, Urs: Top Dogs. Verlag der Autoren. Fr. a. Main 200713 137 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 105 136 52 Adorno-Essais stammen, so nahe bewegen sie sich an den Thesen des Sozialphilosophen. Die Intertextualität wird hier sinnfällig. In demselben Essay kommt Adorno auf die Menschen zu sprechen, die Ausfluss des eben beschriebenen, entfesselten Produzierens sind: „Wenn hemmungslose Leute keineswegs die angenehmsten und nicht einmal die freiesten sind, so könnte wohl die Gesellschaft, deren Fessel gefallen ist, darauf sich besinnen, daß auch die Produktivkräfte nicht das letzte Substrat des Menschen, sondern dessen auf die Warenproduktion historisch zugeschnittene Gestalt abgeben.138 Unverkennbar ist in diesen Zeilen der marxistisch geprägte Theorieunterbau. Die Frankfurter Schule mit ihrer kritischen Theorie untersuchte gesellschaftliche Missstände mit der Intention, diese Gesellschaft zu verändern. Adornos Schlusssätze sind einer Utopie verpflichtet: „[A]uf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen […] könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten“139. An dieser Stelle ist Adorno gewiss keiner arkadisch verbrämten Idylle verfallen. Auch die Abschaffung jeglicher ökonomischer Tätigkeit schwebte dem Mitbegründer der Frankfurter Schule sicherlich nicht vor. Vielmehr hat er diese zugespitzte, zum Nachdenken herausfordernde Formulierung m. E. als Aufruf zur Mäßigung verstanden, zur Bewusstwerdung des Menschen, wohin Entfesselung führen und wie sie eingedämmt werden kann. Das symbolische „Auf-dem-Wasser-Liegen“ suggeriert einen Abschied vom immerwährenden Produzieren. Adorno reklamiert demnach Ähnliches wie Franz Horn, nämlich die durch Bewusstmachung gesellschaftlicher Missstände ermöglichte Emanzipierung vom Schreckgespenst der „blinden Wut des Machens.“140 Es wäre jedoch unangebracht, diese Forderung mit einer spätromantischen Taugenichts-Utopie141 Eichendorff’scher Prägung gleichzusetzen, da man Adorno in keiner Hinsicht den Vorwurf des Eskapismus machen kann. Für Bölls Roman legt dieser Ansatz ebenfalls einige Sinnebenen frei. Die Welt der freien Marktwirtschaft, wo sich Bayer et alii um den größten Marktanteil streiten, wird bei Böll durch eine Szenerie der politischen Machtrangeleien ersetzt. Das soeben aufgezeigte Wirkungsprinzip ist dabei prinzipiell das gleiche. „Expansion“ und „entfesseltes Tun“ sind auch hier Schlagwörter, die eine Lesart für die Handlungsweisen der meisten Figuren bereitstellen. Paul Chundt, dessen Name unweigerlich den umgangssprachlichen Begriff 138 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, S. 178f. Ders., S. 179 140 Ders., S. 178 141 Eichendorff, Joseph von: Aus dem Leben eines Taugenichts. Fischer. Fr. a. Main 2008 139 53 „Schund“ abruft, gibt gegen Ende des Romans zu: „Ja, ich wollte beides, Geld und Macht“142. Der zuvor von Hermann Wubler als Mann mit „animalische[r] Energie“143 beschriebene Chundt bewegt sich in genau jenem Fahrwasser, das Adorno als „blinde Wut des Tuns“ beschrieben hat. Sogar „nach Elisabeth Blaukrämers Tod, nach Plukanskis elendem Verrecken“144, als zumindest nach außen die Fassade gewahrt werden musste, hat Chundt es sich nicht nehmen lassen, die Nachricht über die dreißigprozentige Wertsteigerung seiner „Heaven-Hint-Aktien […] mit Grinsen [zu] quittier[en]“145. Ferner wird in der Figur Chundts ein weiterer Ableger des Adornoschen Prinzips sichtbar. Paul Chundt wird von Hermann Wubler darauf hingewiesen, Blaukrämer, „der alte Nazi“146, sei Minister von Chundts Gnaden: „Immerhin hast du [d. i. Chundt] dafür gesorgt, dass Blaukrämer Minister wird. Er regiert, du beherrschst ihn – dein altes Prinzip.“147 Mit Blick auf die Bedeutungsnuance zwischen den Verben „herrschen“ und „regieren“ ist Bölls Wortwahl sehr trennscharf. Das Verb „herrschen“ beinhaltet in seinem semantischen Kern „i. Ggs. sic zu […] regieren [keine] Angabe von Mittel und Zweck“148. Mithin indiziert diese Bedeutungsunterscheidung genau jene Konstellation, die zwischen Chundt und Blaukrämer anzutreffen ist. Während Blaukrämers Mittel und Zwecke in Form seiner Ministerwürde nach außen sichtbar werden, ist Chundts Handeln weitaus rätselhafter und damit mächtiger, weil hier keinerlei vordergründige Titel und Etiketten die Zielrichtung seines Tuns verraten. Während also Blaukrämer „lediglich“ regiert, ist Chundt der Herrschende. Scheinbar losgelöst von jedweder Rückbindung und Kontrolle, geht er seinen Verrichtungen nach: „Those who govern are, like Blaukrämer, elevated to their positions as ministers by those like Chundt who, according to Böll, hold the real power in the land.“149 Adornos These vom entfesselten Tun wird hier auf den machtpolitischen Bereich übertragen. Das schier zum Prinzip gewordene „seinen Willen haben [und] Unterjochen“150 gerät bei Böll zu einem probaten Deutungsmuster im Bonner Machtgerangel. 142 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 195 Ders., S. 193 144 Ders., S. 196 145 Ders., S. 195f. 146 Ders., S. 195 147 Ders., S. 196 148 Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes. Niemeyer. Tübingen 200210, S. 469 149 Finlay, Frank: On the Rationality of Poetry. Heinrich Böll’s Aesthetic Thinking. Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. Hg. C. Minis u. A. Quak. Vol. 122. Editions Rodopi. Amsterdam - Atlanta, GA 1996, S. 100 150 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, S. 179 143 54 III.1.3. Elias Canetti: Masse und Macht151 In den vorangegangenen Abschnitten wurde u. a. beschrieben, inwieweit Bölls und Walsers Figuren Opfer eines Systems werden, welches dem Primat des Äquivalents und des entfesselten Schaffensprozesses verfallen ist. Hier nun erhalten diese Überlegungen eine Erweiterung bzw. Ergänzung um die Bezüge zwischen der Masse, dem Einzelnen und der Macht. Canettis Ausgangspunkt sind anthropologische Grundkonstanten, deren Funktionsweise sowohl in primitiven als auch in modernen Gesellschaften über die Jahrtausende stabil geblieben ist. Im Kapitel „Hetzmassen“ beschreibt Elias Canetti jene menschlichen Gruppierungen, die er unter diesem Schlagwort subsumiert. Die anonym bleibende Masse wächst stetig an, denn „[e]in wichtiger Grund für das rapide Anwachsen der Hetzmasse ist die Gefahrlosigkeit des Unternehmens. Es ist gefahrlos, denn die Überlegenheit auf seiten (sic) der Masse ist enorm. Das Opfer kann ihnen nichts anhaben. Es flieht oder es ist gefesselt.“152 Zwar kommen in keinem der beiden Romane Massen im reinsten Sinne des Wortes vor. Gleichwohl stehen das Wegsperren Elisabeth Blaukrämers (Böll) und Liszts bevorstehende Ausklammerung seitens des Firmenchefs (Walser) für eine jener „Todesarten, die von einer Horde oder von einem Volk gegen den einzelnen verhängt werden [, nämlich] die des Ausstoßens.“153 Bei Walser ist die Horde gleichzusetzen mit der Belegschaft innerhalb der Firma. Franz Horn ist die einzige Figur, welche es vorzieht, aus der Horde auszutreten und Liszt über den unabwendbaren Ausstoß aufzuklären. Dass er dabei scheitern wird, ändert überhaupt nichts an den Mechanismen der Horde und des Ausstoßes. Die Horde bzw. die Masse sind bei Böll die Politiker, welche eisern zusammenhalten und Elisabeth Blaukrämer aus machtpolitischem Kalkül ausschalten wollen: „Böll, dessen Hauptinteresse auf den Abbau jeglicher Herrschaftssysteme ausgerichtet ist“154, verhandelt in seinem Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ die Auswüchse eines machtpolitischen Systems, das den Einzelnen ausschließlich aufgrund seiner Verwertbarkeit für die Festigung und den Ausbau von Machtstrukturen taxiert. Die konspirativen Machenschaften einer Politikerkaste, deren Bühne die Bonner Republik mitsamt ihren parlamentarischen Ausschüssen und Interessenvertretungen ist, werden als Sündenfall der Herrschenden und der Mächtigen gebrandmarkt. 151 Canetti, Elias: Masse und Macht. Fischer. Fr. a. Main 201031 Ders., S. 54 153 Ders., S. 55 154 Compton, Irene B.: Kritik des Kritikers: Bölls Ansichten eines Clowns und Kleists „Marionettentheater“. Studies in Modern German Literature. Vol. 89. P. Lang. New York 1998, S. 51 152 55 Diese konspirativen Kreise, welche bei Böll in der Politik, bei Walser innerhalb der Firma anzutreffen sind, werden von Canetti als „Massenkristalle“ bezeichnet. Darunter versteht Canetti „kleine, rigide Gruppen von Menschen, fest abgegrenzt und von großer Beständigkeit“155. Gleich zu Beginn von Walsers Roman tritt eine solche rigide kleine Gruppe in Erscheinung. Nach der Ankündigung des Todes eines Hauptkonkurrenten, Benedikt Stierle, zieht sich Thiele mit einigen Kollegen zurück. Zuvor wird die zur reinen Performanz erstarrte Gedenkminute vom Firmenchef wie folgt protokolliert: „Ich stelle fest, daß Sie, die Abteilungsleiter der Firmen Chemnitzer Zähne und Fin Star, sich zu Ehren Benedikt Stierles erhoben haben, ich danke Ihnen.“156 Dann verrät der auktoriale Erzähler, dass „[d]ie Zeiten, als Arthur Thiele nach einem solchen Ereignis unbedingt noch ein paar Sätze mit Franz Horn wechseln mußte, […] vorbei [seien].“157 Der Massenkristall schöpft seine Beständigkeit nicht aus einer einzelnen, unverwechselbaren Person. Vielmehr ist es der symbolische Wert für die Firma, welcher darüber entscheidet, wer dazu gehört und wer nicht. Früher war Horn ein vielversprechendes Element in Thieles Koordinatensystem. Er gehörte zum Kristall. Nun ist er davon ausgeschlossen. Es sind nunmehr der bereits evozierte Dr. Preissker, der emporstrebende Ryynänen und Liszt, die sich um den Firmenchef scharen. Zusammen bilden sie eine Abschottung, sowohl räumlich als auch mit Blick auf die Entscheidungsbefugnisse. Die „Angehörigen [des Massenkristalls] sind auf ihre Verrichtung oder Gesinnung eingeübt.“158 Franz Horn hat diese Übung und damit seine Verrichtung offenbar eingebüßt. Des Weiteren kommt Canetti auf den „Machthaber als Überlebende[n]“159 zu sprechen. Um bei den angeführten Beispielen aus beiden Prosawerken zu verharren, muss einschränkend gesagt werden, dass Canetti in diesem Kapitel primär von barbarischen, orientalischen und römischen Herrschern spricht. Der Mächtige als ein Überlebender tritt jedoch, wenn auch in abgeschwächter Form, ebenfalls bei Böll und Walser hervor. Die Patina der Zivilisation hat die Umgangsformen verändert, die sie leitenden Prinzipien und Zwecke aber bleiben nahezu unverändert. Elisabeth Blaukrämer und Liszt erscheinen gleichermaßen als im übertragenen Sinne „Getötete“. Der Umkehrschluss dieser Tötung ist die privilegierte Stellung des Machthabers. Bei Böll sind dies die Politiker um Chundt und Blaukrämer, bei Walser der Firmeninhaber Thiele. Ihnen ist gemein, dass sie „freien Raum um sich schaffen, 155 Canetti, Elias: Masse und Macht, S. 84 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 9 157 Ebenda. 158 Canetti, Elias: Masse und Macht, S. 84 159 Ders., S. 273ff. 156 56 den [sie] übersehen [können]“160. Wenn vorhin die Rede vom Ausstoß war, so ist es nicht mehr weit bis zur Hinrichtung, hier wiederum symbolice verstanden. Beide, Ausstoß und Hinrichtung, die der Machthaber veranlasst, „verleih[en] ihm etwas an Kraft. Es ist die Kraft des Überlebens (sic), die er sich so verschafft.“161 Schließlich sei auf die Macht erhaltende Leistung des Geheimnisses hingewiesen, denn es „ist im innersten Kern der Macht.“162 In der Tat gehört „[z]ur Macht […] eine ungleiche Verteilung des Durchschauens. Der Mächtige durchschaut, aber er läßt sich nicht durchschauen. Am verschwiegensten muß (sic) er selber sein. Seine Gesinnung wie seine Absichten darf keiner kennen.“163 Canetti untermauert diese die Machtverhältnisse zementierende Funktion kryptischen Verhaltens anhand historisch markanter Beispiele. Er nennt z. B. Filippo Maria, den letzten Visconti. Für die vorliegende Untersuchung aber lassen sich ebenfalls relevante Belege für diese Verhaltensform des Mächtigen anführen. Bezüglich Walsers Romans ist hierfür das Hierarchiegefüge innerhalb der Firma aussagekräftig. „Ab Januar […]“, so Horn in einem seiner Schreiben an Liszt, „werden wir in einer Firma sein, in der es vom Sachbearbeiter bis zum Vorstand 11 Stufen gibt.“164 Gemeint ist die bevorstehende teilweise Übernahme durch Bayer. Interessant an diesem Zitat ist die Einteilung des Konzerns in hermetisch voneinander abgetrennte Funktionsbereiche. Der Rückschluss, dass die Machtverhältnisse sowohl innerhalb einer jeden Leiter als auch an der Konzernspitze auf der „ungleichen Verteilung des Durchschauens“ gründen, ist durchaus zulässig. Das Geheimnis und seine enge Bindung an die Macht wird auch in Bölls Roman sinnfällig: „Hauptsorgen der zwölf Männer sind die Verschwiegenheit und Loyalität der Ehefrauen oder Freundinnen“165. Gegen Ende hält Paul Chundt seinem langjährigen Weggefährten Hermann Wubler in Form einiger klarer Sentenzen über dessen Verstrickungen einen Spiegel vor. U. a. heißt es dort: „Steckst eine Nadel an jeden eroberten Ort und weißt nicht, ob irgendwo […] einer mit einem Messer im Bauch oder einer Kugel im Rücken gefunden wird, weil du (sic) die Nadel auf die Karte gesteckt hast, Prozesse, Eifersucht, Machtkämpfe, Gier in Bewegung gesetzt hast, die du nie gewollt hast, […] und die doch du 160 Canetti, Elias: Masse und Macht, S. 273f. Ders., S. 274 162 Ders., S. 343 163 Ders., S. 346 164 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 92 165 Sowinski, Bernhard: Heinrich Böll. Metzler. Stuttgart u. Weimar 1993, S. 90 161 57 veranlaßt hast, durch Eröffnung eines Büros, durch Geld, von dem wir nie wissen, was damit gemacht wird, ob Waffen dafür gekauft werden, ob’s in Bordellen verschwindet […] oder ob’s zu dem Zweck verwendet wird, zu dem du es vorgesehen hattest, ad majorem Dei gloriam oder auch nur Germaniae gloriam, oder ganz simpel versoffen wird?“166 Bei diesem moralisch gefärbten Rundumschlag ist Chundt unverkennbar zum Sprachrohr des Autors geworden. Seine geheimnisumwitterten Geschäftemachereien und nebulösen Verstrickungen in das organisierte Verbrechen haben Wubler über die Jahrzehnte nichts anhaben können. Grund hierfür ist das Geheimnis, welches seine Handlungen und deren Motive umgibt. Die ungleiche Verteilung des Durchschauens, von der bei Canetti die Rede war und die bei Walser zu Tage tritt, spielt hier zwar keine Rolle, da Wubler nicht einmal selbst jedes Mal weiß, in welche Konflikte die von ihm veranlassten Geldflüsse münden. Gleichwohl stehen und fallen seine Macht und sein Einfluss mit dem Geheimnis. Hier verhält sich der Mächtige „so, als suche er seine Geheimnisse sogar vor sich selbst zu haben.“167 Daneben verweisen die Verstrickungen der „representatives of big business”, die von Chundt und „Schwamm“ vertreten werden, auf das Verhältnis zwischen Macht und Geheimnis: „They derive their power, not least, by being able to topple their servants in high office almost at will because they are in possession of information concerning the latter’s shady dealings and activities during the Theird Reich.“168 Nachdem nun die theoretischen Fluchtlinien geklärt und auf exemplarische Passagen beider Romane appliziert worden sind, folgen Abschnitte, in denen die Werke jeweils mit einer bestimmten Analysekategorie ausgeleuchtet werden. 166 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 197 Canetti, Elias: Masse und Macht, S. 347 168 Finlay, Frank: On the Rationality of Poetry. Heinrich Böll’s Aesthetic Thinking, S. 100 167 58 III.2. Komposition III.2.1. Martin Walser: Rahmenmodell Walsers Roman setzt medias in res ein. Die wenigen Worte „[a]m Freitag vor Pfingsten, um drei Uhr nachmittags, rief Rosi Mutter die Abteilungsleiter noch einmal zusammen. Das war noch nie passiert“169 liefern die hauptsächlichen Merkmale des Handlungsschemas. Mit der Angabe von Jahres- und Uhrzeit, mit dem im süddeutschen Raum beheimateten Frauennamen, ferner mit der Erwähnung der Abteilungsleiter und schließlich mittels der Hervorhebung des Außergewöhnlichen gelingt es Walser, den Rahmen für den Handlungsverlauf abzustecken. Auch die Neugierde des Lesers wird geweckt, ohne dass man den Eindruck gewinnt, hier handele es sich um reißerische Kolportagemittel. Bis zum Verfassen des ersten Briefs an Horst Liszt hat Walser die Schilderung von äußerer und innerer Handlung einer auktorialen Erzählinstanz anvertraut. Kurz vor Einsetzen des Schreibprozesses „s[teht Horn] auf und [öffnet] das Fenster vor seinem Schreibtisch.“170 Nachdem Franz Horn seine letzten Zeilen verfasst hat, „w[irft er] seinen Schreiber zum Fenster hinaus.“171 Das Fenstermotiv kann mithin als Materialisierung jenes Rahmens angesehen werden, den die Erzählpassagen der allwissenden Instanz vor und nach dem Verfassen der Briefe darstellen. Dieser Rahmen bildet jedoch keine hermetische Trennung beider Erzählperspektiven. Bereits nach dem ersten Brief nimmt der allwissende Erzähler den epischen Faden wieder auf172. Ein zweites und letztes Mal geschieht dies nach dem ersten Zusatz173. Alle weiteren post scripta stehen unmittelbar nacheinander, ohne dass eine wie auch immer geartete Erzählinstanz eingreift. Im Mittelteil kann mithin von „einem einstimmigen Briefroman – einer Folge von fiktiven Briefen einer einzelnen Person“174 die Rede sein. Nach Abschluss des letzten post scriptum schließt sich dann, wie bereits angeführt, der Rahmen. Bis zum Romanschluss ist es dann wieder der auktoriale Erzähler, welcher den Leser durch die Handlung führt. Die erzählte Zeit erstreckt sich vom Freitagnachmittag vor Pfingsten bis zum andern Morgen, als Franz Horn sein Haus verlässt, um nach Bodnegg zu fahren und dort im Kreise der Kleinfamilie den „Namenstag seiner Mutter [,] das höchste Familienfest des Jahres“175, zu begehen. 169 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 7 Ders., S. 27 171 Ders., S. 146 172 Vgl. hierzu v. a. den Abschnitt zur Rolle des Erzählers 173 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 60 174 Meid, Volker: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur, S. 81f. 175 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 12 170 59 Daneben verweist die Gesamtkomposition mit der schier überbordenden Anhäufung von Anhängen – 19 an der Zahl – auf den unwillkürlichen Ablauf des Schreibprozesses und die aus dem Schreiber nahezu hervorsprudelnde Schreibwut. Das Bild eines Eisbergs, dessen Spitze der erste Brief bildet, dessen größerer Teil jedoch unter dem Meer verborgen bleibt, böte sich als metaphorisches Erklärungsmuster an. Ferner soll hervorgehoben werden, wie sehr die Auswirkungen des Schreibvorgangs auf die Hauptfigur an den mittelalterlichen Schreiber176 und dessen körperliche Arbeit erinnern. Dies belegen die beiden kommentierenden Passagen nach dem ersten Brief sowie nach dem ersten, mit „PS“ gekennzeichneten Zusatz.177 Alleine der Umfang des ersten Zusatzes übertrifft den eigentlichen Brief um ein Vielfaches178. Daran wird erkennbar, inwiefern die Eisbergmetapher im eben dargelegten Sinn eine Analogie liefert. Das Unbewusste hat sich über einige Zeit beim Schreiber angestaut und quillt nun, kaum dass der Schreibprozess begonnen hat, unaufhaltsam aus Horns Feder. Dass er das Schreibinstrument nach dem letzten Brief aus dem Fenster wirft, legt ebenfalls Zeugnis davon ab, wie sehr das Schreiben für Horn eine körperliche und seelische Energieleistung war. Diese gewaltsame Trennung vom Schreibstift indiziert Horns schmerzreiches Verhältnis zu den eben verfassten Inhalten. Das Hinauswerfen des Schreibinstruments ist zudem ein autoreferentieller Fingerzeig des Autors, der damit andeutet, dass auch „sein“ Brief jetzt endgültig abgerundet ist. Die Tatsache, dass Horn den Brief nicht einmal abschickt, wird unter dem Abschnitt zur therapeutischen Funktion des Schreibens näher besprochen, sie liefert mit Blick auf die Komposition keine erhellenden Aufschlüsse. 176 Vgl. hierzu Jakobi-Mirwald, Christine: Das mittelalterliche Buch. Funktion und Ausstattung. Reclam. Stuttgart 2004, S. 126: Hier wird der „mittelalterliche Schreibervers: tres digiti scribunt totumque corpus laborat“ referiert, wobei auf die doppelbödige Bedeutung von „laborare“ – also „arbeiten“ und „leiden“ – verwiesen wird. 177 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 34ff. u. S. 60f. 178 Der erste Zusatz setzt auf S. 36 ein und endet auf S. 60 der zitierten Ausgabe. Der eigentliche Brief hingegen erstreckt sich lediglich über die S. 28 bis 34. 60 III.2.2. Heinrich Böll: Dramenähnlicher Aufbau Bereits am Untertitel „Roman in Dialogen und Selbstgesprächen“ ist die kompositorische Grundausrichtung des Werks ablesbar. Angesichts dieses an das Drama erinnernden Aufbaus sowie der noch zu erörternden Dialog- bzw. Monologform stellt sich die Frage, was Heinrich Böll hiermit bezwecken wollte. Marcel Reich-Ranicki spricht in seiner Rezension gar von einem „in Wahrheit nicht mehr abgeschlossenen“179 Werk. Fest steht jedoch, dass Böll den Roman „bereits 1984 abgeschlossen hatte, als er noch geistig voll leistungsfähig war.“180 Dass Bölls letzter Roman nicht ausreichend gewürdigt wurde, scheint kein Einzelschicksal von Alterswerken zu sein. Wo sich das Ende des Lebens abzeichnet und, wie in Bölls Roman, in einer bewusst unorthodoxen Form und in gezielt desillusioniertem Grundton artikuliert, „wenden die Blicke sich lieber ab, oft unter dem Vorwand, es zeige sich nur noch künstlerische Unzulänglichkeit und Schwäche. Man hat es lieber prall, saftig und lebensfroh“181. Mithin muss die Komposition dieses Romans als Ergebnis bewussten Formwillens angesehen und diskutiert werden. In der erzählten Zeit von zwei Tagen zeichnen die zehn Dialoge und zwei Monologe ein düsteres Bild des Politzentrums und seiner Entscheidungsträger. Der Vorbemerkung kommt die schlichte Funktion zu, alle im Roman vorkommenden Figuren vornehmlich aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes einzuführen. Daneben soll die Figurenkonstellation dem Leser klar vor Augen geführt werden. Gleich eingangs legt Böll Wert darauf, dass sich „[d]ie innere (sic) Beschaffenheit der auftretenden Personen, ihre Gedanken, Lebensläufe [und] Aktionen […] aus den Gesprächen und Selbstgesprächen, die sie führen, [ergeben].“182 Diese wie auch die weiter unten dargelegten Charakteristika der „Erzählweise“ sprechen für eine Mischform aus Roman und Drama. Die Gattungsbezeichnung „Roman“ erscheint angesichts der zahlreichen dramenähnlichen Grundelemente als nicht vollends nachvollziehbare Wahl. Die Übergänge zwischen den einzelnen Kapiteln gestalten sich ebenfalls ähnlich wie im Drama. Dabei geraten die einzelnen Kapitel zu szenenähnlichen Gebilden. Einzig und allein die Rubrizierung in einzelne „Kapitel“ erinnert an die Romanform, den meisten dieser Kapitel werden dabei kurze, wiederum auf das Drama verweisende „Spielanweisungen“ vorangestellt. 179 Reich-Ranicki, Marcel: Ein letzter Abschied von Heinrich Böll. In: FAZ / 8.10.1985 Sowinski, Bernhard: Heinrich Böll, S. 90 181 Vormweg, Heinrich: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie. Kiepenheuer und Witsch. Köln 20002, S. 389 182 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 11 180 61 Dass es sich hierbei um regelrechte „Auftritte“ handelt, kann z. T. bis in den genauen Wortlaut hinein nachgewiesen werden. Im letzten Kapitel etwa werden zwei Figuren mit der in Schrägschrift gehaltenen, also schon rein typographisch vom Rest abgegrenzten Anweisung „KARL (sic) und HEINRICH V. KREYL treten gemeinsam auf“183 eingeführt. 183 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 224 62 III.3. Erzählsituationen III.3.1. Martin Walser: Wechsel von auktorialer Erzählsituation, IchErzählsituation und freier indirekter Rede Auf den ersten gut 20 Seiten hält die auktoriale Erzählinstanz den epischen Faden in Händen: „Der auktoriale Erzähler […] hat ein übergeordnetes Verhältnis zu der Geschichte, die [er] erzählen soll. […] Die Kenntnis des auktorialen Erzählers erstreckt sich aber nicht nur auf die äußeren Fakten der Geschichte, vielmehr ist er dazu befähigt, ins Innere seiner Figuren zu sehen“184. Die personale sowie die Ich-Erzählsituation sind in diesen Passagen nicht anzutreffen. Die Briefpassagen hingegen sind selbstredend aus der Ich-Perspektive verfasst. Hierbei sind Horns Gedanken und Gefühle mit den sie realisierenden Wörtern deckungsgleich. Zumindest greift, außer an den beiden bereits erwähnten Stellen, keine allwissende Erzählinstanz ein, um weitere Angaben über innere oder äußere Handlung zu machen. Nach dem ersten Brief übernimmt wiederum der allwissende Erzähler die Schilderung äußerer und innerer Handlungsvorgänge. Mit den Worten „Franz Horn schnaufte heftig auf und schnaufte noch eine Zeit lang heftiger, als es nötig gewesen wäre“185 wird das narrative Intermezzo bis zum Einsetzen des zweiten Briefs eingeläutet. Der kommentierende Einschub „heftiger, als es nötig gewesen wäre“ ist ein Hinweis auf den auktorialen Erzähler. Dies gilt auch für den zweiten Kommentar nach dem ersten „post scriptum“. Hier macht der auktoriale Erzähler weitaus stärkeren Gebrauch von seinem Wissen um die inneren Vorgänge der Figur, wenn es heißt: „Franz Horn schnaufte wieder so, als sei er gerade bergauf gerannt; aber diesmal nicht, weil er sich so und so vorkommen wollte, sondern weil er wirklich außer Atem war. Er hatte zu schnell geschrieben.“186 An einigen Stellen hat Walser den auktorialen Erzählfluss durch den Einsatz des Stilmittels freier indirekter Gedankenwiedergabe unterbrochen. Diese auch als „erlebte Rede“ bezeichnete Erzähltechnik, „die die Gedanken und Gefühle einer Person nicht in direkter oder konjunktivischer indirekter Rede, sondern indirekt ohne vermittelnden Erzähler […] in der 3. Person des Präteritums (Indikativ) wiedergibt“187, ist zwischen dem ersten Brief und dem 184 Jeßing, Benedikt / Ralph Köhnen: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Verlag Metzler. Stuttgart u. Weimar 2003, S. 121 185 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 34 186 Ders., S. 60 187 Meid, Volker: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur, S. 151f. 63 ersten Zusatz anzutreffen. „Was tat Dr. Liszt gerade jetzt?“188 ist einer jener Gedankengänge, die dem Leser einen unmittelbaren Zugang in die innere Handlungswelt Franz Horns gewähren. Vor allem das Zwanghafte, welches dem Schreibprozess und dem Mitteilungsbedürfnis anhaftet, kommt hierbei sehr plastisch zum Vorschein: „Er mußte dem Brief an Lord Liszt noch etwas hinzufügen. Etwas, dem nicht zu widersprechen war.“189 Alsdann setzt die auktoriale Erzählsituation wieder ein, um den ersten Zusatz anzukündigen. 188 189 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 35 Ebenda. 64 III.3.2. Heinrich Böll: Dialog- und Monologform mit Vorspann Mit Blick auf Bölls Roman stellt sich die Frage, inwieweit überhaupt von einer Erzählsituation die Rede sein kann. Eine Rahmenhandlung wie bei Walser ist hier nicht anzutreffen. Gäbe es eine solche, dann wäre das weiter oben angeführte Zitat aus der Vorbemerkung zum Roman ad absurdum geführt. Böll hätte einer erzählenden Instanz genau das überlassen müssen, was im Vorspann angekündigt wird, nämlich die Schilderung innerer Vorgänge der einzelnen Figuren. Ganz bewusst hat Böll jedoch auf den Einsatz einer wie auch immer gearteten Erzählinstanz verzichtet. Die Gründe hierfür können nicht mit letzter Sicherheit aufgezeigt werden. Fest steht, der Autor „hat das zu Erzählende in diesem Roman von sich weggeschoben, vielleicht um zu objektivieren, vielleicht um zu zeigen, daß er selbst dabei war, aus dem Spiel herauszutreten.“190 Gleichwohl geraten dabei manche Beschreibungen nolens volens zur Sympathielenkung, etwa, wenn es heißt: „Sie [Trude Blaukrämer] ist 42, kleidet sich aber wie eine Frau von knapp 30, die jedem, aber auch jedem Trend erliegt, und wirkt so auf eine unechte Weise vulgär. Sie hat den Unterschied zwischen Dekolleté und ‚oben ohne’ nicht begriffen, und so tritt sie, vollbusig, wie sie ist, auf eine Weise auf, die mit deplaziert richtig bezeichnet ist.“191 Mithin hält hier in eine ansonsten dramenähnliche Handlungsführung ein Kommentar Einzug. Letzterer lässt sich vielleicht noch am ehesten einem auktorialen Erzähler zuordnen, obgleich diese Zeilen keineswegs im Erzählfluss, also in der Romanhandlung selbst, vorkommen, sondern in der Vorbemerkung. Da die explizit als solche fungierende Vorbemerkung jedoch keinerlei Handlungsstränge in Gang bringt und die Figuren sich nach Bölls eigener Aussage in den Dialogen und Monologen profilieren sollen, kann dieser Kommentar ebenfalls als vom Autor hinzugefügtes Füllsel betrachtet werden. Eine klar erkennbare und Position beziehende Erzählinstanz ist nicht erkennbar, die übrigen Teile des Romans könnten rein gattungsspezifisch gesehen auch als Drama firmieren. 190 Vormweg, Heinrich: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie. Kiepenheuer und Witsch. Köln 20002, S. 386 191 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 13 65 66 III.4. Zur Bedeutung des Raumes III.4.1. Die Privatwohnung bei Böll: Exil im goldenen Käfig und Paria im Wohnwagen Als Vorspann zum ersten Kapitel seines Romans hat Heinrich Böll eine „Szenenanweisung“ gestellt, welche die nicht näher verortete „großbürgerliche Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende zwischen Bonn und Bad Godesberg“192 skizzenhaft umreißt. Auch die „[g]eräumige, überdachte Terrasse“193 der Villa indiziert das gutbürgerliche Milieu eines Großteils des Figurenarsenals. Der „goldene Käfig“ seinerseits verweist vornehmlich auf die weiblichen Figuren des Romans, etwa auf Erika Wubler, die gleich zu Beginn in Erscheinung tritt. Jenen Frauen, die ihren Ehemännern blinden Gehorsam leisten, steht ein Leben in prominenter, mondäner Stellung zu. Den weniger „gefügigen“ Politikergattinnen jedoch, die ihren Ehemännern aufgrund ihrer mangelhaften Verschwiegenheit zu gefährlich werden, wie etwa Elisabeth Blaukrämer, wird ein anderer „Käfig“ bereitgestellt. Der Wirkungsbereich erstgenannter Frauen endet mit dem Verlassen des eigenen Hauses. Das politisch nicht näher umrissene Patriarchat Bonner Prägung, wie es Böll zeichnet, stellt der Frau einzig und allein die großräumigen Villen historischen Zuschnitts für deren Wirken bereit. Von ihrer Terrasse aus bietet sich Erika Wubler der „Blick aufs gegenüberliegende Rheinufer, wo man hinter Anwäldchen und Gebüsch größere Villen sieht.“194 Die den Privatbereich des Hauses verlängernde, gleichsam überdachte Terrasse fügt sich nahtlos in die biedere Szenerie gutbürgerlichen Lebens ein. Erika Wublers „Herrschaftsbereich“ ist deckungsgleich mit der Ausdehnung ihres Privatwohnsitzes. Die Szenenanweisung zum elften Kapitel bezeichnet die Inneneinrichtung „des Wublerschen Hauses“ als „behaglich […], nicht protzig.“195 Zu einer solch idyllischen Momentaufnahme gehören das obligate Sofa und der Flügel. Die biedere, d. h. brave Atmosphäre im Privatbereich und der goldene Käfig sind mit dem Adjektiv „behaglich“ klar konturiert. Symptomatisch für die Ausgrenzung jener Figuren, die sich dem status quo der Herrschaftsverhältnisse nicht unmittelbar verschreiben, ist der Wohnwagen, in dem Karl von Kreyl seine Tage verbringt. Die Szenenanweisung lässt in ihrem Wortlaut keine Zweifel hinsichtlich des spartanischen Wohnraums aufkommen. Zwar ist die Rede von einem „sehr 192 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 14 Ebenda. 194 Ebenda. 195 Ders., S. 204 193 67 geräumigen“, doch „leicht verkommenen Wohnwagen.“196 Überhaupt hat Böll den Kontrast bewusst eingesetzt, der zwischen den eben erwähnten Villen der vorletzten Jahrhundertwende und Kreyls Unterschlupf besteht. Assoziationen mit dem fahrenden Volk der Sinti und Roma bzw. mit anderen in westlichen Gesellschaften stigmatisierten Außenseitergruppen liegen auf der Hand. Der junge, nach eigener Aussage „leidenschaftliche Jurist“197 hat diese Art des Wohnens augenscheinlich aus freien Stücken gewählt. Gleichwohl ist es unstrittig, dass ausgerechnet derjenige, der sieben Jahre zuvor seinen eigenen „Flügel zerhackt“198 hat, räumlich in der Peripherie zu verorten ist. Karl v. Kreyl erscheint als linksintellektueller, kunstsinniger Virtuose, der zwar als Jurist den nötigen Durch- und Weitblick in puncto Machtverflechtung und Politikbetrieb hat, von seinem Lebenswandel her jedoch in keiner Weise verändernd einwirken kann bzw. will. Das Fehlen einer Hoffnungsfigur, die vom Autor bewusst in Szene gesetzt und mit den nötigen Attributen zu gesellschaftlicher Veränderung ausgestattet worden wäre, spiegelt sich v. a. im jungen Kreyl. Schlussendlich tanzt er mit im „künstlichen, von Resignation gezeichneten Spektakel“199. Kreyl wird ebenfalls verdächtigt, kürzlich Kapspeters Flügel zerschmettert zu haben. Die Tatsache, dass er seinen eigenen Flügel vor den Augen dreier Zeugen200 in seine Bestandteile zerlegt hat, lenkt den Verdacht auf ihn. In dieser Postur gerät Kreyl zu einem tragikomischen Vertreter jener „schlicht asoziale[n] Exklusivität des subjektivistisch-selbstverfallenen Künstlertums“201, welche an das selbsternannte „Genie“ aus Eichendorffs „Taugenichts“ erinnert. Dieser Musiker „drehte und riss zuletzt an dem Instrument, dass plötzlich eine Saite sprang. Da warf er die Gitarre hin und sprang auf.“202 Im Gegensatz zur persiflierten Geniefigur bei Eichendorff, die in einer Affekthandlung ihr Instrument zerstört, „zerhackt [von Kreyl sein Klavier zwar] ruhig, fast höflich, kalt nannten sie es“203. Die Parallele zwischen beiden Akten der Zerstörung von Musikinstrumenten ist jedoch unverkennbar. Beide Male kommt es zu einem happeningartigen, beim Spätromantiker deutlich ironisierten, bei Böll als vergebliche Rebellion gezeigten Gewaltakt. In beiden Fällen geht die Zerstörung von einem Musiker aus, der weder vom künstlerischen Standpunkt noch von der gesellschaftlichen Wirkungskraft seiner „Kunst“ her Ernsthaftes zu bieten hat. Es handelt sich um zwei Außenseiter. Der eine 196 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 58 Ders., S. 61 198 Ders., S. 63 199 Vormweg, Heinrich: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie, S. 387 200 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 63 201 Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Bd. 2. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt 1985, S. 46 202 Eichendorff, Joseph von: Aus dem Leben eines Taugenichts, S. 80f. 203 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 63 197 68 wird vom Autor im beginnenden Biedermeier augenzwinkernd skizziert. Der andere erscheint als ebenso hilf- wie orientierungslose Figur in der vollends desillusionierten und unmenschlichen Koordinatenwelt des „Bonner Biedermeier“. III.4.2. Die Privatwohnung bei Walser: Archiv von Alltagsgegenständen Das novellistische Züge tragende Dingsymbol des Kugelfußes findet jeweils ganz zu Beginn und gegen Ende des Romans kurze Erwähnung. Es verweist, ähnlich wie das oben erwähnte Fenstermotiv, auf ein Rahmenmodell. Zugleich spiegelt es indirekt eine der Funktionen, welche der Privatwohnung von Walsers Hauptfigur zukommen. Auf dem Firmenparkplatz erblickt Franz Horn „das blinkende, kugelartige Ding, das ihm seit ein paar Tagen auffiel“204. Sogleich hebt er Letzteres mit dem kleinbürgerlichen Sammelreflex „man kann nie wissen“205auf, um es mit nach Hause zu nehmen und es dort zu horten. Am Schluss des Romans, nach Beendigung des letzten Briefzusatzes, sucht Horn sichtlich nervös nach eben diesem Kugelfuß. In erlebter Redewiedergabe liefert Walser folgende Innenansicht: „Wo war jetzt dieser Kugelfuß? Wo hatte er den hingetan? Wo hätte er den hintun müssen? Im Schopf war er noch nicht gewesen. Wo also hätte er den vorläufig hingelegt haben müssen, nachdem er ihn unter dem Heizkörper hervorgeholt hatte?“206 Das Interrogativadverb „wo“ kehrt hier gleich viermal wieder, um einen Satz einzuleiten. Das Stilmittel der Anapher indiziert Horns Nervosität, die deshalb entsteht, weil er den Kugelfuß in seinem sonst so minutiös aufgeräumten Haus nicht auf Anhieb verorten kann. Schließlich findet der den gesuchten Gegenstand und bringt ihn in den „Schopf“. Fungiert bei Böll die überdachte Terrasse als Verlängerung des gutbürgerlichen Villenkomplexes, so ist der als Hort jeglichen Plunders dienende Anbau die Verlängerung des Privathauses in Walsers süddeutschalemannischer Heimatkulisse. Dieser Vorratsschuppen wird denn auch vom auktorialen Erzähler ironisch angekündigt. Bewusst die kleinbürgerliche Ordnungswut und den Freizeithandwerker parodierend, heißt es: „Er ging zu seinem Schopf. Zu seinem Werk. Jedes Brett, jeden Balken hatte er gesägt, gefügt, geschraubt und genagelt. Er öffnete die Tür, begegnete seinem Sortiment und Sammelsurium, das ihm entgegensah. […] er wußte genau, wie und wann und woher jedes Stück stammte. Wann immer er dem Kugelfuß hier begegnen würde, konnte er 204 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 11f. Ders., S. 12 206 Ders., S. 150 205 69 den Tag, an dem er ihn hierherbrachte, ablaufen lassen.“207 Der Pronominalgebrauch der ersten beiden Sätze ist besitzanzeigend, Horns Schöpfung ist der Schopf. Diese oberdeutsche Bezeichnung für „Schuppen“ ist sinnverwandt mit dem landläufigen „Haar auf dem Kopf [und geht] wohl [auf] das gleiche Wort [zurück], unter der Annahme, daß damit ursprünglich zusammengetragene Heu- oder Strohhaufen gemeint waren.“208 Schon die Grundbedeutung, sprich das Ordnen von Heu und Stroh an einem bestimmten Platz, verweist auf einen Sammelreflex. Das kleine und mittlere Bürgertum wird hier in seinem ureigensten Privatbereich gezeigt, in einer eng begrenzten Umgebung, die sinnstiftend ist. Den im Schopf über die Jahre angesammelten Gegenständen – „[j]edes Schutzblech, jeder Lampenschirm, jedes Stück Wellblech, jedes Scharnier …“ wird sorgsam aufbewahrt – kommt eine memoriale Funktion zu. Erst wenn er die Gegenstände erblickt, die ihm schier personifiziert ebenfalls „entgegensehen“, ist Horn in der Lage, sein rezentes Leben qua Periodisierung zurückzudatieren. Die an und für sich nichtigen Gegenstände fungieren mithin als Archiv. Für den bis dato neuesten Gegenstand des Archivs, den Kugelfuß, gilt dies ebenfalls, es ist eine Reminiszenz an Erlebtes: „Von der Ehrung des toten Stierle bis zum Ende seines Briefs an Lord Liszt, inclusive Beule am Kopf. Das waren seine Daten.“209 Das Innere des Hauses findet im Roman keine genaue Erwähnung, einzig und allein der Schreibtisch ist ein Fixpunkt innerhalb der Privatwohnung. Er ist die Scharnierstelle der Handlung, hier vollzieht sich der Schreibprozess. In der Schublade werden sowohl Liszts Fotoporträt als auch der Brief aufbewahrt. Der Schreibtisch wird daneben auch seiner Archivfunktion wegen erwähnt. Die Historizität des Archivierens lässt sich anhand eines der zentralen Romane des beginnenden bürgerlichen Zeitalters aufzeigen. In Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ fungiert das schriftliche Archivieren als bürgerlicher Grundreflex. Gegenüber dem mündlichen Vortrag des Marchese weist die schriftliche, lineare Reproduktion von Mignons tragischer Lebensgeschichte den Vorzug auf, dass „ein Dritter die Begebenheiten mit mehr Zusammenhang vortragen“210 kann. Diese Art des Tradierens wird gegenüber der mündlichen Überlieferung einerseits und der genialischen, oralen Ausdrucksform Mignons andererseits als die verlässlichere und prominentere angesehen. 207 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 150 Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Walter de Gruyter. Berlin u. New York 200224, S. 823 209 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 150 210 Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Hamburger Ausgabe. Bd. 7. München 199413, S. 579 208 70 „Naturpoesie als defiziente Schwundform“211 tritt im bürgerlichen Zeitalter zugunsten der Turmgesellschaft, einer archivierenden Institution, in den Hintergrund. Ironischerweise ist bei Walser dieser archivierende Reflex erodiert, er gerät selbst zu einer „Schwundform“, da nicht mehr die Schrift, sondern primär die Alltagsgegenstände im Schuppen die zeitliche Richtschnur und damit die Sinnstiftung herstellen212. Sehr wohl hat auch die Schrift noch einen hohen Stellenwert, aber der Brief, der nicht einmal abgeschickt wird und somit keine Tradierung einläutet, erfüllt v. a. eine therapeutische Funktion, wie noch weiter unten gezeigt werden soll. III.5. Zur Funktion der Naturbeschreibung III.5.1. „Frauen vor Flusslandschaft“: Das Rheinufer als stumme Kulisse Bereits am Titel lässt sich unschwer ablesen, dass die Flusslandschaft bloße Folie ist, vor der die handelnden Figuren ihre Selbst- oder Zwiegespräche führen. Die Monolog- und Dialogform bringt zudem unweigerlich mit sich, dass keine Erzählinstanz eine wie auch immer geartete Naturschilderung liefert. Einzig in den knapp gehaltenen Szenenanweisungen tauchen Verweise auf die Rheinlandschaft und den sagenhaften Fluss auf. Mit dem beschaulichen Diminutiv „Anwäldchen“213 suggeriert Böll ganz bewusst eine Idylle, die es in dieser Form gar nicht gibt. Der Rhein wird samt seiner Umgebung zur stummen Kulisse. Der „Ort des Geschehens ist zweifellos Bonn, doch es ist nicht das reale Bonn, […] das in diesem Theater die Kulissen stellt, glänzende Kulissen von fataler Unwirklichkeit.“214 Die landschaftsspezifischen Szenenanweisungen belegen diese Aussage. Das vierte Kapitel spielt an einer nicht näher umrissenen „Rheinpromenade zwischen Bonn und Bad Godesberg in dichtem Nebel. Im Hintergrund eine hohe massive Mauer, ein eisernes Pförtchen. Etwa drei Meter vor der Mauer eine Bank am Rheinufer.“215 In der Tat wäre dieses vierte Kapitel für die Umsetzung in eine Theaterfassung weder bezüglich der Requisiten noch vom Bühnenbild her eine Herausforderung. Auch die Figuren machen in ihren Aussagen kaum explizite Verweise auf die sie umgebende Natur. Genauso gut hätte Böll diese Reden und Gegenreden vor einer blank gestrichenen Mauer liefern können, am Gehalt hätte sich kaum etwas geändert. Die 211 Schößler, Franziska: Goethes Lehr- und Wanderjahre. Eine Kulturgeschichte der Moderne, S. 70 Vgl. hierzu etwa die Art und Weise, wie bereits Theodor Fontane den Reflex des Archivierens in seinem Roman „Der Stechlin“ ironisiert. 213 Vgl. die bereits in Auszügen zitierte Szenenanweisung zum ersten Kapitel auf S. 14 in Bölls Roman 214 Vormweg, Heinrich: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie, S. 387 215 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 84 212 71 Gespräche tangieren nahezu ausschließlich politische, geschäftliche und anderweitige Konflikte, Komplotte, Bündnisse sowie Lasten der Vergangenheit. Von der Tierwelt wird lediglich in der Irrenanstalt von Rehen gesprochen; inwieweit diese künstlich angelegte Wildnis die Perversion einer zynischen Männergesellschaft reflektiert, wird weiter unten näher beleuchtet. Einzig der Rhein findet vereinzelt ausdrückliche Erwähnung und trägt zum Stimmungsbild bei. Der Rhein wird primär aufgrund seiner mythologisch aufgeladenen Bedeutung explizit genannt216. Andere Erwähnungen des Flusses sind simple deiktische Verweise, etwa in Form der Szenenanweisung „Sie [Eva Plint] deutet vor sich auf den Rhein.“217 Daneben wird der Rhein als Versatzstück gebraucht, z. B. in Erika Wublers sinnentleerter Aussage „an den Rhein, ja, an den Rhein. Der fließt ja wirklich, da unten. Deutet nach unten.“218 Abermals muss eine Szenenanweisung den Bezug zum Fluss herstellen. Wie sehr er außer in den vom Mythos ausgehenden Passagen zur Kulisse gerät, zeigt Erika Wublers eben zitierte Aussage, in der sie am Ende des Romans mit Erstaunen feststellt, dass er wirklich fließt und keine statische, leblose Bühnenlandschaft darstellt. „Natur kommt bei [Böll] ohnehin kaum vor, es sei denn als Depositum historischer Ereignisse, noch nicht verarbeiteter politischer Erfahrungen oder auch von Sagen und Legenden.“219 Mit Blick auf Bölls Roman sind es v. a. die unbewältigte politische Vergangenheit sowie die noch zu beleuchtende Nibelungensaga, welche in der Rheinlandschaft „deponiert“ werden. Nur ganz vereinzelt trägt eine Naturbeschreibung zur Erzeugung eines bestimmten Stimmungsbildes bei. Dies ist der Fall, als Eva Plint, die zu Beginn des vierten Kapitels vor sich auf die in dichte Nebelbänke gehüllte Rheinkulisse schaut und den Nebel „willkommen“ heißt. Letzterer „mildert [ihre] Angst [und] er dämpft den Lärm“220. Hier atmet der Text vorübergehend Ruhe, sie entsteht über Eva Plints Beschreibungen der gedämpften visuellen und akustischen Atmosphäre. Diese weibliche Figur ist eine der wenigen, denen die umgebende Natur offenbar etwas zu sagen hat. Hier ist die Natur einen Moment lang keine leblose Pappkulisse, sondern integrativer Bestandteil der Handlung, vornehmlich der inneren. 216 Vgl. hierzu den Abschnitt III.6.1. vorliegender Arbeit Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 84 218 Ders., S. 188 219 Wirth, Günter: Heinrich Böll. Religiöse und gesellschaftliche Motive im Prosawerk. Pahl-Rugenstein. Köln 1987, S. 319 220 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 84 217 72 Die Geborgenheit ist hier nicht gekünstelt oder persifliert, sondern authentischer Ausdruck und Bedürfnis der Figur. III.5.2. Die Natur bei Walser: Persiflage, Retardierung und Projektionsfläche Zu Beginn des Romans wirft die Erzählinstanz nur ganz vereinzelt ein Streiflicht auf die Natur. Eine erste Erwähnung der süddeutschen Handlungsszenerie dient ausschließlich der Vorantreibung des Erzählflusses. Der deiktische Verweis „als Franz Horn, aus dem Industriegelände kommend, nach links, Richtung Allgäu, abbiegen sollte, bog er nach rechts aus dem Schussental hinaus. Richtung Spellmannstraße, also heim“221 erlaubt es, einen Schattenriss der Umgebung zu liefern, ohne zu sehr die Aufmerksamkeit auf an dieser Stelle unnötige Schilderungen zu lenken. Kurz vor Einsetzen der Schreibwut blicken Horn und mit ihm der Leser durch das Fenster an seinem Schreibtisch. Wieder findet das Schussental kurze Erwähnung, dieses Mal, um die Abendzeit mittels einer Naturmetapher anzudeuten: „Franz Horn stand auf und öffnete das Fenster vor seinem Schreibtisch. Das Schussental lag schon in violetten Polstern.“222 In diese mit wenigen Pinselstrichen erzeugte, wohlige Atmosphäre bettet Walser die nun einsetzende Auseinandersetzung der Hauptfigur, sprich deren Kampf um das Auffinden der Genese ihres Streites mit Liszt ein. Wie es bereits weiter oben angeklungen ist, schreibt sich auch an dieser Stelle die Heimat keineswegs als kitschige Idylle in Walsers Werk ein, sondern vielmehr als Kontrastfolie zu zwischenmenschlichen und seelischen Abgründen, die es zu ergründen gilt. Dies bestätigt der letzte Satz in Walsers Roman. Hier wird die naive, verlogen-idyllische Heimatverbundenheit persifliert und ironisch gebrochen: „Er fuhr zu einem Fest. Er hatte keine Probleme. Die Leere rauschte interessant. Und drüben das Allgäu trug die Sonne wie einen Kopfschmuck.“223 Nachdem sich Franz Horn seinen Frust von der leidenden Seele geschrieben und im Schreibprozess die nötige Sinnstiftung erfahren hat, deutet Walser hier die Genese abermaligen Selbstbetrugs an. In erlebter Rede das staccatoartige Übertünchen eigener Probleme imitierend – „er hatte keine Probleme“ – setzt Walser dieser aufgesetzten, „fast schon übermütig[en] Gefaßtheit“224 im Schlusssatz gewissermaßen die Krone auf. Der strahlende Goldregen, welcher von der Königin, d. h. vom Allgäu ausgeht, ist das kitschige Pendant zu Horns krampfhafter Selbstsicherheit und dessen gekünsteltem Glücksempfinden. 221 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 12 Ders., S. 27 223 Ders., S. 153 224 Ebenda. 222 73 Im Gegensatz hierzu kommt der Naturbeschreibung in den Briefen, also im Mittelteil des Romans eine andere Rolle zu. Einerseits hält die Natur, vornehmlich die beiden Flüsse Bodensee und Rhein, Einzug in den Roman, um die Legende um Sigisbert und Placidus, die ihrerseits wiederum eng mit den Briefinhalten verzahnt ist, einzuführen. Bei Walser werden der Bodensee und der Rhein als Gewässer des Verschlingens und des Verbergens von Straftaten gehandelt, bei Böll ist es der Rhein, wie noch zu zeigen sein wird. Andererseits dient die Naturschilderung dazu, die Romanhandlung zu retardieren und die beiden Kontrahenten Horn und Liszt in eine konfliktträchtige Situation geraten zu lassen. Die anhaltende Windflaute in der Haltnau verzögert den Fortgang der angedachten Segelpartie erheblich. Am späten Nachmittag sind Horn und Liszt gezwungen, sich in Sachen Kommunikation zu üben. Hierin liegt der Ursprung ihres Streits und damit der Briefflut, die darauf abzielt, die Konfliktgenese bis in das letzte Glied nachzuzeichnen. Obwohl Thieles Boot, die Chemnitz III, mit einem Motor ausgestattet ist, wird die Flaute für das Ausbleiben Thieles verantwortlich gemacht. „Er sei nach Romanshorn abgedreht, von da aus rufe er an, die Flaute sei total, an Segeln nicht zu denken, er hoffe, von einem Abend- oder Nachtgewitter eine Mütze voll Wind zur Heimfahrt zu kriegen. […] Die Flaute verfluchte er. Von Romanshorn herübermotoren, um dann von hier nach Kreßbronn hinaufzumotoren –, das wäre die Trostlosigkeit selbst. Sagte er.“225 Horn macht zwar den Firmenchef Thiele für den Streit mitverantwortlich, die Flaute aber ist die eigentliche Ursache: „Ich muß Ihnen […] sagen, wie sehr Thiele zu den Ursachen unseres Haltnau-Streites gehört! Er ist nicht schuld. Aber wenn um drei herum die Chemnitz III erschienen wäre, [hätten wir] unser Geplänkel noch leicht in eine durch Thiele abgesicherte Unterhaltung überführen können“226 Die Ursachen von Thieles Ausbleiben sind in dessen selbstverliebtem und eitlem Wesen zu suchen. Er könnte es nicht über sich bringen, den Motor seines Segelbootes zu bedienen, weil dies einem Segelpuristen wie ihm, der ebenfalls ein Ästhet im Sinne Kierkegaards ist, als Sündenfall erscheinen würde. Stattdessen zieht er es vor, seine beiden verdienstvollen Angestellten in der Haltnau sitzen zu lassen. Hierin ist Walsers subtile psychologische Darbietung der Handlungsmotive durchaus stimmig. Der einsetzenden Flaute kommt die narrative Funktion zu, Horn und Liszt wie zwei im Ring isolierte Kämpfer aufeinanderprallen zu lassen. Primäre narrative Funktion dieses Naturschauspiels ist es, den Streit beginnen zu lassen. Beide müssen eine gefühlte Ewigkeit 225 226 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 85 Ebenda. 74 miteinander reden. Es kommt unweigerlich zur Auseinandersetzung. Die Flaute steht somit auch für die Ruhe vor dem Sturm, der sich immer deutlicher anbahnt. Die Gründe für den Streit sind jedoch vielschichtiger. Horn bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: „Thiele ließ uns sitzen! Ja, es war die Flaute. Bitteschön. Aber das Fehlen Thieles war das Fehlen Thieles, und die Flaute war die Flaute, und das eine reichte einfach nicht aus, das andere zu erklären. Es gibt Wirkungen, für die reichen ihre Ursachen nicht aus.“227 Hier nun wird deutlich, dass die Natur eigentlich nur Mittel zum Zweck war, um eine Konfliktsituation heraufzubeschwören. Die beiden Figuren sind von der Außenwelt abgeschlossen, in diesem „huis clos“ und unter dem Einfluss von Alkohol nimmt das Verhängnis nun seinen Lauf. Es folgen noch zwei weitere Beschreibungen des Bodensees. Alle beide verweisen auf den Konflikt, welcher über die Arbeitskollegen hereinbricht und an dem Horn derart leidet. Hier avanciert die Naturbeschreibung vollends zur Projektionsfläche für Horns seelische Leiden. Die erste Erwähnung legt eine Endzeitstimmung nahe: „Hätten Sie doch auf den See gesehen! Der lag, als sei schon alles zu Ende. Wie nach einer Weltkatastrophe lag er. Kein Wasser mehr. Geschmolzenes Blei.“228 Die pathetische, dabei jedoch keineswegs kitschigpeinliche Beschreibung der Wasseroberfläche zeigt Horns ganze Verzweiflung über den Streit und die aufkeimende Hoffnung auf eine Schlichtungsmöglichkeit. Das Streitgespräch jedoch nimmt weiter an Fahrt auf und am Ende des Haltnau-Aufenthalts, als „zwei völlig gleiche Wagen“229 sie abholten, ist Horns anfängliche Enttäuschung in blinde Wut übergegangen. Letztere äußert sich nicht in einem verbalen oder anderweitigen Angriff auf Liszt, sondern in der folgenden Naturschilderung. Explizit hebt Liszt im Brief hervor, inwieweit die aufgebrachte Natur seine Gefühlslage spiegelte: „Hintereinander fuhren wir am stürmenden See entlang bis nach Meersburg. Ich schaute nicht zurück. In mir ging es mindestens so zu wie draußen auf dem See. Der wilde Wetterglanz auf den hohen runden Wellen entsprach mir. Lauter kraß gleißende Kürasse trieben in schwerer Eile von Westen her. Als sei irgendwo eine Ritterschlacht gewesen. Am Ufer zerbrach die ritterliche Wogenpracht, löste sich auf in nichts als Schaum und Gischt.“230 Der letzte Satz verweist bildhaft auf Horns souveränen Umgang mit dem aufbrausenden Liszt. Obwohl er zugibt, aufgebracht zu sein, gerät Horn letzten Endes doch zum Wellenbrecher. Sämtliche von Liszt gefahrenen Attacken zerplatzen wie 227 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 85f. Ders., S. 118 229 Ders., S. 125 230 Ebenda. 228 75 Seifenblasen am nach innen zwar ebenso schäumenden, nach außen jedoch stoische Ruhe bewahrenden Franz Horn. 76 III.6. Die Rolle von Mythos und Legende III.6.1. Heinrich Böll: Mythentravestie und eine lebensmüde Walküre Im Bonn der machtpolitischen Rangeleien, Intrigen und Verstrickungen kommt der Geheimhaltung, wie bereits weiter oben gezeigt wurde, eine zentrale Bedeutung zu. Die Metamorphose des Schatzes wird in Ansätzen angedeutet, als Eva Plint, alleine und nachdenklich auf der Bank an der nebelbedeckten Rheinpromenade sitzend, zu einer Mythentravestie ausholt. Böll lässt die einst sagenumwobene Rheinkulisse durch Plints Worte zu einer melancholischen Karnevalsnummer verkümmern: „Vielleicht wäre hier irgendwo der Nibelungenschatz zu finden – rheinabwärts gespült, verkrüppelte Kronen, das bißchen Gold vom Rheinwasser und Geröll längst abgewaschen, von rollenden Kieseln zerbeult, zu etwas wie Karnevalsorden herabgeschunden, nicht einmal mehr aufputzbar zu Schützenkönigslametta.“231 Die hier angedeutete Erosion des einst an Reichtum überbordenden Nibelungenschatzes verweist zum einen auf den Vergänglichkeitstopos, über den hier indirekt geklagt wird. Andererseits aber ist der Mythos Ausgangspunkt für einen Seitenhieb auf die Nazivergangenheit. Die innige Verbindung, welche das Dritte Reich mit dem Nibelungenlied und seinen Recken, allen voran Siegfried, unterhielt, wird in den nächsten Zeilen klar ersichtlich. Eva Plint lässt es hierbei nicht an Deutlichkeit mangeln: „Oh, Kriemhild und Brunhild, eure Armreife, […] vielleicht einem Naziemblem benachbart, das ein erschrockener Bürger hastig abwarf, als die amerikanischen Panzer einfuhren. Was mag sich da alles vermischen im grünen Schleim: Totenköpfe und schwarz-weiß-rot betroddelte (sic) Degen“232. In demselben Redeschwall verweist Eva Plint auf ihren Lebensgefährten Ernst Grobsch. Ihr zufolge ist er „der gute, fleißige […] Nazi-Spezialist. Im Augenblick ist er hinter einem gewissen Plietsch her, der sich jetzt Plonius nennt – den sie einst den Bluthund nannten.“233 Die Erwähnung des Nibelungenschatzes und der zahlreichen, seit Kriegsende noch immer nicht gefassten Nazi-Verbrecher ist symptomatisch für Bölls Bemühen, mittels seiner Figuren auf dieses schwerwiegende Versäumnis hinzuweisen. Angeprangert wird die unabgeschlossene und halbherzige Vergangenheitsbewältigung während der Bonner Republik. Bis in die achtziger Jahre hinein haben es ehemalige Nazischergen leicht, sich im Dickicht der Günstlingswirtschaft in hohen Positionen zu halten. 231 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 87 Ebenda. 233 Ebenda. 232 77 Ferner bettet der Autor an einer anderen Stelle das Motiv der Tarnkappe in Hermann Wublers Aussagen ein. Dieser gesteht seiner Angebeteten Eva Plint, dass er sich öfters „eine Tarnkappe gewünscht [habe, um Eva Plint] unerkannt anschauen zu können“234. In dieser Liebesbekundung wird ein berühmtes Motiv des Nibelungenstoffes aufgegriffen. Im mittelhochdeutschen Wortlaut heißt es nach dem gewonnenen Kampf um Brunhild: „Sîfrit der snelle wîse was er genuoc. / sîne tarnkappen er aber behalten truoc.“235 Diese Tarnkappe dient einer doppelten List. Zum einen beim Wettkampf in Island, von der die zitierte Passage berichtet, zum andern während Gunthers zweiter, nur durch Siegfrieds Eingreifen geglückter Brautnacht. Die List, mit der sich Hermann Wubler in seiner erotisch aufgeladenen Phantasie die voyeuristische Nähe zu Eva Plint verschaffen möchte, ist zum reinen Gedankenspiel geworden. Der Mythos liefert in diesem Fall lediglich eine ausgehöhlte Staffage, die Böll an unscheinbarer Stelle einbaut. Daneben ist die Rede von Geheimakten, welche als Neuprägung des Nibelungenhortes auf dem Flussgrund liegen. Sie fügen sich ihrerseits nahtlos in die unscharfe Figurenkonstellation und in die nebulösen Handlungsstränge ein: „Böll hat gar nicht erst den Versuch gemacht, alle [seine] Figuren unter einen Hut zu bringen. Dies und jenes passiert, doch einen eindeutig faßlichen Zusammenhang, eine Story gibt es nicht. […] Und dies alles angesichts des Rheins, dessen Sagenvergangenheit immer noch seltsam lebendig ist, fortlebt, sich ins Kaleidoskop einfügt bis hin zu einem Schatz im Strom versenkter Akten und zum In-den-Rhein-Gehen.“236 Hier erwähnt Vormweg die Vernichtung heikler Aktenbestände. Hermann Wubler, der Strippenzieher im Hintergrund, erzählt gegen Ende des Romans, wie er die Klossow- und die Plottger-Akten vernichtet hat. Letztere wurden verbrannt, Erstgenannte aber in einem nicht näher genannten Gewässer „versenkt“237 und „liegen 280 Meter tief.“238 Unmissverständlich wird auf den Nibelungenhort angespielt. Aus den reichen Schätzen des Helden Siegfried ist in diesem Anspielungshorizont kein Karnevalslametta geworden, sondern ein Aktenhaufen, der wohl die Spuren eines Verbrechens enthält und die Politikersippschaft in arge Bedrängnis hätte bringen können. 234 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 94 Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. Reclam. Stuttgart 2002, S. 146. (Die neuhochdeutsche Übersetzung auf S. 147 derselben Ausgabe lautet: „Der geschickte Siegfried war klug genug, seine Tarnkappe wieder fortzubringen, um sie aufzubewahren.“) 236 Vormweg, Heinrich: Der andere Deutsche. Heinrich Böll. Eine Biographie, S. 387 (Mit der Prägung „In-denRhein-Gehen“ ist Heinrichs von Kreyl geplanter, am Ende jedoch nicht durchgeführter Selbstmordversuch gemeint; vgl. hierzu Böll, S. 224: Daneben wird damit auf den Selbstmord seiner Ehefrau verwiesen, die „in den Rhein ging, ungefähr bei Kleve, da, wo Lohengrin den Schwan bestieg.“ Böll, S. 69. Auffallend ist auch, dass von Kreyls Initialen identisch sind mit denen des Dichters H. v. Kleist, der nahe des Kleinen Wannsees den Freitod wählte.) 237 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 199 238 Ders., S. 161 235 78 Näheres ist aufgrund der oftmals unklaren Handlungsführung zu diesem „Schatz“ nicht in Erfahrung zu bringen. Böll hat auch hier die Verunklarung bevorzugt. Des Weiteren wird das Drachenblut als Spender der Unbesiegbarkeit in ein Motiv der politischen Immunität umgedeutet. Im Gegensatz jedoch zur Siegfried-Saga wird das entscheidende dramaturgische Element, sprich das Lindenblatt, welches später die hinterlistige Ermordung des Helden erst ermöglicht, von Böll ausgeblendet. Im Bonn des abgründigen Biedermeier ist kein Platz für verwundbare Helden, die Bankiers und Politiker sind negativ gezeichnete Allmachtsgötter: „Kapspeter [, ein mächtiger Bankier,] badete täglich in Drachenblut, und kein Lindenblättchen fiel auf seinen zarten, weißhäutigen Greisenkörper.“239 Auch die germanische Götterwelt, namentlich die Walküren, kommen im Zusammenhang mit der Schreckensszenerie des Rheins vor. Eva Plint sinniert über ihre Schwiegermutter, die sie nie gekannt hat. Es handelt sich um Karl von Kreyls Mutter, die sich im Rhein ertränkte, „[k]eine schöne Frau, […] aber stattlich, üppig, blond – eine echte Walküre, Rheintochter, und tauchte nie mehr auf. Der Rhein lockte sie mehr als Erftler-Blums Nachkriegsdeutschland.“240 Die Motive unbewältigter, schuldbeladener deutscher Vergangenheit und des Nibelungenhortes gehen hier eine suggestive Verbindung ein. Dabei tritt die Walküre nicht als jene Frau auf, welche die gefallenen Krieger nach Walhall geleitet, sondern sie wird selbst zur Todgeweihten. Der Vergleich zwischen Kreyls Ehefrau und der Walküre ist eine Umdeutung des Sagenstoffs: Aus der vitalen germanischen Frauengestalt ist die Lebensmüde, vom Nachkriegsdeutschland Angewiderte und Verzweifelte geworden, deren Vorfahren Militärs, also selbst schuldbeladen waren. III.6.2. Martin Walser: Liszts Pseudobildung und Horns Sehnsucht nach Vereinigung Die Wendelgardsage handelt von der schweinsrüsseligen, buckligen Besitzerin des Rebguts von Meersburg, Wendelgard von Halten. Der Schauplatz ist „Meersburg, ein sehr artiges Örtchen, das dem Bischof von Konstanz untergeordnet ist, der hier in dem auf einem beträchtlichen Felsen erbauten Schlosse residiert.“241 In dieser anonym tradierten Schilderung wird indirekt auf die Wendelgardsage angespielt, denn die äußerlich Entstellte hat ihren Erbbesitz, die Haltnau, Konstanz vermacht. Walser führt diesen Sagenstoff ein, um Liszts 239 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 128 Ders., S. 89 241 Anonymus, 1799. In: Der Bodensee in alten Reisebildern. Reiseberichte und Reisebilder aus vergangenen Zeiten. Hg. Maria Schlandt. Prisma Verlag. Gütersloh 1977, S. 45 240 79 wichtigtuerisches Gehabe auch in Sachen „Regionalkenntnisse“ in den Vordergrund zu rücken. Horn schreibt bezüglich ihrer Wanderung durch die Haltnau: „Erst als ich an Ihrer Gier sehe, daß Sie mich, den Hiesigen, dabei ertappen wollen, wie er nicht wisse, was ein Seelgerät sei, erst da verliere ich das bißchen Freiheit, das man braucht, um das zuzugeben, und schaue Sie bemüht harmlos, seelgerätkundig an“242. Im szenischen Präsens schildert Horn nicht nur die Entstehung des Konflikts, der sich später entladen wird, sondern hält Liszt einen Spiegel vor. Letzterer stammt aus Norddeutschland und hat sein Leben, ähnlich wie Horn bis zu seinem Selbstmordversuch, voll und ganz auf die Koordinatenwelt des Konkurrenzkampes ausgerichtet. Aus solcher Perspektive gerät sogar ein an sich harmloser Spaziergang durch die Heimat des Gegners, d. h. durch die Haltnau des „Hiesigen“, zu einer willkommenen Gelegenheit, einen Vorsprung gegenüber dem firmeninternen Gegenspieler zu demonstrieren. Diese Pseudobildung des Norddeutschen setzt sich aus einigen wenigen Happen Lektüre aus Reiseführern zusammen und parodiert das sterile und eigentlich völlig desinteressierte Abhaken von Kulturgütern. Die Wendelgardsage benutzt Liszt dann zu der aus seiner Sicht spitzfindigen, territorialspezifischen Anmerkung, dass sie „jetzt konstanzischen Boden“243 und keinen Meersburger beträten. Diesen bramarbasierenden Gestus kontert Horn mit der an sich neutralen Frage: „Haben wir einen Schweinskopf, sagte ich.“ Hierauf antwortet Liszt sichtlich getroffen: „Wer weiß, sagten Sie schon zu ernst.“244 Horns Frage, die seine Gelassenheit bezüglich des äußeren Erscheinungsbildes reflektiert, ist für den im Kierkegaardschen Sinne „ästhetisch“ veranlagten Liszt eine schmerzhafte Erinnerung an sein für ihn unerträgliches Aussehen. Darauf verweist Horn sogleich, indem er anführt, dass Liszts „Frau vor langer Zeit gesagt hatte, Sie [d. i. Liszt] litten unter Ihrer Häßlichkeit.“245 Die Wendelgardsage erfüllt demnach primär den Zweck, Liszts innere Unsicherheit mit einem nach außen demonstrativ zur Schau gestellten „Sagenservice“246 zu übertünchen. Die Risse der bröckelnden Biedermeierfassade reichen bis in die kleinsten Nischen der Liszt-Figur. Noch im Darbringen einer völlig belanglosen regionalen Anekdote zeigt sich die Doppelbödigkeit des unglücklichen Liszt. Ferner bildet das Sagenmotiv des Schweinskopfs bzw. des Rüssels den Übergang zu einer erneuten Kränkung des Ästheten, einer Kränkung, die jedoch keineswegs Horns Intention entsprach und die somit auf die Unmöglichkeit einer dauerhaften Freundschaft zwischen beiden schließen lässt. 242 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 53 Ebenda. 244 Ebenda. 245 Ebenda. 246 Ders., S. 131 243 80 Eine freundschaftliche Vereinigung mit seinem Arbeitskollegen strebt Franz Horn in der Tat vergebens an. Diese den Konkurrenzkampf überbrückende Freundschaft soll durch eine authentische und bedingungslose Aufklärung der Konfliktursachen ermöglicht werden, dabei eine solide Vertrauensbasis geschaffen werden. Walser hat die mittelalterliche Legende um Placidus und Sigisbert in seinen Roman eingebettet, um Horns ureigenen Wunsch nach reiner, zweckfreier Männerliebe zu veranschaulichen und ihn zudem mit der Natur- und Kulturlandschaft des Bodensees zu einem Stimmungsbild verschmelzen zu lassen. Nun ist es nicht mehr Liszt, welcher zum Legendenstoff des Bodenseeraums referiert und doziert, sondern Horn selbst, der eine längere Passage aus einer Regionalzeitung anführt. Übrigens wird auch hier noch am Rande auf Liszts überhebliche Art angespielt, da dieser sich nicht herablassen will, den Lokalteil zu lesen, „da er nicht englisch erscheint“247. Der sodann integral abgedruckte Artikel handelt vom Fund zweier Holzfiguren, die „in der Nähe der Insel Mainau [im Wasser trieben und nach Einschätzung von Experten] die beiden Patrone des Bündner Oberlandes, Sigisbert und Placidus“248 darstellen. In seinem Kommentar zu diesen Zeilen gesteht Horn, wie sehr er „Sigisbert und Placidus beneidete [und er stellt sich vor, wie] harmonisch [die beiden Figuren] durch alles Unwetter geschwommen sein“249 müssen. Hieran wird ersichtlich, inwieweit Franz Horn seine Sehnsüchte nach einem unverbrüchlichen Bündnis mit „Lord Liszt“ in die beiden Figuren projiziert. Letztere fungieren als Stellvertreter einer nur im Sagenstoff denkbaren Vereinigung zweier Männer, die jedoch im abgründigen Biedermeier illusorisch bleibt. Die Beziehung zwischen dem Laien Placidus, dessen „christlicher [Name] auf einen einheimischen Räter hin[weist]“250, und dem Abt Sigisbert, der „indes […] ein[en] nationalfränkische[n] Name[n]“251 trägt, spiegelt das Verhältnis zwischen Franz Horn und dem „Lord“. Horn ist der Einheimische, Liszt der Fremde. In der Sage gehen beide Figuren eine fruchtbringende Beziehung ein. Im Roman bleibt dies aus. Horn steht mithin für den aufopferungsvollen und in Freundschaft treu ergebenen Placidus, während Lord Liszt den Klostergründer und mutigen, energischen Geistlichen Sigisbert symbolisiert. Dass noch eine dritte Figur aus dem Legendenstoff namentlich erwähnt wird, dient der Brechung des Pathos, welches in dieser Passage die Oberhand zu gewinnen droht. Der Landesherr „Präses Victor, 247 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 129f. Ders., S. 130 249 Ders., S. 130f. 250 Müller, Iso: Geschichte der Abtei Disentis. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Benziger. Zürich 1971, S. 10 251 Ebenda. 248 81 der letzte große Vertreter des altrömischen Gedankens und der churrätischen Souveränität“252, ließ Placidus beseitigen. Dieser „primitive politische Mord“253 gehört ebenfalls zum Sagenstoff. Die Mordtat verweist indirekt auf den Professor. Letzterer trägt (wie der Landesherr) den Siegernamen „Viktor“ und wird von Franz Horn mit einem Bootsunglück und dem tödlichen Unfall seiner Geliebten in Verbindung gebracht. Gerhild und Viktor bilden denn auch „das wirkliche Paar dieses Tages“254, wie Horn in seiner Enttäuschung über die missglückte Annäherung mit Liszt zu verstehen gibt. Ab hier hat der Legendenstoff ausgedient und Walser nimmt sogleich den Faden der Haupthandlung, sprich die Ursachenforschung im Zusammenhang ihres Streits wieder auf. 252 Müller, Iso: Geschichte der Abtei Disentis, S. 11 Ebenda. 254 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 131 253 82 III.7. Intertextualität III.7.1. Heinrich Bölls Kanon – linksgerichtetes Engagement und l’art pour l’art Im folgenden Abschnitt wird sich die Untersuchung auf drei im Roman erwähnte Autoren konzentrieren. Im Blickpunkt stehen die Werke Bertolt Brechts, Jean-Paul Sartres und Marcel Prousts. Im Namen des linksintellektuellen, literarischen Engagements halten Brecht und Sartre Einzug in Bölls letzten Roman. Sie fungieren gewissermaßen als Gewährsleute für einen Schriftstellertypus, der sein Schaffen in den Dienst gesellschaftlichen Fortschritts stellt. Demgegenüber steht das sprachgewaltige Oeuvre Marcel Prousts als Chiffre des aristokratischen, raffinierten Stils255. Zudem muss vorab betont werden, dass sowohl bei Böll als auch bei Walser nicht die jeweiligen Werke an sich, sondern lediglich die Namen von Literaten erwähnt werden. Von den Namen wird mithin metonymisch auf das jeweilige Gesamtwerk und dessen Grundtendenzen zu schließen sein. Der Name „Jean-Paul Sartre“ wird anlässlich des Empfangs in Blaukrämers Villa genannt. In diesem neunten Kapitel spricht Katharina Richter von einem ebenfalls geladenen Literaturpsychologen namens Tuchler, der lediglich als akademisches Dekorum dem Empfang beiwohnt. Dieser „hockt […] nun allein […] da in seinem zerknitterten Anzug, mit seiner Spießerkrawatte, hat vergebens seinen Geist versprüht. Wie kommt er aber auch dazu, Grete Chundt Sartre ausreden zu wollen, den ihr nie jemand einzureden versucht hat. Sie weiß von Sartre nur, daß er schmutzige Fingernägel hatte.“256 Offensichtlich wird Sartre in seinem linksgerichteten Engagement von der Bonner Politikerkaste als Schmuddelkind angesehen, welches die Belange jener Arbeiterschichten vertritt, die in den Augen der Chundts, Blaukrämers und Wublers lediglich eine regierbare Zahlenmasse als Startrampe ihrer Machtausübung darstellen. Darauf deutet die Aussage über die schmutzigen Fingernägel hin. Unübersehbar ist jedoch Bölls Sympathielenkung an dieser Stelle, zumal der Leser hier längst darüber unterrichtet ist, in welchem Maße die Sippschaft der Mächtigen in das organisierte 255 Für diesen Dichtertypus im weitesten Sinne stehen ebenfalls die nur am Rande erwähnten Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal. Vgl. hierzu Böll, S. 178. Die folgende Untersuchung wird diese Autoren ausklammern, obwohl sie auf den ersten Blick als deutschsprachige Dichter von Weltrang in einer germanistischen Arbeit den Vorzug vor Marcel Proust erhalten müssten. Begründet wird diese Wahl damit, dass Prousts Werk gleich an zwei verschiedenen Romanstellen Einzug hält und demnach für die Analyse ergiebiger ist. Schließlich wird von einer Einbeziehung erstgenannter Autoren abgesehen, weil eine vertiefende Beschäftigung den Rahmen des vorliegenden Abschnitts bei weitem überdehnen würde. Dies gilt ebenfalls für Friedrich Hölderlin, der auf S. 144 am Rande erwähnt wird und für Franz Kafka, dessen Name in einer Art Small Talk auf S. 154 Erwähnung findet. Ferner werden die Dichter Faulkner, Gorki (beide auf S. 179) und Beckett (auf S. 180) aus den eben angeführten Gründen in diesem Abschnitt ausgeblendet. 256 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 179 83 Verbrechen und nicht minder in die Nazivergangenheit impliziert ist. Dass der literarische Begründer des Existenzialismus in einer solchen Gesellschaft lediglich als ungepflegter Schreiberling erscheint, gerät in Bölls Verständnis indirekt zum literarischen, mehr noch zum moralischen Ritterschlag. Die Ächtung Sartres innerhalb der machtpolitischen Bonner Kaste nimmt kaum wunder, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Sartre seinen Figuren folgende marxistische und den Klassenkampf beschwörende Diskurse in den Mund legt: „Le mensonge, ce n’est pas moi qui l’ai inventé: il est né dans une société divisée en classes et chacun de nous l’a hérité en naissant. Ce n’est pas en refusant de mentir que nous abolirons le mensonge: c’est en usant de tous les moyens pour supprimer les classes.“257 Eine ergiebige Aussage über den Stellenwert und die Funktion zweier im Kanon diametral entgegengesetzter Autoren verortet man in Eva Plints Worten: „Der Tod von Frau Blaukrämer hat ihm [d. i. Grobsch] auch – na, sagen wir, zugesetzt. Ich habe ihn wieder ins Bett gepackt, mit Tee, Suppe und Proust versorgt, den soll er jetzt mal lesen, nicht immer nur diesen Brecht.“258 Hier gerät das Werk Marcel Prousts nachgerade zum ärztlich indizierten Heilmittel. Neben der althergebrachten Versorgung mittels Bettruhe und gutverdaulicher Kost soll die geistige Nahrungszufuhr den Genesungsprozess nicht minder unterstützen259. Brechts Werk, ebenfalls metonymisch erwähnt, erscheint gegenüber dem sichtbar positiv besetzten Proust als agitatorische Literatur, welche offensichtlich eine Gefahr für den Erkrankten darstellt. Proust hingegen gilt in diesem Zusammenhang als der eskapistische Dichter, er steht „dans la lignée de Nerval, de Baudelaire, dans la tradition symboliste qui cherche l’essence des choses dans le rêve et dans le souvenir.“260 Folglich soll Ernst Grobsch in seinem „metaphysischen Schüttelfrost“261 jenen Autor lesen, der die Flucht vor dem politischen Tagesgeschehen zugunsten einer im Traum und der Reminiszenz auffindbaren Sinnstiftung wählt. Bertolt Brecht ist mithin in einem Literaturverständnis, wie es Eva Plint indirekt vorgibt, der Aufwiegler, welcher dem Leser keinerlei Sicherheit gibt, sondern herausfordert 257 Sartre, Jean-Paul: Les mains sales. Pièce en sept tableaux. Collection Folio. Editions Gallimard 1948. Impression Société Nouvelle Firmin-Didot. 1996, S. 197 / Ich schlage folgende Übersetzung (ohne jeglichen literarischen Anspruch) vor: „Die Lüge habe nicht ich erfunden: Sie wurde geboren in einer Klassengesellschaft und ein jeder von uns hat sie bei seiner Geburt geerbt. Die Lüge werden wir nicht dadurch abschaffen, dass wir es ablehnen, zu lügen: Dies geschieht nur, indem wir mit allen Mitteln die Klassen abschaffen.“ 258 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 164 259 Für diesen Ableger der Heilkunst hat sich der Begriff „Bibliotherapie“ eingebürgert. Vgl. hierzu etwa den Beitrag von Elisabeth Lukas: Zur Heilkraft des Lesens. In: Heilung durch Lesen? Ein Arbeitsbericht zur Bibliotherapie. Herderbücherei. Fr. i. Breisgau 1980, S. 6ff. 260 Littérature. Textes et documents. XXe siècle. Edition revue et mise à jour. Collection dirigée par Henri Mitterand. Nathan 1996, S. 124 261 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 164 84 und der deshalb abgelehnt wird. Galileis Worte „Ja, ich glaube an die sanfte Gewalt der Vernunft über die Menschen. […] Das Denken gehört zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse“262 setzen sich deutlich ab vom ästhetisierenden Proust und verweisen daneben auf den im Bonner Biedermeier ebenfalls „durchgefallenen“ Jean-Paul Sartre. III.7.2. Martin Walsers spärlicher Kanon: Ein Böll-Roman als Zankapfel Eigentlich liefert Walsers Roman lediglich eine einzige Passage, die eine wertende, sprich einen „Minikanon“ bildende Aussage über einen Autor und dessen Stellenwert darstellt. Es ist dies Liszts Antwort auf Horns Bemerkung, er habe gerade einen – nicht mit Titel genannten – Roman Heinrich Bölls gelesen. Eine Funktion dieser Erwähnung kann gleich vorweggenommen werden, denn sie schreibt sich in die Genese des Streits zwischen Horn und Liszt ein. Sowohl Horn als auch sein Gegenüber beziehen sich auf einen Roman Bölls, um den jeweiligen Konkurrenten in Gegenwart Thieles auszustechen. Franz Horn legt seine Motive schonungslos offen. Bei ihrem allerersten Treffen „– Thiele lud ein ins Waldhorn zu Loup de mer und Sauterne – wollte ich [d. i. Franz Horn] angeben mit einem Buch, das meine Frau mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Es war von Heinrich Böll.“263 Hierauf nun antwortet der solcherart Herausgeforderte mit einer spöttischen, den in der Firma bereits etablierten Horn indirekt als ahnungs- und anspruchslosen Leser abstempelnden Bemerkung: „Ja nun, sagten Sie, eben dieses Buch sei Ihnen auch gerade geschenkt worden; aber nicht von Ihrer Frau, sondern von deren Schwester, die einen Kosmetiksalon in CastropRauxel betreibe; Sie hätten hineingeschaut und es sofort an Ihre Putzfrau weitergeschenkt.“264 Dass sich der gerade zur Firma gestoßene Liszt in Anwesenheit Thieles mit solchen Aussagen v. a. selbst disqualifiziert, liegt auf der Hand. Dieser herablassende Habitus schreibt sich in den bereits beleuchteten, wichtigtuerischen Umgang mit Horn anlässlich ihres Ausflugs in die Haltnau ein. Ferner tangiert seine Hybris nicht nur Bölls Roman, sondern auch zwei Berufsstände, die in seinem vollends unüberlegten Rundumschlag in Sippenhaft genommen werden. Zum einen lässt er sich herablassend über seine Schwägerin aus, die, von Beruf Kosmetikerin, in seinen Augen keinerlei literarisches Gespür hat, weil sie ihm einen derart misslungenen Roman geschenkt hat. Zum anderen hält er es nach einem flüchtigen Blick auf einige Seiten 262 Brecht, Bertolt: Leben des Galilei. Schauspiel. Suhrkamp. Fr. a. Main 1963, S. 34f. Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 83 264 Ebenda. 263 85 desselben Romans für das Beste, diese scheinbar nutzlosen und dilettantischen Seiten seiner Putzfrau zu schenken, die in seinen Augen für Bölls Werk die geeignete, weil ungebildete Rezipientin ist. Auch Horns Ehefrau gerät somit implizit in die Schusslinie des entfesselt vor sich hin kritisierenden Liszt, da sie es war, die ihrem Mann das soeben belächelte Buch geschenkt hat. Anders als bei Böll verweist diese persönliche, von einer Figur vorgenommene Kanonbildung nicht auf das Leseverhalten einer ganzen Gruppe. Hier dient die Lisztsche Einschätzung eines Romans und dessen Autors dazu, die schier lächerlich anmutende Konkurrenzsituation innerhalb eines süddeutschen Konzerns sichtbar zu machen. Hatte Liszt in der Haltnau noch versucht, über seinen Vorsprung an Datenwissen seinem Gegenüber zu imponieren, so ist es nun die Positionierung und Profilierung gegenüber einem literarischen Werk und dessen Urheber, mittels derer ein Vorsprung ergattert werden soll. Anstatt ein halbwegs sachliches und auf Austausch angelegtes Gespräch über Leseerfahrungen anzukurbeln, nutzt Liszt Horns Einwurf, um sich bei seinem Arbeitgeber als anspruchsvollen Literaturkenner mit treffsicherem Geschmack anzupreisen und gleichzeitig den Konkurrenten als dementsprechend unwissend bloßzustellen. Wie eingangs gesagt, fungiert diese Kanonbildung v. a. als weiteres Element in der Entstehung des Jahre später in der Haltnau ausbrechenden Streits, der bekanntlich der Grund für Horns losgetretenen Schreibprozess ist. 86 III.8. Geschlechterrollen und Beziehungsstrukturen265 III.8.1. Heinrich Böll: Eheleben im Zeichen der Zementierung von Macht Fritz Blaukrämer, der im Verlauf der Romanhandlung einen Ministerposten übernimmt, hat eine verbrecherische Vergangenheit als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Anlässlich eines Empfangs zu Ehren des neuen Staatsdieners gibt ihm sein langjähriger Weggefährte Paul Chundt zu verstehen, er sei im Besitz geheimer „Fotos, du [d. i. Blaukrämer] warst nicht einmal in der SS und nur ein kleiner Fähnrich, aber Führer einer Maschinengewehreinheit und schlimmer als mancher SS-Typ, und die Fotos zeigen dich, wie du auf die armen Schweine schießen läßt, die aus einem KZ ausbrechen – zerlumpte, elende Menschenwracks, die den Amis entgegenlaufen wollten – und du …“266 Seine erste Frau, Elisabeth, hatte er wegen ihrer immer wiederkehrenden und sie aufzehrenden Erinnerungen an ihren gehängten Bruder und aufgrund der „Prälatenstory“267 in eine als Hotel getarnte Irrenanstalt verlegen lassen. Blaukrämers Funktionalisierung seiner Ex-Frau spiegelt ein Frauenbild, welches ausschließlich die Verwertbarkeit der Frau für die Außendarstellung des angehenden Bonner Spitzenpolitikers fokussiert. Die Maxime seines Handelns und seiner Heirat mit der adligen Elisabeth Blaukrämer wird ebenfalls von Chundt offengelegt: „Du hast Elisabeth nie begehrt, du wolltest nur diese exotisch wirkende protestantische Baronin, ein verstörtes Kind mit einer habgierigen Mutter.“268 Gemeint ist Elisabeth Blaukrämer, geborene Elisabeth von Bleibnitz, „ein hübsches, adeliges preußisches Protestantenkind“269, wie sie ihren Ex-Mann zitiert. Sie wurde in ihrer Eigenschaft als Politikergattin lediglich als Objekt der Symbolkraft und der Popularitätssteigerung ihres Mannes bei öffentlichen Anlässen wie eine Trophäe umhergereicht: „Kaffeeklatsch, Partys, Schützenfest – sogar zum Feuerwehrball ging ich, wie eine begehrte Tänzerin“270, meint Elisabeth Blaukrämer über ihre Rolle an der Seite des Mächtigen. 265 Die Konstituierung von Geschlechtlichkeit über bestimmte Diskurse, wie es die Genderstudies vornehmen, wird in dieser Arbeit nicht explizit erörtert. Gleichwohl treten v. a. bei Heinrich Böll verschiedene Rollen zu Tage, aufgrund derer den Figuren eine besondere Geschlechtlichkeit zugewiesen wird. Bei Martin Walser weichen diese Rollenschemata auf. Die Begrifflichkeiten „Mann“ und „Frau“ werden mithin ebenfalls keiner näheren Analyse unterzogen und konventionell gebraucht, ohne dass jeweils eine kritische Untersuchung des Sprachgebrauchs vollzogen wird. 266 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 159f. 267 Ders., S. 145 268 Ders., S. 158 269 Ders., S. 145 270 Ebenda. 87 Die Ehefrau als bloßes Dekorum hat jedoch ausgedient, sobald sie dem bzw. den Mächtigen auf eine wie auch immer geartete Weise gefährlich wird. Die Prälatenstory, bei der es sich um eine versuchte Vergewaltigung oder zumindest um eine unsittliche, von Elisabeth Blaukrämer keineswegs gewollte Annäherung eines Geistlichen handeln muss, bildet offensichtlich einen solchen Anstoß. Der Skandal wird kurzerhand qua Pathologisierung der Ehefrau abgewendet. Elisabeth Blaukrämer hat im Prälaten den in Kriegszeiten als „Bluthund“ gefürchteten „Plietsch, der sich jetzt Plonius nennt“271, erkannt. Ihre Weigerung, Kinder zu bekommen, macht aus ihr schließlich eine für den Mächtigen nutzlose, ihm zur Last fallende Gestalt: „Elisabeth accomodated herself with her new role, although the marriage floundered on the issue of children because of her inability to forget the trauma of her past“272. Aufklärung kennt das Bonner Machtgefüge nicht, selbst vor dem weiblichen Ehepartner macht die Vernichtungsmaschinerie aus Vertuschung und Komplott keinen Halt. Der Einzelne hat sich der Zementierung von Macht widerspruchs- und ausnahmslos zu verschreiben, das geringste Verfehlen wird schonungslos mit Wegsperren und völligem Ausschluss sanktioniert. Die Ehefrau ist entweder reizendes Dekorum, ein Epitheton ornans, denn „Stimmung [bringt] Stimmen“273, oder mundtot. Zwischen diesen beiden Extremen muss die Politikergattin, beide Male zur Unmündigkeit verurteilt, wählen. Das Idealbild der Bonner Politikergattin zeichnet Paul Chundt von seiner eigenen Ehefrau: „Und meine Grete, ruhig, bieder, macht die Geschäfte, ich die Politik“274. In dieser Aussage spiegelt sich im Epitheton „bieder“ der Titel vorliegender Arbeit, das abgründige Biedermeier weist der Frau allenfalls die Rolle einer Geschäftsfrau im Hintergrund zu, wobei Böll offen lässt, was Chundt mit „Geschäften“ genau meint. Chundts pronominaler Gebrauch ist zudem stark besitzanzeigend, die geachtete, die Norm erfüllende Frau wird sprachlich als Possessivpronomen realisiert. Schließlich sei auf den Romantitel selbst verwiesen, welcher die Frauenfiguren als Staffage auftreten lässt, ähnlich wie dies für die Rheinlandschaft gilt. Dass Erika Wubler, v. a. aber Elisabeth Blaukrämer und Katharina Richter aus dieser festgefahrenen Kulisse nicht als Komparsen, sondern als scharf konturierte Persönlichkeiten heraustreten, ändert nichts am hier aufgezeigten und von der Männerwelt generierten Frauenbild. Die Pathologisierung seitens der Mächtigen als Erklärungsmodell für weibliches Verhalten wird auch dort ersichtlich, wo die Gefahr eines Skandals weniger akut ist, die 271 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 146 Finlay, Frank: On the Rationality of Poetry. Heinrich Böll’s Aesthetic Thinking, S. 105 273 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 145 274 Ders., S. 159 272 88 Öffentlichkeit jedoch gleichwohl auf eine nicht-intakte Biedermeier-Welt schließen könnte. So wird die Abwesenheit Erika Wublers bei einem Hochamt von ihrem Mann wie folgt quittiert: „Natürlich bist du vermißt worden, aber ein Skandal war es nicht. Sie haben dich für krank erklärt, obwohl du es nicht wolltest.“275 Die führenden Politiker und ihre Helfershelfer aus Wirtschaft und Kirche sehen im Protest Erika Wublers, die eigentlich wegen der zynischen Vertuschung des Selbstmords ihrer Freundin Elisabeth Blaukrämer nicht erscheint, einen Fall für den Mediziner. Welche Pathologie sie dieses Mal diagnostizieren, ist unwesentlich. Vielsagend ist die Art und Weise, wie auch hier mit einer Abweichlerin, die ihrer holzschnittartigen Rollenzuweisung entwachsen ist, verkehrt wird. Mit Blick auf die Figur Katharina Richter sei auf den Abschnitt II.2.2. dieser Arbeit hingewiesen. Dort wurde ein Vergleich zwischen Katharina Richter und Katharina Blum angestellt. III.8.2. Martin Walser: Inszenierung(en) einer Ehe Martin Walser zeichnet kein derart düsteres Bild der Beziehungen zwischen den Ehepartnern. Die Ehe als konstitutiver Bestandteil der Außendarstellung des Politikers, wie sie bei Heinrich Böll vorliegt, weicht bei Walser zu einem oftmals losen Beisammensein auf, dessen Rollenverteilung gleichwohl nicht minder starr ist. Die Ehe zwischen Franz Horn und seiner Ehefrau Hilde ist reine Inszenierung. Nach einer dreijährigen Trennung sind die beiden unmittelbar nach Horns missglücktem Selbstmordversuch wieder ein Paar. Das Einzige, was die beiden mehr schlecht als recht zusammenhält, sind neben den gemeinsamen Töchtern Ruth und Amanda die konfliktträchtigen Situationen, in denen eine Profilierung der eigenen Person möglich erscheint. Hierbei wirft Hilde ihrem Gegenüber einen krankhaften „Aufbewahrungstick oder auch Konservierungsmanie“276 vor. Gemeint ist die oben beschriebene Lust am Archivieren, welche als Sinnstiftung und Rückdatierung fungiert. Das Zusammenleben und die Gespräche sind nur noch über rein häusliche Konflikte vorstellbar, die Beziehung ist einer starken Erosion ausgesetzt, die Walser einfühlsam-ironisch beschreibt: „Aufbewahren oder Wegwerfen, an dieser Unvereinbarkeit konnte jeder von ihnen, wenn ihm danach war, den täglichen Kampf entzünden. Wenn sie keinen Kampf brauchten, konnten sie heiter plaudern über die Frage, was zuerst gewesen sei, seine Aufbewahrungsmanie oder ihre Wegwerfsucht.“277 Diese Intermezzi der Eintracht können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Horns eine Scheinehe führen. 275 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 190 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 17 277 Ebenda. 276 89 Einzig und allein der Selbstmordversuch hat die beiden wieder ein wenig zueinander geführt, ohne dass das bröckelnde und von Rissen zersetzte Biedermeier in eine veritable Nähe und Liebesbezeugung umschwingt. Dass die Familie überhaupt keinen Halt in Krisenzeiten bietet, zeigen Horns gewohnt ungeschminkte Worte im ersten „Postscriptum“: „Ich trennte mich, als Sie kamen, von meiner Familie, Ihre Familie trennt sich, hat man den Eindruck, jetzt von Ihnen.“278 Die Kreuzstellung der Wortfolge macht aus dieser Aussage einen Chiasmus. Horn möchte seinem früheren Konkurrenten Liszt dessen gescheiterte Ehe vor Augen halten: „Herr Thiele schüttelte seit Monaten den Kopf über Sie, wie er ihn einmal über mich geschüttelt hatte. Er erfährt ja immer mehr als man für möglich hält. Er weiß, wieviel wir trinken. […] Er wußte natürlich als erster, daß Ihre Frau und die Polin in Paris mit Schwarzen über die Boulevards flanierten“279. Liszts Ehefrau ist seit „Olga Steinmetz’ Auftauchen“280 augenscheinlich mit dieser geheimnisumwitterten Polin, zu der offenbar mehr als ein freundschaftliches Verhältnis besteht, auf ehelichen Abwegen. Frau Liszt gibt sich gegenüber ihrem Gatten sehr dominierend, man „spürte die gewissermaßen feine Herrschaft, die sie über ihren Mann ausübte, die er sich gefallen ließ wie eine andauernde Auszeichnung.“281 Anders als Horn, der seine Schwächen schonungslos offenlegt, kann sich Liszt jedoch nicht von der Rolle, die er nach außen abgibt, verabschieden. Deshalb deutet er die schroffen Befehle seiner Frau als Zärtlichkeiten. Die biedere Fassade soll gewahrt werden, Selbstbetrug ist eines von mehreren Mitteln, dies zu bewerkstelligen. „[W]ährend Horn und Liszt sich mit ihrem Abstieg abfinden müssen, scheinen ihre Frauen von der Schwäche ihrer Männer zu profitieren: […] Es gibt offenbar keine Beziehungen, die nicht von der Macht geprägt worden sind.“282 Mithin reihen sich die in Walsers Roman beschriebenen Eheabgründe in Canettis Ausführungen über die Macht ein. Anders als bei Böll wird das Ausreißen aus den im Vorfeld vereinbarten Rollen und der Ehe keinesfalls mit dem Ausschluss der Frau geahndet. Mann und Frau begegnen sich mithin auf gleicher Augenhöhe; die Inszenierung können sie trotzdem nicht abwenden. Der Firmenchef Thiele hat ohnehin ständigen Einblick in das Eheleben seiner Angestellten; nach außen wird die Fassade jedoch aufrechterhalten. Gerade dagegen kämpft Franz Horn in seinen Briefen an, wie noch im Abschnitt zur Konfliktlösung zu sehen sein wird. 278 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 42 Ders., S. 39f. 280 Ders., S. 74 281 Ders., S. 20 282 Doane, H. A.: Die Anwesenheit der Macht. Horns Strategie im Brief an Lord Liszt. In: Martin Walser. International Perspectives, S. 85 279 90 Schließlich werden die Inszenierung nach außen und der Abgrund nach innen am Ehebruch sichtbar, den Franz Horn nach eigener Aussage seit geraumer Zeit begeht. Ganz nüchtern relativiert er die Fehler anderer dadurch, dass er auf sein eigenes Fehlverhalten hinweist, ohne dabei Besserung zu geloben. Er hat ein Verhältnis zu einer Frau, „mit der [er], als [er] von [s]einer Familie getrennt lebte, die Erledigung des Geschlechtlichen zu besorgen pflegte. [Sie] hatten einander nichts werden wollen […], aber als [sie], weil [er] zur Familie zurückging, auseinander sollten, stellten [sie] schaudernd fest, daß sich eine Beziehung entwickelt hatte. Jeder von [ihnen] beiden hatte mit dem anderen ein Mitleid, das er, dem anderen zuliebe, als Liebe ausgab. [Hilde] hält es für ganz ausgeschlossen, daß [er] sie betrüge. Das Ausmaß ihres Vertrauens bestimmt die Größe [s]eines Betrugs.“283 Der Sprachgebrauch dieser Beichte ist symptomatisch für eine Beziehungsstruktur, die ausschließlich auf die Erledigung primärer Bedürfnisse ausgelegt ist. Der an die Verrichtung einer Notdurft erinnernde Stil mit einer de facto unpersönlichen Infinitivkonstruktion („zu pflegen“) reflektiert die Funktionalisierung von Partnerschaften. Ferner zeugt das Schaudern vor dem über die Monate entstandenen Beziehungsgeflecht und der daraus resultierenden Annäherung von einem Abtötungs- und Erosionsprozess jeglicher Bindung an einen Lebenspartner. Schließlich wird das Mitleid als Zuneigung vermittelt, um die Abgründe der eigenen Seelenlandschaft vor dem jeweils anderen zu verbergen. III.9. Strategien zur Konfliktlösung III.9.1. Heinrich Böll: Wegsperren ins Hotel „Irrenanstalt“ und zynische Zweckentfremdung des Therapeuten Adornos und Horkheimers These vom „Äquivalent“ wird in einem Gespräch zwischen Eva Plint und Ernst Grobsch sinnfällig. Erstere spricht von einer Warnung seitens Hermann Wublers, mit dem sie ein platonisches Verhältnis hat. Plint solle „generell […] nicht zu viel […] plaudern“284. Darauf entgegnet ihr Grobsch in mahnendem Tonfall, diese Warnung ernst zu nehmen. Sogleich verweist er auf das Schicksal Elisabeth Blaukrämers. „Da, wo sie ist, hocken die abgelegten, weggeworfenen Frauen – in einem Edelkittchen. Da soll’s sogar nette junge Männer geben, die man ihnen aufs Zimmer schickt, wenn man den Eindruck hat, sie hätten’s gern.“285 Das Trauma Elisabeth Blaukrämers hat seinen Ursprung in den Wirren des Zweiten Weltkriegs, als ihr Vater und ihr Bruder gehängt wurden. Oft schweben diese 283 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 100f. Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 108 285 Ders., S. 109 284 91 Erinnerungen vor ihrem geistigen Auge, dann „fing sie an, von diesen Aufgehängten zu sprechen, von ihrem Vater, ihrem Bruder – von den Zungen aus deren Hals“286, wie Erika Wubler nach dem Suizid dieser immer „ein wenig verstörten“287 Frau zu berichten weiß. Dieses Trauma bildet jedoch eine gefährliche Reminiszenz an die Verstrickungen ihres Mannes und dessen engsten Freundeskreises, allen voran des „Bluthundes“, den Elisabeth Blaukrämer im Prälaten erkannt hat, als dieser sie, sichtlich unter Alkoholeinfluss, in ihrem Schlafzimmer aufsuchen wollte. Nach ihrem Tod meint Fritz Blaukrämer am Rande der Feier, die er trotz des Todesfalls nicht absagt: „Sie war nicht zu retten, ging von Haus zu Haus, von Café zu Café und erzählte ihre Schauergeschichten über dich [Paul Chundt] und mich. Wo sie auftauchte, nur Skandale – sie mußte weg.“288 Der pronominale Gebrauch verweist auf die bewusste Abschiebung der Wahrheit in das Reich psychischer Pathologie, um die eigene Vergangenheit ruhen zu lassen289. „Ihre“ Version ist damit diejenige einer unzurechnungsfähigen Person. Das Possessivpronomen „ihre“ im Verbund mit den als infantil und großmütterlich geltenden „Schauergeschichten“ ist ein klares Indiz der Verdrängung eigener Schuld. Das Trauma der Politikergattin wird auch als Grund für die kinderlose Ehe angeführt; Elisabeth fragt sich, „wieso so einer noch Kinder wollte. Ich wollte keine – ich sah immer meinen Bruder und die Plotzekkinder oben am Deckenbalken hängen. Immer.“290 Das Wegsperren in das als Hotel firmierende Sanatorium Kuhlbollen wird von Elisabeth Blaukrämer mit der zynisch-knappen Sentenz „Gäste sind wir, nicht Patienten“291 durchschaut. Neben der voreingenommenen Therapeutin Dr. Dumpler wird die zynische Zweckentfremdung der behandelnden Personen an der Figur Eberhard Koldes ersichtlich. Letzterer fungiert offiziell als Therapeut, ist jedoch einer jener jungen Männer, von denen eingangs die Rede war. Sexueller Tauschhandel ist mithin eine weitere Dienstleistung im Hotel „Irrenanstalt“. Elisabeth Blaukrämer durchschaut in ihrer Hellsichtigkeit auch dieses Manöver, wenn sie meint: „Therapeut für eine gewisse Art von Frauenleiden, nehme ich an. Ich leide nicht an diesem Leiden.“292 286 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 183 Ebenda. 288 Ders., S. 161 289 Dass Elisabeth Blaukrämers Aussagen allesamt der Wahrheit entsprachen, wird von keinem Geringeren als Paul Chundt bezeugt: „Vergiß nicht: alles, was Elisabeth verkündete, war wahr, deshalb war sie so unglaubwürdig.“ (Böll, S. 163) 290 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 145 291 Ders., S. 151 292 Ders., S. 153 287 92 Wegen ihrer „Erinnerungen, die [sie] nicht löschen und nicht interpolieren kann“293, wird sie mit einer voreingenommenen Therapeutin konfrontiert, welche krampfhaft versucht, bei Elisabeth Blaukrämer einen persönlichen Geschichtsrevisionismus in Gang zu bringen. Als die „Patientin“ zum wiederholten Mal standhaft bleibt und nicht auf den Versuch der staatlich abgesegneten Gehirnwäsche eingeht, tritt Dr. Dumpler, deren Mann selbst eingeweihter „Bundesbruder“ ist, schweigend und „entsetzt ab“294, wie die Szenenanweisung verrät. Elisabeth Blaukrämer ihrerseits „tut alles andere, denn an diese Korrektur zu gehen, und sie bringt sich an dem Tag um, an dem der, der sie ins Sanatorium hat bringen lassen, seine Ernennung zum Minister feiert.“295 Überhaupt ist in Bölls letztem Roman oftmals die Rede von Selbstmord als letztem Ausweg aus dem biederen Jammertal. Neben Elisabeth Blaukrämer und der weiter oben erwähnten Frau Heinrich von Kreyls sind es auch Elisabeth Blaukrämers Schwester und Plottkers Frau Angelika, die den Freitod wählen. Die Ehefrau des Bankiers Krengel starb unter ungeklärten Umständen, ein Suizid wird hier ebenfalls nahegelegt: Auch ihm wurde von Kapspeter geraten, seine Frau „nach Kuhlbollen zu schicken, da würden ihr das Zahngold und ihre Angst vor dem Duschen ausgetrieben. Aber [er] wollte ihr nichts austreiben lassen.“296 Die Anspielung auf Traumata, die auf Gaskammern in Konzentrationslagern und den Handel mit Zahngold getöteter Juden zurückgehen, ist evident. Im Sanatorium Kuhlbollen, einem Gefängnis für widerspenstige Politikergattinnen, wird eine gespenstische Kulisse aufgebaut. Nicht nur die Therapeuten, sogar die „Rehlein – süß, scheu und doch zutraulich“297, sind auf die täglichen Bedürfnisse der Gäste regelrecht zugeschnitten. Wie Roboter oder ausgestopfte Exemplare stehen die Rehe stets in Sichtweite. Mit Heroinspritzen oder anderen Substanzen macht man aus den Tieren gefügige Komparsen, um die nach außen biedere Idylle zu vervollständigen. Auch in Bezug auf diese Scheinwelt bringt Elisabeth Blaukrämer die Strategien der Konfliktlösung Bonner Spitzenpolitiker auf den Punkt: „[D]a brauch’ ich nicht einmal, was ich wirklich nicht habe: Phantasie, um zu wissen, daß die lieben Tiere manipuliert sind. Ich brauche nur auf einen Knopf zu drücken und bekomme Chopin oder Vivaldi in bester Qualität.“298 293 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 150 Ebenda. 295 Wirth, Günter: Heinrich Böll. Religiöse und gesellschaftliche Motive im Prosawerk, S. 322 296 Böll, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft, S. 223 297 Ders., S. 150 298 Ders., S. 150f. 294 93 94 III.9.2. Martin Walser: Das Briefeschreiben als Therapie Demgegenüber bietet Walsers Roman einen ganz anderen Ausweg aus konfliktträchtigen Situationen, nämlich die eingehende Beschäftigung mit dem Problem in Form eines bzw. mehrerer Briefe. Dass diese am Ende nicht einmal abgeschickt werden, ändert nichts an der therapeutischen Wirkung des Festhaltens und der damit einhergehenden Selbstvergewisserung. Der eigentliche Grund des einsetzenden Schreibprozesses wird in erlebter Rede angeführt: „An Himmelfahrt hatten sie den Krach gehabt, also gestern vor einer Woche. Heute vor einer Woche hatte er den Brief geschrieben. Liszt hatte nicht reagiert. Überhaupt nicht reagiert! Unglaublich!“299 Nicht zuletzt die beiden Ausrufezeichen deuten auf Horns äußerst erregten Zustand hin, der unbedingt einer Klärung bedarf. Das Medium, welches den Konflikt bereinigen soll, ist der Brief. Gewissermaßen ist Horns Muse der Mangel, wie Martin Walser in einer gleichnamigen Rede seine eigenen Schreibanlässe einmal beschrieben hat: „Wenn alles so wäre, wie man es gerne hätte, würde man nicht schreiben. […] Von heute auf morgen mußte ich mich gegen diese kraße Erfahrung wehren, […] gegen diese deformierende […] Erfahrung, ein unselbständiger Mensch zu sein“300. Horn kommt ebenso wenig gegen diesen schieren Schreibtrieb an wie der Autor selbst. Das Schreiben ist beiden ein inniges Bedürfnis, keine Inspiration ex nihilo. Bereits mehrmals wurde auf Horns ungeschminkten Umgang mit seiner selbst und mit dem Adressaten seiner Briefe gesprochen. Seine eigene Gefühlswelt stellt Horn im Brief ausgiebig dar und scheut dabei auch nicht vor kitschigen bzw. homoerotischen Schilderungen zurück: „Ach, es war doch angenehm, mit Ihnen durch die Löwenzahnwiesen in Richtung Bodensee zu fahren! […] Ich, mich Ihrer Führung anschmiegend, weil ich weiß, wie gern Sie organisieren.“301 Horn zeichnet in seinen Briefen die komplexe Genese des in der Haltnau ausgebrochenen Streits nach. Zu diesem Behelf macht er Rückblenden, um zu zeigen, dass der Vorfall an Himmelfahrt kein bedauernswerter Aussetzer, sondern ein schier unausweichliches Schicksal war. Schon mehrmals wurde gezeigt, dass Horn längst erkannt hat, inwieweit Liszt eine ähnlich tragische Figur ist wie er selbst, bevor es zu seinem Suizidversuch gekommen war. Im Abschnitt zu Adorno und Horkheimer bzw. zu Canetti wurde deutlich, dass Walsers Roman u. a. eine herbe Kritik an den verheerenden Folgen der Leistungsgesellschaft kapitalistischen Zuschnitts 299 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 21 Ders.: Meine Muse ist der Mangel. In: Ders.: Zauber und Gegenzauber. Aufsätze und Gedichte. Suhrkamp. Fr. a. Main 2002, S. 116f. 301 Ders.: Brief an Lord Liszt, S. 30 300 95 beinhaltet. Horn sieht nun endgültig den Moment gekommen, seinem Arbeitskollegen in weit ausholenden Worten einen Spiegel vorzuhalten. In der Haltnau war es ihm misslungen, Liszt „das herrschende Verhältnis [innerhalb der Firma] als Hierarchie vorzustellen. Immer [ist] es nur [Horn], der das so sieht.“302 Es kam zum Streit. Alkoholeinfluss kann nicht als Hauptursache gedeutet werden, vielmehr Liszts krampfhafte Versuche, seinen Gegenüber zu demontieren. Daneben gilt Horns gemischte Gefühlslage gegenüber Liszt als Grund für einen zum Scheitern verurteilten Klärungsversuch: „Als Zwilling von Horns ‚leidvoller Erfahrung’ ist Liszt von der Erkundung des Eigenen nicht ausgeschlossen. Da er jedoch auch als Miturheber des Unglücks gilt, sind Horns Gefühle ihm gegenüber ambivalent. Immer wieder schwankt er zwischen Ablehnung und Mitgefühl.“303 Liszt hat seit dem Auftreten des emporstrebenden Ryynänen in Thieles Firma ausgedient. Diese Situation ist Horn bestens bekannt, hat er doch Jahre zuvor selbst diese Erfahrung gemacht, als Liszt ihn aus Thieles Gunst verdrängt hatte. Die Ursachenforschung, auf die sich Horn in seinen Briefen begibt, hat einen Kernpunkt. Er will Liszt klarmachen, dass „die freche neue Blüte“304, sprich Ryynänen, ihn längst zum Statisten degradiert hat. An Himmelfahrt hat Franz Horn Liszt „zum ersten Mal verraten, wie wenig [er ihm seine] Mitwirkung an [s]einem beruflichen Schicksal vergessen kann.“305 Unmittelbar im Anschluss an diese Behauptung liefert Horn jedoch den eigentlichen Grund für den späteren Streit: „Beleidigt hat [Liszt] offenbar, daß [Horn] den Mut hatte, zu [ihm] zu sprechen, wie man zu einem spricht, der einem nichts mehr anhaben kann, weil er übler dran ist als man selbst.“306 Gemeint ist hiermit die Sozialebene des kommunikativen Akts, sprich der Tonfall und die mimisch-gestische Einbettung desselben. An der Art und Weise, wie Horn das Wort an Liszt richtet, merkt dieser, dass er längst in einem unaufhaltsamen beruflichen und privaten Abstieg begriffen ist. Dies bedeutet einen empfindlichen Angriff auf seine weiterhin krampfhaft zur Schau gestellte, bröckelnde Autorität. Anstatt wie Horn die eigenen Schwächen einzugestehen, übt er sich weiterhin im Rollenspiel. Horn zeichnet die einzelnen Etappen der Entstehung ihres Streits minutiös nach, er lässt nicht davon ab, Liszt auf dessen neuralgischen Punkt hinzuweisen: „Und Sie wollten jetzt einfach das Paradies beginnen 302 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 69 Doane, H. A. : Die Anwesenheit der Macht. Horns Strategie im Brief an Lord Liszt. In: Martin Walser. International Perspectives, S. 98 304 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 45 305 Ders., S. 132 306 Ebenda. 303 96 lassen. Ich wußte nur zu genau, warum. Sie hatten gerade Gelegenheit gehabt, Herrn Thiele von der Seite kennenzulernen, von der ihn die kennenlernen, deren Nutzen für ihn im Nachlassen begriffen ist.“307 Angesichts des eigenen beruflichen Abstiegs sucht Liszt einen neuen Verbündeten. Konkurrenzsituation Er war sichtbar kurzerhand einen darauf bedacht, Friedensschluss nach der herbeizuführen, jahrelangen ohne die zurückliegenden Konflikte aufzuarbeiten. Horn jedoch wollte eine tiefschürfende Aussprache, bei der auch vergangene Streitsituationen, allen voran der „vorletzte Streit […] in Hamburg, im März des vergangenen Jahres“308, besprochen werden sollten. Ferner wird im Brief berichtet, wie in der Haltnau Liszts angeblicher enger Kontakt zu Thieles malender Ehefrau als Lüge entlarvt wurde: „Aber ich weiß todsicher, daß Frau Thiele seit Anfang Mai auf einer griechischen Insel ist. Auf Korfu. […] Sie, mein Lord, können mit Frau Thiele also in diesen vierzehn Tagen nur auf sehr metaphysische Art gefrühstückt und diskutiert haben. Das habe ich Ihnen in der Haltnau gerade so vorgehalten.“309 Auch hierauf reagiert Liszt keineswegs im Sinne eines Eingeständnisses seines Rollenzwangs, sondern verschanzt sich hinter unglaubwürdigen Bekräftigungen. Auch Drohgebärden – Zeichen zunehmender Aggressivität und eines bevorstehenden Kontrollverlusts – hat Horn in diesem Moment an Liszt beobachtet: „Sie sahen mich an … ich kann nur sagen: drohend! Ihre Unterlippe tief in Ihren Mund hineingebissen.“310 Der rechthaberische Liszt wird im Brief als „moralischer Narziß“311 persifliert. Für Horn ist diese Petrifizierung seiner schmerzenden Erinnerungen eine Art der Sinnstiftung. Im Schreibakt kann er gewisse Gründe und Tatbestände fest-halten und begreifen, sie somit einordnen. Anders als der Ästhetiker Liszt setzt Horn auf schonungslose Aufarbeitung statt auf Verdrängung. Nur im Medium des Briefes ist Horn ehrlich zu sich selbst, kaum verlässt er verrichteter Dinge seine Privatwohnung, beginnt von Neuem der Selbstbetrug. Der Romanschluss parodiert dies in verdichteter Form: „[E]r ging mit frischen Socken in Sandalen auf sein Auto zu und bog, fast schon übermütig vor Gefaßtheit, in die 307 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 39 Ders., S. 36 309 Ders., S. 74 310 Ders., S. 75 311 Ders., S. 47 308 97 Straße ein. Er fuhr zu einem Fest. Er hatte keine Probleme. Die Leere rauschte interessant. Und drüben das Allgäu trug die Sonne wie einen Kopfschmuck.“312 312 Walser, Martin: Brief an Lord Liszt, S. 153 98 IV. Zusammenschau Die verschiedenen Sichtachsen auf die beiden Romane lassen eine differenzierte und ergiebige Bestandsaufnahme unter den Prämissen der übergeordneten Thematik zu. Vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass die einzelnen textimmanenten Schwerpunkte zwar jeweils unterschiedliche literarische Realisierungen in beiden Werken ergeben, dass jedoch in jedem Abschnitt Anschlussstellen zwischen den Romanen als auch Verbindungslinien zur Themenstellung ersichtlich werden. Das abgründige Biedermeier, welches in dieser Arbeit zur Diskussion stand, erfasst sämtliche Lebensbereiche der Figuren in ihren wechselseitigen Beziehungen und die Psyche der einzelnen literarischen Gestalten. Begonnen hat die Analyse mit zwei Vergleichen zu jeweils themen- und motivverwandten Werken beider Autoren. Wie in der Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ hat Heinrich Böll im Roman „Frauen vor Flusslandschaft“ die verheerenden Auswirkungen der Machtanhäufung aufgezeigt. Obgleich die Boulevardpresse in seiner Erzählung am Pranger steht und nicht die Bonner Politikerkaste, wurden Parallelen in der Namensgebung und der Sympathielenkung einzelner Figuren aufgezeigt. Für Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“ und seinen hier diskutierten Roman „Brief an Lord Liszt“ wurde gezeigt, inwieweit insbesondere die Figurenkonstellation deutliche Ähnlichkeiten aufweist. Die alsdann besprochenen Werke Adornos, Horkheimers und Canettis stellten die daran anschließenden Detailuntersuchungen auf einen gemeinsamen theoretischen Sockel. Die Vernichtungsmaschinerie und die Grundbedingungen der Macht sind zentrale Gedanken in Canettis Schrift. Aus beiden Romanen wurden jeweils mehrere Textpassagen auf ihre Auseinandersetzung mit diesen Themen befragt. Dabei hat sich herausgestellt, dass Canettis Ausführungen sowohl bei Böll als auch bei Walser eine literarische Umsetzung erfahren. Dies gilt ebenfalls für die scharfen Sentenzen Adornos und Horkheimers. Die von Letzteren beschriebene Dialektik der Aufklärung tritt in beiden Romanen zu Tage. Ferner haben die einzelnen Abschnitte zur Detailanalyse zahlreiche, in den Texten verortete Spuren des bröckelnden Biedermeier zu Tage gefördert. Mit der Thema-RhemaStruktur zweier kürzerer Passagen wurde versucht, bis in die kleinsten Nischen der thematischen Entwicklung und des Isotopiegewebes die seelischen und zwischenmenschlichen Schreckensbilder, welche hinter der gutbürgerlichen Fassade hervortreten, offenzulegen. Die beiden Abschnitte „Komposition“ und „Erzählsituationen“ haben diesbezüglich weniger Einsichten geliefert; dennoch gewährten die darin gezeitigten 99 Ergebnisse erhellende Einblicke in die narrative und kompositorische Architektur beider Romane. Es wurde auch hier stets versucht, Verweise auf die übergeordnete Thematik anhand aussagekräftiger Textbelege zu liefern. Vor dem Hintergrund dieser beiden Abschnitte zeichneten sich bei der Beschäftigung mit der Raumsemantik zweierlei Abgründe ab. Böll verlegt den Großteil seiner Monolog- und Dialogszenen in biedere Villen. Diese sind für die Ehefrauen der Bonner Machthaber und Strippenzieher nichts Anderes als Vorstufen zum Sanatorium Kuhlbollen, in das jene Frauen verlegt werden, welche das Machtgefüge gefährden. Überhaupt zeichnet Böll in seinem letzten Roman, dies wurde mehrmals aufgezeigt, ein äußerst düsteres Bild, an dessen Rändern weder der katholische Glaube noch irgendeine politische oder gesellschaftliche Utopie hoffnungsvoll aufleuchtet. Walsers Hauptfigur, der arg gebeutelte Franz Horn, welcher sich nach einem Selbstmordversuch von den Koordinaten des unbedingten Leistungsdrucks und der unbändigen Aufstiegssucht befreit hat, legt sich ein Archiv an. Letzteres ist keine herkömmliche Urkundensammlung bzw. ein Ort, um eine solche aufzubewahren. Horns Archiv setzt sich aus unzähligen Alltagsgegenständen, aus „Nippes“ unterschiedlichster Provenienz, zusammen. Sein „Schopf“ – noch die süddeutsche Bezeichnung für den Sammeltempel trägt Spuren des Provinziellen – beherbergt jene Gegenstände, an denen Horn eine Periodisierung seiner Existenz ablesen kann. Das Sammeln gibt ihm Halt, ist Sinnstiftung, steht aber auch am Ursprung der unzähligen Streitereien innerhalb seiner Scheinehe. Stets wird jedoch peinlichst darauf geachtet, dass der biedere Schein nach außen gewahrt wird. Am Ende des Romans fährt er zur gemeinsamen Familienfeier. Der entlarvende Tonfall in Walsers Naturbeschreibung des Schlusssatzes spricht Bände. In Bölls erst postum erschienenem Roman dient die Natur als bloßes Dekorum, sie trägt nur ganz vereinzelt zur Form-Inhalt-Kongruenz bei. Wie in einem Theaterstück Samuel Becketts wandeln die Figuren vor der papiernen Rheinkulisse auf und ab. Bölls Figurenarsenal ist genauso sinnentleert wie die stumme Szenerie, vor welcher der Roman spielt. Die biedere Fassade wird von den Machthabern aufrechterhalten; um jeden Preis begeben sich die teilweise an Kriegsverbrechen beteiligten, im Bonner Biedermeier rekonvertierten Bundesbrüder auf Stimmenfang. Ein unverbrüchliches Triumvirat aus Politik, Kapital und Klerus – der Bluthund wurde zum Prälaten – herrscht am Rheinufer. Das Kompositum „Triumvirat“ ist dabei für den zweiten Bestandteil wortwörtlich zu nehmen. Die einzige Frau, welche in Bölls wirrem Handlungsgeflecht als autonome Figur herausragt, ist 100 die an Katharina Blum erinnernde, am Ende von der Verfolgung durch Schwamm bedrohte Katharina Richter. Sie bleibt jedoch eine Randfigur. Der Frau hat Böll somit nolens volens drei Alternativen des Lebenswandels bereitgestellt. Entweder sie unterwirft sich, wie die biedere Frau Paul Chundts, unter die patria potestas und gilt als Vorzeigedame, gleich einer Trophäe, die man bei Hof herumreicht. Tut sie das nicht, dann landet sie, insofern sie dem Machtbereich des Politikers untersteht, im Kuhlbollen. Dort steht ihr dann, wie am Beispiel Elisabeth Blaukrämers sinnfällig wurde, ein nimmer enden wollender Spießrutenlauf bevor. Der dritte Weg ist gleichsam mehr Aporie als Ausweg. Katharina Richter betritt ihn, der Leser weiß jedoch um die ständige Bedrohtheit solcher Figuren. Der Zynismus des Mächtigen wird auch bei Walser verhandelt, doch weicht die durchgehend desillusionierte Darstellung hier an manchen Stellen einem ironischen Unterton. Dieser verharmlost nicht, sondern ist konstituierender Bestandteil von Walsers Schreiben. Die Naturbeschreibungen bilden eine mitunter pathetisch aufgeladene Projektionsfläche für den Streit, der sich wie ein furchtbares Gewitter entlädt. Das Reinigende, welches Gewittern allgemein nachgesagt wird, bleibt nach dem Haltnaustreit jedoch aus. Dieser Mangel ist der Grund für das Einsetzen des sintflutartigen und immer wieder von neuem hervordringenden, vom Mangel genährten Schreibergusses. Die Briefe und Zusätze werden am Ende nicht abgeschickt, sondern im zweiten wichtigen Archiv, dem Schreibtisch, sorgsam verstaut. Der Streit wird mithin nicht beigelegt. Eine Schlichtung ist utopisch. Die brave bürgerliche Provinz hat Risse. Walser ist darum bemüht, sie wie in einem Brennglas sichtbar zu machen. Sogar eine nicht zufällig an Christi Himmelfahrt stattfindende Wanderung durch die in allen Farben strahlende Haltnau ist Schauplatz der Zwietracht. Liszt, ein Norddeutscher, ist nicht nur aufgrund seiner Herkunft ein Fremdkörper im Bodenseeraum. Anders als Horn hält er krampfhaft an den Prinzipien der Ellbogengesellschaft fest. Auch ein der Lächerlichkeit preisgegebener Wissensvorsprung gegenüber seinem Konkurrenten, der ein solcher gar nicht sein will, ist für ihn Mittel zum Zweck. Die Untersuchungen zur Funktion des Mythos haben das gezeigt. Bei Böll hält die Nibelungensage Einzug in den Roman, um an die Verbrechen der Politiker und an deren Vertuschung zu erinnern. Leitmotivisch durchziehen die versenkten Akten die Romanhandlung. Daneben ist die Rede vom Selbstmord einer Figur. Hier wird die Nibelungensage zugunsten einer germanischen Mythengestalt ausgeblendet. Die Wellen des Rheins sind für die lebensmüde Walküre das letzte Refugium. Mit Blick auf die 101 Kanonbildung beider Romane haben Böll und Walser ungeachtet der unterschiedlichen Fülle an evozierten Autoren eine Funktionalisierung im Sinne der Romanhandlung vorgenommen. Böll zeigt, wie Brecht und Sartre vor den Pforten des Machtzentrums stehen, ohne dass ihnen Einlass gewährt wird. Es sind dies Zeichen einer unilateralen Beschäftigung mit Literatur. Die Scheineliten verabreichen Proust als Laxativum, da Brecht die Gemüter zu sehr in Wallung bringt. Sartres dreckige Fingernägel sind die einzigen Spuren, die dieser Autor im Bonner Komplottdickicht hinterlässt. Einzig und allein die Randfiguren, wie der zum Dekorum geschrumpfte Literaturprofessor, lesen neben Thomas Mann und dem eskapistischen Proust linksengagierte Werke. Walser hat seinen spärlichen Kanon – ähnlich wie dies beim Mythos der Fall ist – für die Entlarvung Lisztscher Pseudobildung herangezogen. Der norddeutsche Wichtigtuer liest keinen Böll, er hält diesen Autor offensichtlich für eine Lektüre, die eher für Putzfrauen adressatenspezifisch ist als für einen führenden Angestellten in der Privatwirtschaft. Hinsichtlich des Umgangs mit Konflikten schließlich hat Walsers Figur den produktiveren Weg eingeschlagen. Das im Schreibakt gelingende Festhalten von Wirklichkeitserfahrung bricht jedoch mit der letzten Silbe des Briefes ab. Nichtsdestoweniger ist dieser Ansatz ein aufflackernder Lichtschimmer im ansonsten düster gefärbten süddeutschen Biedermeier. Dass Bölls Flusslandschaft ein Höllenschlund hinter biederer Villenfassade ist, haben nicht zuletzt die Strategien zur Konfliktlösung gezeigt. Aufgrund von Kriegserlebnissen entstandene Traumata werden als überbordende Phantasiegebilde und Märchen hysterischer Politikergattinnen gewertet, um den Machtapparat nicht ins Stocken zu bringen. Das Wegsperren macht Schule. Heinrich Böll zeigt, wie die Frauen vor seiner Flusslandschaft daran zerbrechen. Der Reigen der Mächtigen indes reproduziert sich ungeachtet aller Abgründe stets von neuem. 102 V. Bibliographie A. Primärliteratur 1. Belletristik. (N. B.: Alle unter „A.1.“ aufgeführten Titel der Primärliteratur wurden integral gelesen. Andere, in der Arbeit zitierte Werke, bei denen dies nicht der Fall ist, stehen nicht in folgender Aufzählung.) - BERNHARD, Thomas: Verstörung. Suhrkamp. Fr. a. Main 1970 - BÖLL, Heinrich: Frauen vor Flusslandschaft. Kiepenheuer und Witsch. 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