Punk und Hardcore

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Punk und Hardcore
Maturaarbeit an der Kantonsschule Solothurn 05/06
Betreuende Lehrperson: Andy David
Punk
und
Hardcore
More than noise
Eine Arbeit von Timo Grossenbacher
4aL
1
Punk und Hardcore: More Than Noise!
(Titelbild: Die Band Stretch Arm Strong fotografiert von www.xembracex.de)
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort __________________________________________ 2
2. Einleitung_________________________________________ 3
3. Watch Out- Punk Is Coming: Die Entstehung des Punk __________ 5
3.1.
Von künstlerischer Avantgarde in den USA... ________________ 5
3.2.
...zur kommerziellen Punkrevolution in England______________ 8
4. Hardcore: Kehrtwende und zugleich Neuanfang _______________ 9
4.1.
Entstehung und Augenfälliges __________________________ 9
4.2.
Hardcore als Reanimationsversuch von Punk ________________ 9
4.3.
Straight Edge _____________________________________ 11
4.4.
Wichtige musikalische Weiterentwicklungen ________________ 12
5. No Gods- No Masters: Ideen, Ideale und Ideologie einer Gegenkultur_ 14
5.1
Globales Weltbild __________________________________ 14
5.1.1. Antikapitalismus und Nonkonformismus ________________ 14
5.1.2. Anarchismus ___________________________________ 16
5.1.3. Pazifismus ____________________________________ 17
5.1.4. Biozentristisches Weltbild __________________________ 18
5.2
Do It Yourself: Das Grundprinzip von Punk und Hardcore _______ 19
5.2.1 Independent Labels_______________________________ 19
5.2.2 Fanzines: Die kommerzielle Presse wohl kaum ____________ 20
5.3
Shows: Die Verschmelzung von Band und Fan _______________ 21
5.4
Last But Not Least: Zum Aussehen von Punks _______________ 21
6. Schlusswort _______________________________________ 22
7. Quellenverzeichnis __________________________________ 23
Anhang A: Bildmaterial _________________________________ 24
Anhang B: Interviewauszüge _____________________________ 30
2
1. Vorwort
Vor ungefähr 4 Jahren bin ich zum ersten Mal mit Punkrock in Berührung
gekommen, und zwar auf dem musikalischen Weg. Gefiel mir zuerst nur die
schnelle und energiegeladene Spielart von Punk, habe ich nach und nach einen
ganzen Komplex an positiven Eigenschaften kennen gelernt. Es sind nicht nur die
starken Emotionen an Shows1, die mich fasziniert haben. Obwohl ich mich nicht
mit allen in dieser Arbeit erwähnten Ideologien identifizieren kann, beeindruckt
mich doch die positive Energie von Punkrock, die unzählige Leute auf der ganzen
Welt motiviert, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und dem Alltag zu trotzen.
Heute kann ich sagen, dass Punk und Hardcore2 zu einem wichtigen Bestandteil
meines Lebens geworden sind. Ich nehme aktiv am Geschehen teil und möchte die
Szene unterstützen - sei es durch Schreiben für diverse Fanzines3, durch Besuchen
und Veranstalten von Shows oder durch das Verfassen dieser Arbeit.
Mit meiner Maturaarbeit über Punk und Hardcore möchte ich dem Leser
möglichst objektive Informationen über eine Subkultur liefern und dadurch
gegebenenfalls mit häufig verbreiteten Vorurteilen aufräumen, Punk aber
keineswegs idealisieren oder neu definieren. Persönlich habe ich sicher profitiert,
bin ich doch durch die Arbeit am Projekt auch um einiges an Erfahrung und
Wissen reicher geworden.
Ich möchte in erster Linie den Leuten danken, die mich unterstützten und diese
Arbeit lesen, meinen Interviewpartnern Liz Nord, Alexandra Wenger vom
Realrocker Fanzine, Russ Rankin von Good Riddance und Only Crime, und
natürlich meinem Schlagzeugmentor und Betreuer Andy David, der mir stets mit
hilfreichen Tipps zur Seite stand.
2. Einleitung
1
Show ist der in der Szene häufig verwendete Begriff für ein Konzert
Hardcore: Weiterentwicklung von Punk, wird in Kapitel 4 erläutert
3
Fanzines sind Kommunikationsmittel innerhalb der Szene, sie werden in Kapitel 5.2.2 erläutert
2
3
punkrock a type of fast, loud, often offensive music that was originally
popular among young people in the late 1970’s.1
Punkrock urspr. abwertende Bezeichnung für grob aggressive und
dilettantisch wirkende Rockmusik [...].2
Punk engl. 1) Mitte der 70er insb. in Grossbrit. aufkommende
Protestbewegung gegen soz. Missstände, [...] Charakteristisch
für die Punks ist ihre provozierende Aufmachung.3
punk
a person who wears punk clothes and likes punk music.4
Punk engl. eigtl. „Abfall, Mist“
[...] Die Punkbewegung stellte sich bewusst als „Abfall“ der
Industriegesellschaft dar und vertrat eine die Zukunftslosigkeit
und die unmittelbare Depression bis hin zum Suizid betonte
Weltanschauung.5
Alle diese Definitionen reichen bei weitem nicht aus, Punk auch nur annähernd zu
beschreiben. Punk entzieht sich schon nur durch sein widersprüchliches Wesen
automatisch jeder engeren Definition; Punk ist nicht etwas mit klar formulierten
Regeln oder Normen, geschweige denn mit einheitlichem Kleidercode oder einem
strikten Musikstil. Punk hat keine Führer oder Vereinsstatuten, lässt sich nicht in
eine politische Ecke treiben oder ideologisch genau definieren. Im Wesen des Punk
liegt die Unvollkommenheit und ständige Transformation, die einander
widersprüchliche Meinungsbildung, die konstante Verweigerung gegenüber
Regeln und Normen.
Was in verruchten Lokalen amerikanischer Grossstädte wie Detroit oder New York
anfing, fasste in England Ende der 70er schnell Fuss. 1977 traten die Sex Pistols
eine Kulturrevolution los, die so ziemlich den ganzen Status Quo in Frage stellte.
Unzählige Jugendliche wurden über Nacht zu Punks, in den Medien gab es nur ein
Thema und die Punkwelle breitete sich auf die ganze Welt aus. In den 80ern kam
eine neue Strömung auf: Hardcore, die Radikalisierung sowohl von Musik als auch
von Ideologie, ein gut gemeinter Reanimationsversuch und schlussendlich doch
1
aus: Cambridge Advanced Learners’s Dictionary (2003), Cambridge University Press: Cambridge UK
aus: Brockhaus-Enzyklopädie in 24 Bänden (19. Auflage 1992), Brockhaus GmbH: Mannheim DE
3
aus: Neues grosses Lexikon in Farbe (1999), Verlag unbekannt
4
aus: Cambridge Advanced Learners’s Dictionary (2003), Cambridge University Press: Cambridge UK
5
aus: Brockhaus-Enzyklopädie in 24 Bänden (19. Auflage 1992), Brockhaus GmbH: Mannheim DE
2
4
eine eigenständige Szene, die mit dem Punk der ersten Stunde nicht mehr viel am
Hut hat. Heute erobern die Poppunker Green Day mit ihrem Rekordalbum
„American Idiot“ sämtliche Charts, in gewissen Ladenketten kann man sich sein
gesamtes Punkoutfit zusammenkaufen und Iggy Pop wird von den Medien lauthals
als der Urvater von Punk gefeiert. Punk ist an seinem 30-jährigen Jubiläum
überall und doch nirgends- oder?
„Punk ist selbst ein Widerspruch in sich: Zugleich totaler Nullpunkt und
ekstatischer Aufbruch, Verneinung aller existierenden Formen und kreative
Explosion.“1
Es ist fast unmöglich, Punk zu definieren oder akribisch genau zu analysieren. Dies
ist aber auch nicht das Ziel dieser Arbeit. Vielmehr möchte ich folgenden Fragen
auf den Grund gehen: „Wie und wieso überhaupt ist Punk entstanden? Was waren
Ideale, wie wurde Punk denn eigentlich gelebt? Was eigentlich ist Hardcore und
inwiefern unterscheidet er sich vom Punk?“ Ich möchte nicht explizit eine einzige
Leitfrage formulieren, vielmehr sollen viele offene Fragen beantwortet und - das
wäre erfreulich - weit verbreitete Vorurteile beseitigt werden. Deshalb könnte man
auch fragen: „Lassen sich diese weit verbreiteten Vorurteile über Punk eigentlich
bestätigen? Was hat es mit Punk und Hardcore in Wirklichkeit auf sich?“
Im dritten Kapitel dieser Arbeit wird die Entstehung von Punk und deren Gründe
sowie Grundsätzliches zur Musik und der frühen Kultur beschrieben. Im Kapitel 4
erläutere ich Grundsätzliches zur Hardcore- Bewegung und deren Auswirkungen
auf die Punkszene. Im Kapitel 5 lege ich Wert darauf, die Ideologie und
Lebensweise von Punks und Hardcore- Anhängern zu erläutern.
Wie der Leser sehen wird, ist die Arbeit von vielen Zitaten gespickt. Da man die
Bedeutung von Punk nicht in einem Lehrbuch nachlesen kann und, wie schon
erwähnt, unzählige verschiedene Meinungen existieren, betrachte ich es als
wichtig, verschiedene Musiker, Redakteure, Konsumenten und andere
Protagonisten der Szene zu Wort kommen zu lassen. Der grösste Teil des
Arbeitsprozesses bestand deshalb aus der Suche nach geeigneten Informationen
und fundierten Meinungen.
1
Autor unbekannt, entnommen aus dem FAQ von http://www.punk2004.de/index.html
5
Ich habe versucht, zu jeder im Text erwähnten Band legal downloadbare Songs
aufzuspüren, und empfehle dem Leser, sich diese auch anzuhören. Sie
wiederspiegeln das breite Spektrum an Musikstilen und helfen dabei, die
Entwicklung der Musik besser zu verstehen. Auf Fotos oder Symbole habe ich
verzichtet, da dies den Rahmen der Arbeit sprengen würde, jedoch finden sich im
Anhang für fast alle Themen passende Fotos und andere Bilder, die während dem
Lesen ab und zu betrachtet werden sollten, da sie die Meinung des Textes
verdeutlichen. Nahezu alle mehrmals zitierten Quellen und Bücher werden im
Literaturverzeichnis nochmals erwähnt. Ich rate dem interessierten Leser, sich
anhand dieser teils sehr informativen und interessanten Schriftstücke weitere
Informationen zu beschaffen. Und nun wünsche ich viel Spass beim Lesen!
3. Watch Out- Punk Is Coming: Die Entstehung des Punk
3.1
Von künstlerischer Avantgarde in den USA...
Punk wird generell als eine Erfindung der Briten angeschaut, jedoch liegen die
Wurzeln des Punks vor allem in den US-amerikanischen Metropolen New York
und Detroit, Michigan. In New York formierte sich um 1965 die Band Velvet
Underground, die von dem Popkünstler Andy Warhol gemanagt wurde. Mit
einem wilden Stilmix und Texten über Heroinsucht und Sadomaso schockten sie
nicht nur, sondern begeisterten auch viele Leute einer urbanen Generation, die
sich nicht zwingend mit der beschönigenden Ideologie der Hippies identifizieren
konnte. Ein Jahr später gründete der damals noch blutjunge Iggy Pop1 in Detroit
die Band The Stooges, deren Musiker ihre Instrumente kaum beherrschten. Dies
war auch nicht nötig, denn die Band unterstützte eigentlich nur Iggy Pops
Tanzeinlagen mit einem „wahnsinnigen Gedröhne und [...] ziemlich schrägen
Grooves- Trancezustände“2. Und diese Tanzeinlagen hatten es in sich: Gemäss
Augenzeugen faszinierte Iggy sein Publikum damit, dass er wie wild über
die Bühne wirbelte oder sich in Scherben wälzte, wobei unter seinem ständigen
Drogeneinfluss natürlich noch viele andere „Attraktionen“ zur Geltung kamen.
1972 formierten sich in New York im Dunstkreise der Künstlerszene um Andy
Warhol The New York Dolls, die durch ihre faszinierende Bühnenpräsenz
1
2
Diskographie und Samples unter http://www.iggypop.com/audio.asp
John Sinclair, entnommen aus Please Kill Me: Die unzensierte Geschichte des Punk, S. 59
6
berühmt wurden. Die Band kleidete sich in extravaganten Kostümen und
verwendete Make Up und Glitter bis zum Abwinken. So wird ihr Sound als
Glamrock1 bezeichnet, war musikalisch jedoch recht simpel. „Viele Leute [...]
behaupteten: ‚Was die können, kann doch jeder.’ Vor allem aber hat das, was die
Dolls gemacht haben, Einfluss auf den Punk gehabt und gezeigt, dass das, was
wir können, jeder kann. [...] Es war ganz offensichtlich, was wir mit dem
Rock’n’Roll gemacht haben: Wir haben ihn zurück auf die Strasse gebracht.“2
Die Dolls inspirierten auch den Engländer Malcolm McLaren, der um 1973 nach
New York kam, um Werbung für seinen Kleiderladen „Let It Rock“ zu machen. Er
verkaufte zwar keine Kleider, setzte sich aber zum Ziel, den Stil der Dolls und der
Szene in New York zu übernehmen und in London zu vermarkten. McLaren wurde
ebenfalls vom Musiker Richard Hell3 stark geprägt, der „ein total kaputter,
destruktiver und abgerissener Typ [...] in einem zerfetzten T-Shirt“4 war, der sich
sein komplettes Aussehen neudefiniert hatte und so zu einem völlig neuen Stil
aufrief. „Wir waren wirklich einzigartig, denn es gab auf der ganzen Welt keine
einzige Rock’n’Roll-Band mit kurzen Haaren und zerfetzten Klamotten“5.
Obwohl die oben aufgezählten Bands musikalisch alle recht verschieden waren,
bildete sich nach und nach eine Gemeinschaft, der es nach einer Bezeichnung,
einem Namen dürstete. Punk als Eigenname wurde bis dahin bereits verwendet,
jedoch eher im abschätzigen Sinne, so verstand man unter einem Punk einen
schwulen oder kriminellen Jugendlichen oder einen Drogensüchtigen. Legs
McNeil6, der von den Bands und ihrer Lebensweise fasziniert war, beschloss um
1975 mit einigen anderen Fans, ein Magazin zu veröffentlichen, das ihre
Lebensweise beschreiben sollte. Sie nannten es „Punk“, weil „der Begriff [...] die
Summe all dessen war, was wir liebten und was wir selbst waren: betrunken,
unausstehlich, gerissen, aber nicht angeberisch, absurd, lustig, ironisch.“7
Die Zeitschrift wurde gelesen und schon bald hingen in der ganzen Stadt New York
Poster, auf denen stand: „Watch Out- Punk Is Coming“.
Die Entwicklung in den Staaten kann als Gegenpol zur Hippiebewegung an der
Westküste, die um 1967/68 ihren Höhepunkt hatte, genannt werden. Viele junge
1
dt. Glitterrock, für weitere Infos: http://de.wikipedia.org/wiki/Glamrock
David Johansen, Leadsänger der Dolls, entnommen aus Please Kill Me: Die unzensierte..., S. 148
3
Musiker, Poet, Künstler, Sänger und Songwriter verschiedener Bands wie Television, The Heartbreakers
4
Malcolm McLaren, entnommen aus Please Kill Me: Die unzensierte Geschichte des Punk, S. 243
5
Richard Hell, entnommen aus Please Kill Me: Die unzensierte Geschichte des Punk, S. 212
6
Verfasser des Buches Please Kill Me: Die unzensierte Geschichte des Punk
7
Legs McNeil, entnommen aus Please Kill Me: Die unzensierte Geschichte des Punk, S. 251
2
7
Leute in den Grossstädten konnten sich nicht mit den Hippies identifizieren, da sie
in einer komplett anderen, urbanen Umwelt lebten. An der Ostküste zählten
andere Grundsätze als bei den Hippies mit ihrer beschönigenden Ideologie. Diese
wurde von den Jungen gehasst, da sie für sie schlichtweg nicht stimmte. „Die
meiste Rock’n’Roll-Musik fand ich einfach nur zum Davonlaufen, weil das
langweiliges Hippiezeug war und es wirklich keine Gruppe gab, die unser wahres
Leben beschrieb.“1 Rock’n’Roll war, wie auch später in England, ein wichtiger
Faktor: Er verkörperte seit seiner Erfindung zwar eine rebellische Jugendkultur,
diente letztendlich aber nur der Unterhaltungsindustrie, um Profit zu machen.
Rockmusik war und ist „idealer Bestandteil im stabilisierenden ‚Brot und Spiele’Komplex“2 der Politik: Er ermöglichte den Jungen zwar ein rebellisches
Benehmen, formulierte aber nie konkrete politische Gedanken, geschweige denn
motivierte er grössere Menschenmassen zu direkter Aktion. „Rockmusik ist nie
notwendig systemkritisch, antikapitalistisch gewesen, [...]. Wäre sie es, hätte es
Punk und Hardcore - als Korrektur all dessen - nie geben müssen. “3
Die Jugendlichen in den 70ern waren gelangweilt von den geschliffenen,
konformen Rockbands, sie wollten ihrem Unmut endlich Luft machen, ihr wahres
Leben auch in Form von Musik und Kleidung ausdrücken- wobei der Spass an der
Sache natürlich im Vordergrund stand. Der konforme Mainstream und seine
warenförmig produzierte Rockmusik war bei vielen verhasst und vermittelte ihnen
ein Gefühl der totalen Entfremdung.
Gerade deshalb waren Musikproduktionen in der Frühzeit von Punk sehr
unprofessionell: Meistens wurden sie ohne grossen Aufwand und ohne moderne
Technik aufgenommen, ausserdem beherrschten viele Musiker ihr Instrument nur
rudimentär. Dies hatte aber auch einen Sinn und Zweck, denn Punkrock rebellierte
mit seiner rauen, ungeschliffenen Art gegen die moderne Industrie. Punk bot der
vollkommenen, käuflichen und langwährenden Massenproduktion von Musik die
Stirn, indem Fehlerhaftigkeit und Handarbeit bewusst zur Schau gestellt wurden;
Musik sollte spontan, fehlerhaft, vergänglich und vor allem wertlos sein.
1
Legs McNeil, entnommen aus Please Kill Me: Die unzensierte Geschichte des Punk, S. 250
Martin Büsser, entnommen aus If The Kids Are United… Von Punk zu Hardcore und zurück, S.70
3
Martin Büsser, entnommen aus If The Kids Are United… Von Punk zu Hardcore und zurück, S.71
2
8
3.2
...zur kommerziellen Punkrevolution in England
Malcolm McLaren brachte also die Ideen der amerikanischen Künstler nach
England und versuchte dort, Musik mit Mode, Lifestyle und politischer Einstellung
zu verschmelzen, was ihm schlussendlich mit den Ende 1975 von ihm formierten
Sex Pistols auch gelang. 1976/77 kamen die Sex Pistols durch ihr
unanständiges Benehmen und ihre Eskapaden vermehrt in die Medien und so
gelang ihnen der kommerzielle Durchbruch.
Obwohl die Sex Pistols und Malcolm McLaren als prägende Faktoren für den
britischen Punk genannt werden können, waren es nicht nur sie, die Punk
überhaupt ermöglichten: In England herrschte seit geraumer Zeit ein schlechtes
soziales Klima, bei dem die unteren Schichten unter sozialen und kulturellen
Schranken litten. Die allmähliche Kommerzialisierung der international bekannten
Rockbands, der „Dinosaurier“ im Musikbusiness, frustrierte die Jugend. Viele
Jugendliche schlitterten in die Kriminalität ab, andere jedoch griffen zur
musikalischen Waffe- der Gitarre. Mit ihrer simplen und aggressiven Musik
zeigten sie ihr Unbehagen am System und vor allem ihr neu gewonnenes
Selbstvertrauen. „Punk in Grossbritannien war letztlich eine Bewegung von
unterprivilegierten, weissen Jugendlichen der Arbeiterklasse.“1
Während die rebellischen Pistols ironischerweise selber ziemlich schnell zu
Rockstars mutierten, ging es im legendären Jahr 1977 in England so richtig los.
Bands wie The Clash2 oder Buzzcocks3 entstanden im Sekundentakt, Punk
wurde musikalisch immer enger definiert, und Malcolm McLaren bestimmte mit
seiner Kleiderkollektion das Aussehen der Punks, die sich meist auch aus
Geldmangel mit alten und verschlissenen Kleidern und Sicherheitsnadeln
kleideten. Langsam kam nun die Stachel- oder Irokesenfrisur in allen möglichen
Farben und andere Accessoires wie Hundehalsbänder und Nietengürtel auf, die
jeder Punk zur Provokation und Selbstdarstellung verwendete. Schon bald war
Punk in England allgegenwärtig, massentauglich und gesellschaftlich akzeptiert.
Dies führte jedoch dazu, dass die rebellische Botschaft von Punk vor allem in
London relativ schnell verwässerte und der Kampf gegen Kommerz und Idole zu
einer absurden Karikatur seiner selbst verkümmerte. Nichtsdestotrotz löste die
erste Punkwelle eine ganze Reihe von neuen Ideen, Idealen und Lebensweisen aus,
die von nun an überall auf der Welt gelebt und ständig weiterentwickelt wurden.
1
Tricia Henry, entnommen aus The Philosophy Of Punk, S. 29
Auf http://www.westwaytotheworld.com (Discography) kann man viele Songs probehören
3
http://www.buzzcocks.com/_soundvideo/Buzzcocks-Friends(Detroit-26June03).mp3
2
9
4. Hardcore: Kehrtwende und zugleich Neuanfang
4.1
Entstehung und Augenfälliges
Den Übergang von Punk zu Hardcore kann man nicht klar abgrenzen. In den
Städten Los Angeles, San Francisco, Boston und New York entstanden Anfang der
80er prägende Bands wie Minor Threat, Black Flag, 7 Seconds, Agnostic
Front oder die Cro-Mags1. Ihre Spielart unterschied sich markant von der
„konventioneller“, britischer Punkbands: Sie war schneller, rauer, aggressiver und
vor allem hasserfüllter. Songs wurden simpler, d.h. Melodien wurden gänzlich
weggelassen und meistens herrschte über den ganzen Song nur ein Riff2 vor.
Zudem: „Keifender und wütender Gesang, [...], Sänger, die zu schnaubenden
Raubtieren wurden“3. An Shows entstand eine höchst angespannte und aggressive
Atmosphäre, in der man versuchte, „in einem Knäuel von um sich schlagenden
Leibern ein ekstatisches Gefühl der Selbstvergessenheit zu erlangen.“4 Martin
Büsser redet hierbei auch von einer „Nachinszenierung des als feindlich
empfundenen Alltags, des sog. Grossstadtdschungels.“5 Diese offensichtliche
Gewaltsimulation lässt sich fast nur in der Hardcore- Bewegung ausmachen, denn
sie hatte nicht viel mit den bewussten Gewaltexzessen früherer Punkbands zu tun.
„Alles was ich hasse, tanze ich aus mir heraus. Ich versuche nie absichtlich,
jemandem weh zu tun, und wenn ich es täte, würden sie es wahrscheinlich gar
nicht merken.“6
Songtexte entwickelten sich ausserdem zunehmend in eine politischere, radikalere
Dimension. Doch was waren die Gründe für diese kulturelle Weiterentwicklung?
4.2
Hardcore als Reanimationsversuch von Punk
Mit Hardcore begann für viele Jugendliche der Versuch, vom selbstzerstörerischen
Nihilismus des Punk und seiner eher müden Aktivität, die sich teilweise lediglich
auf Provokation beschränkte, loszukommen und die Kritik am System
wiederaufzunehmen. „So sehr den Punks die Hippie-Ästhetik ein Gräuel war,
1
Das legendäre Album The Age Of Quarrel gibt es legal und gratis unter http://www.cromags.com/ (Music)
Riff: Akkordabfolge auf der Gitarre
3
Martin Büsser, entnommen aus If The Kids Are United… Von Punk zu Hardcore und zurück, S.88
4
Martin Büsser, entnommen aus If The Kids Are United… Von Punk zu Hardcore und zurück, S.89
5
Martin Büsser, entnommen aus If The Kids Are United… Von Punk zu Hardcore und zurück, S.89
6
Rob von den Cro-Mags, entnommen aus If The Kids Are United… Von Punk zu Hardcore und zurück, S.89
2
10
begann Hardcore als Gegenreaktion zum abgewrackten Punk.“1
Hardcore kann also getrost als gut gemeinter Reanimationsversuch von Punk
angeschaut werden: Es ging, ob bei Punk oder Hardcore, stets darum, ein Leben
abseits der Konsumgesellschaft zu führen, ohne in Gefahr zu laufen, von dieser
Gesellschaft übernommen zu werden. Folglich galt es als schlecht, wenn die
Unterhaltungsindustrie immer mehr Gefallen an Punk fand und ihn schliesslich so
aussaugte, dass seine Botschaft verwässerte und immer mehr Leute in die Szene
kamen, die die Ideale von Punk gar nicht kannten. Hardcore wollte diesen Fehler
nicht noch einmal machen: Durch das - im Vergleich zu den britischen Punks der
ersten Welle - konforme Aussehen seiner Anhänger sorgte er in der Öffentlichkeit
nie für grosses Aussehen. Ausserdem war die Musik so brachial, dass die
Musikindustrie wie zuvor beim Punk zuerst kein Interesse zeigte. Im Gegensatz
zum Punk mit den Sex Pistols hatte Hardcore zudem nie eine einzelne prägende
Band, die alles lostrat. Dies sind mitunter Gründe dafür, dass Punk generell
bekannt ist, der Begriff Hardcore aber höchstens mit Pornographie in Verbindung
gebracht wird und als Musikstil kaum bekannt ist. Musikalisch und ideologisch
änderte sich durch Hardcore auch einiges: „Zu einem Zeitpunkt, als Punk bereits
stagnierte und zum einen bloss noch politische Phrasen von sich gab, zum
anderen eine reine Spasskultur war, sorgte diese Szene für eine neue
musikalische Intensität und Haltung.“2 Und: „Die Bands waren nicht nur eine
Alternative zur spiessigen Gesellschaft, sondern auch zu den englischen „SuffPunks“, mit denen wir nichts gemeinsam hatten.“3
Doch nicht nur das Aussehen, sondern auch die Mentalität änderte sich mit der
aufkommenden Hardcore- Bewegung für einige Punks: Stand vorher das
öffentliche Zur-Schau-Stellen und die bewusste Selbstzerstörung im Vordergrund,
um das Hässliche und Unvollkommene zu betonen, vollzog sich nun eine
Kehrtwende: Es galt plötzlich, den eigenen Körper so unabhängig und rein wie
möglich zu halten, um klar denken zu können und für den Kampf gegen den Status
Quo gestählt zu sein. Es ging darum, „die Dinge zu kontrollieren und sich nicht
von ihnen kontrollieren zu lassen.“4
Die Entwicklung der Straight Edge- Szene verdeutlicht diese Tendenz.
1
Martin Büsser, entnommen aus If The Kids Are United… Von Punk zu Hardcore und zurück, S.116
Craig O’Hara, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.141
3
Craig O’Hara, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.140
4
Ian MacKaye, Sänger der Band Minor Threat, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.141
2
11
4.3
Straight Edge
I'm a person just like you/ But I've got better things to do/ Than sit
around and fuck my head/ Hang out with the living dead/ Snort white shit
up my nose/ Pass out at the shows/ I don't even think about speed/
That's something I just don't need/ I’ve got the Straight Edge.
So lautet die erste Strophe des 1981 von der Band Minor Threat veröffentlichten
Songs „Straight Edge“1, mit dem eine komplett neue Welle in der Hardcore- Szene
losgetreten wurde. Der Begriff Straight Edge (gerader Weg) kommt daher, dass
Shows zwar „all ages“ waren, also für alle Altersklassen zugelassen, die
Jugendlichen unter 21 aber ein schwarzes Kreuz auf die Handrücken gemalt
bekamen, um an der Bar erkannt zu werden. Aus Solidarität zu den Jüngeren
malten sich ältere Musiker und Fans auch schwarze Kreuze auf die Hand und
verzichteten folglich auf Alkohol und andere Drogen. Minor Threat skizzierten mit
ihren Songs einen neuen, positiven Lifestyle, den immer mehr Bands und Punks
vor allem in den Grossstädten lebten. Die Devise lautete, komplett und lebenslang
drogenfrei zu leben und ausserdem Promiskuität, d.h. Sex mit häufig wechselnden
Partnern, abzulehnen. Mit Straight Edge machte sich in der Hardcore- Szene eine
neue Strömung breit, die von Bands mit klingenden Namen wie Youth Of Today,
Side By Side, oder Gorilla Biscuits2 geprägt wurde. Den Musikstil dieser
Bands kann man auch als Youth Crew Hardcore bezeichnen, da er sich zwar
musikalisch nicht vom konventionellen Hardcore unterschied, jedoch politische
Inhalte immer mehr wegliess und vermehrt nur noch Themen wie Drogen und
Jugendprobleme aufgriff. Ausserdem waren die Protagonisten dieser Szene
zumeist selber sehr jung. Ihr radikaler Protest gegen den achtlosen Drogenkonsum
ihrer Kollegen sahen sie als ultimativen Bruch mit der spassorientierten
Konsumgesellschaft. Auch heute ist Straight Edge unter Hardcore- Anhängern
noch immer sehr populär, und viele Edger sind überzeugte Vegetarier oder
Veganer. Sogar Jugendzeitschriften wie „Bravo“ oder „Sugar“ berichten neuerdings
darüber: „In der Tat haben die meisten Edger definitiv Style und sind in keinster
Weise langweilige Ökos oder Spiesser.“3
1
Download unter www.punkrockers.com/straightedge.mp3
Downloads unter http://www.myspace.com/gorillabiscuits , Songempfehlung: New Direction
3
Mädchenzeitschrift Sugar, Ausgabe 12/06, S.44/45, Attic Futura Verlag: Hamburg DE
2
12
4.4
Wichtige musikalische Weiterentwicklungen
Ich möchte hiermit aufzeigen, dass viele Musikstile, die heute sehr populär sind,
ihre Ursprünge im radikalen Hardcore der 80er und folglich im Punk haben.
Gewisse nachfolgend genannte Strömungen vertreten jedoch zum Teil nichts mehr
von der radikalen Botschaft von Punk und dessen musikalischer Ungeschliffenheit
und gehören mittlerweile zum Standard- Repertoire der Musikindustrie.
Relativ gleichzeitig mit der Entwicklung von Hardcore entstand Emocore, wobei
Songs sowie auch Texte einen sehr emotionalen Touch bekamen. Musikalisch
unterschied sich der frühe Emocore dadurch vom Hardcore, dass er oft
mehrstimmig gesungen wurde und sich Gesang häufig mit Geschrei abwechselte.
Die Texte betonten zudem mehrheitlich persönliche Probleme wie Verrat, Tod und
Trauer. Der heutige Emocore, schlicht Emo genannt, lässt sich kaum noch
kategorisieren, denn er beinhaltet immer mehr auch Elemente aus den Sparten
Poppunk, Metal und Rock. In Nordamerika und Kanada erfreut sich Emo heute
der grössten Popularität, wahrscheinlich da die Musik unter anderem mit einer
sehr ausgefallenen Mode in Verbindung gebracht wird. Einige bekannte Vertreter
sind My Chemical Romance1, From Autumn To Ashes2 und Thrice3.
Melodycore (auch Skate- oder Melodic Punk) ist wahrscheinlich die bekannteste
Strömung: Sie entstand Ende der 80er an der nordamerikanischen Westküste –
vor allem in Kalifornien - durch Bands wie Bad Religion4, die mit ihrem Album
„Suffer“ den Grundstein für diesen Stil legten. Prägend für den Melodycore sind
sehr schnelle und kurze Songs, die die einfache Struktur von Punk und Hardcore
zwar beibehalten, jedoch oft sehr melodisch und teilweise mehrstimmig gespielt
werden. Auch in den Songtexten änderte sich einiges: Vermehrt wurden politische
Inhalte und radikale Ideen weggelassen, vielmehr waren Themen wie TeenagerProbleme und Frauen bevorzugt. So gesehen blieb nicht viel übrig von der
radikalen Botschaft des Punk, zudem nahm die Musik selbst ein immer
geschliffeneres Aussehen an, das sich gut verkaufen liess. Bekannte Vertreter sind
NOFX5, Propaghandi6 und Good Riddance7 wobei gerade letztere ihre
1
Schon nur die Homepage verdeutlicht die heutige Emo-Mentalität: http://www.mychemicalromance.com
Songs unter http://www.purevolume.com/fromautumntoashes
3
Songs unter www.myspace.com/thrice
4
Songs über die gesamte Diskographie gibt es unter http://www.epitaph.com/artists/artist/5/
5
Songs gibt es unter http://www.fatwreck.com/audio/
6
Songs gibt es unter http://www.fatwreck.com/audio/
7
Songs gibt es unter http://www.fatwreck.com/audio/
2
13
politische Message bis heute beibehielten. Melodycore ist dank seiner
geschliffenen Form vor allem bei jungen Leuten beliebt und nicht selten die
„Einstiegsdroge“ für zukünftige Punks und Hardcore- Anhänger. Viele Elemente
des Melodycore, wie das schnelle Schlagzeugspiel, sind ausserdem im Poppunk
zu finden. Einige weltberühmte Bands wie Green Day oder Blink 182 haben
übrigens vor ihrem kommerziellen Durchbruch Melodycore gespielt.
„Hardcore: Schneller, druckvoller Metal mit meist geschrienen Texten.“1
Diese Aussage ist nicht wahr, da Hardcore nicht einfach ein Subgenre von Metal ist
und er seine Ursprünge im Punk, nicht im Metal hat. Nach und nach entstanden
aber Bands, die Hardcore konkret mit Metal verbanden, jedoch ohne die positive
und radikale Botschaft des Hardcore zu vernachlässigen. Diese Fusion nannte man
Metalcore. Viele moderne Metalcore- Bands wie Hatebreed2 oder Bridge To
Solace3 unterstreichen mit ihren Songtexten immer noch die HardcoreMentalität und sind keinesfalls Metaller mit langen Haaren und Lederjacken.
Metalcore erfreut sich in Europa gerade auch unter Straight Edgern immer
grösserer Beliebtheit und verdrängt zunehmend den eigentlichen Hardcore, der
heute üblicherweise in Old School und New School unterteilt wird.
Moderne Old School Bands sind Bane4, Comeback Kid5 oder Betrayed6, die
sich gerne an der positiven Youth Crew- Botschaft der 80er orientieren. Im New
School- Bereich ist das Spektrum an musikalisch verschiedenen Bands grösser.
So spielen zum Beispiel Raised Fist7 oder Stretch Arm Strong8 eine Mischung
aus Old School und modernem Hardcore mit Metalelementen. Die mittlerweile
aufgelöste Hardcore- Band Refused9 steuerte mit ihrem Album „The Shape Of
Punk To Come“ in eine neue, progressive Richtung. Emotionales Geschrei und ein
krachendes Gitarrengewitter vermischte sie mit Technobeats und Jazzelementen.
Man bezeichnet ihren Stil teilweise auch als Jazzcore, wobei der Begriff Jazz
eher metaphorisch als stilistisch verwendet wird.
1
Mädchenzeitschrift Sugar, Ausgabe 12/06, S.44/45, Attic Futura Verlag: Hamburg DE
Songs gibt es unter www.purevolume.com/hatebreed
3
Songs unter www.myspace.com/bridgetosolace
4
Songs unter www.myspace.com/banecentral
5
Songs unter www.myspace.com/cbkgiver
6
Songs unter www.myspace.com/betrayed
7
Songs unter http://www.burningheart.com/bands/index.php?id=51
8
Songs unter http://www.purevolume.com/stretcharmstrong
9
Songs über die gesamte Diskographie gibt es unter http://www.epitaph.com/artists/artist/63/
2
14
Neben den eben genannten gibt es noch unzählige andere Subgenres wie den
ultraschnellen Grindcore, den Skacore oder eben den progressiven Jazzcore,
die jedoch nicht weiter erläutert werden sollen.1
5. No Gods- No Masters: Ideen, Ideale und Ideologie einer Gegenkultur
Wie bereits erwähnt, wurden viele der nun genannten Ideale und Ideologien nicht
schon mit den Sex Pistols und der ersten Punkwelle formuliert. „Das waren Punks
und keine gesellschaftlichen Aktivisten, und ihre Botschaft war trostlos.“2
Autonomie und Nonkonformismus sind zentrale Aspekte, die aus dieser Zeit
stammen. Konkrete politische und vor allem anarchistische Ideen kamen jedoch
erst in den 80ern auf, wobei vor allem die Hardcore- Szene eine prägende Rolle
spielte. Bands wie die amerikanischen Dead Kennedys3 oder die britischen
Crass4 politisierten die Szene zunehmend. Mit Hardcore und der Straight EdgeBewegung wurde auch ein stärkeres Bewusstsein zur Natur und Umwelt populär,
Vegetarismus und Veganismus nahmen dadurch Einzug in die Szene und sind
heute grösstenteils ein fester Bestandteil der Ideologie von Punks. Gestern wie
auch heute bestehen unter Punks unzählige verschiedene Ideale, die sich nicht
immer vereinen lassen. Punkmusik ist zudem nicht Punkmusik, es bestehen auch
hier einige grundverschiedene Strömungen. „Würde man hundert Punks in einem
Raum versammeln, hätte man hundert Meinungen“5.
Nichtsdestotrotz kann man eine von Punks zelebrierte Ideologie und deren
Lebensweise grob skizzieren, indem man einige interessante Aspekte genauer
unter die Lupe nimmt.
5.1
Globales Weltbild
5.1.1
Antikapitalismus und Nonkonformismus
Die Punkbewegung entstand in westlichen, kapitalistischen Ländern. Die
Zielscheibe der Punks ist hauptsächlich der Kapitalismus, der neben einigen
positiven Aspekten auch „Obdachlosigkeit, Klassendiskriminierung und
1
Informationen zu allen aufgezählten Stilen finden sich auf www.wikipedia.de
Tricia Henry, entnommen aus The Philosophy Of Punk, S. 29
3
Unter http://www.deadkennedys.com/discography.htm gibt es einige Songs aufzuspüren
4
Infos unter http://www.r-otten-s.de/punk/gruppen.htm
5
Marc Bayard, entnommen dem Vorwort von The Philosophy Of Punk, S. 15
2
15
Ausbeutung durch Arbeit“1 zur Folge hat. Durch den Kapitalismus leben die
Menschen von heute, ob westlich oder östlich, in einer mechanisierten,
entfremdeten und entpersönlichten Gesellschaft. Insbesondere der einfache
Arbeiter wird durch seine mechanische Tätigkeit zur blossen Ware, die einen
bestimmten Marktwert hat und dementsprechend dem Willen der Mächtigen
ausgesetzt ist. „Dem Kapitalismus, so scheint es, liegt stets das Elend bestimmter
Menschengruppen zugrunde.“2 Im Krieg wird eben genannte Entfremdung aufs
Extremste verdeutlicht: Der Soldat wird zur Tötungsmaschine einer jeweiligen
Kriegspartei, seine inneren Werte und sein Leben verlieren an Bedeutung, Töten
und Verletzen ist seine maschinelle Arbeitsaufgabe. Im Krieg profitiert das
kapitalistische System, es verdient am Elend eines betroffenen Landes. Gerade der
1. Golfkrieg, an dem die US-amerikanische Wirtschaft höchstwahrscheinlich über
10 Milliarden Dollar verdient hat, hat viele Punks dazu bewogen, politisch aktiver
zu werden.
Diese gesellschaftliche Entfremdung, von der bis jetzt die Rede war, wird zwar von
den meisten Menschen gar nicht als solche erkannt, trotzdem wird es immer
Menschen geben, die „die Mainstream- Gesellschaft aktiv ablehnen oder aktiv
von ihr abgelehnt werden.“3 Punks sind solche, die sie bewusst ablehnen, obwohl
die meisten von ihnen weisse, wohlhabende Jugendliche aus der breiten
Mittelschicht sind. Es ist für sie deshalb ein wichtiger Schritt, „die eigene
privilegierte Stellung in der Gesellschaft abzulehnen“4, da diese „reservierte
Vorrangstellung als Beschützer des Kapitals der vorherrschenden Klasse [...]
Schwachsinn ist.“5
Im Wesen des Punks liegt aber nicht nur die Ablehnung, sondern auch die
erstrebte Veränderung der Gesellschaft oder die komplette Umwälzung des
vorherrschenden Systems. Die Punkbewegung sollte man deshalb nicht nur als
Sub-, sondern durchaus auch als moderne Gegenkultur bezeichnen.
Punks äussern ihre aktive Ablehnung der Gesellschaft durch offensichtlichen
Nonkonformismus. Punks hassen Konformisten, denn diese „stellen keine
unbequemen Fragen zu Themen wie Arbeit, Rasse, Geschlecht und der eigenen
1
Craig O’Hara, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.73
Craig O’Hara, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.73
3
Craig O’Hara, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.73
4
Craig O’Hara, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.40
5
Joel, Kolumnist des Anarchopunk- Fanzines Profane Existence, entnommen aus The Philosophy... S.41
2
16
Existenz, denn ihre Gedanken werden stets von ihrem Umfeld bestimmt.“1 Dieser
Nonkonformismus kann sich im öffentlichen Auftreten, also in der Kleidung und
im Benehmen, in der Musik, in der totalen Verweigerung zum System oder auch
nur in der persönlichen Ideologie wiederspiegeln. Nonkonformist zu sein, bedeutet
aber für viele Punks auch, jegliche Autorität in Frage zu stellen.
5.1.2 Anarchismus
Obwohl längst nicht alle Punks anarchistische Schriften gelesen haben oder sich
gut damit auskennen, vertreten sie doch ziemlich alle eine Einstellung, die aus
anarchistischen Grundprinzipien besteht. Regierungen sowie Religionen sind den
Punks ein Dorn im Auge, da sie „die von ihr regierte und beeinflusste Bevölkerung
ausbeuten und unterdrücken.“2 Obwohl der Kapitalismus als eines der grössten
Übel angeschaut wird, sind Punks keineswegs Kommunisten. Einige sozialistische
Ideen wie Frauenrechte oder Gewerkschaften werden zwar von Punks begrüsst,
jedoch wird der Kommunismus genauso wie jede andere organisierte
Regierungsform abgelehnt, da politische Revolutionen stets nur dafür sorgen, das
herrschende Regime auszutauschen und die Bevölkerung erneut zu unterdrücken.
Doch was heisst es für Punks, anarchistisch zu leben und Anarchismus zu
verbreiten? Im Vordergrund steht das Begehren nach „individueller Freiheit und
Verantwortung“3. Dass diese in der Gesellschaft nicht einfach durchzusetzen sind,
ist offensichtlich, jedoch gibt es zahlreiche von Punks organisierte autonome
Zentren, von denen aus Demonstrationen, Konzerte und andere Aktivitäten
geplant werden. Angriffsziele solcher Aktivitäten sind meist Rassismus, Sexismus,
Homophobie, Militarismus, Gewalt, Zensur und andere von der Gesellschaft und
vom Staat häufig verübte Übel. Jene werden als direkte Folgen des herrschenden
Gesellschaftssystems angesehen. Die Ausgrenzung und Unterdrückung von
bestimmten Völkergruppen sowie von nichtkonformen Individuen war und ist seit
jeher ein Bestandteil des weltlichen und kirchlichen Systems. Mithilfe dieser
Ausgrenzungen hält es erfolgreich am Status Quo fest, indem es den Hass und die
Angst schürt. Gerade deshalb denken Punks, dass zuerst jene tiefliegenden
Vorurteile gegenüber anderen Menschen bekämpft werden müssen, bevor
Anarchie überhaupt funktionieren kann.
1
Craig O’Hara, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.30
Craig O’Hara, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.71
3
Craig O’Hara, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.69
2
17
Punks wissen, dass man Anarchie keinem aufzwingen sollte, denn dies wäre ein
Widerspruch zum Anarchismus selber und genau das, was Regierungen und
Hierarchien tun. Vielmehr setzen Anarchopunks auf einen „notwendigen Lernund Bewusstseinsprozess, mit dessen Hilfe grassierende Vorurteile und Habgier
abgebaut werden.“1 Anarchisten sollen als „Lehrer“ fungieren, die den Rest der
Bevölkerung auf die Missstände im System aufmerksam machen und ihnen so
allmählich mehr Respekt und persönliche Verantwortung beibringen. In den
Augen von Anarchisten liegt deshalb der Schlüssel zur Anarchie nicht im Chaos,
sondern in der persönlichen Verantwortung. Mit dieser bräuchte es folglich auch
keine Gesetze und keinen Staat mehr, denken Anarchopunks. Entgegen häufig
verbreiteten Vorurteilen sind Punks nicht grundsätzlich negativ oder pessimistisch
eingestellt, obwohl sie zu vielen Dingen Nein sagen. Vielmehr glauben die meisten,
dass der Mensch von Natur aus gut ist und deshalb die Vorraussetzungen für ein
Leben in Anarchie erfüllen würde. Folgendes Zitat von Russ Rankin, dem Sänger
der Melodycore- Band Good Riddance2 verdeutlicht diese Aussage:
„Although the word ‚revolution’ often conjures up stark images of fierce rebellion
and violent, dogmatic clashes between oppressor and oppressed, it is, I believe, in
reality practiced on a much more personal level [...] depending on our ability to
change and evolve as people; to experience our own inner-revolution. This might,
in turn, affect those around us, the communities we live in and, ideally, the
world.”3
5.1.3 Pazifismus
Doch lässt sich das anarchistische, politisch aktive Leben vieler Punks auch mit
Pazifismus vereinbaren? Pazifismus ist eines der umstrittensten Themen in der
Punkszene. Von einigen wird er sogleich mit den „passiven“ Hippies in Verbindung
gebracht und auf seine Mainstream- Bedeutung reduziert; gewalttätige Leute gibt
es sicher auch in der Punkszene. Viele anarchistisch orientierte Punks sehen aber
keinen Zusammenhang zwischen Pazifismus und der Passivität der Hippies. „Die
Gleichsetzung von Pazifismus mit Passivität ist so naiv wie die von Anarchie und
Chaos.“4 Pazifismus ist vielmehr ein fester Bestandteil von Anarchismus, da
Gewalt gegen andersdenkende Individuen gegen dessen Prinzip verstösst.
Unumstritten ist, dass fast alle Punks logischerweise aktive Kriegsgegner sind.
1
Craig O’Hara, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.83
Einige Songs von Good Riddance gibt es auf http://www.fatwreck.com/audio/
3
Entnommen aus dem Booklet des Albums „Ballads From The Revolution“, Oktober 1997, Santa Cruz USA
4
Die Band Crass, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.86
2
18
Gewalt an Fremdeigentum und öffentlicher Infrastruktur wird jedoch von den
meisten nichtpazifistischen und pazifistischen Punks befürwortet, da in ihren
Augen vor allem durch sie Aufmerksamkeit erregt werden kann.
5.1.4 Biozentristisches Weltbild
Gerade in ökologischen Fragen kennen Punks kaum Grenzen. In der modernen
Gesellschaft beutet der Mensch nicht nur sich, sondern auch seine Umwelt und
Natur aus. Dieser respektlose Umgang mit der Natur kann als direkte Folge der
anthropozentristischen oder menschzentrierten Weltsicht, die die meisten
Menschen vertreten, angesehen werden. „[Der Anthropozentrismus] ist die Lehre,
die fast jeder jemals aufgeschriebenen Philosophie oder politischen Theorie
zugrunde liegt.“1 Der Mensch denkt, beeinflusst von biblischer Tradition und
vielen philosophischen Schriften, dass er die Herrschaft über Pflanzen und Tiere,
sprich über die ganze Natur, hat. Im Gegensatz zu dieser Denkweise befürworten
viele Punks eine biozentristische Philosophie mit der Erkenntnis, „dass alles in der
Natur miteinander verbunden ist und den gleichen ihm innewohnenden Wert
hat.“2 Als Massnahme zur Beseitigung jener anthropozentristischen Sichtweise
sehen Punks vor allem direkte Aktion, „die in Form von Demontagen, Protesten,
zivilem Ungehorsam oder dem Pflanzen eines Baumes in Erscheinung treten
kann.“3 Viele Punks wirken unter anderem aktiv in Organisationen wie Earth
First!4 und Greenpeace mit.
Es lässt sich darüber streiten, ob eben genannte Aktionen auch Wirkung zeigen
und nicht manchmal genau das Gegenteil bewirken. Unumstritten ist jedoch, dass
dadurch die Öffentlichkeit direkt mit vorherrschenden Missständen konfrontiert
wird und sieht, dass es auch Leute gibt, die gegen jene Missstände ankämpfen.
Vegetarismus und Veganismus wurden insbesondere in der Hardcore- Szene
immer populärer, da sie nicht nur die ideologische Gesinnung, sondern auch den
Nonkonformismus gegenüber der Konsumgesellschaft unterstreichen.
Heute gibt es immer noch viele Punks und Bands, die Organisationen wie PETA5
(People for the Ethical Treatment of Animals) oder die etwas radikalere ALF6
1
Craig O’Hara, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.124
Craig O’Hara, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.124
3
Joel Hippycore, Kolumnist des Fanzines Maximum Rock’n’Roll, entnommen aus The Philosophy... S.125
4
Informationen unter www.earthfirst.org
5
Informationen unter www.peta2.com
6
Informationen unter www.animalliberationfront.com
2
19
(Animal Liberation Front) aktiv unterstützen- sei es durch Werbung, Musik oder
direkter Aktion.
5.2
Do It Yourself: Das Grundprinzip von Punk und Hardcore
Einer der wichtigsten Aspekte seit Beginn der Punkbewegung ist sicherlich die
Wertschätzung von Selbstbestimmung und Autonomie. Die „bewusste Absage
gegen die Industrie und deren Verwertung des Undergrounds als Trend“1
wiederspiegelt sich am besten in der Do It Yourself- Kultur (kurz D.I.Y.) von Punk,
die sich seit Beginn der Bewegung durchgesetzt hat. Grundsätzlich gilt es, sich
wirtschaftlich und organisatorisch von der Unterhaltungsindustrie abzuschotten.
Dabei soll natürlich vor allem verhindert werden, dass dieser künstlich geschaffene
Underground nur als weiterer Trend für den Mainstream dient. Dies passiert
relativ schnell: Vieles, was zunächst nur belächelt und abgelehnt wird, wird später
von der Industrie lukrativ vermarktet, da eben „die Avantgarde des Underground
den Trend von morgen andeutet“2. Der Begriff Underground „hat bis heute nichts
an der ihm zugeschriebenen Hipness verloren: in ihm spiegelt sich die Industrie
selbstzufrieden als Förderer des Individuellen“3. Gerade die Punkexplosion im
Jahre 1977 verdeutlicht diese Tatsache: Obwohl zuerst noch müde belächelt,
wurden Bands wie die Sex Pistols oder The Clash schon relativ bald von
Majorlabels unter Vertrag genommen, da diese den Marktwert einer neu
entstehenden Subkultur erkannt hatten. Obwohl viele Bands zur Industrie gingen,
kam „auf jedes einzelne dieser Beispiele an ‚Abtrünnigen’ die Neugründung von
hundert Eigenlabels und Fanzines“4.
5.2.1 Independent Labels
Hier setzt D.I.Y. an: Die Gründung sog. Independentlabels, kurz Indies, ist ein
wichtiger Bestandteil dieser Ideologie. Auf diesen Labels werden meist mit
einfachsten Mitteln Bands produziert und gefördert, wobei natürlich auch kein
Gewinn erwirtschaftet wird und deshalb viele Labels nach ein paar Jahren wieder
eingehen. Einige der Bekanntesten sind die amerikanischen Epitaph Records5
und Fat Wreck Chords6, wobei diese auch als Majors unter den Indies
1
Martin Büsser, entnommen aus If The Kids Are United… Von Punk zu Hardcore und zurück, S.76
Martin Büsser, entnommen aus If The Kids Are United… Von Punk zu Hardcore und zurück, S.74
3
Martin Büsser, entnommen aus If The Kids Are United… Von Punk zu Hardcore und zurück, S.74
4
Martin Büsser, entnommen aus If The Kids Are United… Von Punk zu Hardcore und zurück, S.77
5
www.epitaph.com
6
www.fatwreck.com
2
20
angeschaut werden können, da sie fast ausschliesslich populäre Bands unter
Vertrag nehmen und ihre Besitzer längstens Millionäre sind. Viele Punkbands
werden zudem auf Indies bekannt und wechseln dann zu Majors. Jedoch werden
diese Bands von der Szene skeptisch beäugt, da sie mit den Idealen von Punk
meistens nichts mehr am Hut haben.
5.2.2 Fanzines: Die kommerzielle Presse wohl kaum
Fanzines (Zusammensetzung aus Fan und Magazine) bilden wohl das wichtigste
Kommunikationsmittel der Szene. Wie auch alles andere in der Szene bestehen sie
nach dem Do It Yourself- Prinzip: Sie werden von Punks für Punks geschrieben
und bilden eine öffentliche Plattform, bei der jeder mitmachen und seine Meinung
preisgeben kann- sei es über Musik, Politik oder andere alltägliche Dinge. „Dass
man den Leser direkt anspricht, private Empfindungen in die Texte einfliessen
lässt und extrem ausführlich berichtet und somit nicht nur voll und ganz auf die
eingefleischte Fan- Leserschaft eingestellt, sondern auch selbst Fan der jeweiligen
Themen ist“1, macht ein Fanzine aus. Die Verfasser besitzen mehrheitlich keine
journalistischen Vorkenntnisse und haben nicht das Ziel, mit den Heftern Profit zu
machen. Dementsprechend ist die Auflage meist klein und das Layout eher
unprofessionell. Früher wurden Fanzines häufig mit Kopierapparat, Klebeband
und Schere produziert, auch Comics waren sehr populär. Heute sehen viele
Fanzines recht professionell aus, dies kommt aber laut der Chefredakteurin des
bekanntesten Schweizer Fanzines Realrocker2, Alexandra Wenger, nicht daher,
dass Zines zunehmend kommerziell wären, sondern dass man heute einfach
bessere Produktionstechniken verwenden kann. Doch was unterscheidet ein
Fanzine von einem kommerziellen Medium? „Ist man abhängig, sei es von einem
grossen Verlag, von kommerziellen Anzeigekunden oder von Plattenfirmen, die
einem vorschreiben, welchen Artikel man publizieren soll, dann ist man definitiv
kein Fanzine mehr.“3 Während in gewissen Fanzines wie dem berühmten
„Maximum Rock’n’Roll“4 aus den USA in über hundert (immer noch
unnummerierten und farblosen) Seiten über ideologische wie auch musikalische
Themen debattiert wird, gibt es zahlreiche Punk- Fanzines, die sich nur auf Politik
oder nur auf Musik beschränken. Im Computerzeitalter werden Fanzines
zunehmend von sog. Webzines abgelöst, was nicht unbedingt negativ ist. Auf
1
Alexandra Wenger, Chefredakteurin des „Realrocker“- Fanzines, in ihrer Diplomarbeit über Fanzines
www.realrocker.net
3
Alexandra Wenger, Chefredakteurin des „Realrocker“- Fanzines, in ihrer Diplomarbeit über Fanzines
4
www.maximumrocknroll.com
2
21
bekannten Webzines wie www.wasteofmind.de oder www.pitfire.net lassen
sich innert kürzester Zeit News und Showdaten abrufen, ausserdem wird heute
lieber auf Internetforen als auf Papier debattiert, da es einfach direkter und
schneller geht.
5.3
Shows: Die Verschmelzung von Band und Fan
Die Konzerte in der Punk- und Hardcoreszene unterscheiden sich stark von
regulären Rockkonzerten. An Shows wird die Grenze zwischen Band und Publikum
bewusst aufgehoben. Im Gegensatz zu heute war diese besondere Beziehung früher
eher von exzessiver Art: Fans, die Bierflaschen auf die Bühne warfen, Sid Vicious1,
der seinen Bass in die Menge krachen liess, oder Iggy Pop, der sich bewusst in sein
Publikum übergab. Heute äussert sich diese Beziehung insbesondere an HardcoreShows in einer absolut energiegeladenen Atmosphäre: Einerseits wird sehr
exzessiv und aggressiv getanzt, wobei man ständig in Körperkontakt zu anderen
Fans steht. Bei einer tiefen Bühne kommt es zudem häufig vor, dass sich die Band
mit dem Publikum vermischt, ausserdem wird den Fans regelmässig das Mikrofon
entgegengestreckt, damit sie selber Textstücke ergänzen können. „Wir spielen viel
lieber Clubshows, bei denen wir so richtig nahe an den Fans sind.“2 Auch
„Stagediven“ wird häufig praktiziert, dabei erklimmt ein Fan die Bühne oder eine
Lautsprecherbox und stürzt sich je nach Mut und Courage mit unterschiedlich
hohen Sprüngen in die Menge, wobei er (meistens) vom Publikum aufgefangen
wird und für einen kurzen Moment das Bad in der Menge geniessen kann.
Obwohl alle diese Praktiken wahrscheinlich ein Bild von gewalttätigen und
gefährlichen Shows aufflammen lassen, passieren sehr selten Unfälle oder
schwerere Verletzungen; es wird zwar jede Menge Wut und Aggression abgelassen,
trotzdem herrscht eine sehr solidarische, ja brüderliche Stimmung. Fällt z.B.
jemand auf den Boden, wird ihm garantiert wieder aufgeholfen.
5.4
Last But Not Least: Zum Aussehen von Punks
Dass Kleidung und Benehmen einen echten Punk ausmachen, ist genau so falsch
wie die Behauptung, Punk beschränke sich nur auf Provozieren und Betteln.
„Es stimmt zwar, dass die trad. Kleidungs- und Musikstile des Punkrock die
Mainstream- Öffentlichkeit oft schockieren und Anstoss erregen, aber es wäre
1
2
ehem. Bassist der Sex Pistols
Russ Rankin, Leadsänger von Good Riddance / Only Crime (Songs unter www.myspace.com/onlycrime)
22
falsch, Punk als eine Bewegung zu sehen, die auf blossem Aussehen gründet.“1
Klar gibt es sie, diese Jugendlichen, deren Punksein darin besteht, sich so
unangepasst wie möglich zu verhalten und Leute anzuschnorren, und sie sind
immer noch sehr zahlreich. Ich denke jedoch, dass der grösste Teil dieser
„Gossenpunks“ eine Bande von pubertierenden Kids ist, die bewusst eine
rebellische Phase durchmachen, sich dabei die britischen Modepunks der späten
70er zum Vorbild nehmen und dieses Aussehen dann nach einigen Jahren wieder
abstreifen. Mittlerweile kann man sich sein Punk- Outfit überall kaufen; es gibt
genügend Läden, die in der Punk- Mode ein lukratives Geschäft gefunden haben.
Punk beschränkt sich aber nicht auf eine rebellische Phase, Punk ist eine
Lebenseinstellung, nicht Mode oder Musik.
„Ich kenne keine solchen [oben genannten] Punks , die sehr aktiv sind, aber es
gibt sicher welche, wie z.B. in Zürich in den besetzten Häusern. Ich denke auch
nicht, dass man "echte" Punks an den Kleidern erkennt. Viele, die sonst 100%
arbeiten und die von den 77er Punks als Spiesser bezeichnet werden, sind
wirklich real und aktiv in der Szene.“2
6. Schlusswort
Seit Beginn der Punkära und ihrer Medienberichterstattung wird die Öffentlichkeit
von einem Bild beherrscht: Asoziale, gewalttätige und drogensüchtige Jugendliche,
die ein total unproduktives, nihilistisches und suizidales Leben führen. Wie jede
gesellschaftliche Strömung hat sich Punk aber seit seiner Geburtstunde stetig
weiterentwickelt und damit auch die eben genannte Oberflächlichkeit und
Passivität längstens abgeworfen. Die Zeiten ändern sich, und wenn auch
verschiedene Musikstile immer unüberblickbarer werden, wenn auch ein Grossteil
der ehemals so authentisch wirkenden Bands zur Industrie gewechselt hat, wenn
auch Punk für viele Jugendliche nie mehr als Mode und Musik sein wird: Es wird
immer eine auf Autonomie und Selbstbestimmung bauende Gegenkultur geben,
die ohne Führer und Hierarchien auskommen kann.„Since there is no perfect
system, I think that the idea of punk or counterculture will always be relevant.“3
Und sie wird garantiert nicht dem Bild entsprechen, das der von den Medien stark
beeinflusste Mainstream von ihr hat.
1
Craig O’Hara, entnommen aus The Philosophy Of Punk (2. Edition), S.38
Alexandra Wenger, Chefredakteurin des Realrocker- Fanzines
3
Liz Nord, Filmemacherin (s. Anhang B)
2
23
7. Quellen
McNeil, L. und McCain, G. (1996), Please Kill Me: The Uncensored Oral History
Of Punk, Grove/Atlantic Inc. : New York USA
Deutsche Ausgabe (2004): Verlagsgruppe Koch /Hannibal, Höfen A
O’Hara, C. (1999), The Philosophy Of Punk (2. Edition),
AK Press : San Francisco USA
Deutsche Ausgabe (2002) : Ventil Verlag, Mainz DE
Büsser, M. (2000), If The Kids Are United… Von Punk zu Hardcore und zurück,
Ventil Verlag : Mainz DE
Clark, D. (2003), The Death And Life Of Punk, The Last Subculture,
http://spot.colorado.edu/~dylan/PunkLastSubculture.pdf
Gefunden am 17.10.2005
Punk! Kongress 2004, http://www.punk2004.de/index.html
Gefunden am 1.12.2005
Van Dorston, A.S., http://www.fastnbulbous.com/punk.htm
Gefunden am 10.11.2005
24
Anhang A: Bildmaterial
Die folgenden Bilder sollen den Inhalt des Textes verdeutlichen. Ich habe nur
wenige Bilder zur ersten Punkwelle gefunden, jedoch kennen wir das Aussehen der
britischen Modepunks ja grösstenteils aus den Medien.
Iggy Pop in frühen Jahren
http://www.bomp.com/IgGal3.html
Johnny Rotten und Sid Vicious von den Sex Pistols
http://www.bobgruen.com
25
The Clash
http://www.punkandoi.free.fr
Modepunk mit dem Logo der Anarchoband Crass auf dem linken Oberarm
http://213.219.28.231/images/big/bwork3410.jpg
26
Die politisch aktive Band Dead Kennedys
http://popshots.torndahl.com
Minor Threat
http://www.punkrockers.com
27
Flyer einer sXe- Show mit Youth Of Today u. a.
http://www.myspace.com
Comics waren sehr beliebt in der Punkszene:
Show mit der Melodycore- Band NOFX u.a.
http://www.myspace.com
28
Flyer einer Show mit den Bad Brains und Bad Religion
http://www.myspace.com
Auch heute sind Comics noch populär:
Titelblatt des Schweizer Realrocker Fanzines
http://www.realrocker.com
29
Die Emocore- Band Day Of Contempt verdeutlicht den populären Emo- Look
(Emos, die Modepunks von morgen? Wer weiss...)
http://www.dayofcontempt.com
Starke Emotionen an einer Hardcore- Show mit der Band Comeback Kid
http://www.xembracex.de
30
Anhang B: Interviewauszüge
1. Interview mit Alexandra Wenger vom Realrocker Fanzine
1. Bekannte Fanzines der ersten Stunde wie Sniffin' Glue, Maximum Rock'n'Roll oder
Flipside waren (und sind) recht unprofessionell gestaltet, enthielten dafür aber viel
mehr persönliche Meinungen von Punks und die Politik war stärker vertreten. Wieso
fehlen beim Realrocker Fanzine gänzlich politische Inhalte? Was könnten Gründe für
diese Entwicklung - auch in anderen Fanzines beobachtbar - sein?
Ich denke nicht, dass die politischen Inhalte zwingend allgemein mit der Entwicklung der
Fanzines zu tun haben. Das "No Fun" zum Beispiel war 1977 das erste Schweizer Fanzine zur
Zeit vom Sniffin Glue und war überhaupt nicht politisch, weil es ihnen mehr um die Musik ging.
Klar sind solche Punk-Fanzines wenn man sie nach der politischen Meinung fragen würde auch
"links", aber einige haben eben mehr musikalische Inhalte, andere nur politische oder noch
andere ein Mix aus beidem. Was die Entwicklung der Gestaltung-Angeht: Ganz einfach, früher
gab es noch keine Computer, Fanzines wurden mit der Schreibmaschine, Klebeband und Schere
produziert. Heute werden - wenn die Möglichkeit besteht - professionelle Layout Programme
und vor allem Computer verwendet. Dass es mehr persönliche Meinung gab, war wohl, weil
Punk vor 25 Jahre noch viel neuer und rebellischer war, da wurde man schon dumm angeguckt
wenn man eine komische Frisur hatte ... damals haben die Jugendlichen wirklich rebelliert,
gegen die langweilige Rockmusik und dessen riesige Bands, die auf riesigen Bühnen spielten
und gegen die Spiesser. Es war eine Lebenseinstellung. Es gab noch kein Internet, z.B. mit
Foren. Das Fanzine war das einzige Kommunikationsmedium für diese Szene. Und wieso im
Realrocker politische Inhalte fehlen: Wir gehören wohl zu den Fanzines, die Musik bevorzugen
.... ich persönlich finde es schlecht, Energie gegen etwas einzusetzen, Seiten zu verschwenden
darüber, wie doof z.B. die SVP ist ... das wissen unsere Leser ja sowieso schon. wir setzten
voraus, das unsere Leser das wissen, daher beschränkt sich die Politik auf die Kolumnen von
Boffi.
2. Realrocker ist wahrscheinlich das einzige erfolgreiche Print-Fanzine in der Schweiz.
Wie beurteilst du generell die Aktivität in der Schweizer Szene? In welchen Subgenres
(Melodic Punk, Streetpunk, Hardcore etc)ist am meisten los? Siehst du eher eine
Aufwärts- oder Abwärtstendenz, was Shows und Aktivitäten betrifft? Wo sind
Ballungszentren der Szene? Ich denke generell: Viele, die z.B. das Realrocker lesen, sind auch
selber irgendwo aktiv, organisieren Konzerte oder spielen in einer Band. Ich glaube es gibt sehr
viele und immer wieder neue Leute, die was machen, in allen Subgenres. Es gibt auch sehr viele
total gute Schweizer Bands, wie The Peacocks, Wounds Left Deeper, Out Of Condition, Those
Furious Flames, The Dead etc. etc. Organisationen, die viel machen für die Szene sind z.B,
LeechRedda, oder Rude Sound Connection aus Schaffhausen (Ska) ... dann sind da natürlich die
grossen Clubs wie das Kofmehl oder Remise und viele mehr. Momentan finde ich, dass Melodic
Punk ziemlich out ist. Aber man kann nicht sagen es ist schlechter oder besser, es kommen und
gehen immer wieder neue Bands und Leute, die was machen.
3. Welche Rolle spielen dabei die "richtigen" Punks, sprich die, die sich im 77er U.K.
Stil kleiden und öffentlich noch für das meiste Aufsehen sorgen?
Ich denke z.B, unter unseren Lesern hat es wenig von denen, für die ist unser Heft teilweise
schon wieder Kommerz, weil Bands die auf grossen Labels sind drin sind. Ich kenne auch keine
solchen Punks, die sehr aktiv sind, aber es gibt sicher welche, wie Z.B, in Zürich in den
besetzten Häusern etc. Doch gibt es und gab es schon immer auch falsche Punks mit diesem
Look, den man sich mittlerweile im H&M kaufen kann ... ich denke auch nicht, dass man "echte"
Punks an den Kleidern erkennt. Viele, die sonst 100% arbeiten und die von den 77er Punks als
Spiesser bezeichnet werden, sind wirklich real und aktiv in der Szene.
31
2. Interview mit Russ Rankin, der mit seiner Band Only Crime an einem Festival in
Winterthur auftrat (übersetzt)
Timo: Steht die Band für etwas wie Tierrechte, Politik oder andere Sachen wie
Straight Edge, oder geht es nur darum, Musik zu machen und die Leute zu amüsieren?
Russ: Nein. Es ist nur Musik. Ich bin Straight Edge und kämpfe auch für Tierrechte, aber das ist
eine persönliche Sache. Only Crime als eine Band hat keine solchen Ambitionen. Vier von uns
sind Straight Edge, aber wir sind keine Straight Edge Band, wir wollen nur die potentiellen
Probleme von Drogen und Alkohol für eine Band eliminieren, und falls die Band aufgelöst würde,
dann sicher nicht wegen diesen Dingen. Ein paar von uns sind auch Veganer, ein paar sind
Vegetarier, doch als Band haben wir keine solchen Einstellungen, denn wir möchten einfach
Musik machen, die untypisch ist und die zerstört. Egal, ob die Leute uns mögen. Klar hoffen wir
das, aber wir möchten nicht auf die Bühne gehen und den Leuten sagen, was sie zu tun haben.
Viele Bands sagen den Fans, sie sollen Circle Pit1 machen, oder mit den Händen klatschen, und
die Fans tun es natürlich, wir aber möchten, dass uns der Fan zeigt, wenn er uns mag.
Timo: Dann spielt ihr auch lieber näher an den Fans, nicht auf grossen Bühnen?
Russ: Na klar. Ich denke, du kannst jede Band fragen, und alle werden dir sagen, dass sie das
lieber tun. Hier, bei so vielen Leuten, ist das halt nicht möglich, aber wir spielen auch viel lieber
Clubshows, bei denen wir so richtig nahe an den Fans sind.
3. Interview mit Liz Nord, die kürzlich einen Film über die Punkszene in Israel
gedreht hat (www.jerichosecho.com)
9. How would you assess the situation of Punk/Hardcore in the west culture, if you
especially consider things like major labels, mainstream society, MTV, new media like
the internet, politics, etc.
Personally, I still believe in music and culture as a force for social change, but all of the things
you mentioned make it more difficult. We see the situation again and again where mainstream
society takes something that it finds threatening and co-opt, package, and sell it so that it
becomes weak and un-threatening. The same thing is happening with hip-hop in the U.S. now.
As I mentioned earlier, my husband owns a small record label, so I have seen the damaging
effects of major label “punk” signings in my own life. Because many punk-style bands are being
signed by majors, the newer, up-and-coming bands have totally unrealistic expectations of the
independent labels who want to sign them. Younger bands are not seeing the value of signing to
independent labels who actually care about them. Rather, they are using indie labels as only a
stepping-stone to the majors. And unfortunately, many of the majors screw the bands over in
the end.
10. What are the reasons for this development and why does it seem to be
different from countries like Israel or other east countries?
I’m not quite sure how to answer this one, but I think the main reason is economics. The more
economically stable a region it is, the easier it becomes to ignore politics and other people’s
discomfort. Consumer culture is glamorous and appealing on a surface level. It is hard not to
get swept up in that when it is availalble to you.
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Pit: Der Platz vor der Bühne, der zum Tanzen gebraucht wird
Circle Pit: Wenn alle Leute im Pit eine Bahn bilden und im Gegen- oder Uhrzeigersinn schnell rotieren
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11. Would you say that without social/political discontent, there's no
reason for being a "real" punk? Is this a reason for adulteration of Punk in
west culture?
I guess it depends on how you define “punk.” For me, punk goes beyond music to an ideology
that has to do with living outside the system, and creating a way of living and doing things that
is fair and considerate and tries to eliminate the ills that you see in your own society. Since
there is no perfect system, I think that the idea of punk or counterculture will always be
relevant.
12. Once again, which role do you think plays the internet? What are
positive/negative aspects can affect the scene? (May be also in Israel).
I think the Internet is definitely a mixed blessing in the scene. On the positive side, it allows us
to connect with each other like never before. For instance, it really helped me with Jericho’s
Echo because I was able to do promotion, fundraising, and research all over the world with very
little resources. It’s also a wonderful tool for political organizing. The internet and digital music
are obviously a huge help to bands in remote towns or countries for getting their music heard.
I think the problem is that because of our heavily consumer-based culture and this weird
obsession that many people have with brand names, consumers don’t necessarily value
something that they can get for free. So these people might actually still go and buy the new U2
CD because that is a “brand name” rock band, but if it is a new band that they don’t know very
well, they will just get the record free on the internet. They don’t necessarily understand that
the small, independent band needs them to buy their CD a hell of a lot more than U2 does.
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Copyright: Timo Grossenbacher, Frühjahr 2006
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Danke fürs Lesen!!!