Falllösung lang

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Falllösung lang
Propädeutische Übung im Strafrecht AT I
begleitend zum Grundkurs I bei Prof. Dr. Kudlich
WS 2007/08
Einheit 9: Rechtfertigungsgründe
Lösung zum Übungsfall
Faschingskeilerei
1. Teil: Strafbarkeit des T
I. § 223 I StGB zum Nachteil des O durch den Schlag mit dem echten
Schlagstock
1. Indem T den O mit dem echten Schlagstock niedergestreckt hat, könnte er
sich wegen Körperverletzung nach § 223 I StGB strafbar gemacht haben.
a) Hierfür müsste T den O durch den Schlag in kausaler und objektiv
zurechenbarer Art und Weise körperlich misshandelt und bzw. oder an der
Gesundheit geschädigt haben. Unter einer körperlichen Misshandlung
versteht man jede üble unangemessene Behandlung, durch das körperliche
Wohlbefinde nicht nur unerheblich beeinträchtigt wird. Vorliegend führte der
Schlag bei O zu heftigen Schmerzen, so dass sein Wohlbefinden erheblich
beeinträchtigt war und eine körperliche Misshandlung zu bejahen ist. Eine
Gesundheitsschädigung ist in dem Steigern oder Hervorrufen eines
pathologischen Zustandes zu sehen. Mit dem Schlag brach T dem O zwei
Rippen. Daher hat T den O nicht nur körperlich misshandelt, sondern durch
die Rippenbrüche bei O auch einen krankhaften Zustand herbeigeführt. Hätte
der T den Schlag mit dem echten Schlagstock nicht ausgeführt, wären O die
Schmerzen und die Rippenbrüche erspart geblieben, so dass die Handlung des
T auch kausal für den Erfolg i.S.d. conditio-sine-qua-non-Formel war. Durch
das Schlagen des O mit einem echten Schlagstock hat T eine rechtlich relevante
Gefahr für die Gesundheit des O geschaffen, die sich auch in dem konkreten
Erfolg, nämlich den Schmerzen und Rippenbrüchen, realisiert hat.
§ 223 I StPO schützt außerdem gerade vor solchen Eingriffen in die
körperliche Integrität. Folglich ist die von T geschaffene Gefahr vom
Schutzbereich der verletzten Norm (§ 223 I StGB) erfasst. Der Erfolg ist dem
T somit auch objektiv zurechenbar.
PÜ Strafrecht AT I, WS 2007/08
b) T müsste auch vorsätzlich, also mit Wissen und Wollen der objektiven
Tatbestandsmerkmale gehandelt haben. Im Sachverhalt sind zwar keine
ausdrücklichen Angaben dazu zu finden, dass T den O körperlich misshandeln
oder an dessen Gesundheit schädigen wollte; allerdings wird man bei
lebensnaher Auslegung des Sachverhalts wohl davon ausgehen müssen, dass T
zumindest sicher wusste, dass er den O bei einem solchen Schlag mit einem
echten Schlagstock verletzen würde. Geht man mangels entsprechender
Sachverhaltsangaben von einem schwach ausgeprägten voluntativen Element
aus, wird man jedenfalls dolus directus II. Grades bejahen müssen. (Auch die
Annahme von Absicht ist hier vertretbar, wenn darauf abgestellt wird, dass es T
durch den Tausch der Schlagstöcke gerade darauf angekommen sein wird den
O zu verletzen).
2. Fraglich ist, ob T auch rechtswidrig gehandelt hat.
a) Ein Ausschluss der Rechtswidrigkeit wegen Notwehr nach § 32 StGB
kommt mangels Angriffs durch O nicht in Betracht. Auch in dem Zulaufen des
O auf T ist kein Angriff zu sehen.
b) Möglicherweise entfällt vorliegend die Rechtswidrigkeit wegen einer
Einwilligung des O in den Schlag.
Exkurs: Der Aufbau der rechtfertigenden Einwilligung
ˆ
Disponibilität des geschützten Rechtsguts
(bei Individualrechtsgütern; allerdings nicht bei eigener Tötung
ˆ
möglich ⇨ arg. ex § 216 StGB)
Einwilligungssachverhalt (Einwilligung i.e.S.)
ˆ
⇨ nach h.M. (Erklärungstheorie) Kundgabe der Einwilligung
nach außen (nicht zwingend gegenüber als Willenserklärung
gegenüber dem Täter)
Wirksamkeit der Einwilligung
∙ Einwilligungsfähigkeit des Einwilligenden
∙ Freiheit von Willensmängeln
∗ bei Drohung Unwirksamkeit
∗ str., ob bei Täuschung immer oder nur bei
rechtsgutsbezogenen Irrtümern Unwirksamkeit
∙ Verfügungsberechtigung (grundsätzl Rechtsgutsinhaber)
∙ kein Verbot der Einwilligung (insbes. Verstoß gegen die
Einheit 9: Rechtfertigungsgründe
ˆ
guten Sitten, §§ 2281, 216)
Handeln in Kenntnis der Einwilligung
Beachte: die rechtfertigende Einwilligung ist von dem tatbestandsausschließendem Einverständnis zu unterscheiden. Wenn bereits die
Tatbestandshandlung begrifflich voraussetzt, dass sie gegen bzw. ohne den
Willen des Rechtsgutsinhabers durchgeführt wird, führt das Einverständnis des
Betroffenen nicht erst zur Rechtfertigung, sondern es liegt bereits keine
taugliche Tathandlung vor (obj. TB (-)).
Bsp.: § 123 StGB (Hausfriedensbruch), § 177 StGB (Vergewaltigung),
§ 239 StGB (Freiheitsbe-raubung), § 242 StGB (Diebstahl)
Danach liegt bei einem Einverständnis in § 242 StGB bereits keine Wegnahme,
sondern eine bloße Weggabe vor oder es liegt bereits obj. keine Vergewaltigung
vor, wenn der sexuelle Kontakt dem Wunsch beider Partner entspricht.
Anders sieht das aber zum Beispiel bei § 223 StGB oder auch § 303 StGB aus.
Wenn hier das Opfer etwa mit dem Schlagen einverstanden ist, hat es dennoch
Schmerzen, so dass obj. die körperliche Misshandlung vorliegt und der Schlag
lediglich durch eine Einwilligung gerechtfertigt sein kann. Genauso ist bei § 303
StGB der Teller, der auf einem Polterabend mit dem Willen des Eigentümers
zerschlagen wird, dennoch zerstört, so dass auch hier nur eine rechtfertigende
Einwilligung vorliegen kann.
Zunächst müsste O in die Verletzung eines disponiblen Rechtsguts
eingewilligt haben. Disponibel sind grundsätzlich alle Individualrechtgüter mit
Ausnahme des eigenen Lebens. Dies ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass
die Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB mit Strafe bedroht ist. Vorliegend
könnte eine Einwilligung des O in die Verletzung des Individualrechtsguts der
körperlichen Unversehrtheit vorliegen, so dass Disponibilität gegeben ist.
Ferner müsste ein Einwilligungssachverhalt gegeben sein. D.h. O müsste
Sittenwidrig ist eine Körperverletzung nach § 228 StGB, wenn sie gegen das Anstandsgefühl
aller billig und gerecht denkenden Menschen verstößt. Unklar ist hierbei, welche Kriterien bei
Bewertung heranzuziehen sind. Hierbei kann man auf die Art und das Gewicht der Körperverletzung,
sowie den Grad der Lebensgefahr (Beeinträchtigungen im Bereich von § 226 StGB) abstellen. Aber
auch der Zweck der Tat sollte im Einzelfall nicht unberücksichtigt bleiben, so dass ein Eingriff
zum Zweck der Lebenserhaltung nicht verwerflich erscheint, während etwa das „Autosurfen“ aus
purem Leichtsinn heraus das Anstandsgefühl insbesondere auch im Hinblick auf die damit
verbundene Lebensgefahr berührt. Welchen Kriterien der Vorrang einzuräumen ist, ist umstr. In
der Klausur sollten alle im Einzelfall maßgeblichen Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Vgl.
hierzu Wessels/Beulke, AT, 37. Aufl., Rn. 377.
nach der herrschenden Erklärungstheorie seine Einwilligung in den Schlag nach
außen kundgetan haben. Hier hat O den T ausdrücklich zu dem Schlag
aufgefordert. Eine Einwilligung i.e.S. liegt somit vor. Die Tatsache, dass O
nicht mit dem echten, sondern dem in Ts Hand befindlichen Schlagstock
geschlagen werden wollte, ist für die Frage der Wirksamkeit der Einwilligung
relevant. Es ist zwar nicht an Os Einwilligungsfähigkeit zu zweifeln, allerdings
ist fraglich, ob die Einwilligung des O frei von wesentlichen Willenmängeln
war. Denn die Einwilligung des O beruht hier auf dem Irrtum, dass dieser
dachte, der T würde ihn mit dem unechten und mit Schaumstoff ummantelten
Schlagstock schlagen. Hätte T den unechten Schlagstock verwendet, hätte dies
laut Sachverhalt nicht zu nennenswerten Verletzungen geführt. Die
Beschaffenheit des Schlagstocks ist somit für den Grad der Verletzung der
körperlichen Unversehrtheit auch von wesentlicher Bedeutung. Mithin erlag O
einem rechtsgutsbezogenem Irrtum, der zur Unwirksamkeit der
Einwilligung führt. O hat also nicht wirksam in den Schlag eingewilligt.
c) T war völlig klar, dass O keine Verletzung mit dem echten Schlagstock
wünschte. Daher kann vorliegend die Rechtswidrigkeit von Ts Verhalten auch
nicht deswegen entfallen, weil dieser von einer von den tatsächlichen
Umständen abweichenden Einwilligung ausgehen durfte.
Exkurs: Die mutmaßliche Einwilligung
Beachte: Nur wenn kein ausdrücklicher Wille des Rechtsgutsinhabers
feststellbar ist, kann an eine mutmaßliche Einwilligung gedacht
werden (Subsidiarität der mutmaßlichen Einwilligung). Grundsätzlich kann
die mutmaßliche Einwilligung in zwei Konstellationen auftreten
ˆ
beim Handeln im fremden Interesse ⇨ hier entspricht das
Handeln dem mutmaßlichem Willen, wobei nur dann bei der
Willensermittlung auf einen obj. Dritten abgestellt werden
darf, wenn kein entgegenstehender Wille vorhanden ist
(Bsp.: oft bei ärztlichen Heileingriffen, wenn Patient
bewusstlos)
ˆ
Handeln bei mangelndem Interesse ⇨ hier liegt eine so
geringe Beeinträchtigung fremder Interessen vor, dass davon
auszugehen ist, der Rechtsgutsinhaber ist einverstanden (hat
also kein Interesse die Rechtsgutsbeeinträchtigung zu verhindern), wobei ein „unvernünftiger“ entgegenstehender Wille
des Rechtsgutsinhabers zur Verneinung der Einwilligung
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führen muss! (Bsp.: Geldwechsel)
3. T müsste auch schuldhaft gehandelt haben. Da dieser laut Sachverhalt
aufgrund der Aufforderung des O zum Schlag von der Rechtmäßigkeit seines
Verhaltens überzeugt war, könnte seine Schuld wegen fehlender
Unrechtseinsicht ausgeschlossen sein. Hier irrt T über die Grenzen der
Wirksamkeit einer rechtfertigenden Einwilligung und unterliegt damit einem
Erlaubnisirrtum, der nach § 17 StGB gelöst wird. Nach § 17 StGB entfällt die
Schuld des Täters nur, wenn sein Irrtum unvermeidbar war. Bei der
Bestimmung der Unvermeidbarlkeit wird grundsätzlich ein sehr strenger
Maßstab angelegt. Danach kann die Unvermeidbarkeit nur dann bejaht werden,
wenn es dem Täter trotz Aktivierung all seiner Erkenntniskräfte unmöglich war
das Unrecht seines Verhaltens einzusehen.2 Vorliegend hätte T erkennen
können, dass O zwar in den Schlag mit dem falschen Knüppel, nicht aber in
das Niederschlagen mit einem echten Schlagstock eingewilligt hat. Im
Gegenteil, T wollte den O ja gerade überlisten, weil ihm völlig bewusst war,
dass O davon ausging er würde ihn mit dem Schaumstoffknüppel schlagen.
Danach ist die Vorstellung des T von der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens
fernliegend, was T auch hätte erkennen können. Zumindest hätten ihm an der
Rechtmäßigkeit seines Verhaltens Zweifel kommen können, was zur Bejahung
der Vermeidbarkeit des Irrtums ausreicht.3 Damit unterlag T einem bloß
vermeidbaren Erlaubnisirrtum, der nach § 17 StGB nicht zum Schuldausschluss, sondern allenfalls zu einer Strafmilderung nach § 49 StGB führen
kann.
4. T hat sich durch das Schlagen des O mit dem echten Schlagstock wegen
Körperverletzung nach § 223 I StGB strafbar gemacht.
Exkurs: Grundsätzlich lassen sich Irrtümer zwischen solchen in
rechtlicher und in tatsächlicher Hinsicht unterscheiden:
Sowohl beim Verbots-, als auch dem Erlaubnisirrtum irrt der Täter
nicht über Tatsachen, sondern vollzieht eine falsche rechtliche
Wertung. Während der Verbotsirrtum eine solche Fehlvorstellung
im Hinblick auf die Tatbestandsmäßigkeit seines Verhaltens betrifft,
bezieht sich der Erlaubnisirrtum auf einen entsprechenden Irrtum auf
Ausführliche Auseinandersetzung mit der Bestimmung der Vermeidbarkeit bei Roxin, AT I,
4. Aufl., § 21, Rn. 35 ff.
3 Beachte: Zweifelt der Täter über die rechtliche Zulässigkeit seines Verhaltens, treffen ihn nach
h.M. Erkundigungspflichten. Vgl. Tröndle/Fischer, 54. Aufl., § 17, Rn. 9 ff.
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der Ebene der Rechtswidrigkeit. Beide Irrtümer richten sich nach
§ 17 StGB, so dass die unterschiedlichen Bezeichnungen lediglich
verdeutlichen, ob ein Irrtum auf Tatbestands- oder Rechtswidrigkeitsebene vorliegt.
Ähnlich wird bei den Irrtümer in tatsächlicher Hinsicht durch die
Bezeichnung klargestellt, ob der Täter auf Tatbestands- oder
Rechtswidrigkeitsebene irrt. Während der Tatbestandsirrtum nach
§ 16 I 1 StGB vorliegt, wenn der Täter keine Kenntnis vom
Vorliegen eines Tatbestandsmerkmals hat, irrt der Täter beim
Erlaubnistatbestandsirrtum über das tatsächliche Vorliegen eines
rechtfertigenden Sachverhalts. Auch der Erlaubnistatbestandsirrtum
wird nach h.M. analog § 16 I 1 StGB gelöst bzw. nur analog der
Rechtsfolge des § 16 I 1 StGB.
II. § 223 I StGB zum Nachteil des P durch das Ausholen mit dem echten
Schlagstock
Noch bevor T den P schlagen konnte, wurde T seinerseits zu Boden
geschlagen. Damit kam es gegenüber P weder zu einer körperlichen
Misshandlung noch Gesundheitsschädigung. Mangels Verletzungserfolgs
scheidet daher eine Strafbarkeit des T gegenüber P durch das Ausholen mit
dem Schlagstock aus. In Betracht käme hier lediglich eine Versuchsstrafbarkeit,
die laut Bearbeitervermerk allerdings nicht zu prüfen ist.
2. Teil: Strafbarkeit des P
I. § 223 I StGB zum Nachteil des T durch den Faustschlag
1. Indem P den T mit einem Faustschlag zu Boden schlug, könnte er sich
wegen Körperverletzung nach § 223 I StGB strafbar gemacht haben.
a) P müsste den T in kausaler und objektiv zurechenbarer Art und Weise
körperlich misshandelt und/oder an der Gesundheit geschädigt haben. Unter
köperlicher Misshandlung ist jede üble unangemessene Behandlung zu
verstehen, die das körperliche Wohlbefinden mehr als nur unerheblich
beeinträchtigt. Hier hat P den T mit einem Faustschlag zu Boden gestreckt, so
dass bei lebensnaher Sachverhaltsauslegung davon ausgegangen werden muss,
dass dies für T schmerzhaft war und sein Wohlbefinden hierdurch mehr als nur
unerheblich beeinträchtigt wurde. Eine körperliche Misshandlung liegt mithin
vor. Eine Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines
pathologischen Zustandes. Auch diesbezüglich wird man annehmen können,
dass trotz fehlender Sachverhaltsangaben bei T ein zumindest vorübergehender
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krankhafter Zustand, etwa aufgrund eines Hämatoms, vorliegt. Folglich ist
auch die Gesundheitsschädigung zu bejahen (a.A. gut vertretbar mit dem
Hinweis, der Sachverhalt enthalte nicht genügend Anhaltspunkte). Hätte der P
den T nicht geschlagen, hätte dieser weder Schmerzen noch würde er sich in
einem krankhaften Zustand befinden, so dass Kausalität i.S.d. conditio-sinequa-non-Formel gegeben ist. Durch den Faustschlag hat P auch eine Gefahr
für die körperliche Unversehrtheit des T geschaffen, die sich im konkreten
Verletzungserfolg, der körperlichen Misshandlung und Gesundheitsschädigung,
realisiert hat und vom Schutzzweck des § 223 I StGB erfasst ist. Folglich ist
dem P der Erfolg auch objektiv zurechenbar.
b) P müsste zudem vorsätzlich, also mit Wissen und Wollen aller objektiven
Tatbestandsmerkmale gehandelt haben. Ob und inwiefern dem P der
Verletzungserfolg erwünscht war bzw. er diesen nur billigend in Kauf nahm, ist
dem Sachverhalt nicht zu entnehmen. Man wird aber davon ausgehen können,
dass P zumindest sicher wusste, dass das Niederschlagen eines Menschen mit
einem Faustschlag bei diesem Schmerzen und auch einen wenigstens
kurzfristigen krankhaften Zustand herbeiführt. Damit handelte P mit sicherem
Wissen hinsichtlich der Erfogsherbeiführung und somit mit dolus directus
II. Grades.
2. Fraglich ist, ob das Verhalten des P auch rechtswidrig war.
a) Hier könnte das Niederschlagen durch das Festnahmerecht aus
§ 127 I StPO gerechtfertigt sein.
Exkurs: Das Festnahmerecht nach § 127 I StPO
ˆ
Betroffenwerden auf frischer Tat
∙
Vorliegen einer Straftat?
⇨ str., ob die Tat wirklich begangen worden sein
muss (wohl h.M.) oder, ob dringender Tatverdacht
genügt
∙
ˆ
Auf frischer Tat betroffen
⇨ (+), wenn der Täter bei Begehungd der Tat oder
unmittelbar danach am Tatort oder dessen
unmittelbarer Nähe gestellt wird
Vorliegen eines Festnahmegrundes?
∙
ˆ
Beachte: Problematisch ist im Zusammenhang mit § 127 StPO auch der
Schusswaffeneinsatz des Festnehmenden. Während die Abgabe
von Warnschüssen noch gerechtfertigt sein dürfte, ist das Schießen
auf eine Person zum Zwecke der Festnahme vom Anwendungsbereich des § 127 I StPO auch bei schwersten Straftaten nach h.M.
ausgeschlossen.4
Um gegenüber T ein Festnahmerecht i.S.v. § 127 StPO ausüben zu können,
müsste dieser eine Straftat begangen haben. Hier hat sich T gegenüber O
wegen Körperverletzung nach § 223 I StGB strafbar gemacht (s.o.), so dass
eine Straftat des T gegeben ist. P müsste den T aber auch auf frischer Tat
betroffen haben, was dann der Fall ist, wenn der Täter bei Begehung der Tat,
unmittelbar danach am Tatort oder in dessen Nähe gestellt wird. Es muss also
ein enger räumlich-zeitlicher Zusammenhang zur Tat bestehen. Vorliegend hat
P den T unmittelbar in Tatortnähe festgehalten und Niedergeschlagen, als T
nach dem Niederschlagen des O in der Menge untertauchen wollte. Damit
handelte P zeitlich unmittelbar im Anschluss an die Tat des T und auch in der
räumlichen Nähe zum Tatort. T wurde folglich auf frischer Tat betroffen.
Außerdem müsste ein Festnahmegrund vorgelegen haben, indem andernfalls
die Identitätsfeststellung des T gefährdet gewesen wäre bzw. Fluchtverdacht
bestand. P hielt den T fest, als dieser im Begriff war in der Menge zu
verschwinden, so dass ohne weiteres davon auszugehen ist, dass sich T seiner
Verantwortung durch Flucht entziehen wollte. Ob man zudem davon ausgehen
kann, dass vorliegend objektiv betrachtet die Identitätsfeststellung des T
gefährdet war, erscheint insoweit zweifelhaft, als dass T seinen Nachbarn O
niedergeschlagen hat, der den T ja auch erkannt hat. Ein Festnahmegrund lag
aber in jedem Fall in der Fluchtgefahr vor. Fraglich ist aber, ob das Verhalten
des P vollständigig durch das Festnahmerecht des § 127 I StPO gedeckt wird.
4
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Fluchtverdacht (Annahme, der Täter entzieht sich
durch Flucht der Verantwortung) oder
∙
Feststellung der Identität
Zulässige Festnahmehandlung
(+) beim bloßen Festhalten (§§ 240, 239 StGB) aber wohl
(-) bei weitergehenden körperlichen Eingriffen (str.)
Vgl. Meyer-Goßner, 50. Aufl., § 127, Rn. 15.
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Hier hat P den T zunächst festgehalten und dann niedergeschlagen.
§ 127 I StPO erfasst unproblematisch das Festhalten, während körperliche
Gewaltanwendung, die über das zum Festhalten erforderliche Maß
hinausgeht grundsätzlich nicht mehr in den Anwendungsbereich des
§ 127 I StPO fällt. Danach wäre etwa noch ein schmerzhaftes Zupacken von
§ 127 I StPO erfasst, nicht aber wie hier ein gezielter Faustschlag. Hier wird
man zudem annehmen müssen, dass P nicht in erster Linie zugeschlagen hat,
um die Festnahme aufrecht zu erhalten, sondern um nicht selbst von T mit
dem Schlagstock niedergeschlagen zu werden. Damit ist bereits zweifelhaft, ob
der Schlag hier überhaupt Mittel der Festnahme war. Schon aus dem Grund das
das Festnahmerecht jedermann zusteht, sollte es restriktiv gehandhabt werden
und nicht die Festnahme mit allen Mitteln rechtfertigen. Daher ist § 127 I StPO
abzulehnen.
(a.A. gut mit dem Argument vertretbar, dass hier laut Sachverhalt dem P nichts
anderes übrig blieb und er damit auch nur auf diese Weise sein Festnahmerecht
überhaupt ausüben konnte, weil T andernfalls geflohen wäre).
b) Das Niederschlagen des T könnte aber wegen Notwehr nach § 32 StGB
gerechtfertigt sein. Dazu müsste zunächst eine Notwehrlage, also ein
gegenwärtiger und rechtswidriger Angriff des T vorgelegen haben. Ein Angriff
ist jede Bedrohung rechtlich geschützter Interessen durch menschliches
Verhalten. Hier war T im Begriff den P mit dem echten Schlagstock
niederzuschlagen, so dass die körperliche Unversehrtheit des P bedroht war.
Ein Angriff lag also vor. Da der Schlag des T unmittelbar bevorstand, war der
Angriff auch gegenwärtig. Allerdings wurde T zu diesem Zeitpunkt von P
festgehalten, so dass sich die Frage stellt, ob der Angriff überhaupt
rechtswidrig war. Zwar wurde oben eine Rechtfertigung des P nach
§ 127 I StPO verneint, aber nur wegen der Gewaltanwendung durch den
Faustschlag. Im Hinblick auf das Festhalten greift das Festnahmerecht des
§ 127 I StPO, so dass sich T seinerseits nicht auf einen Rechtfertigungsgrund
berufen kann und das Festhalten dulden musste. Eine Notwehrlage des P
bestand also. Ferner müsste der Faustschlag des P eine taugliche
Notwehrhandlung darstellen. Hierzu müsste die Verteidigungshandlung
gegenüber dem Angreifer erforderlich und geboten sein. P schlug den T,
seinen Angreifer, nieder und hatte laut Sachverhalt keine andere Möglichkeit,
um den drohenden Schlag des T mit dem Schlagstock abzuwenden. Das
Niederschlagen war damit nicht nur geeignet, um den Angriff abzuwehren,
sondern auch das mildeste Mittel, so dass die Handlung des P auch
erforderlich war. Für eine Einschränkung des Notwehrrechts aus
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sozialethischen Gesichtspunkten sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Folglich
war der Faustschlag auch geboten. Der Schlag des P gegen T stellt somit eine
taugliche Notwehrhandlung i.S.v. § 32 StGB dar. Auch wenn sich im
Sachverhalt keine ausdrücklichen Hinweise auf einen Verteidigungswillen des
P finden, wird man bei lebensnaher Sachverhaltsauslegung wohl davon
ausgehen, dass dieser den Faustschlag vorgenommen hat, um sich vor dem
drohenden Schlag durch T mit dem Schlagstock zu schützen. P handelte also in
Kenntnis des Angriffs und wollte diesen abwehren, so dass er auch mit
Verteidigungswillen handelte und das subjektive Rechtfertigungselement hier
vorliegt.
II. Ergebnis: P handelte in Notwehr nach § 32 I StGB und hat sich daher
durch den Faustschlag gegenüber T nicht wegen Körperverletzung nach
§ 223 I StGB strafbar gemacht.
Endergebnis:
I. T hat sich durch das Schlagen des O wegen Körperverletzung nach
§ 223 I StGB strafbar gemacht.
II. Indem P den T mit einem Faustschlag niedergeschlagen hat, hat er
sich nicht wegen Körperverletzung nach § 223 I StGB strafbar gemacht.
Literaturempfehlung:
Zu § 127 StPO:
- Otto, Jura 2003, 685 ff.
Zur Einwilligung:
- Otto, Jura 2004, 679 ff.
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