Wir über uns:
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Wir über uns:
Mädchenbildung in Schwerte am Beispiel des Handarbeitsunterrichts 1870 – 1970 • • • • Kaiserzeit Weimarer Republik Nationalsozialismus Nachkriegszeit „Strickende Mädchen“ Schulklasse von Irene Jacobs, geb. Tönnges 1931 (4. Reihe 2. v. links) Begleitheft zur Ausstellung „Mädchenmuster – Mustermädchen“ Ruhrtalmuseum Schwerte, 9. – 23. November 2005 -3- Wir über uns: Arbeitskreis Schwerter Frauengeschichte(n) Der Arbeitskreis Schwerter Frauengeschichte(n) ist 1997 entstanden im Anschluss an unsere Broschüre „Schwerter Frauengeschichte(n)“, die von der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Schwerte im Rahmen des Stadtjubiläums „600 Jahre erweiterte Stadtrechte Schwerte“ herausgegeben worden ist. Seit dieser Zeit treffen sich regelmäßig 10 – 15 Frauen im Frauenraum, Westenort 1 (ehemalige Theaterhalle 5,4). Der Arbeitskreis hat sich u. a. folgende Ziele gesetzt: • Wir wollen bemerkenswerte Frauen ins rechte Licht rücken. • Wir wollen Frauen aus Schwerte, die in Vergangenheit und Gegenwart etwas bewegt haben oder bewegen, ins Gespräch bringen. • Wir wollen aufzeigen, dass Schwerter Stadtgeschichte und Stadtentwicklung von Frauen und Männern gemeinsam geprägt worden ist. • Wir wollen mit Hilfe von Vorträgen Schwerter Frauengeschichte(n) vorstellen, diskutieren und bewahren. • Wir wollen Frauen im Erzählcafe ein Forum bieten. In den vergangenen Jahren hat der Arbeitskreis unterschiedliche Portraits von Schwerter Frauen in der Westfälischen Rundschau veröffentlicht, viele Stadtrundgänge auf den Spuren Schwerter Frauen durchgeführt und unzählige Vorträge zu Frauenthemen und Frauengeschichte unserer Stadt gehalten. Ein besonders erfolgreiches Projekt war die Herausgabe unseres Dauerkalenders „Kräutergarten – Hexenküche“ im Dezember 2002. Auch in der Zukunft wollen wir uns auf Spurensuche begeben und Frauengeschichte in Schwerte sichtbar machen. Schwerte, im Oktober 2005 -4- Inhaltsangabe „Strickende Mädchen“ 3 Wir über uns 4 Inhaltsangabe 5 Gedanken zu unserer Ausstellung 6 100 Jahre Handarbeitsunterricht 8 Mädchenbildung im Kaiserreich 10 Auszug aus der Schulchronik von1957 12 Mädchenbildung in der Weimarer Republik 14 Weimarer Republik: Geschichte zum „Begreifen“ 16 Mädchenbildung im Nationalsozialismus 18 „Das Ziel der weiblichen Erziehung“ 20 Mädchenbildung in der Nachkriegszeit 22 Nachkriegszeit - Geschichte zum „Begreifen“ 24 Von der Höheren Töchterschule zum RTG 26 Handarbeit in den Richtlinien und Lehrplänen 28 Eine Frau, die Schwerter Schulgeschichte schrieb 32 Acht Jahre Volksschule sind genug 34 Trotz allem: 1. Bürgermeisterin in Schwerte 36 „Nur ein Mädchen ?“ 38 Mustertücher – Merkzettel für Generationen 40 Stickereien im Haushalt – Lebensweisheiten auf Stoff 41 „Schulmädchen - Report“ 42 Literatur, Auswahl 50 -5- Gedanken zu unserer Ausstellung Mädchenmuster – Mustermädchen 1870 – 1970 Einsichten: Sei wie das Veilchen im Moose bescheiden, sittsam und fein und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein (Joh. Wolfgang v. Goethe) Durchsichten: 100 Jahre Mädchenbildung haben bis heute ihre Muster hinterlassen. Mustermädchen wurden im lebenspraktischen Unterricht auf ihre zukünftige Rolle als Gattin, Hausfrau und Mutter vorbereitet. Die Mädchen lernten, ihre eigenen Ansprüche zurückzustellen und dienend und bedienend ihre Aufgaben zu meistern. Mädchenmuster finden wir durch die Jahrhunderte auch in Mustertüchern. Mädchen sollten mit Kopf, Herz und Hand Kunst und Kultur ins Volk bringen und den Jungen das Denken überlassen. Auch in Schwerte wurde Nadelarbeit als Unterrichtsfach nur für Mädchen, wie in ganz Preußen, 1872 verpflichtend eingeführt. Erst in den 70er Jahren des 20. Jh. wurde die reine Mädchenschule aufgelöst und durch Koedukation, das gemeinsame Unterrichten von Mädchen und Jungen, abgelöst. Auch wenn sich die Inhalte des Handarbeitsunterrichts in der Vergangenheit immer wieder geändert haben, so haben diese „Mädchenmuster“ ihre Auswirkungen bis heute. Heute sind Mädchen gut ausgebildet, erfolgreich in Schule und Studium. Wenn dann aber zum Beruf die Familie kommt, stoßen Frauen an ihre Grenzen und werden in alte „Muster“ zurückgedrängt. Aussichten: Trotz moderner Ausrichtung des heutigen Faches Textilgestaltung führt der Unterricht auch an Schwerter Schulen ein Schattendasein. In einer Umfrage haben wir alle 14 -6- Schwerter Schulen angeschrieben. Aus den Antworten von 10 Schulen können wir ersehen, dass in 5 Schulen noch Textilunterricht angeboten wird. In den anderen 5 Schulen gehört das Fach nicht mehr in den Fächerkanon. Nach den neuen Erprobungsrichtlinien soll Textiles Gestalten als eigenständiges Fach entfallen und in den Kunstunterricht integriert werden. Dieser Trend zeichnet sich auch schon in Schwerte ab. Nur noch in 2 von 4 Grundschulen, die sich an der Befragung beteiligt haben, wird das Fach unterrichtet. Dabei hat die Handarbeit gerade für jüngere Kinder, also sowohl für Mädchen als auch für Jungen, eine besondere Bedeutung. Mit den Händen produzieren fordert beide Gehirnhälften, schult die Feinmotorik und die Wahrnehmungsfähigkeit, verbessert den Tastsinn und fördert die gesamte kognitive Entwicklung. Handarbeit hilft dabei, die Welt durch Handwissen zu begreifen. In Finnland, dem „Pisa Musterland“, ist das bekannt. Dort ist Textilgestaltung Pflichtfach für alle Kinder bis zum zwölften Lebensjahr. Ansichten: Der Arbeitskreis Schwerter Frauengeschichte(n) hat sich zum Ziel gesetzt, den Handarbeitsunterricht in Schwerte, wie er bis in die 70er Jahre existierte, wieder lebendig werden zu lassen. Präsentiert werden aus der Zeit von 1870 – 1970 Handarbeiten, vorwiegend von Schwerter Schulmädchen, mit dem Ziel, Mädchenbildung und deren Auswirkungen sichtbar zu machen. Betrachterinnen und Betrachter sollen durch die Ausstellung zum Nachdenken über „weibliche Muster“ angeregt werden. „Wir Mädchen wurden nicht ernst genommen und hätten lieber mit den Jungen getauscht“, gaben viele der von uns befragten Frauen an. Lebensläufe „Schwerter Mädchen“ sollen aufzeigen, dass „Muster“ bis heute ihre Spuren hinterlassen haben. Gezeigt werden in unserer Ausstellung Fotos, Schriftstücke und Handarbeiten - vom Mustertuch bis zur Mustermappe - aus den Nachlässen Schwerter Frauen. Das Begleitheft zur Ausstellung dokumentiert biographische Texte, ausgewählte Bilder der Ausstellung und vermittelt Informationen über die verschiedenen Zeiträume. Rücksichten: Die Ausstellung erhebt weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Wissenschaftlichkeit. -7- 100 Jahre Handarbeitsunterricht Generationen von Mädchen haben sich mit Topflappenhäkeln und Nadelmäppchensticken abgemüht. Die mehr oder weniger gelungenen Ergebnisse schmückten dann zu Weihnachten die Gabentische der Verwandtschaft. Heute sind die selbstgemachten textilen Haushaltshilfen selten geworden. Bei einem spontanen Test in der zehnten Klasse der Realschule am Bohlgarten, Schwerte, fanden sich nur 2 von 22 Schülerinnen, die stricken konnten. Die anderen versuchten zumindest zu häkeln, aber das gelang den meisten auch nach einer Stunde des Übens immer noch nicht. „Hand – Arbeit“ ist heute nicht mehr gefragt. Das war nicht immer so. „ungeschickte Hände“ Der Ort, wo Handarbeitsunterricht zuerst erteilt wurde, war die Familie. Solange in jedem Hause gesponnen, gewebt, gestrickt, gestickt und genäht wurde, wurden die Techniken von Generation zu Generation weitergegeben. Die Lehrweise gestaltete sich als mechanisches Vormachen seitens der „Lehrerin“ und als ebenso mechanisches Nachmachen durch die „Lernenden“. Die Kenntnisse in den textilen Fertigkeiten hatten bis in die Nachkriegsjahre des 20. Jahrhunderts eine hohe soziale Bedeutung für die Frauen und Mädchen. Diese Arbeiten gaben den Frauen die Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen, ihre Familien mit Kleidung zu versorgen und die Wohnung mit textilen Gegenständen zu gestalten. Preiswerte Massenproduktion von Kleidung gibt es erst seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Kleidung hatte bis dahin einen hohen Wert und Beschädigtes musste ausgebessert werden. Auf die Vermittlung dieser Technik kam es beim Handarbeitsunterricht in erster Linie an. -8- Insgesamt sollte die Bildung der Mädchen im 19 Jh. Herz und Verstand umfassen. Die Schulzeit sollte eine Erziehung für das Leben sein, wobei darunter die Vorbereitung der Mädchen auf ihre zukünftige Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter zu verstehen war. Die Ausbildung an der höheren Töchterschule sollte sie dazu befähigen, ihrem Ehemann eine angenehme Gesprächspartnerin zu sein, ihren Kindern bei der Schulbildung unterstützend zur Seite zu stehen und einen bürgerlichen Haushalt leiten zu können. Handarbeit ist ein Fach, das in den Schulen nur für Mädchen gelehrt wurde. Die Schule war der Ansicht, dass „in der Fähigkeit und Gewandtheit für die Hausarbeit ein wesentliches Stück der Berufsausbildung der Frau, ein wichtiges Mittel zur Erhaltung eines rechtlichen, ordentlichen Hauswesens“ liege. Handarbeit wurde als eine typische weibliche Arbeit dargestellt. Erst seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts geht es im Handarbeitsunterricht der Schulen, dem Textilen Gestalten darum, Mädchen und auch Jungen in freier Entfaltung und Gestaltung zu schöpferischer Arbeit anzuhalten. Heute wird Handarbeitsunterricht nicht mehr geschlechtsspezifisch erteilt, wenn das Fach noch auf dem Stundenplan steht. Mustertuch Marlies Münster 1948 -9- Mädchenbildung im Kaiserreich Schon in der Mitte des 19. Jh. nimmt die bürgerliche Frauenbewegung den Kampf um Mädchenbildung und Frauenstudium auf, indem sie immer wieder Eingaben an die Unterrichtsministerien und den Reichstag macht. Damit wird die öffentliche Diskussion über dieses Thema ins Rollen gebracht. Frauen wie Helene Lange denken an eine den Mädchen angemessene Ausbildung, die ihren „spezifischen Qualitäten“ Rechnung tragen soll. Ein weiteres Betätigungsfeld ist die Entwicklung von qualifizierten, frauentypischen Ausbildungsgängen in den Bereichen Sozialpädagogik, Erziehung und Pflege. Das Regiment des Rohrstocks Zwischen 1890 und 1930 entwickelt die sogenannte Reformpädagogik neue Ideen, wie Erziehung kind- und menschengerechter werden könne. An die Stelle von Unterordnung und Disziplin setzt sie das Prinzip der Erziehung zur Selbständigkeit und freien Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit. Aber wie sieht es in der Realität oft aus? Wenn ein Schüler einen Satz nicht lesen kann, wird er am Hals gewürgt, mit dem Kopf gegen die Tafel gestoßen oder mit dem Rohrstock bestraft. Hier werden die Mädchen gleich behandelt; auch sie bekommen den Rohrstock zu spüren. Den höheren Töchtern aus dem Bürgertum werden bessere Bildungschancen gegeben. Klavierspielen, Tanzunterricht, Unterweisung in Religion, Handarbeiten, Aneignung von Sprachkenntnissen (vor allem in engl. u. franz. Sprache), Literatur, Geschichte, Anstandsunterricht ('Salonfertigkeiten') und Haushaltsführung stehen auf dem Stundenplan. Vom Unterricht in Rechnen und Geographie können die Mädchen durchaus befreit werden! Diese Pseudobildung verspricht bessere Heiratschancen und hat wenig mit Selbstverwirklichung zu tun. Kein Studium für Mädchen So ermöglicht das aufkommende Bürgertum in vielen Fällen den Mädchen zwar den Unterricht an höheren Töchterschulen mit typisch weiblichen Fächern, doch die Mädchen dürfen in dieser Zeit weder das Gymnasium besuchen noch studieren. Verheiratete Frauen haben die Aufgabe, das Heim zu schmücken und es ihrem Mann gemütlich zu machen mit dem Resultat, dass es von Deckchen in so manchem Bürgerhaus überfloss. - 10 - „Es floss über von Deckchen!“ Für die Mehrzahl der Mädchen sieht die Realität nach Beendigung der Elementarbildung jedoch anders aus. Sie arbeiten als unterbezahlte Heimarbeiterinnen oder auch in schlecht gelüfteten Fabrikräumen bis zu 18 Stunden täglich. „Der Kaiser ist ein lieber Mann...“ In der Chronik der Töchterschule zu Schwerte lesen wir: „Kam dann Kaisers Geburtstag oder der den Kindern ebenso wichtige Geburtstag der Lehrerin, so zog die ganze Schar fröhlich in den Besuch des Kaiserpaares auf der Hohensyburg 1908 Schwerter Wald, band Kränze und Girlanden und schmückte damit die Schulstube, nachdem dieselbe von den größeren Schülerinnen sorgfältig gescheuert worden war, während die kleineren diensteifrig jeden Stuhl zur Säuberung in den nahe gelegenen Spring getaucht hatten. Danach erhielt die Kaiserbüste einen frischen Lorbeerkranz und fröhlich wurde das Fest gefeiert.“ - 11 - „Damals bestand eine kleine Elementarschule, an der zwei Lehrer unterrichteten. Eine Privatschule für die Knaben wurde eingerichtet, die unter der Leitung eines vorzüglichen Pädagogen , des Herrn Pastor Schütte, einen guten Ruf erlangte und auch von den auswärtigen Schülern be-sucht wurde. Für die höhere Ausbildung der Mädchen bestand eine Strickschule, in der, unter Tante Julchens Leitung, die kleinen Mädchen in die Geheimnisse des Strickens und Nähens eingeführt wurden. Da regte sich in den herzen einiger Väter und Mütter der bessersituierten Kreise der Wunsch, ihren Töchtern eine über das Ziel der Elementarschule hinausgehende Bildung zu geben, sei es, dass auch die Frau zur Erfüllung ihrer späteren Pflichten der Ausbildung ihrer geistigen Kräfte bedarf und dass auch für sie das Leben reicher wird in dem Maße, wie ihr Verständnis für alle Erscheinungen des Lebens wächst, oder war es nur der Gedanke, dass ein Mädchen der besseren Gesellschaft ein wenig Französisch können müsse – es wurde eine Privatmädchenschule gegründet. Am 8. März forderte der damalige Bürgermeister der Stadt, Herr Mitsdörffer diejenigen Eltern, die sich für die Dauer eines Jahres verpflichteten, einen Beitrag von 12 Reichstalern pro Kind zu leisten, auf, ein entsprechendes Rundschreiben zu unterzeichenen. Als erforderlich zur Gründung wurde eine Zeichnung von 240 Reichstalern erachtet. Man brachte auch wirklich das Geld zusammen, und der Bürgermeister erließ eine Zeitungsannonce, in der eine Lehrerin für eine Stadt an der Ruhr gesucht wurde. Es meldete sich Fräulein Luise Lohde aus Mörs, die ihre Ausbildung an der städtischen höheren Mädchenschule in Berlin genossen hatte. Am 27.3.1857 kam ein Vertrag mit der Dame zustande. Zur Aufnahme genügte laut Beschluß des Schulvorstandes vom 23.6.1857 Reife der Elementarschule oder Bestehen einer besonderen Prüfung, bei der entsprechende Kenntnisse gefordert wurden. ...“ - 12 - Erinnerungen: Strickstunden bei „Tante Söffken“, Erica Reinhardt, 1. Reihe 2. von rechts „Mitberufen ist die Frau zur Gestaltung des öffentlichen Lebens auf allen Gebieten. In dieser Betätigung all ihrer Kräfte, zur Entwicklung aller in ihr liegenden Möglichkeiten bedarf die Frau eines starken Rüstzeuges, einer Ausrüstung, wie die höhere Schule sie ihr in besonderem Maße geben kann. Längst betrachtet man in unserer Stadt die höhere Mädchenschule nicht mehr als überflüssige Einrichtung, als Ausdruck einer gewissen Elterneitelkeit. In allen Kreisen weiß man den Wert einer guten Schulbildung zu schätzen. ...Mögen hochgemute Frauen aus der Schule hervorgehen, gesund und stark an Körper und Geist, reich an selbstloser Liebe, zur Arbeit und zu Opfern für andere bereit.“ Auszug aus dem Glückwunsch von Agnes Tütel, den sie zum 100jährigen Bestehen der Höheren Töchterschule Schwerte 1957 für die Chronik geschrieben hat. - 13 - „Das Ziel der Schule, Persönlichkeiten heranzubilden, bedingt ferner..., das Knaben zu kraftvoller Männlichkeit, die Mädchen zu lebenstüchtiger Weiblichkeit erzogen werden.“ Mädchenbildung in der Weimarer Republik Der Regelfall der Schulbildung in der Weimarer Zeit sieht so aus, dass der größte Teil der Jungen nach der achtjährigen Volksschule eine Ausbildung beginnt, bei den Mädchen ist das nur ein geringer Teil, sie helfen mit im elterlichen Betrieb, auf dem Bauernhof, werden Dienstmädchen, arbeiten als Verkäuferin oder nehmen eine gering bezahlte Angestelltentätigkeit auf. Die Bürokraft entspricht dem Typ der neuen Frau, der propagiert wird: Das Tippfräulein mit adretter Bluse, schickem Bubikopf und Seidenstrümpfen gilt als die Verkörperung der modernen, selbständigen, städtischen Frau schlechthin. Aber die Realität sieht oft anders aus. Nur wenige Mädchen absolvieren wirklich eine Ausbildung, schon gar nicht jene, die auf dem Lande leben. Und eines steht fest: Die bezahlte Tätigkeit soll von einer Frau nur übergangsweise ausgeübt werden, als Warteplatz für die Ehe. Eine verheiratete berufstätige Frau ist in dieser Zeit unstattlich. Die geschlechtsspezifischen Rollenmuster und Rollenerwartungen bleiben trotz der großen politischen Veränderungen – die Einführung des Wahlrechts für Frauen – in der Republik erhalten. - 14 - Aber auch in dieser Zeit gibt es einige wenige Frauen, die studieren und dann auch in der Öffentlichkeit stehen. Sie setzen sich über die Mittelmäßigkeit hinweg. Beispiele für Frauenkarrieren: Als erste Frau Deutschlands wird Gertrud Bäumer (1873 – 1954) Ministerialrätin und betreut im Reichsinnenministerium das Schulreferat. Gertrud Bäumer, die sich intensiv für die Frauenbildung einsetzt, studiert in Berlin, schließt mit der Promotion ab und ist als Lehrerin tätig. Marlene Dietrich (1901-1992) verkündet 1925 in einem Schlager: „Kinder heut´ Abend, da such´ ich mir was aus, einen Mann, einen richtigen Mann. Wie er aussieht, mir egal, irgendeinen trifft die Wahl...“ Marlene Dietrich, Darstellerin der weiblichen Hauptrolle in „Die fesche Lola“ wird fast über Nacht zum Star. Clara Zetkin, (1857-1933) Vorkämpferin der Sozialistinnen, besucht in Leipzig das Lehrerinnenseminar und schließt sich als 21-jährige der Sozialdemokratie an. 1889 referiert die bereits erprobte Klassenkämpferin auf dem Gründungskongress der II. Internationale über die Organisierung der proletarischen Frauenbewegung, deren Begründerin und Führerin sie ist. Unter ihrer Redaktion (1892-1917) wird die sozialistische Frauenzeitung 'Die Gleichheit' zu einem bedeutenden marxistischen Organ. - 15 - Weimarer Republik: Geschichte zum „Begreifen“ Die Geschichte der Verlobungsdecke Frau Lohmann erzählt: „Meine Großmutter war eine sehr strenge Frau mit hohen moralischen Ansprüchen. Wenn mein Vater und meine Mutter sich in der Verlobungszeit trafen, durften sie nicht einfach nur so zusammen sein. Sie mussten diese Zeit sinnvoll nutzen. Mein Vater zog die Fäden für den Hohlsaum aus dem Stoff, meine Mutter arbeitete den Hohlsaum und nähte die Spitze an. Diese „Verlobungsdecke“ ist für mich ein wichtiges Erinnerungsstück“. Erica Reinhardt mit selbst bestickter Bluse 1928 (Mutter von Ruth Lohmann) Die „Verlobungsdecke“ - 16 - Lebenslauf von Erica Börstinghaus geb. Reinhardt - 17 - Mädchenbildung im Nationalsozialismus Es herrschte ein Rollenverständnis, das von der Vorherrschaft des Mannes über die Frau ausging und den weiblichen Lebensbereich vor allem auf Kinder und Haushalt eingrenzte. Allein in der Mutterrolle sollte die Frau die persönliche Erfüllung und gesellschaftliche Anerkennung bekommen. Zwei Institutionen fiel diese Art von „Erziehungsarbeit“ an der Jugend zu: der Schule und der Hitlerjugend. Den Mädchen sollte die Schule „eindeutig die Bildung zur kommenden Mutter“ vermitteln. Nach den Richtlinien für Volksschulen war der Lehrplan so zu gestalten, dass die Mädchen vor allem „auf ihre spätere Aufgabe als Hausfrau und Mutter“ vorbereitet werden würden. Bei dieser Erziehung sei - das Hauptgewicht auf die körperliche Ertüchtigung zu legen, - erst dann auf die Förderung der seelischen und zuletzt auf - die Förderung der geistigen Werte. Die Mittelschulen führten für weibliche Klassen Hauswirtschaftslehre, verbunden mit einem Unterricht in Säuglingsund Kinderpflege, als Pflichtfach ein. An höheren Schulen konnten Mädchen den Abschluss nur dann machen, wenn sie dabei den Nachweis von „hausfraulichen Kenntnissen“ erbrachten. 1937 wurde die gymnasiale Ausbildung für Mädchen abgeschafft. Andere Oberschultypen standen der weiblichen Jugend zwar noch offen, doch mussten dort zusätzliche Fächer des Frauenschaffens - 18 - (Handarbeit, Kinderpflege, Hauswirtschaft) besucht werden. Reine Mädchenoberschulen führten einen eigenen „hauswirtschaftlichen“ Zweig, für dessen Abschluss der Volksmund den Namen „Puddingabitur“ prägte. Hausfrauen wurden geschult: billig zu kochen, Reste zu verwerten, sich schlicht und preiswert zu kleiden, Haushaltsgegenstände oder Kleinmöbel selbst herzustellen, Altmaterial wiederzuverwerten. - 19 - „Das Ziel der weiblichen Erziehung hat unverrückbar die kommende Mutter zu sein!“ Reichsbildungsminister Rust 1938 Unterhemd, das von E. Mundt ca. 1940 gestrickt worden ist. (Die Träger wurden später abgetrennt und anderweitig verwertet) - 20 - Eine Anstecknadel, die ca. 1940 für das Winterhilfswerk gearbeitet worden ist, wurde später umhäkelt und somit zum Deckchen umfunktioniert. Leibchen, an dem Strumpfbänder befestigt wurden, nachgearbeitet von Frau Wilkes, gearbeitet ursprünglich von ihr1943 in der 4. Volksschulklasse - 21 - Mädchenbildung in der Nachkriegszeit Nach dem Krieg sind sich alle einig: Die deutsche Schule und ihre Erziehungsziele sollen gründlich reformiert werden. Aber die Schüler und Schülerinnen der Nachkriegszeit plagen andere Probleme. Es fehlt an Heizmaterial, an Schulmöbeln, an Büchern und an Schreibwaren. Wie in vielen anderen Städten wurde auch in Schwerte das Mädchenlyzeum zerstört. Klasse Inge Voll, geb. Hövelmann (ganz hinten in der Ecke) erstes Nachkriegsabitur 1947 in Schwerte „Wissen bedeutet nach wie vor Verlust der Weiblichkeit“. Auch wenn den Mädchen der Zugang zum Gymnasium nun nicht mehr verwehrt wird, fangen die meisten doch nichts mit ihrem Abitur an. „Du heiratest ja sowieso,“ der alte Spruch gilt immer noch. Viele heiraten tatsächlich recht schnell nach ihrem Abitur. Es hat demnach keinen Sinn in die Mädchenbildung, sprich in eine weitere gute Weiterbildung, die den Mädchen Unabhängigkeit ermöglichen könnte, zu investieren. Somit orientieren sich Lehrinhalte und –ziele der Mädchenerziehung weiterhin an der Rolle der zukünftigen Hausfrau und Mutter. Bis in die 70er Jahre werden spezielle Unterrichtsfächer für Mädchen beibehalten und die Hinwendung zu traditionellen Berufen in Bildung, Erziehung, Pflege und Hauswirtschaft gefördert. - 22 - Demgemäss sind in fast allen Schulformen die speziellen Mädchenfächer wie Nadelarbeit und Hauswirtschaft vertreten, um die „Freude am hauswirtschaftlichen Tun, sowie die Erhaltung der Bereitschaft zu hauswirtschaftlicher und hausmütterlicher Arbeit ... zu wecken“. Eine Besonderheit stellt der Abschluss der bereits 1932 begründeten Frauenoberschule dar: das sogenannte „Puddingabitur“. Nach 1945 wird dieser Zweig der Mädchengymnasien in NRW wieder eingeführt. Mit der Umstrukturierung des Bildungswesens in den 70er Jahren endet diese typisch weibliche Erziehungsrichtung. Gepaukt wird in den fünfziger und sechziger Jahren eine ganze Menge. Erziehung zum selbständigen Denken steht jedoch noch nicht auf dem Lehrplan. Der Umbruch zur Förderung der Gleichberechtigung der Mädchen setzt erst in den 70er Jahren ein. In den 50er Jahren wird zwar auch das Erlernen eines Berufes akzeptiert, in der Regel aber nur als vorübergehende Erwerbsmöglichkeit bis zur Verheiratung gesehen. Bei der Mehrzahl der Mädchen endet der Bildungsweg mit dem Volksschulabschluss. 1957 haben fast 20 % aller weiblichen Schulabgängerinnen einen Realschulabschluss und 3,8 % machen das Abitur. Nur die Hälfte dieser Mädchen erhalten eine Berufsausbildung. Die beliebtesten Berufe für die Volksschulabgängerinnen sind die der Verkäuferin, Arzthelferin, Schneiderin, Friseuse und Büroangestellten. Meist befürworten die Eltern nach der Volksschule eine Ausbildung an einer Hauswirtschafts- oder Frauenfachschule. Für die Abiturientinnen steht der Beruf der Lehrerin an erster Stelle. Minnimode schockt Spießbürger Gegen den Wertekanon der Elterngeneration wird in den 60er Jahren Kleidung zum Zeichen jugendlichen Protests. Die Jugendlichen wollen gegen die bürgerlichen Tugenden Ordnung, Fleiß und Sauberkeit aufbegehren. Mit Jeans und Minirock werden die Eltern geschockt. Dieser Protest gegen das Spießbürgertum hat den Weg für neue Bildungsreformen vorbereitet. - 23 - Nachkriegszeit: Geschichte zum „Begreifen“ Schulutensilien der 50er Jahre Aus der Mustermappe von Ilse Kelsch, 50er Jahre - 24 - Auch in den 60er und 70er Jahren sind „Musterarbeiten“ Bestandteil des Unterrichts Webprobe 1959 Volksschule Garenfeld Stickübung 1964 Ulrike Berkenhoff Marienkäfer als Nadelkissen und „Wolllaufsack“ Ulrike Müller Bittner 1970 - 25 - Von der privaten höheren Töchterschule zum städtischen Ruhrtalgymnasium für Mädchen und Jungen in Schwerte Das alte Lyzeum am Mühlenstrang um 1940 1857 – 1896 Anfänge als private höhere Töchterschule: 16 Schülerinnen mit Elementarschulreife werden 1857 eingeschult. Jede Schülerin muss ihren eigenen Stuhl mitbringen (bis 1888). Der Unterricht erfolgt in Privaträumen. 1885 kann die erste Turnstunde trotz Widerstände durchgesetzt werden. Agnes Tütel wird 1883 eingestellt und übernimmt im gleichen Jahr die Schulleitung. Ziel des Schulkuratoriums: Auch den Töchtern der Stadt soll eine über den Elementarunterricht hinausgehende Ausbildung gegeben werden. 1896 – 1921 Städtische höhere Mädchenschule: Der Durchbruch der höheren Mädchenbildung – auch in Schwerte. Die alte Rektoratsschule der Jungen an der Ostenstraße wird 1902 zur 1. Mädchenschule umgewandelt. 1908 erfolgt durch ministeriale Bestimmungen in Preußen die Angleichung der Mädchenbildung an die höhere - 26 - Knabenbildung. 1912 gehen 129 Schülerinnen auf diese Schule. In Berlin wird 1896 die erste Reifeprüfung im Kaiserreich von einem Mädchen abgelegt. 1921 – 1938 Das Lyzeum: Die höhere Töchterschule wird nur dann als 6-klassiges Lyzeum anerkannt, wenn ein akademisch gebildeter Lehrer zum Leiter ernannt wird. Agnes Tütel, ohne akademische Bildung, kann nicht mehr Rektorin, sondern nur noch als Lehrerin tätig sein. 1938 – 1945 Städtische Oberschule für Mädchen: 1938 erfolgt eine Verkürzung der Gymnasialzeit „aus wichtigen bevölkerungspolitischen Gründen“ auf 8 Jahre. Dies bedeutet eine Rückwärtsentwicklung gegenüber dem, was gerade erst erreicht worden ist. „Das Ziel der weiblichen Erziehung hat unverrückbar die kommende Mutter zu sein.“ Der Erlass zielt auf eine Verbannung der Frau aus höherer Bildung, die Städtische Oberschule für Mädchen wird zur fünfjährigen „Zubringeschule“ für die Oberschule degradiert. 1946 – 1971 Neusprachliches Mädchengymnasium: Der Unterricht findet bis zur Einweihung des Neubaus 1952 in wechselnden Schwerter Schulgebäuden - sogar mit Schichtunterricht am Nachmittag - statt. 1949 erfolgt die Anerkennung als vollausgebautes 9-klassiges Mädchengymnasium durch das Kultusministerium. ab 1971 Städtisches Ruhrtalgymnasium für Mädchen und Jungen: Koedukation ist die neue Erziehungsrichtung. Ab 1972 erfolgt die Oberstufenreform. Der Klassenverband wird zugunsten eines Kurssystems aufgegeben. Leistungskurse werden eingerichtet und eigenverantwortliches Lernen ist gefragt. Das „RTG“ - 27 - Handarbeit in den Richtlinien und Lehrplänen Von der Nadelarbeit zum Textilunterricht Mustertücher erzählen Mädchengeschichte (1872) Richtlinien, Lehrpläne, Didaktik oder Methodik? Um 1900 spielen diese Aspekte des Unterrichts noch gar keine Rolle. Durch einfaches Vormachen und Nachmachen werden die wichtigsten Techniken vermittelt. Der verpflichtende Handarbeitsunterricht für Mädchen an allgemeinen Schulen in Preußen – und damit auch in Schwerte – wird erst 1872 eingeführt. Der Stoff für den Unterricht ist aus dem Lebenskreis der Mädchen zu nehmen, praktische Dinge – auch im Hinblick auf die Aussteuer - haben den Vorrang. „Der Unterricht beschränkt sich auf Stricken, Nähen, Flicken, Stopfen, Wäschezeichnen und Wäschezuschneiden“ heißt es in den Lehrplänen von 1890. “Die ersten Übungen im Stricken werden an einem Musterlappen... Das Zeichnen der Wäsche wird an einem Zeichentuche... Das Nähen aller Nähte wird an einem Probetuche... vorgenommen“ Die Schülerinnen müssen in vier von sechs „Handarbeitsschuljahren“ Mustertücher anfertigen. Mustertuch Helene Böhmer, 1891 Nadelarbeit als erzieherischer Anspruch (1908) Das Fach, das weiterhin nur für Mädchen unterrichtet wird, heißt jetzt Nadelarbeit und bekommt einen erzieherischen Anspruch. Es soll „kein Vormachen und kein Nachmachen“ mehr geben. Die Lehrerin soll als Vermittlerin von Kultur, Schönheit und Anmut das Schöpferische, das Eigene wecken und die Phantasie und Denkkraft anregen. - 28 - Margot Grupe, Die neue Nadelarbeit, 1910 Reformen von 1920 Bis zum 1. Weltkrieg werden weiterhin Mustertücher gestickt. Daneben wird die Anwendung der Arbeitstechniken an praktischen Beispielen gefordert: Schürzen müssen genäht, Wäsche gestopft werden. Auch das Sockenstricken und Topflappenhäkeln wird gelehrt. - 29 - Nützlichkeit und Gebrauchsfertigkeit (1933) Die in der Schule gearbeiteten Gegenstände sollen praktische Verwendung finden. So schreiben es die Lehrpläne ab 1933 vor. „Ein trautes Heim, ein lieber Mann und eine Schar glücklicher Kinder“, das alles entspricht dem Lebensbild der Frau. Ihre Waffe ist der Kochlöffel. Von Politik ist sie ausgesperrt, ihre beginnende Emanzipation ganz aufzuheben misslingt aber. Mädchen werden aus Gymnasien in Hauswirtschafts – Oberschulen gedrängt. Dort können sie das im Volksmund bekannte „Puddingabitur“ ablegen. Schon wieder wird in den Richtlinien für den Handarbeitsunterricht die Nützlichkeit und Gebrauchsfähigkeit der angefertigten Arbeiten gefordert und das Einüben textiler Arbeitstechniken vermittelt und gepflegt. Neue Begründungen für ein altes Fach (1950) In den 50er Jahre steht die Frage: „Welchen Beitrag kann der Textilunterricht, wenn er im Fächerkanon der Schule unter dem Aspekt der Bildung und Erziehung gesehen wird, heute noch leisten?“ im Vordergrund. Neue Begründungen für das Fach werden gesucht. Sowohl die ästhetische Qualität eines Produktes als auch die Materialbeschaffenheit sollen der Schülerin im Unterricht vermittelt werden. Die Umsetzung im Schulalltag lässt aber fast immer auf sich warten. Im Unterricht bleibt es beim beziehungslosen Erlernen textiler Techniken. Nach wie vor werden in erster Linie Topflappen gehäkelt, Socken gestrickt und Schürzen genäht. - 30 - „Textiles Gestalten“ ab 1965 1965 entsteht ein neuer Name für ein altes Fach. Die „Nadelarbeit“ wird durch „Textiles Gestalten“ abgelöst. Die Richtlinien schreiben die Förderung der schöpferischen Begabungen der Schülerinnen vor. Gleichzeitig soll der Unterricht unter Verwendung moderner technischer Hilfsmittel wie die der Nähmaschine, Hilfestellung geben, Kleidung zu gestalten. Die Schülerinnen sollen angeleitet werden, ihre häusliche Umwelt zu gestalten und ihren persönlichen Stil zu finden. „Applikationen“ Die legendäre „Klorollenhülle“ Als Antwort auf das Wirtschaftswunder (es kann alles gekauft werden, Altes wird nicht mehr gebraucht) wendet sich die Didaktik gegen den Geschmacksverfall der Zeit. Bis in die 70er Jahre stehen gesellschaftskritische Aspekte in Wohnung und Kleidung im Vordergrund. In den Lehrplänen wird zudem der kommunikative Unterricht für Jungen und Mädchen gefordert. Halbschürze, Ulrike Berkenhoff 1967 Die Handarbeiten in der Ausstellung zeigen, dass trotz neuer Namensgebung und neuer Lehrpläne auch noch in den 70er Jahren Theorie und Praxis auseinander klaffen. Es blieb alles wir es war. - 31 - Eine Frau, die Schwerter Schulgeschichte schrieb „Unser Streben sei darauf gerichtet, in unseren Schülerinnen das Verständnis dafür zu wecken, daß das Leben jedem Menschen, auch der Frau, eine Aufgabe stellt, zu deren Erfüllung es des heiligen Ernstes, des unermüdlichen Strebens bedarf. Und wenn wir, dem Zuge der Zeit folgend, der geistigen Ausbildung auch der Frau eine so hohe Bedeutung zulegen, so sei es, nicht um Frauenrechtlerinnen, sondern Frauenpflichtlerinnen zu erziehen.“ Agnes Tütel, 1907 „Wie sehr haben sich die Zeiten geändert. Das Recht auf Arbeit und Bildung für die Frauen, um das sie einst so hart gekämpft haben, ist seit langem anerkannt. Heute ist die Frau mitberufen zur Gestaltung des öffentlichen Lebens auf allen Gebieten.“ Agnes Tütel, 1957 - 32 - Name: Tütel, Agnes Geboren: 1865 in Schwerte, Große Marktstr. 4 Elternhaus: Tochter des Sanitätsrats Dr. Tütel, Schwerte Religion: evangelisch Familienstand: ledig (erst 1915 wurde das Zölibat für Lehrerinnen abgeschafft) Schulbesuch: 1873 Einschulung in die Private Höhere TöchterSchule in Schwerte nachdem sie die Sonderprüfung zur Aufnahme bereits im Alter von 8 Jahren erfolgreich bestanden hat Ausbildung: Ablegung des Lehrerinnenexamens in Wuppertal Studium der französischen Sprache in Brüssel (Belgien), gleichzeitig dort Lehrerin für Deutsch Beruf: 2 Jahre Lehrerin an der High School in Ipswich 1893 Leiterin der privaten Höheren Töchterschule Schwerte 1895 Ablegung des Vorsteherinnenexamens 1896 Leiterin der Städtischen Höheren Mädchenschule 1908 Leiterin der Staatlich anerkannten Höheren Mädchenschule in Schwerte 1922 Die Schulleitung übernimmt Herr Dr. Knochendöppel, da Agnes Tütel keine akademische Ausbildung – nur 29 Jahre Erfahrung - hat. A. T. bleibt bis zu ihrer Pensionierung einfache Lehrerin. Soziales Engagement: Leitung des „Roten Kreuz“ und der „Mütterberatung“ in Schwerte zusammen mit Johanna Reifenberg (Jüdin), Organisation der Annahmestelle für „Liebesgut“ zur Truppenverpflegung und für bedürftige Familien im 1. Weltkrieg u.v.m. Gestorben: 1957 in Schwerte, bestattet auf dem evgl. Friedhof - 33 - Christel Münster * 30.11.1936, vierte v. links „Acht Jahre Volksschule sind genug, ich will Frisöse werden.“ Sie ist fast 7 Jahre alt, als sie Ostern 1943 in die Schwerter Feldschule eingeschult wird. Fräulein Hollmann ist ihre erste Lehrerin in einer reinen Mädchenklasse. Unterrichtet werden die Fächer Religion, Rechnen, Schreiben und Lesen. Im 2. Schuljahr kommt Nadelarbeit dazu. Christel ist zwar stolz auf ihr neues Handarbeitskörbchen, doch Handarbeiten ist nicht ihr Ding, das können ihre Schwestern besser. “Ich bin eher handwerklich veranlagt“, meint sie. Trotzdem hat sie gelernt, Strümpfe zu stricken und Topflappen zu häkeln. In der 4. Klasse kann sie eine bestickte Topflappen-Tasche vorweisen. Die ersten beiden Volksschuljahre sind geprägt durch die letzten Kriegsjahre. Krieg bedeutete Fliegeralarm, Tiefflieger, Bombengefahr. „Schon bei Voralarm ließen sie uns aus der Schule nach Hause laufen“, erinnert sie sich. „Wir Kinder aus Schwerte Ost liefen in Richtung Elternhaus bis wir Seitenstiche bekamen“. 1945 wird die Feldschule geschlossen, da es nicht genug Kohle zum Heizen gibt. „Wir wurden auf Schwerter Schulen verteilt und hatten teilweise Nachmittagsunterricht. Die Schulspeisung wurde eingeführt. Einen Nachschlag bekamen nur die, die höchstens 3 Fehler im Diktat hatten. Das tat weh. Hunger hatten alle“; erinnert sie sich. Um 1947 muss es gewesen sein, als Frl. Kampmann einen Probesticklappen auf Schülertuch mit ihrer Klasse arbeiten will. Den Stoff besorgt sie, die Schülerinnen sollen 20 Pfennig für ein „Läppchen“ bezahlen. Christels Mutter weigert sich hartnäckig, für „Unnützes“ so viel Geld auszugeben. Sie will höchstens ein kleines Stück von einem alten Bettlaken herausrücken. Doch Christel kämpft letztendlich erfolgreich um dieses Probestückchen – sie will vor ihren Mitschülerinnen nicht zurückstehen. In der 7. Klasse lernt sie dann das Sockenstricken. Ein Pullover, der zu klein geworden ist, wird aufgeribbelt. Die Mutter wickelt das Garn ganz fest um ein Holzbrettchen, befeuchtet es und lässt es über Nacht am Herd wieder trocknen. So ist die Wolle wieder zu verwerten. Das ist was Sinnvolles und die Mutter unterstützt Christel beim Stricken. Das Käppchen schafft sie nur mit ihrer Hilfe. An das Tragen der Strümpfe hinterher erinnert sie sich mit Grausen: „Sie waren furchtbar kratzig, aber sie waren zumindest warm.“ Und doch spricht Christel Münster von einer sorglosen Kinderzeit in Schwerte Ost, die 1952 mit der Entlassung aus der Feldschule zu Ende ist. - 34 - „Meine Mutter wollte, dass ihre drei Töchter eine ordentliche Ausbildung bekommen." Die Mutter, von Beruf Krankenschwester, will, dass ihre drei Töchter eine ordentliche Ausbildung bekommen. Christels Traumberuf ist es, Frisöse zu werden. Doch Lehrstellen sind Mangelware und so ist sie froh, überhaupt eine Lehrstelle zu bekommen, wenn auch als Wäscherin und Plätterin, was nicht gerade ihr Traumberuf ist. „Es war aber so wichtig für uns, eine Ausbildung machen zu können und auch noch etwas zum Haushalt beizutragen. So mussten auch die Schwestern handfeste Berufe erlernen, durch die die ganze Familie ihren Nutzen haben konnten. Meine Schwestern sind Schneiderin und Steuerangestellte geworden. Beide konnten nachher in der Wäscherei mit Rat und Tat zur Seite stehen.“ Eine eigene Berufsschulklasse gibt es nicht. Christel besucht während ihrer Lehrzeit die Haushaltsklasse der Berufsschule. Zusätzlich bekommt sie Privatunterricht in den berufsspezifischen Fächern durch ihren Lehrherrn, Herrn Schroer. 1959 besteht Christel ihre Gesellenprüfung und im gleichen Jahr macht sie sich in der Wäscherei Schroer selbständig. Sie führt als jüngste Chefin – schließlich ist sie erst 23 Jahre alt – die Wäscherei „Münster und Wiese“. Sie beschäftigt 16 Mitarbeiterinnen und leitet dieses Geschäft zusammen mit ihrer Schwester 33 Jahre lang. Nie wieder will sie zu wenig Geld haben. Die Ausbildung ist die Grundlage dafür. Es stimmt: Eine ordentliche Ausbildung hat sie bekommen! - 35 - Trotz allem: 1. Bürgermeisterin in Schwerte Ursula Sobelat geb. Klanke * 30.10.1937 „Deutsch und Rechnen sind wichtig, alles andere kann man im Leben noch lernen“, an dieses Motto ihrer Lehrer und Lehrerinnen kann sich Ursula Sobelat noch heute gut erinnern. Im Herbst 1943 wird Ursula Klanke in die Volksschule Villigst eingeschult. Unterrichtet werden die Klassen 1 – 4 und 5 – 8 in zwei Klassenräumen von jeweils einem Lehrer. In den Kriegsjahren wird der Unterricht oft wegen Bombenalarm unterbrochen, von April bis September 1945 fällt er ganz aus. Wegen der Entnazifizierung müssen viele Lehrer nach Kriegsende ihren Dienst quittieren und bis zu 180 Schüler werden teilweise von einem Lehrer allein in Villigst unterrichtet. In den Jahren von 47 bis 51 gibt es die Schulspeisung, zunächst Suppen in Pulverform auch Rennfahrersuppe genannt - und ab 48 werden einfache Mahlzeiten für die Schüler in der Schule gekocht. Der Volksschullehrer überredet den Vater, die Tochter auf das Gymnasium zu schicken. Nach erfolgreicher Aufnahmeprüfung in Mathe, Deutsch und Allgemeinwissen besucht sie ab Ostern 1948 die Städtische Oberschule für Mädchen in Schwerte. Von seinem Monatsgehalt in Höhe von 200 Mark muss der Vater allein für seine Tochter 20 Mark Schulgeld bezahlen. 52 Schülerinnen werden in einer Klasse unterrichtet. Da kein eigenes Schulgebäude zur Verfügung steht, werden die Mädchen in den Jahren 48 – 53 zunächst in Räumen der Haselackschule und dann in Wechselschicht mit den Jungen im Friedrich Bährens Gymnasium unterrichtet. Ursula geht als einziges Mädchen aus Villigst in diese Klasse und nimmt täglich den beschwerlichen Schulweg mit dem Fahrrad oder zu Fuß auf sich. Nadelarbeit gehört zum Stundenplan – ein Topflappen wird gehäkelt, auch an Hohlsaum und Kreuzstich kann sie sich erinnern – aber viel Interesse hat das Mädchen nicht an diesem Fach. - 36 - Mathe, Deutsch und Englisch liegen ihr mehr. Sie erinnert sich: „Typisch weibliche Dinge waren nicht mein Ding“. Für 2 kg Altpapier gibt es in Hagen ein neues Heft zu kaufen. Strafarbeiten müssen wegen Papiermangel auf Zeitungsrändern geschrieben werden. Auf dem schlechten Papier läuft die Tinte oft aus und dafür bekommen die Schülerinnen eine schlechte Zensur in „Handschrift“. 1950 wird die Städtische Oberschule für Mädchen, das Lyzeum, Vollanstalt und heißt nun „Städtisches Neusprachliches Mädchengymnasium“. 1952 ist Ursula Klanke 14 Jahre alt und somit nicht mehr schulpflichtig. Sie erinnert sich heute, dass sie in dieser Zeit den Wunsch hat, Lehrerin zu werden. Aber für ihre Mutter, die selbst keine Ausbildung machen konnte, ist es wichtiger, sofort einen Beruf zu erlernen. Eigentlich ist sie traurig, dass sie die Schule verlassen muss, trotzdem ist sie ganz mit der Entscheidung der Eltern einverstanden. Frisöse, wie vom Arbeitsamt vorgeschlagen, möchte sie dennoch nicht werden. Mit viel Glück bekommt sie im Stahlwerk Ergste einen Ausbildungsplatz zum Industriekaufmann und besteht nach zwei Jahren vorzeitig erfolgreich ihren Abschluss. 16 Jahre alt ist Fräulein Klanke als sie ihre Ausbildung beendet. Sie bekommt eine gute Stelle im Rechnungswesen der Firma. „Bildung ist ein Wert an sich.“ sagt Frau Sobelat heute. „Mit 14 wäre ich gern Lehrerin geworden. Wenn ich das Abitur gemacht hätte, hätte ich mit 18 bestimmt einen anderen Berufswunsch gehabt. Aber ich bin mit meiner Ausbildung zufrieden.“ „Wenn meine Eltern es gekonnt hätten, hätten sie mir alles ermöglicht.“ - 37 - „Nur ein Mädchen“ diese Auffassung hat mein Vater nie gehabt Und doch eine typische Mädchenausbildung? Ulrike Berkenhoff, geb. Plätz *01.07.1952 An meinen ersten Schultag in der Schwerter Eintrachtschule erinnere ich mich gerne. Das war 1959. Ich kam in die Klasse meines Großonkels Fritz Lange. Heimatkunde war seine Passion und der erste Schulausflug ging zum damaligen Museumsleiter Spiegel ins Ruhrtalmuseum. Mein Großonkel war mein Vorbild. Ich wollte deshalb auch Lehrerin werden und wie er Heimatkunde unterrichten. Neben den üblichen Fächern hatten wir auch Nadelarbeit. Ich hätte auch gerne am Werkunterricht der Jungen teilgenommen, statt dessen mussten wir Topflappen häkeln. Für Mädchen gehörte sich das so. - 38 - Nach dem 4. Schuljahr ging ich zum Neusprachlichen Mädchengymnasium, das ich leider nach der Quarta verlassen habe. In diesen drei Jahren hatte ich Handarbeitsunterricht bei Fr. Erdmann und ich nähte und strickte das erste Paar Socken mit Hilfe meiner Mutter. Die damals überall beliebte Halbschürze habe ich mit Eifer genäht. „Das hat mir Spaß gemacht, und ich wollte auch gerne gute Noten bekommen.“ Ich erinnere mich, dass wir in der Volksschule bei Frau Wendt einen Pullover mit Lochmuster gehäkelt haben. Während meiner Volksschulzeit wurde das 9. Pflichtschuljahr eingeführt. Unsere Klasse wurde nach Mädchen und Jungen aufgeteilt und das bedeutete schon wieder Kochen und Handarbeit für die Mädchen und Werken für die Jungen. Das Handarbeiten machte mir zwar Spaß, aber ich hätte auch gerne Werkunterricht gehabt. Aus der Mustermappe: „Versäuberung von Nähten“ Ulrike Berkenhoff 1967 Nach Beendigung der Volksschule ging ich in die 2jährige Hauswirtschaftliche Berufsfachschule „Am Stadtpark“ in Schwerte, mit dem Ziel, später Erzieherin oder Kindergärtnerin zu werden. Hier wurde aber nicht nur Kochen und Handarbeit unterrichtet – in den Jahren 1967 – 1969 entstand übrigens meine Mustermappe – sondern auch Englisch, Algebra und Deutsch standen auf dem Lehrplan. Meine damalige Deutschlehrerin, Frau Steinkamp, unterstützte mit ihrem für mich faszinierenden Deutschunterricht mein Interesse an Literatur. Eine Leseratte war ich schon immer gewesen und so wurde der Beruf der Buchhändlerin für mich immer interessanter. Nach Beendigung der Hauswirtschaftsschule machte ich dann eine Lehre. Ich habe nie den Eindruck gehabt, dass meine Eltern mich „mädchentypisch“ erzogen haben. Für meine Berufsausbildung durfte ich mich frei entscheiden und ich bin noch heute von der Richtigkeit meiner Berufswahl überzeugt. - 39 - Mustertücher – Merkzettel für Generationen „Exemplum“ (= das Beispiel) heißt das lateinische Wort für „Mustertuch“ und genau darum ging es bei der Herstellung von Mustertüchern. Sie dienten als Übung für die einzelnen Stiche oder Nähte und wurden als „Merkzettel“ von der Mutter auf die Tochter vererbt. In jeder Generation kamen neue Stücke hinzu, die als Stick- und Nähvorlagen eine wichtige Rolle spielten. Dabei wurden Muster auch schon mal ausgetauscht wie Kochrezepte. Mustertücher waren aber auch Übungstücher, die der einfachen Bevölkerung, die nicht lesen und schreiben konnte, half, Buchstaben zu identifizieren. Viele Mustertücher wurden von sehr jungen Mädchen im Alter zwischen sechs und vierzehn Jahren als Erstlingswerke gearbeitet. Die Arbeiten waren von erstaunlich hoher Qualität. Mustertücher lagen auch nicht in der Schublade. Als Aushängeschild zeigten sie den Fleiß und die Ausdauer der Stickerin. So wurden die Tücher in der guten Stube aufgehängt und spielten bei der Brautwerbung eine große Rolle. Der Heiratskandidat erhielt so „Aufschluß über die Nadelfähigkeit des Fräuleins“. Nach 1920 verdrängten Reformen diese seit dem 16. Jahrhundert notwendige Handarbeit. Bis dahin gehörten Mustertücher auch zum ständigen Bestandteil des Handarbeitsunterrichts. De Uutstüür - die gute Sparkasse „Ein ordentliches Mädchen beginnt nach der Entlassung aus der Schule damit, für seine Aussteuer zu sorgen. Es spart Geld für Stoffe und näht alles selbst. Das ist eine gute Sparkasse“, so heißt es 1909 im praktischen Leitfaden für Jungfrauen als „Wegweiser zum häuslichen Glück“. So fertigen bis zum Ende des 19. Jh. die meisten Frauen ihre Aussteuerwäsche selbst an. Alles wird mit dem Monogramm oder mit dem ganzen Namenszug der Besitzerin gekennzeichnet. Noch bis 1958 finden sich Vorschriften im Bürgerlichen Gesetzbuch, die den Vater verpflichten, der Tochter im Falle einer Heirat, eine seinem Vermögen entsprechende Aussteuer mitzugeben. Unterschiedliche Monogramme, die nachträglich zu einem Deckchen zusammengearbeitet worden sind - 40 - Stickereien im Haushalt – Lebensweisheiten auf Stoff Durch die Industrialisierung gewann die Hausfrau freie Zeit. So beschränkte sie ihre Stickerei nicht mehr auf die Aussteuer, sondern sie schmückte das Haus mit besticktem Zierrat aller Art. Sehr beliebt waren Tücher, auf denen mit großen gestickten Lettern fromme Sprüche, Ermahnung und küchenpsychologische Weisheiten standen. Der Hausfrau Beruf, zu dem Gott sie erschuf, ist, in dem Hause still zu walten, mit Fleiß die Ordnung zu erhalten. Das Sticken von Sprüchen hatte seine Blütezeit von 1870 bis 1930. Die Sprüche hatten außer der Schmuckfunktion den Sinn, ein immer ins Auge fallender moralischer Appell zu sein. So sind häufig Bibelzitate, Dichterworte und Glaubenssätze gestickt. Hierin spiegelt sich der von der Gesellschaft geforderte Tugendkatalog, dem die Frau verpflichtet war, wider. Der beste Schatz für einen Mann ist eine Frau, die kochen kann! Kochst Du gut zu Haus, geht Dein Mann nicht aus. Die Küche ist die schönste Zier des ganzen Hauses, glaube mir! Der bürgerliche Haushalt hatte - anders als heute - Personal, so dass die Hausfrau von der täglichen Hausarbeit entlastet war und relativ viel freie Zeit für Handarbeiten hatte. Was für die Damen der feinen Gesellschaft aber reiner Schmuck war, hatte für die Bauersfrauen bzw. Arbeiterfrauen praktische Funktionen: Bügelbrettbezüge, Wandschoner hinter dem Herd, ein Überhandtuch oder Abdecktücher für den Wäschekorb waren nützlich im Haushalt, denn sie schonten Möbel und Geräte. Heute stellen diese Stickereien ein kulturgeschichtliches Dokument dar, das Aufschluss gibt über eine von der Emanzipationsbewegung leidenschaftlich bekämpfte, dienende Rolle der Frau, besonders über ihre Beziehung zu den Bereichen Kinder, Küche und Kirche - 41 - „Schulmädchen Report“ „Ich erinnere mich genau an den Handarbeitsunterricht im 2. Schuljahr, in dem uns unsere Lehrerin das Stricken einer kleinen Mütze beibrachte, als Einstieg zum Stricken von der Ferse von Strümpfen. Das weiße Mützchen war nach Fertigstellung an einigen Stellen schwarz. Von diesem Unterricht profitierte ich nach dem Krieg, als ich aus Wollresten jede Menge Strümpfe strickte.“ Diethild Dudek, Oberschichtmeisterin „Meine Mutter konnte mir beim Fersenstricken von Socken leider nicht helfen. Warum? Sie war Linkshänderin. Trotzdem bekam ich ein „Sehr Gut“ in Handarbeit.“ Ulla Beyer-Feldmann, Arbeitskreis Schwerter Frauengeschichte(n) „Handarbeiten war nicht mein Fall. Weihnachtgeschenke, z. B. Topflappen wurden ganz oft erst nach der Bescherung fertig. Meine älteste Schwester hat mir meistens geholfen.“ Lore Seifert, Gründungsmitglied des 1. Schwerter Beginenhofes „Das Fach Handarbeit hat mich 9 Jahre auf dem Gymnasium begleitet. Manchmal war ich mit Lust dabei, öfters packte mich jedoch der Frust, wenn ich z. B. ein Herren – Nachthemd im GeishaSchnitt anfertigen musste. Wer von uns würde je in seinem Leben den evtl. späteren Ehemann mit so einem maßgeschneiderten Nachtgewand überraschen wollen?“ Ilse Kelsch, Hausfrau - 42 - „Ich musste während des Handarbeitsunterrichts in den 60er Jahren eine Schürze nähen, die ich dann beim Kochunterricht tragen musste. Außerdem habe ich zwei Kopfkissenbezüge für die Aussteuer genäht, in denen die Knopflöcher mit der Hand eingearbeitet werden mussten.“ Christel Seiffert, Arbeitskreis Schwerter Frauengeschichte(n) „Handarbeit habe ich gemocht, besonders Kreuzstich und Hohlsaum. Zur Schule gegangen bin ich in eine katholische Mädchenschule und ich bin immer gern ein Mädchen gewesen. Besonders gut erinnern kann ich mich an eine selbst gewebte und gefütterte Tasche, die ich mit 12 Jahren gearbeitet habe. Bis zu meinem 20 Lebensjahr habe ich sie voller Stolz getragen, obwohl Fransenledertaschen damals „in“ waren.“ Angelika Holz, Floristin „Ich hatte nie viel Interesse am Handarbeitsunterricht. Mathe, Deutsch und Englisch lagen mir mehr.“ Ursula Sobelat, ehem. Bürgermeisterin von Schwerte „Obwohl ich schon eine Ausbildung zur Apothekenhelferin und zur Sekretärin gemacht hatte, habe ich mit 40 Jahren noch die Frauenfachschule besucht. Ich wollte in der Erwachsenenbildung tätig sein und so war dieser Schulabschluss für mich eine wichtige Voraussetzung. Den Handarbeitsunterricht fand ich in dieser Zeit sehr gut. Keiner wollte mir was, ich lernte für mich selbst.“ Ursula Ackermann 1. Vorsitzende im Hausfrauenbund - 43 - „Mit 12 Jahren (Quinta 1952) mussten wir ein Babyhemdchen nähen. Ich erinnere mich – wir hatten sehr viel Spaß dabei.“ Anneliese Lohmann Arbeitskreis Schwerter Frauengeschichte(n) „Handarbeit war nicht meine Stärke. Heute ändere ich im Freundeskreis Hosen und Röcke.“ Christel Münster Arbeitskreis Schwerter Frauengeschichte(n) „Unsere Lehrerin Frl. Kampmann fand an meiner gestickten Handarbeitstasche eine Naht nicht ordentlich genug. Ich sollte sie wieder auftrennen. Dazu hatte ich aber keine Lust und stellte mich dumm. Die Handarbeit schummelte ich, so wie sie war, wieder unter die fertigen Arbeiten meiner Mitschülerinnen. Trotzdem bekam ich eine gute Note.“ Elisabeth Karthaus Lehrerin „Frau Rother war eine sehr praktische Frau. Ihre handarbeitlichen Fähigkeiten sind ihr bei ihrer langjährigen Arbeit in der Frauenhilfe und besonders bei den Basaren immer zu Gute gekommen.“ (Gudrun) Susanne Rother, verstorben 2004 ehem. 1. Vors. der Frauenhilfe, „Grüne Dame“ - 44 - „Mein Handarbeitsunterricht fiel in die Zeit des 2. Weltkrieges. Es wurden nur nützliche Dinge wie Strümpfe, Mützen und Schals gearbeitet. Ich habe in meiner Freizeit immer gern gehandarbeitet. Meine Socken und Handschuhe sind noch heute in der Familie beliebt.“ Gudrun Nawothnig, Arbeitskreis Schwerter Frauengeschichte(n) „In der Schule war ich für ein Mädchen immer zu frech. Mit den Handarbeitslehrerinnen stand ich besonders auf Kriegsfuß. Deshalb hatte ich in diesem Fach vergleichsweise schlechtere Noten. Dabei bin ich, was Handarbeiten jeglicher Art betrifft, wirklich nicht ungeschickt." Gabriele Kruse Verantwortl. Online Redakteurin des Citynetzes Schwerte „Statt Frottestoff - wie von der Lehrerin vorgegeben - habe ich Karostoff für den Unterricht mitgebracht. Erst habe ich mich nicht getraut, den Karostoff herauszuholen. Doch die Lehrerin, die in dieser Stunde eine Lehrprobe hatte, wurde gelobt, weil unterschiedliche Stoffe bearbeitet wurden. In den ersten 3 Wochen meinte mein Lehrer, Mädchen hätten nichts auf dem Gymnasium zu suchen. Ich dachte: Der spinnt!. Später hat er seine Meinung geändert.“ Heike Hoppe, Autorin „Ergste ist ein Dorf. Die Jungen hatten Werkunterricht und die Mädchen Handarbeit. Das habe ich nie hinterfragt, denn innerhalb der Familie gab es bei uns die gleiche Rollenverteilung und ich fand das zu dem Zeitpunkt auch in Ordnung.“ Christa Grulke, Sekretärin im evgl. Gemeindebüro Ergste - 45 - „Der Handarbeitsunterricht war für mich als Mädchen ein Gräuel: die Hände waren zu klein, die Baumwolle zu kratzig, die Lehrerin war furchtbar streng. Nach dem Krieg musste ich ran. Ich war geschickter und da hat mir Nähen und Stricken viel Spaß gemacht.“ Marlies Wilkes Mitarbeiterin im ökumenischen Altenkreis „Erinnerungen an den Handarbeitunterricht habe ich nicht viel. Ich bin keine besonders begabte „Handarbeiterin“ gewesen. Ich habe einfach immer das getan, was wir mussten. Trotzdem: Später, habe ich gern für meine Kinder genäht.“ Inge Voll ehem. Vorsitzende der Frauenhilfe „Handarbeitsunterricht - das war für mich eine einzige Plagerei mit Häkel-, Strick-, Stopf- und Nähnadeln. Nie wieder!“ Ilka Heiner Chefredakteurin Westfälische Rundschau Schwerte „Handarbeit? Dafür habe ich eine Hand gehabt. Am liebsten habe ich Hohlsaum gearbeitet.“ Irene Jakobs ehemalige Wirtin in Schwerte - 46 - „Am Handarbeitsunterricht habe ich nicht gerne teilgenommen, weil alles nach genauen Vorgaben gearbeitet werden musste. Ich hätte mir gerne einen Stoff oder ein Muster selber ausgesucht. - Die Werkstücke verschwanden, manchmal auch nicht ganz fertig, im Schrank.“ Bärbel Weydringer AK Schwerter Frauengeschichte(n) „Ich habe nicht gerne Handarbeit gehabt, da Frl. Witte, meine Lehrerin, eine Seminarfreundin meiner Mutter war. Später in der Ausbildung habe ich als Wahlfach die „Nadelarbeit“ gewählt. Ruth Lohmann, Volksschullehrerin „Mit 6 Jahren träumte ich bereits davon, mir eigene Pullover zu stricken und Röcke nähen zu können, um schönere Kleidung zu besitzen. Der Handarbeitsunterricht war deshalb Mittel zum Zweck. Ich spürte früh bei mir eine große Geschicklichkeit für die Fächer Handarbeit, Werken und Kunst. Nun konnte ich für meine Familie Geschenke und für mich modische Kleidung und Accessoires herstellen. Ein wichtiger Besitz seit meinem 22. Lebensjahr ist eine elektrische Nähmaschine.“ Elisabeth Stark – Reding, Künstlerin „Ich hatte Angst vor meiner Handarbeitslehrerin, weil sie so streng war, stechende Augen hatte und stechende Nadeln in der Hand.“ Gudrun Bittner Grundschullehrerin - 47 - „Als ungelernte Schülerin konnte ich 4 Tischsets nicht in 2 Tagen besticken - so viel hab ich im Handarbeitsunterricht gelernt. Und meiner Mutter bin ich immer noch für die Nachtschicht dankbar, die zum pünktlichen Abgeben der Hausaufgabe verhalf.“ Anja Stock, Leiterin Stadtbücherei Schwerte „Unsere Handarbeiten in der Schule waren auf die Zukunft gerichtet, als Hausfrau und Mutter zu leben. Wir lernten: Socken stricken und stopfen, mit der Maschine Kopfkissen und Schürzen zu nähen und flicken. Die Möglichkeiten, sich frei zu entfalten, waren gering. Fleiß und ordentliches Arbeiten wurden gut zensiert.“ Emmi Beck ehemalige Kommunalpolitikerin, ehrenamtlich tätig „Nadelarbeit? Note immer: „gut“. Das kann ich nur mit Hilfe meiner Schneidermeisterin war, geschafft haben.“ Mutter, die Marlies Müller Volks-, Haupt- und Gesamtschullehrerin „Handarbeit hat mir gelegen. Ich hätte aber trotzdem viel lieber am Werkunterricht der Jungen teilgenommen.“ Ulrike Berkenhoff Buchhändlerin - 48 - „Mit dem Handarbeitsunterricht verbinde ich eine übergenaue Lehrerin und Dank an meine Mutter für viel Hilfe.“ Marlies Knäpper Hausfrau „Wir mussten so viel unsinnige Sachen arbeiten. Ich erinnere mich genau, dass ich einen Rock aus Gehminderlinnen (fruchtbar knitterig) ganz mit der Hand nähen und auch besticken musste. Das war total unmodern. Ich habe ihn nachher versteckt, damit meine Mutter ja nicht auf die Idee kommen konnte, dass ich ihn tragen sollte. Später in der Studentenzeit habe ich von den erworbenen Grundkenntnissen profitiert. Ich habe mir so manches Teil preiswert arbeiten können.“ Gabriele Breuer, Lehrerin „Ich habe 1942 Abi gemacht, deshalb war meine Schulzeit durch den Krieg geprägt. Handarbeit hat mich immer interessiert. Da ich stets kreativ war, war das nichts Besonderes für mich.“ Margarete Crone ehem. Museumsleiterin „Das Gestalten von Endlosschals, Fingerhandschuhen und Stofflappen fand ich gruselig. Mit 14 machte ich meinen ersten Nähkurs. Danach hat mir die Herstellung von Kleidung viel Spaß gemacht.“ Ulla Hellmann Lehrerin - 49 - Literatur, Auswahl: Aus dem Ruhrtal einst und jetzt, Schwerte, 1. Teil, Meinerzhagen 1982 Die Chronik der Frauen, Annette Kuhn (Hrsg.), Dortmund 1992 Die Chronik der Töchterschule zu Schwerte, 1957 Davidis, H., Der Beruf der Jungfrau, 1886 Ehlers - Hann, Prakt. Lehrkurs für Hausschneiderei und Handarbeiten, Kreuzlingen, ca. 1928 Frauen in der Dortmunder Geschichte, in: Heimat Dortmund 3/97 Frauen mach(t)en Geschichte, Nieders. Kultusministerium, Hannover 1994 Grupe, M. Die neue Nadelarbeit, Berlin, 1910 Herzog, M., Textilunterricht, Baltmannsweiler, 1988 Herzog, M., Textilunterricht in Deutschland, 1994 100 Jahre Höhere Mädchenschule Schwerte (Ruhr), 1857 – 1957 Ross, L., Stickereien aus dem 19. und 20. Jh., Vreden 1986 Schwerte 1397 – 1997, Essen 1997 Schwerter Frauengeschichten, Gleichstellungsstelle (Hrsg.), Schwerte 1997 Westenrieder, N., Deutsche Frauen u. Mädchen, Düsseldorf 1984 Stichwörter aus dem Internet: Nadelarbeit, Mustertücher etc. - 50 - Mädchenbildung, Handarbeit,